Forum Seelsorge in Bayern - Momente der Seelsorge - Forum Seelsorge in Bayern
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2 FSiB-Info Liebe Leserin, lieber Leser, Krisenzeiten können Blütezeiten hervorbrin- gen. So war es oft in der Geschichte. Die Über- windung der Pest im Mittelalter führte zur Blüte der Renaissance; die Weltkriege führten Christian Beck zur Gründung von Völkerbund und Uno. Auch im Tun der Seelsorgenden hat die Co- rona-Krise Spuren hinterlassen. Seelsorgende wären nicht Seelsorgende, wenn sie nicht im- mer die Polarität der Krise bedenken würden: das Schreckliche und das Tröstliche, Scheitern und Neuanfang, Verzweiflung und Hoffnung, Einbruch und Aufbruch. In diesem INFO des Forum Seelsorge in Bay- ern gehen wir auf Spurensuche nach solchen In dieser Ausgabe: Momenten der Seelsorge während Corona. Das Spektrum ist weit gefächert. Seelsorgende 03 Altenheimseelsorge berichten von ihren Momenten im Altenheim, 06 Lebensberatung in der Beratung von Menschen in Krisen, im Klinikum, in Schulen, mit Schwerhörigen, 08 Seelsorge mit Schwerhörigen Trauernden und Schwangeren. Sie gewähren 09 Psychologische Beratung uns Einblicke in Gemeinde- und Telefonseel- sorge, Bildungsarbeit und Begegnungen in 10 Klinikseelsorge ganz unterschiedlichen Bereichen von Seel- 14 Seelsorge an Trauernden sorge. 15 Literaturtipp Auch über Rück- und Ausblick auf die Öku- menischen Seelsorgetreffen des vergangenen 16 Landwirtschaftliche Familienberatung und diesen Jahres können Sie lesen, sowie 17 Gefängnisseelsorge über die Glosse schmunzeln. Alles im Leben hat zwei Seiten. Wir wissen 18 Schulseelsorge das. Oft aber übersehen wir im Vordergrün- 19 Schwangerschaftsberatung digen das Hintergründige und der Blick bleibt 22 hängen an dem, was im Licht steht und nimmt Telefonseelsorge nicht wahr, was im Schatten liegt. 24 Seelsorgeausbildung Lassen Sie sich mit hineinnehmen in die 25 Glosse Licht- und Schattenerfahrungen, die Seelsor- gerinnen und Seelsorger in einem außerge- 26 Erwachsenenbildung wöhnlichen Jahr machen durften! 28 Seelsorgetreffen 2020 Ihr Christian Beck 30 Ökumenischer Seelsorgetag 2021 Redaktion INFO 32 Forum Seelsorge in Bayern Forum Seelsorge in Bayern
FSiB-Info 3 „Danke, diese Information habe ich „Ich lebe von Abendmahl zu Abendmahl“ gebraucht. Jetzt ist es gut.“ … so erzählt mir eine alte Dame im Rollstuhl, die … so atmete eine Angehörige auf, als ich abends ich alle drei Wochen besuchen darf – mit Brot mit ihr telefonierte. Die Mutter war am Nach- und Wein in der Tasche. Gemeinsam decken mittag im Heim an Corona gestorben. Natürlich wir das Tischchen in ihrem kleinen Zimmer im hätte die Tochter – trotz eines Coronaausbruchs Wohnbereich eines Seniorenheimes, das seit – ihre Mutter jederzeit begleiten dürfen, aber Jahrzehnten ihr Zuhause ist – und dann sind wir es lagen nicht nur 100 Kilometer Entfernung, Gäste am Tisch unseres Herrn. „Und jetzt ist der sondern auch eine lange Verletzungsgeschichte Herr Jesus wieder da – und ich kann ihn ganz zwischen Mutter und Tochter. So wurden die deutlich spüren, in mir drin.“ So sagt sie. Und da Mitarbeitenden (von Pflege, Betreuung, Reini- liegt ein Strahlen auf ihrem Gesicht. Was könnte gungsteam, Küchenkraft, Seelsorgerin bis zum es Schöneres geben? Hausmeister …) zur unterstützenden Ersatz- Pfarrerin Anne Schneider Familie bis zum letzten Atemzug. Bamberg Abends am Telefon erzählte mir die Tochter von der schwierigen Beziehung – und dass sie trotz aller Verletzungen doch einen Wunsch gehabt hätte: Ihrer Mutter den Abschied aus dem Heim mit einem Segen zu ermöglichen – als ihr Zeichen der Versöhnung. Wie gut, dass wir Mitarbeiten- den auch in der Corona-Not dieser Bewohnerin Gottes Segen noch einmal zusprechen konnten. „Danke, diese Information habe ich gebraucht. Jetzt ist es gut.“, bedankte sich die Tochter und legte bald danach den Hörer auf. Pfarrerin Ursula Bühler Augsburg Anmerkung: Die beschriebenen kleinen Abend- mahlsfeiern sind eine große Ausnahme in der Coronazeit. Beide Beteiligten haben immer wie- der nach Möglichkeiten gesucht, um diese gestal- ten zu können – manchmal auf einer Parkbank vor der Einrichtung. Das zugehörige Haus war nicht so hermetisch abgeriegelt wie viele andere und darum gab es kleine Gestaltungsfreiräume. Ein kleiner Hoffnungsbeitrag in Zeiten, wo Kir- che sehr häufig vor der Tür blieb. „Was die Seele singen lässt“ „Dass meine Seele wieder singt“, wünschte sich eine Bewohnerin des Altenheims bei einem Tele- fongespräch. Was braucht die Seele, um wieder zu singen? Bei weiteren Gesprächen mit alten Men- schen versuchte ich, Antworten zu finden. Zwei Bedürfnisse hörte ich heraus: Gemeinschaft und Sicherheit. Letzteres ist nur dann möglich, wenn keine*r mehr Angst haben muss, angesteckt zu werden. Diese Sehnsucht teile ich. Dabei ist es mein Anliegen, das Gottvertrauen in dieser Zeit
4 FSiB-Info der Pandemie zu stärken. Mir ist aufgefallen, Was uns verbindet, ist die Trauer um das, was die dass christlich sozialisierte Bewohner*innen aus Corona-Pandemie uns abverlangt, und unsere dem Gebet viel Kraft und Sicherheit schöpfen. Gesellschaft tief erschüttert und verwundet hat. Bei dem Bedürfnis nach Gemeinschaft kann ich Die Nähe, die so nicht möglich war, wie wir sie die Senioren*innen ebenfalls gut verstehen. Wie so gerne gegeben hätten. Das Gefühl von Ohn- abwechslungsreich wäre es, wieder in großer macht und Ausgeliefertsein. Was uns verbindet, Runde Gymnastik oder Tanzabende zu erleben. ist die Trauer um unsere Verstorbenen, Ihre Was in einem der Seniorenheime in meiner Ge- Angehörigen, Ihre Mitbewohner*innen, um die meinde blieb, das waren die Gottesdienste. Als Menschen, die Sie, die Pflege- und Betreuungs- einmal zwei Bewohner*innen trotz Singver- kräfte lange gekannt, geschätzt und begleitet bot „Ich lobe meinen Gott“ mitsangen, habe ich haben. nichts dagegen unternommen. In diesem Mo- Als die Corona-Welle Ihre Stationen erfasst hat, ment hat nicht nur ihr Mund, sondern auch ihre haben Sie selbst Ihre Gesundheit riskiert. Oft Seele gesungen. sind Sie an den Rand Ihrer Kräfte gegangen. Vikarin Johanna Karcher Zugleich ist für mich in Ihrem Durchhalten so Großostheim deutlich geworden, wie verbunden Sie mit den Bewohner*innen waren, Ihre Liebe und Ihr Mit- gefühl wurden so sichtbar. Viele von Ihnen sind an Corona erkrankt, z.T. sehr schwer. Der Bundespräsident Frank Walter Steinmeier sagte bei der zentralen Gedenkfeier am 18. April: „Wir denken an alle, die im Moment ihres To- des keine vertraute Stimme hören, kein vertrau- tes Gesicht sehen konnten. Die sterben mussten ohne ein letztes zärtliches Wort, einen letzten liebevollen Blick, einen letzten Händedruck. Das zu wissen, zerreißt uns das Herz. Es macht uns unendlich traurig.