Innovatio Traditio et - Welt aus den Fugen - Uni Rostock

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Innovatio Traditio et - Welt aus den Fugen - Uni Rostock
Traditio et
Innovatio
magazin der Universität rostock 1/2020

                                                      Online immer offen
                                                      Seite 26

                                                      Neubauten verändern
                                                      das Gesicht der
                                                      Universität Rostock
                                                      Seite 33

                                         Welt aus
                                         den Fugen
                                         ab Seite 6
Innovatio Traditio et - Welt aus den Fugen - Uni Rostock
Innovatio Traditio et - Welt aus den Fugen - Uni Rostock
editorial

                      Liebe Leserinnen und Leser,
                      nach einer längeren Pause können Sie nun wieder eine Ausgabe unseres Universitätsmagazins in
                      den Händen halten. Auch unsere Publikation kommt nicht an der Corona-Epidemie vorbei. Nicht
                      zuletzt waren die Vorbereitungen der für den Beginn des Sommersemesters geplanten Ausgabe
                      weit vorangeschritten, erste Beiträge waren schon geschrieben. Doch dann machte Corona einen
                      Schnitt. Das ursprünglich vorgesehene Titelthema war obsolet geworden, eine andere Ausgabe
                      wurde unter dem Eindruck der ersten Wochen des Lockdown entworfen.

                      Corona ist zurzeit unser ständiger Begleiter und bestimmt unser Leben in einer Weise, die sich
                      wohl niemand zuvor so hatte vorstellen können. Vieles geht plötzlich nicht mehr, was vorher unser
                      Leben ausgemacht hat. Und wenn doch, dann nur unter strikten Sicherheitsvorkehrungen. Plötz-
                      lich zählen Abstand und Mund-Nasen-Schutz zum freundlichen Miteinander. Elf Beiträge dieses
                      Heftes widmen sich der Corona-Epidemie und ihren Auswirkungen. Sind wir auf einem Weg in eine
                      Weltunordnung? Ist die Welt gar aus den Fugen geraten? Was kennzeichnet die tiefste Rezession
                      der Nachkriegsgeschichte? Wie können „Modellierer“ uns in Zeiten der Pandemie helfen? Wissen-
                      schaftler und Wissenschaftlerinnen unserer Universität betrachten die aktuelle Zeit aus verschie-
                      denen Perspektiven.

                      Neben dem Titelthema finden Sie in dem Heft in gewohnter Weise weitere aktuelle Themen und
                      Informationen. Ein Beitrag informiert über die Neubauten an unseren Campussen. Neue Mit-
                      glieder unserer Universität stellen wir Ihnen vor.

                      Ich wünsche Ihnen eine interessante und anregende Lektüre. Bleiben Sie vorsichtig, gesund und
                      zuversichtlich!

                      Herzlichst Ihr

                      Wolfgang Schareck
                      Rektor der Universität Rostock

Universität Rostock                                                                                                               3
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inhalt

                                                                                                                                                    Foto: Reuters/Jonathan Ernst, Adobe Stock
                                                6                                             16

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                                                Foto: Anders Hellberg, Wikipedia

            TiTel                                                                       18 Mit Modellen nicht nur die
                                                                                           Zukunft vorhersagen, sondern
          6 Weltordnung mit ungewisser
                                                                                           möglich machen
            Zukunft
                                                                                        20 Krisenzeiten erfordern beständige
          8 die Krise drängt in die deutung
                                                                                           Kommunikation und volle transparenz
         10 haltung bewahren
            im angesicht der Pest
                                                                                           STUdiUm & LehRe
         12 auf dem Weg zur Weltunordnung?
                                                                                        22 stärkerer Berufsfeldbezug in der
         14 Wirtschaftsforscherin:
                                                                                           lehrkräfteausbildung – aber wie?
            tiefste rezession der nachkriegs-
            geschichte                                                                  26 online immer offen

         16 Politiker aus MV schätzen                                                   28 Corona zeigt Barrieren der
            Professor reisingers ratschläge                                                digitalisierung auf

4                                                                                                                 Traditio et Innovatio 01 / 2020
Innovatio Traditio et - Welt aus den Fugen - Uni Rostock
Foto: tampata, Adobe Stock

                               30

                                                   iNTeRNaTiONaLeS                 37 Verleihung der lehrbefugnis
                                                                                      durch den akademischen senat
                                           30 Wir sind noch mobil, aber anders
                                                                                   37 abgeschlossene
                                           32 Professor Miguel latouche erhält
                                              Philipp schwartz-stipendium             habilitationsverfahren

                                                                                   38 neu an der universität rostock
                                                   CampUS                          39 neu an der universitätsbibliothek
                                           33 neubauten verändern das gesicht         und itMZ
                                              der universität rostock

                                                                                      SONSTiGeS
                                                   KURz & BüNdiG
                                                                                    3 editorial
                                           37 Professor ralf ludwig in den senat
                                              der dFg gewählt                      15 impressum

                             Universität Rostock                                                                          5
Innovatio Traditio et - Welt aus den Fugen - Uni Rostock
titel

          Weltordnung Mit
          ungeWisser ZuKunFt

         D
                          ie Planungen zu dieser Ausgabe von          ell zu informieren. Deshalb sollte längerfristig auf die
                          Traditio & Innovatio fielen in die ersten   Auswirkungen von Corona auf die Universität gese-
                          Wochen des Lockdown noch ganz unter         hen werden. Was haben wir gelernt, was davon werden
                          dem Eindruck der dramatischen Bilder aus    wir nicht so bald wieder verlernen? Wie hat sich unse-
                          Norditalien und der am 13. März an der      re Sicht auf die Dinge unter dem Einfluss der Pandemie
          Universität ergriffenen Maßnahmen, um den Gesund-           verändert? Worauf zu verzichten fällt uns leicht? Und
          heitsschutz zu gewährleisten und ein Kollabieren des Ge-    wenn die materielle Existenz gesichert ist, wie steht es
          sundheitssystems zu verhindern. Die Straßen waren leer,     um die kulturelle Grundversorgung? Was bedeuten uns
          kein Autoverkehr, gespenstische Stille bei bestem Wet-      Kunst und Kultur wirklich?
          ter. Die Menschen machten auf den Bürgersteigen ängst-
          lich einen Bogen umeinander und beäugten sich miss-         Fünf Monate nach dem Erliegen des öffentlichen Lebens
          trauisch. Solidarität? Weit gefehlt. Stattdessen gab es     während der Ausgangsbeschränkungen stellt sich die
          Hamsterkäufe, nicht nur beim Toilettenpapier. Die Welt,     Situation, die Wahrnehmung der Lage, schon ganz an-
          sie schien aus den Fugen geraten zu sein. Virologen wett-   ders dar. Wer würde nach dem Ende des Lockdown, der
          eiferten um die Beschreibung der Infektionsdynamik und      Öffnung des Einzelhandels, der Restaurants, der Mög-
          die bestmöglichen Empfehlungen, das höchste Gut des         lichkeit zu Urlaubsreisen und dem Schulbeginn noch zu-
          Menschen, wie es heißt: die Gesundheit, zu schützen.        stimmen, dass mit der Corona-Pandemie die Welt aus
                                                                      den Fugen geraten sei? Sie war es gewiss zur Zeit der
          Ein Universitätsmagazin mit einer mehrmonatigen             Pestepidemien im Mittelalter, nach dem Dreißigjähri-
          Produktionszeit ist sicher nicht geeignet, tagesaktu-       gen Krieg und nach Massenmord, Zerstörung der Städte

Eine der Schlüsselszenen in Curtis Adams BBC Dokumentation
Bitter Lake zeigt den Saudischen König Abdul Aziz Ibn Saud bei
Geheimverhandlungen mit Präsident Franklin D. Roosevelt an Bord
des US Zerstörers Quincy auf dem Großen Bittersee im Suez Kanal
am 14. Februar 1945 (Foto: Everett Collection, Adobe Stock).