“ Ich spüre diese immense Trauer, bei Ihnen, und auch bei mir. Die Pandemie hat tiefe Wunden geschlagen. Über 86.000 Menschen sind in Deutschland an und mit Corona gestorben, 3,2 Mio bzw. ver- mutlich noch sehr viel mehr weltweit. Eine Tra- gödie – weltweit und ganz persönlich. Denn hinter diesen schrecklich hohen Zahlen stecken ja lauter einzelne Schicksale, Menschen und Per- sönlichkeiten, die wir vermissen. Predigt zum Gottesdienst mit Gedenken an Hier im Sebastianspital sind 39 Bewohnerinnen die Corona-Verstorbenen im Sebastianspi- und Bewohner an und mit Corona gestorben. So tal Nürnberg am 21. Mai 2021 um 15 Uhr unterschiedlich sie waren, sie alle fehlen, mit ihren Liebe Angehörige, liebe Mitbewohner*innen, Stimmen, ihrem Lachen und ihrem Blick, mit ih- liebe Betreuungs- und Pflegekräfte, liebe Trau- ren Vorlieben und ihrer Persönlichkeit, als Ange- ernde, hörige, als Bewohner*innen – wir vermissen sie. wir sind hier zusammen, nach einer schweren Manche haben sich in den letzten Monaten wie Zeit, und in einer schweren Zeit. Viele können das erstarrt gefühlt, haben sich wie in einen Kokon Wort Corona nicht mehr hören, weil sich sofort zurückgezogen, und tragen die Erstarrung noch eine Schwere bei ihnen einstellt. Was alles nicht in sich. Auf der Rückseite des Psalm-Blatts habe geht. Was wir sehnsüchtig vermissen. Zu all den ich drei Fotos abgedruckt. Sie zeigen den Kokon erschwerten Lebensumständen kommt die Erin- eines Monarchenfalters. Schwer hängt er da. Er nerung an die Menschen, die Sie verloren haben. scheint wie erstarrt, wie tot. Doch innen drinnen, Das ist eine Wunde, die weh tut, und die immer ganz im Stillen, geschieht eine unmerkliche Ver- wieder aufbricht, eine Wunde, die sich vielleicht wandlung. Die Raupe verpuppt sich und verwan- lange nicht schließt. Narben, die bleiben. delt sich nach und nach in einen Schmetterling.
FSiB-Info 5 ruflich und privat leidenschaftlich gerne genäht haben, und von denen eine ihre Nähmaschine dem Haus vermacht hat, wo jetzt Stofftäschchen und anderes entsteht. Persönliche Erinnerungen und zugleich ein An- stoß für alle. Ein trauerndes Gesicht – hier darf ich hinkommen mit meiner Trauer und mei- nem Schmerz. Ein Stein mit Gold und Schwarz – beides begleitet mich in meinem Lebensfluss, Trauer und Licht. Ein Stein mit Edelsteinen und Blüten – da ist so viel Kostbares, Schätze und Blüten, die mich begleiten. Ein Baum mit bunten Blüten – Hoffnung, die aufblüht. Und da ist auch Leben. Das Frühlingsgrün und der blühende Flieder. Da sind die Stimmen der Vögel. Da sind die Kinderstimmen aus dem Kin- dergarten und Hort. Da ist der Wind, den wir auf der Haut spüren. Vielleicht entdecken Sie auch in dieser schweren Dann, eines Tages ist es soweit. Der Kokon Zeit immer wieder besondere Momente, wo Sie bricht auf, der Schmetterling kann sich aus der spüren, da ist Leben, da ist Lebendigkeit. starren Hülle herausschälen, die zerknitterten Wir brauchen Orte der Erinnerung, der Trauer Flügel trocknen lassen, und dann die Flügel aus- und des Trostes, um innezuhalten und dann wei- breiten und sich in die Lüfte erheben. Raupe und terzugehen. Erinnerungen werden uns begleiten, Schmetterling sind ein altes christliches Zeichen schöne und schwere, graue und bunte. Ich wün- für den Tod und die Hoffnung auf die Auferste- sche Ihnen, dass in Ihrer Erinnerung und in Ih- hung. Wenn jemand stirbt, sehen wir Menschen rem Leben immer wieder Leben aufblühen darf. die sterbliche Hülle, in der kein Leben mehr ist. Doch die Seele ist gelöst und frei, sie darf sich Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Ver- aufmachen ins Licht, ins Leben bei Gott. nunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen. Schmetterlinge können Zeichen der Hoffnung und der Zuversicht sein, auch für uns. Auch Pfarrerin Cornelia Auers wenn ich jetzt mich manchmal wie erstarrt fühle, Nürnberg es kann sich neues Leben entwickeln. Schmetter- Kontakt: linge sind erste Boten des Frühlings, Symbole für Amt für Gemeindedienst Leichtigkeit und Freiheit. Die wir uns ersehnen, Servicestelle Altenheimseelsorge und die wiederkommen wird. Diakon Helmut Unglaub Hier vorne haben wir einen Fliederstrauß, stell- Sperberstraße 70, 90461 Nürnberg vertretend für zwei Schmetterlingssträucher, die Tel. 0911-4316263 in nächster Zeit geliefert werden. Nachher wer- altenheimseelsorge@afg-elkb.de den wir Bänder mit den Namen unserer Ver- www.altenheimseelsorge-bayern.de storbenen um die Zweige binden. Die Schmet- terlingssträucher werden dort hinten an der Schräge gepflanzt, als Zeichen der Erinnerung und als Zeichen des Lebens. Um sie herum werden liebevoll bemalte Steine gelegt. Auf dem einen Stein ist ein Plattenspieler gemalt, für einen DJ und Goldschmied, die Sän- gerin am Klavier für Frau W., auf den Stein für Herrn B. ein Auto, Werkzeug und natürlich die Zigarette. Immer haben Sie ihn zum Rauchen hinunterbegleitet. Da ist der Stein mit der Näh- maschine, in Erinnerung an drei Frauen, die be-
6 FSiB-Info Alles verändert sich – manches bleibt gleich Eindrücke zur Beratung in Zeiten von Corona aus der Sicht einer Beraterin Als die Frage aufkam, ob ich für den Jahresbe- Zunächst einmal hat die Erfahrung gezeigt, dass richt 2020 einen Artikel verfassen würde, war vieles, was ich nicht für möglich gehalten hätte, meine erste Frage darauf: „Worüber denn? Soll tatsächlich besser funktioniert hat als gedacht. ich etwa über Beratung in Zeiten von Corona Für mich gilt aber auch, dass ich nach wie vor schreiben?“ zunächst aus einer Ratlosigkeit her- mehr Energie und Zeit für die Tätigkeiten auf- aus, was im Jahr 2020 sonst noch so berichtens- bringen muss, die mir zuvor leichter von der wert erscheinen könnte. Hand gingen, und dass es immer wieder notwen- Die von mir beschriebene Perspektive ist mein dig ist, sich flexibel auf die Veränderungen ein- subjektives Erleben, meine Kolleginnen und zustellen. Kollegen würden an manchen Stellen vermutlich Auf einen der Aspekte, möchte ich gerne näher über ganz andere Eindrücke und Wahrnehmun- eingehen – auf den von Nähe und Distanz, der in gen aus dem Beratungs- meinem Erleben unsere alltag des vergangenen Arbeit (und unser Leben) Jahres berichten. besonders betrifft. Als wir uns im März 2020 Wie kann es unter den er- auf die Zeit des ersten schwerten Bedingungen, Lockdowns vorbereite- die die Abstandsregeln, die ten, waren tausende von Maskenpflicht und die Fragen im Raum. Es war Kontaktbeschränkungen für mich ein bisschen wie mit sich bringen, gelin- der Aufbruch in ein unbe- gen, Nähe zu unseren kanntes Gebiet. Von jetzt Klienten* entstehen zu auf gleich wurde die mir lassen? Vor allem die ein- bisher vertraute Arbeit geschränkte Wahrneh- völlig anders. mung der Körpersprache Zunächst einmal fühlte ich mich ziemlich ver- macht diese Frage immer wieder zu einer Her- unsichert, wie wir die Arbeit der nächsten Wo- ausforderung. Dies gilt in den unterschiedlichen chen und Monate gestalten können und sollen. Settings in unterschiedlicher Weise. Wie können wir die Menschen, die nach wie vor In der Telefonberatung beispielsweise fehlt die und insbesondere jetzt unsere Hilfe benötigen, Wahrnehmung der Körpersprache vollständig. in den kommenden Wochen oder Monaten des Dennoch kann ich die Frage, ob Beratung am Lockdowns unterstützen? Ist Beratung aus dem Telefon möglich ist, für mich nach meinen Er- Home-Office möglich? Kann unser Beratungs- fahrungen aus der Zeit des ersten Lockdowns, angebot telefonisch erfolgen? Lassen sich meine als ich ausschließlich aus dem Home-Office be- Klienten* auf das veränderte Setting ein? Was ist raten habe, mit „Es klappt viel besser, als ich es dafür notwendig? Wie können wir für Vertrau- gedacht hätte“ beantworten. lichkeit in diesem Rahmen sorgen? Wie kann ich Die Rückmeldungen der Klienten* und mein ei- vom Home-Office aus Kontakt zu den Kollegen* genes Erleben dazu zeugten von sehr positiven halten? Wie sorge ich in diesem Rahmen für Psy- Erfahrungen wie die Aussage einer Klientin ver- chohygiene? deutlicht. Sie sagt, dass sie die Telefonberatung Für viele dieser Fragen haben die letzten Monate manchmal sogar intensiver erlebte als ein per- Antworten gebracht. Wir haben uns zusammen sönliches Gespräch, da sie sich in diesem Setting als Team auf den Weg begeben, Möglichkeiten mehr auf ihre inneren Prozesse konzentrieren zu finden, unser Beratungsangebot und – in an- musste. gepasstem Maß – auch unser präventives Ange- Es gab aber leider auch Beratungsprozesse, die bot den Klienten* zur Verfügung zu stellen. Ich im Lockdown unterbrochen werden mussten, habe es als für mich hilfreich erlebt, die Fragen, weil die Klienten* keine geeigneten Rahmen- wie wir mit den Veränderungen die Beratung bedingungen haben, von zuhause aus an einer betreffend umgehen können, für mich selbst zu telefonischen Beratung teilzunehmen, oder weil reflektieren und sie mit meinen Kollegen* zu dieses Setting sich nicht für ihre Beratung eignet. diskutieren.
FSiB-Info 7 Für mich war es im März 2020 besonders Diese Teilung unserer Fachteams und die einge- schmerzlich, Beratungsprozesse mit Kindern schränkten persönlichen Begegnungsmöglich- nicht fortführen zu können und nicht zu wis- keiten werden von uns allen als sehr schmerzhaft sen, wann und ob ein erneuter Einstieg nach der erlebt. Ich denke, dass ich da für uns alle spre- Unterbrechung gelingt. Insofern war ich sehr chen kann. froh, dass persönliche Beratungsgespräche in Gerade da, wo der Austausch von unterschied- den Sommermonaten zwischen den Lockdowns lichen persönlichen Ansichten und Bedürfnissen wieder möglich waren. im Umgang mit der Pandemie und ihren Folgen Wir als Berater* sind genauso von der Pandemie erforderlich ist, um einen Weg im Umgang da- und ihren Folgen wie Schulschließungen und mit zu finden, der für alle mitzutragen ist, ist dies den jeweils geltenden Ausgangs- und Kontakt- für mich eine Notwendigkeit. beschränkungen betroffen wie unsere Klienten*. Ich bin wirklich froh um die Möglichkeiten des Im Kontakt mit den Klienten* habe ich zum ei- fachlichen und persönlichen Austauschs mit nen erlebt, dass das Gefühl von „gemeinsam in meinen Kollegen* über deren Wahrnehmungen einem Boot zu sitzen“ für manche an Bedeutung und Ansichten zu den Herausforderungen, vor gewonnen hat. Vielleicht stellt dieser Aspekt eine denen wir immer wieder stehen. Sie helfen mir, Art Brücke dar, um Nähe herzustellen, indem vor Augen zu haben, dass die Wirklichkeit nicht wir über die Erfahrungen sprechen. so eindeutig ist, wie sie vielleicht manches Mal Gleichzeitig ist es mir wichtig, die für die Bera- erscheint. Sehr dankbar bin ich für die gegensei- tung notwendige Außenperspektive auch in die- tige Wertschätzung, die immer wieder deutlich sem Bereich wahrzunehmen. Dies erfordert im- wird, gerade dann, wenn wir nicht einer Mei- mer wieder, die eigenen Gefühle und Positionen nung sind. Ohne das Erfahren von gegenseitiger wahrzunehmen und bewusst zu machen, um den Akzeptanz und dem Rückhalt aus dem Team Klienten* in der Beratung den Raum für ihr ei- wäre es für mich deutlich schwieriger, den He- genes Erleben und Fühlen geben zu können. rausforderungen in den Beratungen auch, aber Die Aufgabe, eine innere Balance zu finden, die nicht nur, in der momentanen Situation zu be- eigene Betroffenheit wahrzunehmen und an- gegnen. zuerkennen, das innere Erleben zu haben und gleichzeitig eine Außenperspektive zu ermögli- chen, erlebte ich, gerade in den ersten Monaten, als eine Herausforderung. Als ermutigend und sehr positiv habe ich aller- dings erlebt, dass gerade die „klassischen Erzie- hungsfragen“ gut über den Weg der Telefonbe- ratung zu bearbeiten waren und für viele der aktuell auftretenden Schwierigkeiten gute Lö- sungswege mit den Betroffenen erarbeitet wer- den konnten. Oftmals ging es aber auch darum, mit den Klienten* die Belastungen auszuhalten, ohne dass eine Veränderung an der Situation möglich ist. Ich war überrascht, dass es während des ersten Lockdowns viele Neuanfragen gab, aus denen tragfähige Beratungsbeziehungen im telefoni- schen Kontakt entstanden sind. Ein weiterer Gesichtspunkt, das veränderte Verhältnis von Nähe und Distanz betreffend, ist die Aufteilung unserer Fachteams in zwei Martina Bucher Unterteams, die sich nicht persönlich begegnen Evangelische Beratungsstelle für Eltern, Kinder und sollen, damit wir, im Falle einer Infektion eines Jugendliche, Ehe-, Partnerschafts- und Lebensbera- Kollegen, noch ein Fachteam haben, das die Inf- tung Augsburg rastruktur der Beratungsstelle vor Ort bedienen kann.