                          Greta Thurnberg vor dem schwedischen
                 Parlamentsgebäude in Stockholm im August 2018
6                             (Foto: Anders Hellberg, Wikipedia).                                      Traditio et Innovatio 01 / 2020
Innovatio Traditio et - Welt aus den Fugen - Uni Rostock
und Vertreibung in der Folge des Zweiten Weltkrieges, –
aber sicher nicht durch Corona. Dennoch lautet der Ti-
tel dieser Ausgabe von Traditio & Innovatio „Die Welt
aus den Fugen“, war er doch lange bevor jemand an die
Pandemie gedacht hat, bereits für eine Ringvorlesung
an der Universität Rostock vorgesehen. Aus den Fugen
geraten schien die Welt den Veranstalterinnen und Ver-
anstaltern der gleichnamigen Ringvorlesung also schon
vor Corona zu sein. Doch ist die Welt tatsächlich aus den
Fugen geraten oder versagt nur unsere Fähigkeit, uns
in einer immer komplexer werdenden Welt zurechtzu-
finden, wie es Curtis Adams in seinem Dokumentarfilm
„Bitter Lake“ darstellt, der ein Versagen der politischen
Eliten vermutet, die uns die Welt allzu einfach in Gegen-
sätzen von Gut und Böse zu erklären versuchen? Ob es
neuer Mittel bedarf, die vertrauten Denkschemata nicht
mehr passen? Muss sich unsere Auffassung von der Welt
nicht daran bewähren, ob sie uns Handlungsorientie-
rung bietet, um in der Welt zu bestehen, Menschlichkeit
zu fördern und eine freie Entfaltung der Persönlichkeit
in der Gemeinschaft mit anderen zu ermöglichen. Gut
beraten ist seit jeher, wer sich dabei der Bequemlichkeit
verweigert und den Mut hat, „sich seines eigenen Ver-
standes zu bedienen“. Leicht war das wohl nie, einfacher
ist es durch Massenmedien und Soziale Medien mit Fa-
ke-News, Propaganda, Filterblasen und Echokammern
sicher nicht geworden.

In einer Situation, in der nicht nur in der ganzen Welt die   folgen sich als ebenso gravierend herausstellen können.
Folgen von Klimaerwärmung und Umweltverschmut-                Ist die Gesundheit wirklich das höchste, gar einzige Gut?
zung unter dem Aspekt der intergenerationellen und glo-
balen Gerechtigkeit vehement vorgetragen und lebhaft          Corona wirkt für die Gesellschaft am Ende wie ein
diskutiert werden, in der rechtspopulistische Kräfte auch     Brennglas, in dem sich ungelöste Fragen sammeln,
gewachsene Demokratien erschüttern sowie Digitalisie-         Grundwidersprüche verschärfen und Institutionen in
rung und Globalisierung die Arbeits- und Lebenswelt dra-      Frage gestellt werden. Längst ist die Pandemie nicht
matisch verändern, trifft uns Covid-19 wiederum als Er-       mehr nur eine Frage des Gesundheitsschutzes. Die Welt
eignis, das vor keiner Grenze halt macht, Auslöser eines      beginnt sich im 21. Jahrtausend neu zu ordnen. Noch
bis heute nicht restlos verstandenen Krankheitsbildes.        ist nicht absehbar, welche Rolle wir darin spielen wer-
Und dennoch hat es die Welt nicht verändert und unse-         den, wie die wissenschaftliche Vernunft sich behaupten
re langfristige Sicht auf die Dinge vermutlich ebenso we-     wird und wie die Politik ihre Gestaltungskraft im globa-
nig, schon gar nicht hat es Fugen in die globale politische   len Maßstab zurückgewinnen kann. Nicht nur Populis-
Architektur gerissen, – sie sehr wohl aber in eine Stress-    men und Verschwörungstheorien auch Corona-Maß-
situation versetzt. Schwerwiegende und folgenreiche           nahmen stellen die politische Kultur, ja Demokratien
Entscheidungen waren und sind von der Politik zu tref-        selbst auf eine harte Probe. In welchem Ausmaß und
fen, die angesichts der Forderungen von Friday for Future     auf welche Weise dies die Gesellschaft verändern wird,
doch so paralysiert schien. Güterabwägungen sind vor-         hängt von uns allen ab.
zunehmen und Maßnahmen zu ergreifen, deren Neben-                                                        Michael Vogt

Universität Rostock                                                                                                       7
Innovatio Traditio et - Welt aus den Fugen - Uni Rostock
titel

                                                                                                                                      Bild: Borysovsky, Adobe Stock
        die Krise drängt
        in die deutung
        Deutungsmachtsensible Beobachtungen in der Corona-Krise

        S
                          chon 2019 hat das DFG-Graduierten-       Erkenntnisse auf verschiedenen Gebieten noch nicht
                          kolleg „Deutungsmacht. Religion und      vorliegen können, verschärft dabei das Ringen um Deu-
                          belief systems in Deutungsmacht-         tungsmacht, d. h. um Aufmerksamkeit, Anerkennung
                          konflikten“ eine Ringvorlesung für das   und Geltung der jeweils gewagten Deutungen. Mächti-
                          Sommersemester 2020 unter dem Ti-        ge Akteure sind im Widerstreit und im Zusammenspiel
                          tel „Welt aus den Fugen? Deutungs-       zu erleben, Verschiebungen in institutioneller Perspek-
                          machtkonflikte zwischen Ordnung          tive wahrzunehmen und das Entstehen neuer wirksamer
        und Chaos“ geplant. Dabei konnte niemand ahnen, wel-       Narrative auf biographischer und gesellschaftlicher Ebe-
        che ungeheure Aktualität diese Fragestellung im Zuge       ne mitzuverfolgen, die unsere Vorstellungen vom Zu-
        der Corona-Krise gewinnen würde. Denn die Pandemie,        sammenleben wirkmächtig verändern können. Die aktu-
        die die Individuen, die Gesellschaften und die Weltge-     elle Krise mit ihren hochkomplexen Diskursen einerseits
        meinschaft gleichermaßen mit noch unabsehbaren dra-        und medialen Kommunikationsmodi im Kontext des Di-
        matischen Folgen trifft, erschüttert wesentliche Grund-    gitalisierungsschubs andererseits bietet demnach ein
        überzeugungen (beliefs) und für relevant gehaltene         hochdynamisches Feld der deutungsmachtsensiblen Be-
        Ordnungs- und Deutungsmuster des (spätmodernen)            obachtung und Analyse, wie sie im Kontext des Kollegs
        Lebens. In dieser Situation starker Entsicherung kommt     vielfältig erfolgt. In aller gebotenen Kürze sollen dazu
        es zu einer gesteigerten Deutungsproduktivität, d. h.,     im Folgenden einige konkrete Aspekte genannt werden.
        die Krise drängt vor dem Hintergrund ganz unterschied-
        licher Interessenlagen vehement in die Deutung. Erfah-     Die Krise führt zu massiven Kontingenzerfahrungen und
        rungen von Sinnabbrüchen setzen Versuche neuer Sinn-       einer Konfrontation mit Dimensionen der Fragmentari-
        stiftung aus sich heraus. Der Umstand, dass gesicherte     tät, Unverfügbarkeit und Verletzlichkeit von Leben, die