8 FSiB-Info Seelsorge mit Schwerhörigen Damit Kommunikation in der Seelsorge in Zei- Wenn man dann noch berücksichtigt, dass viele ten von Corona möglich bleiben konnte, ist auch Hörgeschädigte auch nicht telefonieren können, hierbei die Form des Chats wichtig bzw. wichti- führte die Pandemie für diese Betroffene zu ei- ger geworden. Auch die Schwerhörigenseelsor- ner zusätzlichen sozialen Exklusion und daraus ge bedient sich selbstverständlich dieser Form folgenden Isolation. und macht für Einzelberatungen, aber auch für Ein letzter Punkt noch: Gruppen entsprechende Angebote. Anders als bei Chats hatten Gruppentreffen von Trotz dieser Option in Zeiten von Corona zu- Hörgeschädigten vor der Pandemie unter ande- sammenzukommen – anders zusammenzukom- rem den Vorteil, sich und die eigene Hörschä- men – gibt es dann doch nicht selten einige Hür- digung nicht erklären zu müssen. Diese Offen- den zu überwinden, bis es zum Kontakt kommt legung der eigenen Eingeschränktheit wird bei und dieser dann auch zur Kommunikation und Chats den Betroffenen oft abverlangt. Eben zum zum Austausch taugt. Beispiel, wenn die oben aufgeführten Parameter Hier einige Erfahrungen, die vermutlich inzwi- bei der Unterhaltung im Chat nicht gepasst ha- schen jede*r von uns kennt: ben. Nicht immer klappt ein Chat mit mehreren Teil- Und trotzdem: nehmern auf Anhieb. Entweder ist von irgend- Die Schwerhörigenseelsorge hätte ohne Chats jemandem eine App hochzuladen oder die Ver- weniger Menschen erreicht. Es gab die Erfah- bindung schlecht oder der Chat wird mitten im rung, dass sich nicht wenige der älteren Gene- Satz unterbrochen, weil die angebotene Laufzeit ration (oder modern gesagt: der „best agers“) an überschritten wurde. das neue Format der Kommunikation gewagt Bei Chats mit Hörgeschädigten kommen noch haben. Die Schwerhörigenseelsorge hat unter zusätzliche Probleme dazu. Einige dieser Prob- anderem „Hörspaziergänge“ angeboten, die der leme, wenngleich auch nicht alle, sind im ana- Seele guttun konnten und der Hörentwöhnung logen, richtigen Leben ähnlich. Alle Teilnehmer entgegenwirken sollten. im Chat müssen nicht nur ein gutes Mikro am Manche Angebote via Chat werden womöglich Computer haben, sondern müssen dies auch gut auch in einer Zeit nach Corona bzw. mit weniger nutzen, soll heißen: in angemessener Entfernung Corona bestehen bleiben. Dass sich jedoch auch zum Mikrophon in dasselbige hineinsprechen. die Hörgeschädigten darauf freuen, sich wieder Auch die Entfernung zur Kamera muss stimmen, im „richtigen Leben“ treffen zu können und zu zudem die Ausleuchtung im Raum des Spre- dürfen, muss wohl nicht groß ausgeführt wer- chers/der Sprecherin, ansonsten ist das Mund- den. Und auch die persönliche Begegnung in der bild, welches zusätzlich zum Ton zum Verstehen Seelsorge wird dann nicht antiquiert sein. notwendig ist, unzureichend zu sehen. Rolf Hörndlein Einen ähnlichen Effekt haben künstlich erzeug- te Hintergründe. Dadurch wird nicht selten das Bild unscharf, zusätzlich erscheinen Ton und Mundbild asynchron. Dass Ton und (Mund-)Bild zusammenpassen, ist jedoch für Hörgeschädigte zum leichteren Verstehen unabdingbar. Ansons- ten wird ein hohes Maß an Konzentration not- wendig, um eben alles zu verstehen und dies wie- derum führt zu einer früheren Ermüdung. Alle Punkte, die bis hierher aufgeführt sind, set- zen jedoch zwei Dinge voraus: Jede*r, der/die sich auf Seelsorge via Chat ein- lässt, hat Zugang zu einem Computer und hat dann auch die Fähigkeiten das Gerät für einen Chat einzusetzen. Diese zwei Voraussetzun- gen sind jedoch nicht bei jeder Person gegeben.
FSiB-Info 9 Trotz Corona – die Beratung geht weiter Frau Wagner (Name geändert) sitzt mir mit kann. Besonders herausgefordert sind Singles Maske im Beratungszimmer gegenüber. In letz- und ältere Menschen, wenn Ablenkungen und ter Zeit komme es immer wieder zu Streitereien soziale Beziehungen fehlen. mit ihrem Mann. Alles sei zu viel: Home-Office Viele Menschen erleben die momentane Ent- und gleichzeitig Home-Schooling. Ihre Ehe sei schleunigung auch als wohltuend. Vermutlich noch nie so ganz einfach gewesen, aber jetzt … sind das eher die ruhigen introvertierten Men- Trotz Corona – die Beratung geht weiter. Und schen, auch hochsensible. Für aktive, unterneh- gerade dann, wenn sich Konflikte zuspitzen und mungslustige Zeitgenossen dagegen ist die Situ- deutlich zeigen, kann man die Situation nutzen ation schwer auszuhalten. daran zu arbeiten und Lösungen zu suchen. Uns Beratung kann die Situation nicht ändern, aber ist es wichtig besonders in dieser herausfordern- im Besprechen entstehen oft andere Sichtweisen den Zeit Klientinnen und Klienten zu begleiten und neue Blickwinkel. und zu unterstützen. Neben dem starren Schicksal, den Regeln des Zeitweise war Beratung nur per Telefon oder Infektionsschutzgesetzes und politischen Vorga- Video-Chat möglich. Auf diesem Weg konnte ben gibt es trotzdem noch den Bereich der Frei- der Kontakt zu Ratsuchenden aufrechterhalten heit und des Frei-Seins. Der Blick auf die ver- und Beratungsprozesse weitergeführt werden. bleibenden Möglichkeiten und ein „Spaziergang Stark belastet waren und sind im Corona-Jahr durch den Garten der Freiheit“ kann den Geist Familien mit Kindern, so wie Familie Wag- und die Seele entlasten. Oft ist die Freiheit grö- ner, und ganz besonders Ein-Eltern-Familien. ßer als man denkt. Der Wiener Psychiater Viktor Die Gleichzeitigkeit von Home-Schooling und Frankl fand sogar in der schweren Zeit des Kon- Home-Office fordert Eltern sehr stark, Konflikte zentrationslagers solche Freiräume. bleiben nicht aus. Wie durch ein Brennglas wur- So überalterte Tugenden wie Dankbarkeit und den bestehende Spannungen in Familien und in Demut können uns helfen einen anderen Blick- Partnerschaften verstärkt. Das eröffnet natür- winkel auf die Situation zu bekommen. Kein lich auch die Chance sich der Situation zu stellen Mensch hat von Natur aus einen Anspruch auf und etwas zu verändern. etwas. Alles in diesem Leben ist Geschenk. In Für Frau Wagner war es erstmal eine Entlastung Westeuropa gehören wir zu den privilegiertesten die Situation zu schildern und ihre Gefühle zu Menschen auf diesem Planeten. benennen. In den Beratungsgesprächen suchen Ein Klient in der Beratung sagte mir, die Aus- wir gemeinsam mit den KlientInnen nach Lö- gangssperre im Winter ab 21.00 Uhr habe ihn sungen. Hilfreich dabei konnte für Familie Wag- sehr belastet. Auf meine Frage, was er denn nach ner sein einen Rhythmus im Alltag zu finden, mit 21.00 Uhr unternehmen wollte, wusste er keine Pausen und einer klaren Aufgabenverteilung Antwort. Ein junger Mann, noch Schüler, zog für den Tag zu strukturieren. Jedes Familienmitglied sich die Bilanz: „Corona hat zu meiner Persön- muss lernen die Möglichkeiten der Selbstfürsor- lichkeitsentwicklung beigetragen. Ich habe ge- ge zu nutzen und Freiräume zu gestalten. Jeder lernt mit mir besser klar zu kommen.“ hat zuerst für sich selbst und für seine Aufgaben die Verantwortung. Gerd Korbach „Das Fahren auf Sicht“ in der Zeit der ungewis- Psychologische Beratungsstelle für Ehe-, Fami- sen politischen Entwicklungen und sich verän- lien- und Lebensfragen der Diakonie Oberland dernden Zahlen verhindert das Pläne machen für Weilheim die schönen Dinge des Lebens: Urlaub, Reisen, Kultur, Freunde treffen, Feste feiern, Essen ge- hen … Wir alle waren gezwungen im „Hier und Jetzt“ zu sein und zu überlegen was möglich ist. Die fehlenden Aktivitäten im Außen führen auch dazu, dass wir alle mehr mit uns selbst konfron- tiert sind. Alte Gefühle und Erfahrungen kom- men so leichter ins Bewusstsein, was sich in ei- ner Zunahme psychischer Auffälligkeiten zeigen
10 FSiB-Info Frau T., Covid-Patientin ohne Symptome Ein Tagebuch in Bildern Als ich die ältere Dame Mitte April 2020 das erste Mal auf der Covid-Station besuche, zeigt sie mir ihr gemaltes Tagebuch. Sie malt sich als Katze und hält so die verschiedenen Stationen und Szenen ihrer Krankengeschichte fest. Da sie keine Malutensilien hat, besorge ich ihr wie- der welche über die Ergo-Therapeutin. Sie malt in den kommenden Wochen weiter und ich kann die Bilder mit dem Smart-Phone fotografieren und wie eine Flaschenpost aus der Quarantäne-Station ins Freie „schmuggeln“. 4 Umzug in (Früh)Reha 1 Das Ereignis 5 Erste Ausfahrten ins Freie 2 Albträume im Koma 6 Positiver Covid-19-Test 3 Klinik A 7 In Quarantäne, ohne Symptome
FSiB-Info 11 11 Der Seelsorger 8 Die Fußpflege 12 Vor der Entlassung: noch ein Sturz 9 Kranksein heißt Warten 10 Engel in Schutzkleidung 13 Endlich die Entlassung
12 FSiB-Info Obwohl sie keine Symptome zeigt, muss die Trotz der Schutzkleidung erkannte er mich Patientin so lange auf der Quarantäne-Station beim dritten Besuch, auf der „normalen“ Co- bleiben, bis die Covid-19-Tests endlich negativ vid-Station, sofort wieder. „Wenn hier jemand sind und bleiben. herkommt, dann entweder, weil er Geld dafür Die Geduld geht ihr aus. Sie erwähnt ihren Kon- kriegt, oder weil er Pfarrer ist.“ Er wirkte gefasst firmationsspruch aus Psalm 62,1: „Meine Seele ist und gelassen, sprach sehr verlangsamt, aber klar stille zu Gott, der mir hilft.“ Aber es bleibt die Fra- und eindrücklich. Er wirkt auf mich abgeklärt, ge, ob und inwiefern Gott wirklich hilft, sie hat gelassen, lebensklug. ja noch eine andere Grunderkrankung ... Als sie Jetzt war er alleine. Seit er positiv auf Covid-19 endlich wieder auf Normalstation kommt, stürzt getestet wurde, war er in Quarantäne, auch sie im Badezimmer, kurz vor der Entlassung wenn er keine Symptome hatte: kein Besuch von nach Hause, bricht sich den Oberschenkelhals: Zugehörigen, nicht einmal mehr Therapien, auf „Warum“? Das also auch noch. das Einzelzimmer beschränkt, Stillstand „in der Bei einem Gespräch über Steine zitiert sie einen Höhle“4. Doch anders als der alttestamentliche Sinnspruch, den ihr ein Steinmetz einst sagte: Joseph bei Thomas Mann findet sich bei G. statt lauter Klage an der Oberfläche eher stoische Im Stein schläft Gott, in der Pflanze träumt Gott, im Weisheit: „Das ist das Leben. Was ich will, darauf Tier wacht Gott auf, im Menschen lebt Gott. Und kommt es nicht an.