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Innovatio Traditio et - Welt aus den Fugen - Uni Rostock
das Scheitern bzw. die Grenzen von modernen Siche-          „Entschleuniger unserer Zeit“, der unsere Weltreichweite
rungsmaßnahmen sichtbar machen, und zugleich das            und Weltbeziehung sowie die Resonanz-Achse der so-
Bemühen befördern, das Virus „in den Griff“ und die Kon-    zialen Beziehungen massiv störe und einschränke, aber
trolle zurückzubekommen. Die Hyperkomplexität der           zugleich die digitale Beschleunigung befördere. Giorgio
Lage bildet sich in der eingangs erwähnten Deutungsex-      Agamben rekurriert auf seine Thematik der Biopolitik
plosion der Berichterstattung, der unterschiedlichen wis-   und des „nackten Lebens“, indem er kritisch nachfragt,
senschaftlichen Diskurse, der politischen Kommentare,       wie es sein könne, dass Bürger liberaler Demokratien
der Prognosen oder Re-gnosen wie z. B. bei dem (umstrit-    über Nacht bereit gewesen seien, ihre Freiheitsrechte
tenen) Zukunfts- und Trendforscher Matthias Horx, der       aufzugeben. Er sieht die Wissenschaft als neue Religion
Corona-Literatur (Selbstberichte im Netz, Tagebücher,       und verweist auf das eschatologische Vokabular in der
Erzählungen, Kinderbücher) und der Ratgeberliteratur        Berichterstattung. Diese Position selbst, wie auch die
(psychologisch, monastisch-spirituell) ab. Wir haben es     massiven Reaktionen, die sie hervorgerufen hat, sowie
mit Krisennarrativen zu tun, die von den jeweiligen Wirk-   die Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen,
lichkeitsmodellen und dem grundierenden Verständnis         die sich aus diversen Quellen von demokratischer Sor-
von Kultur abhängen und die empirischen Perspektiven        ge bis zu Antisemitismus, esoterischen Positionen, Ver-
mit normativen Ansprüchen verknüpfen. Das Bedeu-            schwörungstheorien und religiösem Fundamentalismus
tungsgefüge der Krise setzt voraus, dass in der Reaktion    speisen, verdeutlichen, dass es in der Krise um unse-
auf das Ereignis (noch) ein Entscheidungsspielraum ge-      re grundlegenden Überzeugungen, letzte Werte und in
geben ist, der allerdings dann auch nach Entscheidungs-     ganz elementarer Weise um Glauben und Vertrauen geht:
trägern wie z. B. Ärztinnen und Ärzte, Expertinnen und      Wer hat das Sagen? Wem wird geglaubt? Worauf wird
Experten (hier vor allem aus dem Bereich der Virologie),    vertraut? Was ist evident? Was ist relevant? Was ist wahr?
Politikerinnen und Politiker, Bildungsverantwortlichen
und z. T. riskanten Entscheidungen verlangt. Die in den     Besondere Aufmerksamkeit braucht langfristig die Ana-
Krisennarrativen kommunizierten Deutungen generie-          lyse der neuen „Grunderzählung“ der Krise, die sich ver-
ren Bedeutung und konstruieren Phänomene der Wirk-          dichtet in der Formel „Stay home – stay safe“ – Distanz
lichkeit im Repräsentationsmodus, indem etwas als et-       ist die neue Form von Nähe, Fürsorge und Schutz. Diese
was gedeutet wird. Die Lungenkrankheit Covid-19 wird        Grunderzählung hat sich medial in vielfach geteilte Nar-
erlitten und ist unmittelbar leiblich evident, aber so-     rative von Solidarität und Unterstützung ausgefaltet.
wohl in der Erfahrung des Einzelnen als auch in der wis-    Wichtig dürfte aber sein, auch die Gegen- und Opferer-
senschaftlichen und soziokulturellen Durchdringung des      zählungen nicht aus dem Blick zu verlieren, insbesondere
Geschehens sind Deutungsprozesse konstitutiv für die        aus der Perspektive benachteiligter und vernachlässigter
Wahrnehmung und Verarbeitung der Krise. Deutungen           Kinder oder alter Menschen, die verzweifelt auf Besuch
lenken die Wahrnehmung und Aufmerksamkeit der Ad-           und Seelsorge in den Pflegeeinrichtungen und Kranken-
ressaten, die durch ihre Anerkennung der Deutung Macht      häusern gewartet haben, massiver Ungleichheitserfah-
verleihen können. Gedeutet wird, um Relevanz zu set-        rungen in existentieller, materieller und ideeller Pers-
zen und Unterschiede zu machen. Deutungen sind not-         pektive, nicht nur, aber auch im Bildungskontext usw.
wendig perspektivisch und selektiv. Mehrdeutigkeit bzw.     In modaler Perspektive wird die Wirkmacht dieser neuen
die Pluralität der konkurrierenden Deutungen führt zu       gesellschaftlichen Deutungsformation zu beobachten
Deutungskonflikten, die sich mit Wahrheitsfragen ver-       sein: Wie verändert sie unsere Selbstwahrnehmung und
binden können. Je komplexer Deutungen werden, umso          unser Zusammenleben, welche grundlegenden Werte
strittiger werden sie. Das lässt sich auch an Corona-Deu-   sind betroffen und werden möglicherweise langfristig
tungen im Horizont von Letztbegründungsmustern und          umcodiert, was tritt als systemrelevant und lebensrele-
Welterklärungsmodellen nachvollziehen, wie sie zahl-        vant ins Bewusstsein und wie wird der Deutungsmacht-
reiche medial stark vertretene Philosophen vor dem Hin-     konflikt zwischen konfligierenden diesbezüglichen Ein-
tergrund ihres Relevanzsystems vorgeführt haben. So         schätzungen ausagiert?
spricht Hartmut Rosa von dem Virus als dem radikalsten                                              Martina Kumlehn

Universität Rostock                                                                                                      9
Innovatio Traditio et - Welt aus den Fugen - Uni Rostock
titel

        haltung BeWahren
        iM angesiCht der Pest
        Giovanni Boccaccio beschreibt einen dritten Weg
        zwischen Askese und hemmungslosem Hedonismus

        P
                    andemien, die auf der Verbreitung von hoch-      das Unheil der Pandemie z. B. als Folge eines geheimen
                    infektiösen und lebensbedrohlichen Erre-         Komplottes zwischen Muslimen, Juden und leprösen
                    gern beruhen, gegen die aktuell keine Im-        Christen erklären (wie etwa im sogenannten Bananias-
                    munität ausgebildet werden kann, stellen         Brief); mit der Hilfe dieser und ähnlicher Sinnunterstel-
                    jedes menschliche Gemeinwesen auf eine           lungen werden dann auch die ab November 1348 be-
        extreme Belastungsprobe, weil sie den Betroffenen an-        ginnenden brutalen Pogrome gegen die europäischen
        ders als im Falle von Hungersnöten, Naturkatastrophen        Juden legitimiert, in deren Verlauf über 350 jüdische
        oder Kriegen, den Trost der körperlichen Nähe verwei-        Gemeinschaften ausgelöscht werden. Auf der anderen
        gern. In Zeiten der Bedrohung sucht der Mensch, das          Seite wird die Seuche aber auch als Strafe Gottes für das
        soziale Wesen (ζῷον πολιτικόν), die Umarmung, den            eigene Fehlverhalten gedeutet. Dies gilt besonders für
        Händedruck, den Schulterschluss – wenn nun aber gera-        die sogenannten Geißler oder Flagellanten (flagellanti,
        de das Beisammensein und die Berührung zum Problem           disciplinanti), die ein strenges parareligiöses Ritual ent-
        werden und der Nächste zur potentiellen Gefahr, droht        wickeln, um der Pandemie durch das gemeinsame Ab-
        der soziale Zusammenhalt zu zerfallen. Die Frage, wie        singen von Bußliedern sowie durch öffentliche Selbst-
        sich die Corona-Krise des Jahres 2020 auf die Mensch-        kasteiungen entgegenzuwirken. Zudem schlägt sich
        heit im Allgemeinen und auf die deutsche Zivilgesell-        mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung das durch
        schaft im Besonderen auswirken wird und welche Um-           die Pest gesteigerte Bewusstsein der eigenen Sterb-
        gangsweisen wir mit der Bedrohung durch das Virus            lichkeit in neuen Textgattungen nieder, unter denen
        entwickeln, ist noch offen; sie wird sich wohl umfas-        der Totentanz oder die Schriften zur ars (bene) moriendi,
        send erst nach Abschluss der Pandemie beantworten            zu der Kunst (auf gute Weise) zu sterben, hervorstechen.
        lassen. Deutlich ist allerdings jetzt schon, dass selbst     Die literarisch anspruchsvollste Dichtung, in der die
        im verhältnismäßig gut abgesicherten deutschen Bin-          Erfahrung der Pest literarisch aufgegriffen wurde, ist
        nenraum sehr unterschiedliche Strategien entwickelt          aber zweifellos die zwischen 1348 und 1353 entstan-
        worden sind, auf die Covid-19-Pandemie zu reagieren.         dene Novellensammlung Decamerone (‚Zehn Tage‘) des
        In dieser Situation lohnt sich vielleicht der Blick zurück   Giovanni Boccaccio.
        in die Zeit der Pest, des sogenannten Schwarzen Todes,
        als im 14. Jahrhundert, vor allem zwischen 1347 und          In der Einleitung zu der Sammlung berichtet der Er-
        1350 die europäische Welt von Spanien bis Polen, von         zähler, wie sich im Zuge der Pest die gesellschaftliche
        Sizilien bis England aus den Fugen geraten war.              Ordnung der Stadt Florenz aufgelöst habe: Die grässli-
                                                                     chen Erscheinungen der Krankheit „hatten Männern und
        Für die Literaturwissenschaft ist bei dieser Rückschau       Frauen eine solche Hartherzigkeit eingeflößt, dass ein
        besonders aufschlussreich, das in den literarischen Tex-     Bruder den andern, der Oheim den Neffen, die Schwester
        ten des 14. Jahrhunderts eine mit heutigen Verhältnis-       den Bruder und oft die Gattin den Gatten verließ; ja, was
        sen sehr vergleichbare Diversität von Verhaltensdispo-       noch schrecklicher und beinahe unglaublich ist, Väter
        sitionen und Schuldzuschreibungen zu beobachten ist:         und Mütter besuchten und pflegten ihre Kinder nicht,
        So zirkulieren auf der einen Seite auch in der Zeit der      als ob dieselben sie gar nichts angingen (S. 19).“ Als Re-
        Pest xenophobische Verschwörungsphantasien, die              aktion auf diesen Verfall der Ordnung reagiert eine gro-