“ wartet dort zugleich auf sich selbst? Aber vor allem Daneben und darunter aber Erzählungen aus ist er sichtbar, indem er undurchsichtig ist. seinem bisherigen Leben. Die Zukunft bleibt Hans Blumenberg1 ausgeblendet. Die Erklärung dafür, und damit die eigentliche Überraschung für mich, kam, als „Vom Wald ins Inferno er aus der Covid-Station entlassen wurde. Ich und wieder heraus.“ bin gerade bei ihm, als er auf eigenen Beinen Nachträgliche Einsichten von der Covid-Station auf eine Normalstation Eins geführt wird. Dort erst beschrieb er, wie er die vergangenen Wochen wirklich erlebt hatte. Auch wenn ich als Klinikseelsorger einen Men- schen regelmäßig besuche, heißt das noch nicht, Drei dass ich ihn begleite. Und auch wenn ich ihn ein Zuerst erzählt G. noch einmal das erste Trauma wenig begleite, weiß ich noch nicht, auf wel- und sein Erwachen daraus. Schon das erinner- chem Wege er sich befindet. Manchmal erfasse te an den Anfang von Dantes Göttlicher Komödie: ich nachträglich, wo er ging, worum es ihm ging. „In der Mitte unseres Lebensweges kam ich zu mir in Menschen können, anders als Fledermäuse, er- einem dunklen Wald. Der rechte Weg war da verfehlt. zählen, wie es für sie ist, sie selbst zu sein.2 Aber Ach, wie schwer ist es, davon zu sprechen, wie er war, auch das manchmal erst nachträglich. Literari- dieser Wald, so wild, so rauh und dicht! Wenn ich nur sche Muster können [mir] helfen, die Tragweite daran denke, kommt mir wieder die Angst. Bitter war zu erfassen. es, fast wie der Tod. [...] Ich kann nicht recht sagen, wie Zwei ich dort hineingeriet [...].“5 Ich besuche einen Mann auf der Covid-Station. Auch bei G. fehlt, wie so oft, die Erinnerung an Ich hatte zu G.3 schon vorher Kontakt. Ein- das traumatische Ereignis. Er weiß nicht, dass mal auf der Intensivstation, als ihn seine Frau seine Frau, die ihn reanimiert hatte, um sein Le- besuchte, und einmal auf der normalen Reha- ben bangte, dass er sechs Wochen im Koma lag. Station, als sie mit seinem Freund da war. Nach 4 Thomas Mann beschreibt, anders als die Bibel, einem Herzinfarkt mit Herzstillstand machte er, was in Joseph vorgeht, als ihn seine Brüder in die den Umständen entsprechend, gute Fortschritte. Grube werfen. Analog zur Musik: im Sopran die gegenwärtige Klage; im Tenor die Erinnerung an die 1 Hans Blumenberg, Ein mögliches Vergangenheit; im Bass die Erwartung der Zukunft. Selbstverständnis. Stuttgart 1996 (S. 140). Vgl. Thomas Mann, Joseph und seine Brüder I. 2 Vgl. Thomas Nagel, „Wie ist es, eine Fledermaus Die Geschichten Jakobs. Große kommentierte zu sein?“, in: Bieri, P. (Hrsg.): Analytische Frankfurter Ausgabe, Band 7.1, Frankfurt am Main Philosophie des Geistes, Königstein/Ts.: Hain, S. 2018, S. 539-573. 261-275. Als Liebhaber der Bienen würde G. wohl 5 Dante, Inferno Canto 1, Verse 1-5.10, S. 11. Man eher wissen wollen, wie es ist, eine Biene zu sein. hat den Eindruck, Dante beschreibt das Erwachen 3 Er hat mir erlaubt, seine Geschichte zu erzählen. aus dem Koma.
FSiB-Info 13 Erst nachträglich, aus den Berichten der Frau Bei Thomas Mann bedeutet das „Segen“: erst aus und der Ärzte, wird ihm bewusst, wie kritisch allen Tönen entsteht eine Melodie, erst aus dem sein Zustand war. Immerhin, so erzählt er mir Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart mehrmals ironisch, er habe das Licht gesehen, und Zukunft bildet sich eine Erzählung und da- am Ende des Tunnels – die Taschenlampe des mit ein möglicher Sinn der Geschichte. Die bloße Notarztes, die ihm ins Auge leuchtete. Gegenwart ist sinnlos wie ein einzelner Ton. Er hatte überlebt. Er war aufgewacht. Er erkann- Zu Gott hat G. freilich ein distanziertes Verhält- te seine Frau. Er konnte denken und halbwegs nis. Doch er könnte auf das Leben beziehen, was sprechen. Nun kam er in die Reha. Bald ging es Thomas Mann über Gott schreibt: „Gott war nicht von der Intensiv- auf die Normalstation. Er be- das Gute, sondern das Ganze.“ kommt Besuch, auch vom Klinikseelsorger. Und Als G. mich kurz vor Weihnachten von zu Hause dann kommt Corona. Der Bettnachbar habe ihn aus anruft, sagt er noch einmal, erst jetzt wüss- angesteckt. Dass er selbst „positiv“ ist, merkt er, te er, wie tief unten er war. Wir sind nicht nur als sie ihn mit einer gelben Decke zudecken und für andere undurchsichtig, sondern auch für im Bett auf die Covid-Station fahren, vom Ersten uns selbst. Und erfassen und verstehen nicht nur Stock hinunter ins Erdgeschoss im Nebengebäu- andere, sondern auch uns selbst meist erst nach- de. Eine Pflegetherapeutin weint, als sie das sieht. träglich und nie abschließend. Und er denkt: Das war es jetzt. Das ist das Ende. Klaus Wagner-Labitzke Er hatte die Bilder und Berichte im Fernsehen aus Bergamo gesehen und verstanden: an diesem Bad Aibling Virus stirbt man. „Das werde ich nicht überleben.“ Über der Covid-Station stand für ihn geschrie- ben: „Die ihr hereinkommt: Lasst alle Hoffnung fahren!“6 Dieses Mal erlebt er die Krise äußerst bewusst – und täuscht sich doch über seine fak- tische Lage. Covid wird ihm nicht gefährlich werden. Doch das kann er da noch nicht wissen. In dieser Situation hatte ich ihn besucht. Doch erst nach seinem Höhlenausgang begreife ich, wo er sich subjektiv befand. Dort aber hatte G. seine Hoffnung abgestellt. Er konnte sie wie- der aufnehmen. Jetzt, wo er aus der Grube wie- der herausgekommen ist, „um in die helle Welt zurückzukehren [...] bis ich durch ein rundes Loch die schönen Dinge sah, die der Himmel trägt. Von dort tra- ten wir hinaus und sahen wieder die Sterne.“7 Er spricht von einem „Neustart“, nachdem er die „Nordseite“ des Lebens kennen gelernt habe, nach und neben der Südseite, als die er sein ver- gangenes Leben nun deutet.8 Und das sei gut und richtig. Darum gehe es, das Ganze des Lebens wahrzunehmen und kennen zu lernen, nicht nur die (schönen) Teile. Auch Dante gelangt aus dem Wald erst auf dem Weg von der Hölle über das Fegefeuer bis (fast) ins Paradies. Das Kreuz der Klinikseelsorge ist ein Zeichen mit 6 Das steht bei Dante über dem Inferno: Dante großer Symbolkraft: Aus einem Stumpf, einem ab- Alighieri, Commedia. In deutscher Prosa von Kurt geschnittenen, scheinbar wertlos gewordenen Holz Flasch, Frankfurt am Main 2013; hier: Inferno Canto treibt neues Leben. Die Pflanze bildet neue Blät- 3, Vers 9, S. 19. ter aus, gelangt sogar wieder zur Blüte. Die Kraft 7 Dante, Commedia, Inferno Canto 34, 132-136, S. wächst ihr aus der Wurzel zu. Die Klinikseel- 158. sorge unterstützt Patient*innen, Angehörige und 8 Da es der unerfüllte Lebenstraum meiner Mutter Klinikmitarbeiter*innen dabei, Mut und Kraft zum war, eine Terrasse auf der Südseite zu haben, steckt Leben zu schöpfen. da für mich ein persönliches Merke drin.