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ße Gruppe von Stadtbürgern mit dem asketischen Rück-
zug aus der Welt und mit der radikalen Aufkündigung
aller sozialer Kontakte, um das Ansteckungsrisiko mög-
lichst zu verringern: „Viele waren der Meinung, eine mä-
ßige Lebensweise und die Enthaltung von allem Über-
flusse müsse ein gutes Mittel gegen dieses Unglück
sein; sie bildeten daher Gesellschaften und lebten von
allen anderen getrennt, versammelten und verschlos-
sen sich in solche Häuser, in denen niemand krank war
(S. 16).“ Andere hingegen suchten ihr Heil in der ungezü-
gelten Ausübung der vitalen Bedürfnisse. Wenn schon
die Lebensspanne absehbar geringer wird, soll die ver-
bleibende Zeit ausgekostet werden bis zu Neige, und
zwar selbst unter der Vorgabe, dass dieses Verhalten
das Mortalitätsrisiko für die eigene Person wie für die
Mitmenschen erhöht; sie vertraten die Meinung, „tüch-
tig zu essen und sich zu freuen, scherzend und singend
umherzuziehen, auf alle Art dem Gaumen Genüge zu
tun und über alles, was vorfalle, zu lachen und sich lus-
tig zu machen, sei das sicherste Heilmittel gegen dieses
Übel. Dieses führten sie auch nach Vermögen aus: Tag
und Nacht zogen sie von einer Schenke in die andere und
tranken ohne Maß und Ziel (S. 16f.).“                       Der Text des „Decamerones“ wird zitiert nach der
                                                            Übersetzung von Gustav Diezel: Giovanni Boccaccio:
Am Beispiel von sieben jungen Damen und drei jun-           Der Decamerone. Bd. 1. 2. 5. Aufl. Zürich: Manesse-Verl.
gen Männern, die durch Freundschaft, Nachbarschaft          1987 (= Manesse Bibliothek der Weltliteratur).
oder Verwandtschaft miteinander verbunden sind, wird
nun aber ein dritter Weg beschrieben. Er besteht dar-       mie nicht auf das Leben in Gemeinschaft und auf einen
in, dass sich die kleine Gemeinschaft für eine Zeit aus     kultivierten Umgang miteinander verzichten; die Erfül-
der Öffentlichkeit zurückzieht, um ihr Leben zu bewah-      lung dieses Wunsches ist dann freilich auch an Selbst-
ren und zu schützen. Zugleich soll aber ein Freiraum für    disziplin und Affektkontrolle gebunden.
die gepflegte Kultur des Miteinanders eröffnet werden,
für festliche und vergnügliche Tage als Mittel gegen die    Ob diese Utopie in medizinischer Hinsicht von Erfolg ge-
Furcht, „ohne auf irgendeine Art die Gesetze der Ver-       krönt war, ist nicht ersichtlich. Boccaccio beendet sei-
nunft zu überschreiten (S. 30).“ Vor allem aber werden      ne Novellensammlung ohne einen Hinweis zu geben,
an zehn Tagen jeweils zehn Geschichten erzählt, die auf     wie es der Erzähl- und Hörgemeinschaft bei ihrer Rück-
unterhaltsame Weise der Klugheit und der Selbstver-         kehr ergeht. Wir können daraus nur schließen, dass es
antwortlichkeit des Einzelnen das Wort reden. Boccac-       für Boccaccio neben dem medizinisch Notwendigen
cios Decamerone zeigt demnach, wie sich im Angesicht        auch noch anderes gibt auf dieser Welt, die rechte inne-
der Pestbedrohung der Wunsch artikuliert, sich in eige-     re Haltung (ἕξις). Vielleicht ist schon aus diesem Grunde
ner Regie, unabhängig von weltlichen oder kirchlichen       die Erinnerung an ihn und an seine wunderbare Erzähl-
Einrichtungen in einem vernünftigen und anständigen         sammlung ein willkommener Beitrag zu der Frage, wie
Leben einzurichten, das weder in zerknirschter Aske-        wir uns heute zu den Herausforderungen stellen wollen,
se versinkt noch in ein inakzeptables Risikoverhalten       die uns durch eine Pandemie aufgenötigt werden.
einmündet. Das ist möglicherweise die wichtigste Bot-
schaft des Textes: Wir wollen auch in Zeiten der Pande-                                       Franz-Josef Holznagel

Universität Rostock                                                                                                     11
Foto: Reuters/Jonathan Ernst, Adobe Stock
     auF deM Weg Zur
     Weltunordnung?

     I
         st die Welt durch die globale Corona-Krise aus den    litischen Elite verstand man das Buch nicht zuletzt als
         Fugen geraten? Hat US-Präsident Donald Trump          Handlungsanweisung, um einem machtpolitischen Nie-
         mit seinen bisweilen erratisch, ja irrational anmu-   dergang der USA entgegenzuwirken. Wir können nicht
         tenden außenpolitischen Entscheidungen das in-        davon ausgehen, dass Trump Paul Kennedy gelesen
         ternationale System destabilisiert? Jüngste Ent-      hat, es ist aber erkennbar, dass das Konstrukt einer auf
         wicklungen haben die Besorgnis wachsen lassen,        „America First“ basierenden internationalen Ordnung
         die Staatenwelt könne in eine Situation der glo-      an ältere Debatten anknüpft. Trumps „Make America
     balen Unordnung abgleiten. In seinem 1987 erschie-        great again“-Rhetorik ist dabei nicht erst im Präsident-
     nenen Bestseller „Aufstieg und Fall der großen Mäch-      schaftswahlkampf 2015/16 zum Dreh- und Angelpunkt
     te“ beschreibt der britische Historiker Paul Kennedy      des Wunsches nach einer nachhaltigen globalen Hege-
     die Weltgeschichte der letzten 500 Jahre als ein ste-     monialstellung der USA entstanden, sondern zählte be-
     tig wiederkehrendes Muster: Im internationalen Sys-       reits 1980 zum Repertoire Roland Reagans.
     tem etablieren sich zyklisch Großmächte oder Allian-
     zen, deren Vormachtstellung dann nach einer gewissen      Im Gegensatz zu den vorangegangenen Präsidenten seit
     Zeit durch neue hegemoniale Staaten oder Bündnisse        dem Ende des Kalten Krieges, Georg Bush, Bill Clinton,
     abgelöst werden. Die Idee der Weltunordnung ist den       George W. Bush und Barack Obama, hat Trump jedoch
     Überlegungen Kennedys fremd, denn jede aufgestie-         das im Ganzen konsensfähige Weltordnungskonzept
     gene Großmacht schafft auch wieder eine internatio-       der Gegenwart in Frage gestellt. Gemeint ist hierbei ein
     nale Ordnung. Innerhalb der US-amerikanischen po-         Zustand der liberalen hegemonialen Stabilität: Eine von

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titel

den USA gewollte und von einer substantiellen Anzahl anderer       Nach allgemeinem Verständnis beschreibt Außenpolitik die
Staaten akzeptierte – gar als notwendig erachtete – interna-       Gestaltung der internationalen Beziehungen zwischen Staa-
tionale Vormachtstellung und Führungsposition der Vereinig-        ten. Die historische Erfahrung lehrt, dass demokratisch legiti-
ten Staaten, wobei Washington seine Interessen nicht blind         mierte Regierungen bemüht sind, soweit wie möglich die Kol-
durchsetzt, sondern die Anforderungen an eine stabile Welt-        lektivinteressen des eigenen Landes (gegebenenfalls auch in
ordnung im Fokus behält. Zwar gab es auch Gegenbeispiele,          Gemeinschaft mit gleichgesinnten Staaten) gegenüber dem
wie den von einigen Verbündeten als illegitim erachteten           regionalen oder globalen Umfeld zu befördern. Populisten
Irakkrieg und den Militäreinsatz gegen das Gaddafi-Regime in       wie Donald Trump, Boris Johnson, Jair Bolsonaro oder Viktor
Libyen 2011, insgesamt orientierten sich die globalistischen       Orbán praktizieren jedoch eine vor allem nach innen gerich-
Interessen der USA jedoch am Konsens und artikulierten sich        tete Außenpolitik, die sich stark an Partikularinteressen ori-
dabei in der Aushandlung oder zumindest aktiven Unterstüt-         entiert. Wenn Trump internationale Verträge kündigt, besteht
zung wichtiger internationaler Verträge. Zu nennen sind z. B.      das Kalkül hauptsächlich darin, bei seiner Wählerbasis zu
das Pariser Klimaschutzabkommen, die Millenniumsentwick-           punkten, die seine Verschwörungstheorie von der Benachtei-
lungsziele und die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung,        ligung der USA durch multilaterale Abkommen teilt. Und das
das internationale Atomabkommen mit dem Iran und diverse           konsequente Zusteuern Johnsons auf einen aller Voraussicht
Rüstungskontrollvereinbarungen. Diese und etliche andere           nach für das Vereinigte Königreich nachteiligen No Deal im
Verträge gaben Zeugnis von der prominenten Rolle multi-            Verhältnis mit der EU ist nur dann zu verstehen, wenn das ge-
lateraler Kooperationsmechanismen als einem strukturprä-           samte Brexit-Unternehmen im Kontext des innenpolitischen
genden Element der internationalen Ordnung. Zwar war die           Machterhalts der Conservative Party und der Befriedigung der
Zusammenarbeit nicht immer von Erfolg gekrönt, wenigstens          ideologischen Interessen der Parteielite gesehen wird. Letzt-
bestand aber Einvernehmen hinsichtlich der zentralen Funk-         lich ist es diese in jüngerer Vergangenheit fortschreitende
tion des Multilateralismus.                                        Einbettung internationalen Handelns in innerstaatliche und
                                                                   innenpolitische Kontexte, welche die Deutung des interna-
Eine Politik des „America First“ ist unvereinbar mit den Erfor-    tionalen Systems verkompliziert und in der Konsequenz der
dernissen liberaler Hegemonie. Der serienweise Ausstieg der        Wahrnehmung einer Weltunordnung Vorschub leistet. Die
USA aus internationalen Verträgen, der Rückzug aus der Welt-       Weltunordnung und nicht die Weltordnung ist jedoch der Nor-
gesundheitsorganisation WHO inmitten der Corona-Krise und          malfall. Denn: Zu keinem Zeitpunkt in der Menschheitsge-
die angekündigte Reduzierung der US-Truppen im Nato-Part-          schichte existierte eine Weltordnung im Sinne eines stabilen
nerland Deutschland belegen dies. Gleichzeitig zeigt die trotz     internationalen Systems, das über dauerhafte Strukturen
ihrer periodischen Krisen weiterhin in hohem Maße handlungs-       verfügt hätte, die von allen zentralen Akteuren verinnerlicht,
fähige Europäische Union, dass der Zustand der Weltordnung         akzeptiert und in ihrem Bestand und ihrer Nachhaltigkeit be-
nicht alleine von den USA abhängt und wir den Multilateralis-      fördert worden wären.
mus als Antwort auf regionale und globale Herausforderun-                                                             Jörn Dosch
gen keinesfalls zu Grabe tragen müssen. Die Einigung der EU-
Mitgliedsstaaten auf das in seinen finanziellen Dimensionen
historische „Corona-Paket“ im Juli hat dies erneut eindrück-
lich unter Beweis gestellt. Bei aller verständlichen und berech-
tigten Kritik an der EU ist auch immer Folgendes zu bedenken:
Die ständige Notwendigkeit zur Kompromissfindung in ei-
nem großen und heterogenen Feld an Mitspielern – 27 Staa-
ten – führt zwangsläufig zu Reibungsverlusten und ist nicht
notwendigerweise als Zeichen von Schwäche und Ineffektivi-
tät zu deuten. Nicht in Abrede gestellt werden soll jedoch, dass
mit dem Populismus ein Damoklesschwert über der europäi-
schen Integration und den internationalen Beziehungen ins-         EU-Gipfel im Juli 2020: Einigung auf Corona-Hilfspaket
gesamt schwebt.                                                    (Foto: Reuters/Pool, Adobe Stock).

Universität Rostock                                                                                                           13
titel

        WirtsChaFtsForsCherin:
        tieFste reZession der
        naChKriegsgesChiChte

        P
                   rofessorin Britta Gehrke sagt: „Die Corona-       nismäßig wenig gestiegen. Das sieht allerdings dies-
                   Krise ist für die Wirtschaft eine Katastrophe“,   mal anders aus. Laut Bundesagentur für Arbeit dürften
                   die seit April 2020 an der Universität Rostock    durch die Corona-Krise bis einschließlich Juni bereits
                   Angewandte Makroökonomie lehrt und so-            ca. 600.000 Personen arbeitslos geworden sein. Zudem
                   mit gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge           gehe die Beschäftigung zurück. Das sei bemerkenswert,
        beleuchtet. Corona habe massive Auswirkungen auf die         da damit der zuvor jahrelang anhaltende Aufschwung
        Wirtschaft. „Da wird noch einiges passieren“, prophezeit     mit steigender Beschäftigung ende. Der Arbeitsmarkt
        die Mutter eines kleinen Sohnes. Einer ihrer Forschungs-     ist ein Spezialgebiet von Britta Gehrke. Die studier-
        schwerpunkte ist die makroökonomische Analyse von            te Volkswirtin war von 2015 bis 2020 Juniorprofesso-
        Arbeitsmärkten. „Die Arbeitslosigkeit wird steigen und       rin für Makroökonomik und Arbeitsmarktforschung an
        auch die Kurzarbeit“ sagt die Forscherin. Der Arbeits-       der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
        markt gerate massiv unter Druck.                             und am Institut für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung
                                                                     Nürnberg beschäftigt, bevor sie an die Universität Ros-
         Für die 34-Jährige ist die Kurzarbeit „in tiefen Krisen     tock wechselte.
        ein wirksames und sinnvolles Instrument“. Aber es wer-
        de nicht ewig helfen. Die alles entscheidende Frage sei,     Die Wirtschaftsbereiche des öffentlichen Lebens sind,
        wie lange die Pandemie andauern werde und ob es zu           wie in vielen anderen Ländern, im Zuge des sogenann-
        einer zweiten Welle komme. Die Politik könne momen-          ten Shutdowns weitgehend geschlossen worden. Ein
        tan erstmal nur Überbrückungshilfe leisten. „Und das         Großteil der Industrie leidet unter einem gravieren-
        tut sie bisher überwiegend erfolgreich“. Aufgrund der in-    den Einbruch der Nachfrage im In- und Ausland sowie
        ternationalen Handelsverflechtungen, die für die deut-       Störungen der Lieferketten. „Auch viele Dienstleistun-
        sche Wirtschaft eine große Rolle spielen, reicht es aber
        nicht, nur die deutsche Situation im Auge zu behalten.
        Die globale Entwicklung der Pandemie und der Weltwirt-
        schaft würden immer wieder direkte Auswirkungen auf
        die deutsche Wirtschaft haben.

        „Wir befinden uns aktuell in der tiefsten Rezession der
        Nachkriegsgeschichte“, unterstreicht Britta Gehrke. Be-
        reits zur Finanzkrise 2009 habe es geheißen, es sei die
        tiefste Rezession seit dem Krieg. „Jetzt wissen wir, was
        tief ist“. 2009 habe es maximal 1,5 Millionen Menschen
        gegeben, die in Kurzarbeit waren. „Zur Spitze im Mai
        dieses Jahrs waren es etwa 7,3 Millionen“, verdeutlicht
        die Professorin. Die Arbeitslosigkeit ist 2009 verhält-

                             Professorin Britta Gehrke analysiert
                                    Arbeitsmärkte (Foto: privat).