14 FSiB-Info Seelsorge an Trauernden Erfahrungen aus einer Trauergruppe Trauerbegleitung ist eine besondere Form von Trotz mancher Schwere der Trauersituation Seelsorge. Menschen, die einen Verlust erlitten kommen die meisten Menschen damit gut zu- haben, trauern sehr unterschiedlich. Das macht recht und finden in der Familie oder bei Freun- den Umgang mit diesen Menschen nicht leicht, den Rückhalt. Trauer muss nicht in jedem Fall herausfordernd, aber sehr wertvoll. Trauerbe- (sofort) auftreten. Sie erscheint in dem Maß, in gleitung kann man lernen, aber man muss sie dem der Todesfall von den Hinterbliebenen als auch im wahrsten Sinn selbst erfahren. Verlust erfahren wird. Auch die Art der Verlusterfahrung ist höchst Doch es gibt auch Formen von erschwerter, unterschiedlich: Einen lieben Menschen, den komplizierter Trauer. Und es gibt traumatische Ehepartner/die Ehepartnerin, den Freund/die Erfahrungen, Verlustängste bis hin zu schweren Freundin oder gar das eigene Kind durch einen Depressionen. Unfall entrissen zu bekommen, löst andere Ge- In der Regel verlaufen Trauerprozesse „normal“. fühle aus, als wenn die betagte Mutter sanft und Gefühle von Traurigkeit und Wut, Einsamkeit friedlich begleitet von der Tochter/dem Sohn und Sehnsucht, Leere und bisweilen Antriebs- verstirbt. losigkeit gehören zu den üblichen Reaktionen. Trauer dient der Bewältigung. Wenn dieser Pro- zess in Gang kommt, ist das gut und wichtig. Von Chris Paul stammt der wichtige Satz: „Trauer ist nicht das Problem, sondern die Lösung!“ Dennoch verlaufen 20% der Trauerprozes- se schwierig. Es gibt eine komplizierte Trauer nach aufgewühlten Reaktionen oder auch eine erschwerte Trauer. Dann muss der Trauerbe- gleiter/die Trauerbegleiterin das bei dem/bei der Betroffenen ansprechen und u.U. externe Lösungen z.B. psychologische oder medizinische Beratung vermitteln. Trotz allem gilt: Trauer ist etwas Normales, kei- ne Krankheit, keine Katastrophe, keine Fehl- funktion und kein Zeichen psychischer oder charakterlicher Schwäche. „Trauer hat eine po- sitive und sinnvolle Funktion, sie ist eine zeitlich begrenzte Reaktion auf einen Verlust. Trauer ist ein natürlicher Prozess und eine gesunde Anpas- sungs- und Bewältigungsreaktion.“ so beschreibt es die Dipl. Psych. Silvia Schäfer. Gut, dass es Trauergruppen gibt. Sie bieten in Form einer Selbsthilfegruppe eine erste „An- laufstation“ für Menschen, die sich bewusst mit ihrer Verlusterfahrung und Trauer auseinander- setzen wollen. Oder die plötzlich von der Trauer „eingeholt“ werden. Das kann auch nach einem längeren zeitlichen Abstand zum „Trauergrund“ geschehen und ist dann nichts Falsches. Falsch wäre es nur, sich dem nicht stellen zu wollen oder zu können – oder zu meinen: Mir kann sowieso niemand helfen! Im Gegenteil: Es gibt Hilfe.
FSiB-Info 15 Es ist und tut gut, sich den Trauerthemen in ei- ßes Geschenk. Ich bin gerührt von der Offenheit ner geschützten Atmosphäre stellen zu können. und Dankbarkeit der Menschen und freue mich, Es ist wichtig, erzählen zu können, zuzuhören, wenn ich sehe, wie sich die Frauen und Männer aber auch zu klagen und zu weinen – ohne dass in und mit ihrer Trauer entwickeln und verän- es peinlich oder unpassend empfunden wird. Im- dern. Und ich freue mich, wenn sie „zurück ins mer liegt ein Taschentuch bereit. Niemand muss Leben“ finden, neue Beziehungen und Partner- sich verbiegen oder seine Gefühle verstecken. schaften eingehen können. Die Erinnerung an Mir persönlich tut es nach langen Dienstjahren den Verlust wird bleiben. Aber die Menschen als Pfarrer im Gemeindedienst sehr gut, nun können mehr und mehr besser damit umgehen. tatsächlich Zeit und Kraft für Menschen und Und am besten ist es, wenn sie die Trauergruppe Situationen zu haben, die in meiner Tätigkeit nicht mehr benötigen. Dann ist das „Ziel“ erreicht. im Pfarramt oft zu kurz kamen. Ich erlebe die Begegnungen mit Trauernden als eigene per- Hannes Ostermayer sönliche Herausforderungen, aber auch als gro- Pfarrer i.R. und Trauerbegleiter (BVT) Mitten im Trubel des Alltags einfach mal beten! Manchmal kann das mit dem Beten ein ganz Lassen Sie sich inspirieren und dazu verführen, schöner Kampf sein. Schließlich wollen wir doch mal anders zu beten. Wenn wir gechillt sind, ist richtig beten und uns Zeit dafür nehmen. Aber Beten keine Arbeit für uns. Im Gegenteil, dann immer wieder funkt das Leben dazwischen. Die verleiht es uns so viel Kraft und Freude und Er- Arbeit ruft. Partner, Kinder, Enkel fordern uns füllung, dass wir gar nicht mehr ohne leben kön- heraus. Freunde und Bekannte tauchen uner- nen. wartet auf. Jeder will was von uns. Das macht Das Buch CHILL WORK PRAY von Diana unentspannt. Dabei wollen wir einfach gut drauf Schmid hält sympathische Tipps dafür bereit. sein; lieber mal eine Runde chillen. Und uns eben keinen Kopf machen, schon gar nicht ums Beten. 1. Edition (22. Oktober 2020) Wie nur sollen wir neben all der Hektik noch Verlag Katholisches Bibelwerk das Beten hinkriegen, entspannt obendrein? Das 176 Seiten muss nicht verkrampft ablaufen! Wie wäre es, ISBN: 978-3-460-25535-7 wenn wir einfach immer wieder gern beten, ganz Taschenbuch, kartoniert, 19,95 Euro kurz, oder mal länger, wie es uns gerade in den Erhältlich im Buchhandel oder auch online, z. B. im Kram passt? Womöglich liegen uns bestimmte Bibelwerk-Shop: Formen besser als die, mit denen wir bislang un- entspannt geblieben sind? Oder wir entdecken https://www.bibelwerk.shop/produkte/chill-work- Bewährtes neu? pray-25535/