14                                                                                                   Traditio et Innovatio 01 / 2020
gen werden krisenbedingt nicht oder deutlich weni-          iMPressuM
ger in Anspruch genommen. Außerdem kommt es zu
                                                            Traditio et Innovatio
Arbeitsausfällen, etwa weil Schulen und Kindertages-
                                                            Magazin der Universität Rostock
stätten geschlossen sind und berufstätige Eltern ihre
Kinder nun selbst betreuen müssen“, konstatiert die         Herausgeber:
                                                            Rektor der Universität Rostock
Forscherin.
                                                            Redaktionsleitung:
Besonders Zeitarbeiter, Minijobber, Selbstständige          Dr. Kristin Nölting (V.i.S.d.P.)

und Personen mit befristeten Arbeitsverträgen verlie-
                                                            Universität Rostock,
ren ihren Job in der Krise. Gleichzeitig werde es schwe-    Presse- und Kommunikationsstelle,
rer eine neue Beschäftigung zu finden als zu norma-         Universitätsplatz 1, 18055 Rostock,
                                                            Tel.: +49 381 498-1012,
len Zeiten. Dies trifft auch Schulabgänger und Uni- und     E-Mail: pressestelle@uni-rostock.de
Fachhochschulabsolventen. Häufig nehmen betroffene
                                                            Fotos:
Personen dann eine Beschäftigung auf, die nicht so pass-
                                                            wenn nicht anders angegeben,
genau zu ihren Fähigkeiten ist und somit auch schlech-      IT- und Medienzentrum der Universität
ter bezahlt wird. „Das hat dann oft lebenslange Konse-
                                                            Titelbild:
quenzen“. Die Rezession werde irgendwann vorbei sein,       Jan van Grevenbroeck, Venetian doctor during
aber diese langfristigen Effekte, die würden häufig blei-   the time of the plague (Wikipedia).
ben, betont Professorin Gehrke. Hier könnten Einstel-
                                                            Layout:
lungszuschüsse ein wirtschaftspolitisches Mittel sein,      Matthias Timm,
um gegenzusteuern. „In einer so tiefen Rezession wie        Heise Medienwerk GmBH & Co. KG,
                                                            Rostock
der Corona-Krise kommt es zudem zu einer verminder-
ten Gründungstätigkeit. Auch dies könnte Effekte über       Druck:
die Dauer der eigentlichen Rezession hinaus haben: Es       Druckerei Weidner GmbH

könnte langfristig weniger junge, wachsende Unterneh-       Auflage:
men geben, die neue Beschäftigte suchen, blickt die Wis-    2.000 Exemplare
senschaftlerin voraus.
                                                            ISSN 1432-1513

Britta Gehrke konstatiert, dass es eine große Unsicher-     Hinweise:
heit über den Fortgang der Pandemie und der Eindäm-         Soweit neutrale oder männliche Bezeichnungen
                                                            verwendet werden, sind darunter jeweils weib-
mungsmaßnahmen gäbe. Deshalb ist es aus ihrer Sicht         liche und männliche Personen zu verstehen.
aktuell sehr schwer, Prognosen zur Entwicklung von          Die Redaktion behält sich die sinnwahrende
Wirtschaft und Arbeitsmarkt zu geben. Es zeichne sich       Kürzung von Beiträgen vor. Namentlich oder
                                                            mit dem Signum des Verfassers gekenn-
aber bereits ab, dass die Corona-Krise die Ungleichheit     zeichnete Beiträge müssen nicht mit der
am Arbeitsmarkt erhöhen könnte. So ist das Arbeiten         Meinung des Herausgebers oder der Redaktion
                                                            übereinstimmen.
im Homeoffice häufig bei Tätigkeiten der mittleren und
                                                            Die Rechte der veröffentlichten Beiträge ein-
höheren Einkommensbereiche mit relativ wenig An-            schließlich der Abbildungen, soweit nicht
passungsschwierigkeiten möglich – und wird in die-          anders gekennzeichnet, liegen bei der Uni-
                                                            versität Rostock. Der Nachdruck gegen ein
sen Bereichen wohl auch die Zeit nach Corona über-          Belegexemplar bei Quellen- und Autorenangabe
dauern –, wohingegen viele Beschäftigte aus Sicht von       ist frei.
Professorin Britta Gehrke im Niedriglohnsektor nicht
einfach aus dem Homeoffice tätig werden können.
„Ebenso sind es häufig die Frauen, die fehlende Kinder-
betreuungsmöglichkeiten ausgleichen und so beruf-
lich zurückstecken“.
                                         Wolfgang Thiel

Universität Rostock                                                                                    15
titel

        PolitiKer aus MV
        sChätZen ProFessor
        reisingers ratsChläge

        D
                        Die Arbeit von Virologen steht in nor-      nem Rat unterstützt. Mecklenburg-Vorpommern ist das
                        malen Zeiten nicht so im öffentlichen       Land mit den niedrigsten Infektionszahlen in Deutsch-
                        Interesse. Sie wirken eher im Verbor-       land. Das verdanken wir auch der kompetenten Beglei-
                        genen, viel im Labor. Aber es sind keine    tung von Experten wie Professor Reisinger.“
                        normalen Zeiten. Seit Corona sind Viro-
        logen über Nacht zu Medien-Stars geworden. In Meck-         Kein Wunder, denn die Forschungskompetenz von Emil
        lenburg-Vorpommern ist Professor Emil Reisinger, Lei-       Reisinger liegt in der Entwicklung diagnostischer und
        ter der Abteilung Tropenmedizin und Infektiologie der       therapeutischer Verfahren auf den Gebieten der Tro-
        Universitätsmedizin Rostock, einer von ihnen. Plötz-        pen-und Reisemedizin sowie Infektionskrankheiten
        lich steht der 62-jährige gebürtige Österreicher mit        und der klinischen Mikrobiologie. Selbst als die Vogel-
        dem unverwechselbaren Dialekt seiner Heimat vor Ka-         und Schweinegrippe Mecklenburg-Vorpommern in Atem
        meras und Mikrofonen und trägt schon den Beinamen           hielt, war Emil Reisinger gefragt. Und er hat auch damals
        „Don Corona“. Dabei ist er von Hause aus Tropenmedi-        die Landesregierung erfolgreich beraten.
        ziner. Aber gerade Tropenmediziner beschäftigen sich
        viel mit Viren.                                             Die Corona-Pandemie hat er bereits im Januar für
                                                                    Deutschland vorausgesagt. Just zu dem Zeitpunkt, als
        Seit 25 Jahren ist Emil Reisinger, der gern in den Ber-     erste Fälle in den USA und Europa auftraten. Ihm ist im-
        gen wandert, und mit großer Leidenschaft, wie er selbst     mer wichtig, sich im Team von Experten zu beraten. Das
        sagt, auf der Ostsee mit einem Segelboot unterwegs ist,     sind für ihn zum Beispiel das Landesamt für Gesundheit
        weltweit als gefragter Tropenmediziner unterwegs. „Ich      und Soziales, das Rostocker Max-Planck-Institut sowie
        habe viele Epidemien und Pandemien miterlebt“, sagt         seine Fachkollegen von der Unimedizin Rostock und
        der gefragte Arzt und nennt als Beispiele die Cholera und   Greifswald.
        Typhus Epidemie im Irak 1992. Der Rat des Dekans der
        Unimedizin Rostock, der unter anderem wissenschaftli-       Aufhorchen ließ Emil Reisinger die Öffentlichkeit, als er
        cher Leiter des Kompetenzzentrums für klinische Studi-      vor der Fernsehkamera wissen ließ, dass er eine größere
        en ist sowie als Vorsitzender des wissenschaftlichen Bei-   zweite Welle von Corona in Mecklenburg-Vorpommern
        rates und Mitglied des Kuratoriums des Bernhard-Nocht       für weitgehend unwahrscheinlich hält, wenn die Ab-
        Instituts für Tropenmedizin in Hamburg agiert, ist über-    standsregeln eingehalten und Masken getragen werden.
        all gefragt, auch bei der Landesregierung von Mecklen-      „Ich sage das, was ich weiß, wissenschaftlich belegen
        burg-Vorpommern.                                            kann und denke“, argumentiert der Experte. Berührungs-
                                                                    ängste mit der Öffentlichkeit oder Scheu vor Fernsehka-
        Ministerpräsidentin Manuela Schwesig sagt: „Ich bin         meras habe er nicht.
        sehr dankbar, dass wir mit Professor Reisinger einen er-
        fahrenen Experten an unserer Seite haben. Mit seinen        Rektor Professor Wolfgang Schareck sieht es als eine
        umfassenden medizinischen Kenntnissen und seiner            der wichtigen Aufgaben einer Alma Mater, neueste wis-
        Fähigkeit, daraus konkrete Handlungsempfehlungen            senschaftliche Erkenntnisse in Wirtschaft und Gesell-
        abzuleiten, hat er uns bei vielen Entscheidungen mit sei-   schaft zu tragen. „In Corona-Zeiten wird sehr deutlich,

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Professor Emil Reisinger berät die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern.
Eine Leidenschaft von Emil Reisinger: Wandern in den Bergen. (Foto: privat).

wie wichtig die Expertenmeinung für die Politikberatung        Ländern mit Küsschen, Küsschen, fremd. Auch das spiele
ist“, unterstreicht der Rektor. Er sagt: „Wir sind stolz auf   eine Rolle, dass die Infektionszahlen in MV im Bundes-
Professor Reisinger, dessen Meinung geschätzt wird,            vergleich so bemerkenswert niedrig seien. Der Infektio-
die auch in die Entscheidung der Landesregierung ein-          loge bestätigt, dass sich die Mehrheit der Bürgerinnen
fließt.“                                                       und Bürger vorbildlich an die Vorgaben, die die Landes-
                                                               regierung beschlossen habe, halte. „Das ist die Voraus-
Woher nimmt Emil Reisinger seinen Optimismus für               setzung, dass wir weiterhin das Bundesland mit den nied-
Mecklenburg-Vorpommern? Den meisten Menschen in                rigsten COVID-19 Fallzahlen bleiben“.
diesem Land seien Begrüßungsrituale wie aus südlichen                                                   Wolfgang Thiel

Universität Rostock                                                                                                       17
titel

        Mit Modellen niCht
        nur die ZuKunFt
        Vorhersagen, sondern
        MögliCh MaChen

        H
                       ätte man Anfang des Jahres voraussa-         schnell zu handeln: Man kann bei Epidemien bzw. Pan-
                       gen können, dass Mitte März unsere Wirt-     demien nicht warten, bis die Zahl von Infektionen nach
                       schaft und unser gesamtes gesellschaft-      einem Problem aussieht, weil es dann schon am folgen-
                       liches Leben zum Stillstand gebracht         den Tag zu spät sein kann, um eine Katastrophe zu ver-
                       werden muss? Schon früh war bekannt,         hindern.
        dass das SARS-CoV-2-Virus sich rapide über Länder-
        grenzen hinweg verbreitet und mit welchen Konsequen-        Wie viele Menschen sich tatsächlich anstecken, hängt
        zen infizierte Personen rechnen müssen. Mitte März          davon ab, wie viele sich begegnen und ob eine Begeg-
        dieses Jahres überschlugen sich die Ereignisse. Die An-     nung auch zu einer Infektion führt. Wie lässt sich das be-
        zahl von täglichen Neuinfektionen in Deutschland folg-      einflussen? Ganz einfach: durch weniger Begegnungen
        te dem gleichen Verlauf wie in anderen Ländern, in denen    und weniger Virusübertragung, zum Beispiel durch das
        Krankenhäuser und deren Mitarbeiterinnen und Mitar-         Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes.
        beiter bereits an ihre Grenzen kamen. Man hätte Ende
        2019, Anfang 2020 das Risiko dieser Pandemie ahnen,         Um beispielsweise den Bedarf an Intensivbetten in einer
        aber nicht ‚vorhersagen‘ können, mit wie vielen Infizier-   bestimmten Region vorherzusagen, werden jedoch kom-
        ten, Erkrankten und Toten zu rechnen ist. Ein Risiko er-    plexere Modelle als das oben beschriebene benötigt, mit
        ahnen oder die Konsequenzen einer Pandemie vorhersa-        mehr als nur einer Variablen. Mehr Variablen in einem
        gen, sind zwei Paar Schuhe.                                 Modell bedeuten aber auch mehr Parameter, die aus Da-
                                                                    ten bestimmt werden müssen. Die Kunst der Modellie-
        Um die explosionsartige Ausbreitung eines Virus zu          rung besteht darin, die Modelle so einfach wie möglich
        verstehen, kann uns ein einfaches Modell helfen. Zu Be-     und so detailliert wie nötig zu formulieren. Neben Mo-
        ginn einer Pandemie lässt sich die Zunahme von Neuin-       dellen, die auf numerisch genaue Vorhersagen abzielen,
        fektionen mit einer exponentiellen Kurve beschreiben.       gibt es außerdem noch eine andere Klasse von Modellen,
        Das Modell eines exponentiellen Verlaufs von Infektio-      die dazu dienen, Gedankenexperimente zu simulieren.
        nen erlaubt uns, die Anzahl neuer Fälle für den folgen-     Diese Herangehensweise gewann während des Lock-
        den Tag vorherzusagen. Wir können die Wachstumsrate         downs für uns an Bedeutung, denn schon nach wenigen
        aus den Werten der letzten Tage schätzen und dann den       Wochen des Lockdowns stieg die Zahl der Menschen, de-
        künftigen Verlauf abbilden. Neben numerischen Vor-          ren persönliche Situation kritisch wurde und für manche
        hersagen hat die Modellierung eine zweite, aus meiner       sogar drohte, existentiell zu werden.
        Sicht wichtigere Bedeutung: Das Erklären. Bei der Aus-
        breitung eines Virus gibt die Reproduktionszahl „R“ an,     Das von uns entwickelte Modell betrachtet dabei vier
        wie viele Menschen im Mittel eine infizierte Person an-     Variablen: die Zahl anfälliger Personen, die Zahl nicht-
        steckt. Nehmen wir z. B. einem R-Wert von 2, so braucht     identifizierter Personen, z. B. asymptomatische Fälle,
        es nur 14 Schritte um auf über 16.000 Infizierte zu kom-    die andere anstecken, die Zahl identifizierter Personen,
        men. Dieses sehr einfache Modell erklärt, warum es gilt,    die andere anstecken können, die Anzahl gesundete und

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die Anzahl verstorbener Personen. Insbesondere die Un-                            aufbereiten und erklären. Das Internet hat für die Wis-
       terscheidung von identifizierten und nicht-identifizier-                          senschaft in dieser Zeit der Pandemie eine positive Rolle
       ten Personen, die andere anstecken, spielt eine wichtige                          gespielt. Nahezu alle Daten und Publikationen waren
       Rolle bei der Diskussion über Tests. Als sich im Laufe der                        frei verfügbar und es bildeten sich spontan Diskussionen
       Pandemie herausstellte, dass Menschen ohne Sympto-                                und Teams, um einen konstruktiven Beitrag zu leisten.
       me ansteckender sind, als zunächst vermutet, gewann                               Weltweit forderten Fachgesellschaften „Modellierer“ un-
       das systematische Testen an Bedeutung. Unser Modell                               terschiedlicher Disziplinen dazu auf, sich zu engagieren.
       wurde konzipiert, um die Rolle von umfassenden syste-                             Die vergangenen Wochen gehörten für mich persönlich
       matischen Tests zu verstehen und unterschiedliche Sze-                            zu einer sehr positiven Erfahrung, wie Wissenschaft ei-
       narien nachzuvollziehen. Mit unserem Modell wollten                               nen gesellschaftlichen Beitrag leisten kann.
       wir keine genauen Vorhersagen für den Bedarf an Kran-
       kenhausbetten machen. Vielmehr ging es uns darum zu                                                                             Olaf Wolkenhauer
       erklären, warum rechtzeitig gehandelt werden muss und
       warum die Maßnahmen nicht zu schnell gelockert wer-
       den können. Wir konnten zeigen, dass systematisches
       Testen und Verfolgen von Infizierten (z. B. unterstützt
                                                                                         Danksagung
       von der Corona-App) die Zahl von Neuinfektionen redu-
       zieren hilft. Interessant war zu sehen, dass systemati-                           Am lehrstuhl für Systembiologie & Bioinformatik
       sches Testen in Kombination mit periodischen Aufhe-                               haben sich eine Reihe von Mitarbeiterinnen und Mit-
       bungen (z. B. vier Tage im Büro arbeiten, sieben Tage                             arbeitern spontan in regionalen und internationalen
       zuhause bleiben) die Zahl von Neuinfektionen niedrig                              initiativen zur Coronaforschung engagiert. Mit Hil-
       hält und gleichzeitig eine zweite Welle verhindern kann.                          fe von Jupyter Notebooks und Google Collab können
                                                                                         die Simulationen von jedermann nachvollzogen und
       Die SARS-CoV-2 Pandemie hat gezeigt, wie wichtig es ist,                          die Modelle verändert werden: https://github.com/
       dass Expertinnen und Experten Informationen filtern,                              OlafWolkenhauer/Modelling-the-corona-pandemic

                                                ANZAHL DER INFEKTIONEN
                                                       IN ABHÄNGIGKEIT VON DER ZEIT
                                                 Warum die Pandemie nicht normal ist und man schnell reagieren muss,                            Der Kurvenverlauf ändert
                                                            liegt an der explosionshaften (exponentiellen)
                                                                         Ausbreitung des Virus:                                                 sich stark mit dem Faktor
             Anzahl der
1200
             Infektionen
                                                                                                                                                e • p. Deshalb ist mathe-
                                                                                                                                                matisch leicht nachzuvoll-
1000                                                                                                                                            ziehen, wie sich durch die
                                                                                                                                                Verringerung möglicher
800                                      Wenn wir den Wendepunkt kennen,                                                                        Begegnungen und das
                                    dann sind wir auf dem halben Weg zur Spitze
                             ... was uns etwas über den Bedarf an Intensivbetten sagt.                                                          Tragen eines Mund-
600
                                                                            Wendepunkt                                                          Nasen-Schutzes die Kurve
                                                                                            Neue Fälle am nächsten Tag sind                     leicht abflachen lässt.
                                             „In nur ein paar Tagen                         abhängig vom vorhergehenden Tag
400                                                                                                                                             Quelle: Olaf Wolkenhauer,
                                          doppelt so viele Infizierte !?“
                                                                                           ∆ Ft = e • p + F t                                   Universität Rostock.
200                                                                                                       Anzahl von Fällen an einem Tag
                                                                                                     Wahrscheinlichkeit dass eine Begegnung zur Infektion führt
                                                                                                  Durchschnittliche Anzahl an Begegnungen

             Tag 1                           Tag 10                        Tag 20                        Tag 30                      Tag 40

                                                                                                                  Anzahl der Tage nach der ersten Infektion

       Universität Rostock                                                                                                                                        19
titel

        KrisenZeiten
        erFordern Beständige
        KoMMuniKation
        und Volle transParenZ

        A
                         m 12. März fand die erste Krisen-         Was waren die dringlichsten Aufgaben des
                         stabssitzung an der Universität Ros-      Krisenstabes?
                         tock statt. Die Leitung des Krisensta-    Für schnelle und flexible Entscheidungen konnten wir
                         bes hatte Rektor Professor Wolfgang       durch den Krisenstab ein kurzes Vernetzungssystem
                         Schareck inne. Neben ihm waren Dr.        schaffen. Durch die mit Bedacht gewählte personelle
        Jan Tamm, Dr. Michael Vogt, Dr. Christa Radloff, Dr. Pe-   Besetzung des Krisenstabes war gesichert, dass wir
        ter Volle, Peter Wickboldt, Professor Patrick Kaeding      bei unserem Agieren alle universitären Gruppen be-
        und später zudem Professor Udo Kragl Mitglieder des        rücksichtigen. Die täglich neue Lage und die damit
        Krisenstabs. Die Redaktion sprach mit Professor Wolf-      einhergehenden Themen machten eine tägliche Zu-
        gang Schareck.                                             sammenkunft des Krisenstabs von Beginn an notwen-
                                                                   dig. Vorderste Aufgabe war es, den Weg der Universität
        Herr Professor Schareck, Sie leiteten den                  durch die Krise optimal zu gestalten. Nach dem Lock-
        Krisenstab der Universität in der Coronakrise.             down ging es uns vor allem um die Aufrechterhaltung
        Wie sahen die ersten Stunden der Arbeit des                des Basalbetriebes und im weiteren Verlauf um eine Er-
        Krisenstabes aus?                                          weiterung dessen, um so das Sommersemester best-
        Da die Krisensituation sich zusehends verschärfte, tra-    möglich vorbereiten zu können.
        fen wir uns zu unserer ersten Sitzung bereits am 12.          Darüber hinaus suchten wir auch nach Lösungen für
        März. Am Tag darauf wurde auf einer Pressekonferenz        individuelle Fragen wie bei Hardware- oder Softwarepro-
        der Hanse- und Universitätsstadt Rostock die Schlie-       blemen, bei der Suche nach Kinderbetreuung oder auch
        ßung der Schulen verkündet. Von Beginn war es für uns      bei finanziellen Nöten Studierender. Eigens dafür einge-
        wichtig, mit der Stadt an einem Strang zu ziehen. So       richtete Telefon-Hotlines und E-Mail-Adressen, die von
        entschied auch die Universität die Schließung und an-      Mitarbeitenden betreut wurden, gaben Hilfesuchenden
        ders als in dem im späteren Tagesverlauf veröffentlich-    die Möglichkeit der Kontaktaufnahme.
        ten Erlass des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft
        und Kultur Mecklenburg-Vorpommern nicht erst ab            Welche Problematiken aus den einrichtungen
        16. März, sondern schon ab 14. März. Mit diesem Schritt    und Fakultäten wurden am häufigsten an den
        wollten wir Menschenansammlungen und damit mög-            Krisenstab herangetragen?
        liche Übertragungsherde in der Universitätsbibliothek      In den Anfängen ging es oft um Fragen der Logistik, um
        am Sonnabend (14. März) unterbinden. Alle Leiterin-        die Beschaffung und Installierung von Desinfektions-
        nen und Leiter der einzelnen Einheiten informierten wir    mitteln, um Wegeleitsysteme oder um den Zugang zu
        über die bevorstehende Schließung in einer Sitzung.        Gebäuden und die Kontrolle dessen. Später traten dann
        Alle Angehörigen der Universität wurden im Anschluss       Fragen zur Organisation der Lehre immer stärker in den
        über die vorübergehende Einstellung des Universitäts-      Vordergrund, beispielsweise zur Durchführung von un-
        betriebes per Rektor-Mail in Kenntnis gesetzt.             aufschiebbaren Praktika oder auch Laborarbeiten.

20                                                                                                  Traditio et Innovatio 01 / 2020
Es ging um das Ermöglichen von Abschlussarbeiten und      dacht. Es ging mir um die Stärkung der Resilienz der Uni-
die Abnahme von Prüfungen und schließlich um das          versitätsmitglieder. Auch über Instagram probiere ich
Fortsetzen von Forschungsarbeiten und die Gestaltung      einen weiteren Kommunikationsweg aus, mit dem ich
des bevorstehenden Sommersemesters.                       insbesondere Studierende erreichen kann.

Haben Sie aus der Arbeit im Krisenstab etwas              Die regelmäßigen Beratungen des Krisenstabes
Neues gelernt?                                            wurden mit Beendigung der Sitzung am 3. Juli
Insbesondere im Bereich der Digitalisierung habe ich      ausgesetzt. Wie geht es jetzt weiter?
Vieles dazugelernt. Oft reihte sich eine Videokonferenz   Es fanden 49 Sitzungen statt. Seit dem 3. Juli werden die
an die andere. Unzählige virtuelle Sitzungen fanden mit   Entscheidungen unserer Universität zur Bewältigung
verschiedenen Systemen statt, die wiederum ganz un-       der Corona-Krise in den regulären Sitzungen des Rek-
terschiedlich zu bedienen waren.                          torates getroffen. Auch wenn die Krise leider noch nicht
   Zudem habe ich beobachtet, dass in Krisensituatio-     vorüber ist, so sind die Verfahrensweisen gut beschrie-
nen die Kommunikation das A und O ist, noch mehr als      ben und auch eingeführt, sodass wir diesen Schritt ge-
in sonstigen Zeiten. Denn das regelmäßige Informie-       hen konnten.
ren und Kommunizieren förderte die Transparenz unse-          Gern möchte ich die Gelegenheit nutzen und mich
rer im Krisenstab getroffenen Entscheidungen immens.      bei den Mitgliedern des Krisenstabes, bei den Mitarbei-
Neben Rundmails und dem Newsletter haben wir neue         tenden des Krisenmanagements und bei allen anderen,
Kommunikationskanäle zur Verstärkung unserer inter-       die mit großem Engagement zum Meistern dieser Krise
nen Kommunikation genutzt. Allgemeine Informati-          beigetragen haben und beitragen, für ihre aktive Unter-
onen wurden auf dem Dienstleistungsportal und dem         stützung und ihr gemeinschaftliches Handeln herzlich
Studierendenportal bereitgestellt. Zusätzlich dazu        bedanken.
habe ich mich mit Videos an unsere Universitätsange-
hörigen gewandt. Diese kurzen Videos stellten nicht nur   Herr Professor Schareck, haben Sie vielen Dank
einen zusätzlichen Kommunikationskanal dar, sondern       für das Gespräch.
waren von mir ebenfalls als Stimmungsaufheller ge-                                                Kristin Nölting

Universität Rostock                                                                                                   21
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