16 FSiB-Info Berater*innen der Landwirtschaftlichen Familienberatung der ELKB berichten Müttern, wo wir uns überlegt haben, wie wir dem Wunsch der Kinder wenigstens ein wenig nachgeben können, Ausgangsbeschränkungen hin oder her! – Sie glauben gar nicht, wie gut das tut, darüber einmal mit jemandem reden zu kön- nen.“ Das sind nur zwei Beispiele von vielen, die wir in der Landwirtschaftlichen Familienberatung in diesen Wochen und Monaten erleben. Am Anfang der Pandemie war Corona nur selten ein Thema in unseren Beratungsgesprächen. Das hat sich drastisch geändert. Man spürt wie die Belastungen zunehmen und die Menschen un- ter der Situation leiden. Und wie sehr sich vie- le danach sehnen, einmal wieder aus dem Haus zu kommen, sich mit jemandem austauschen zu können. Und wie sie über die Lösungssuche für die anstehenden Sorgen und Probleme hinaus „Wissen Sie: Sie, die Berater von der Kirche wa- damit zugleich die Seele wieder etwas auftanken ren die einzigen, die uns in diesen schwierigen können. Wochen nicht alleine gelassen haben. Wir konn- ten zu keinem Arzt, zu keinem Anwalt, niemand Natürlich werden bei diesen Beratungen sämt- hat uns persönlich empfangen!“ liche Abstands- und Hygieneregeln eingehalten, sitzt man sich mit Maske gegenüber, aber das Mit diesen Sätzen empfängt uns der 63-jährige wird in Kauf genommen. Der persönliche Kon- Landwirt, dessen Sohn vor einigen Wochen ins takt ist durch Telefonate nicht zu ersetzen. Seel- Bezirkskrankenhaus eingewiesen wurde. „Auf sorge und Beratung brauchen die persönliche uns kamen in diesen Wochen so viele neue Fra- Nähe. Deswegen versuchen alle Berater*innen, gen und Aufgaben zu, mit denen wir überhaupt die nicht selbst zur Risikogruppe gehören, auch keine Erfahrung hatten. Und man will ja auch in diesen Zeiten, wenn es irgendwie möglich ist, nichts falsch machen! Und dann ist da ja noch die Ratsuchenden persönlich zu begleiten. die tägliche Arbeit, die erledigt werden muss. Die Tiere brauchen Futter und müssen gemolken Walter Engeler werden. Ohne den Betriebshelfer, der die Arbeit Pfarrer und Gestalttherapeut, Leiter der Land- unseres Sohnes wenigstens teilweise übernimmt, wirtschaftlichen Familienberatung der ELKB ginge das sowieso nicht.“ Beratung/Seelsorge ist auch in Corona-Zeiten dringend nötig. Und je länger diese Phase andauert, desto mehr Belas- tungen kommen auf die Familien zu. „Ich weiß nicht mehr, wie ich es meinen Kindern erklären soll,“ sagt mir eine Mutter von drei Kin- dern in Kindergarten- und Grundschulalter. Der ständige Wechsel zwischen Präsenz- und Home- Unterricht. Und dann das Drängen der Kinder am Nachmittag, die sich mit ihren Freunden aus dem Dorf treffen und mit ihnen spielen wollen. Und die das alles nicht begreifen können. Und dann hatten wir die zusätzlichen Zeiten für die Kinder ja nicht geplant. Die Arbeit in Haus und Hof muss ja weiterhin gemacht werden. Neulich hatten wir schon ein Gespräch unter
FSiB-Info 17 Im Knast frei sein Im forensischen Maßregelvollzug (also eine Knast-Klinik, wie man sagen könnte) begleite ich schon seit eineinhalb Jahren einen Häftling. Als Straftäter absolviert er dort eine Therapie. In unzähligen Stunden in meist wöchentlichen Ge- sprächen haben wir über die vielfältigsten The- men gesprochen, haben auch therapeutisch seine Tat (Totschlag) aufgearbeitet und vieles mehr. Wir haben sehr umfangreich seine gesamte Bio- graphie, die Historie seiner Straftat, seine psy- In den Gesprächen mit von Krisen gebeutelten chischen Probleme, seine Lebensthemen und Menschen – und auch die Gespräche in der Fo- vieles mehr angeschaut. Dieser Blick von außen rensik gehören dazu – geschieht das Gegenteil. hilft, die eigene innere Welt besser zu verstehen: Menschen haben etwas Extremes erlebt, stecken was zur Tat geführt hat und wie er künftig mit in einer außergewöhnlichen, belastenden Situa- seinen Emotionen besser umgehen und sein Le- tion, sehen ihr Leben von einer Seite. Aber dann ben gestalten kann. geschieht in der Krisenbegleitung eine Annähe- In einer Videosprechstunde kamen wir auf die rung an eine andere Position. Die alte Verteidi- Corona-Situation zu sprechen. Wir haben Ver- gungshaltung, die eigene bisherige Sicht auf das gleiche angestellt, wie diese Zeit hinter Gittern eigene Leben und auf die Welt rechtfertigen zu und hier in Freiheit erlebt wird. müssen, wird aufgegeben. Es geschieht Öffnung, Und schon beim Schreiben dieses Satzes sto- Bewusstseinserweiterung wird Realität, das cke ich. Denn ich schreibe „hier in Freiheit“ und Verbindende verschiedener Sichtweisen wird impliziere dadurch, dass es hinter Gittern keine offenbar. Freiheit gäbe. Wenn wir Freiheit näher betrach- Menschen suchen die gedankliche Nähe zu an- ten, dann erschöpft sie sich nicht im Erleben ei- deren, sind bereiter dafür, sich den Blickwinkel ner äußeren Freiheit. Die äußere Freiheit außer- des anderen zu eigen zu machen. Das geschieht halb eines Gefängnisses besteht darin, jederzeit vor allem, wenn man sich selbst innerlich befreit, überallhin gehen oder fahren zu können, das zu frei macht von dogmatischen Haltungen, die nur tun, was einem gerade gefällt. Moment! Stimmt die eigene Position als wahr ansehen. Genau das das so? Nein, natürlich nicht. Wir alle sind mehr erlebe ich in den „Knast-Gesprächen“. Da ist oder weniger eingebunden in Pflichten, in Sys- derjenige frei, der es wagt, in Gedanken wahr- teme, die unsere Freiheit einschränken. Wir haft frei zu werden. So wie es die dritte Strophe müssen Termine und Fristen einhalten, haben des Liedes passend in Worte bringt: „Und sperrt Verpflichtungen aller Art. Und in Corona-Zeiten man mich ein im finsteren Kerker, das alles sind rein können wir nicht jederzeit allüberallhin gehen vergebliche Werke; denn meine Gedanken zerreißen oder fahren; und wir können auch nicht tun, was die Schranken und Mauern entzwei: Die Gedanken uns gerade gefällt. sind frei!“ Wer ist also mehr frei? Mein Häftling oder ich? Frei kann also jeder werden: der Seelsorger, der Unsere Antwort, der wir uns im Gespräch näher- wirklich frei ist und seine Gedanken nicht selbst ten, könnte lauten: Der ist mehr frei, der gedank- in einen finsteren Kerker gesteckt hat; wie auch lich frei ist. Die Freiheit besteht darin zu denken. der Häftling, wenn seine Gedanken die Schran- Vom Volkslied „Die Gedanken sind frei“ kann- ken und Mauern, die ihn umgeben, entzwei- te ich bislang eigentlich nur die erste Strophe. reißen. Und jeder von beiden kann auch unfrei In der zweiten und dritten Strophe wird aber bleiben, wenn er sich von dem Angst machen gerade das aktuell, was wir gerade erleben. Die lässt, was gerade die Welt in Atem hält. Grenzen dessen, was Menschen denken und sa- gen dürfen, wird gerade neu abgesteckt. Vieler- Christian Beck orts driften dabei die Positionen mehr und mehr Klinikseelsorger im forensischen auseinander in die jeweils äußeren Extreme. Maßregelvollzug Hildburghausen
18 FSiB-Info Was mich bewegt und wo ich Vertrauen, Hoffnung, Liebe finde Schulseelsorge hat einen besonderen Blick auf lerinnen und Schüler eintragen konnten. Wer die Kinder und Jugendlichen in der Pandemie- bei „Ich wär heute am liebsten im Bett geblieben“ zeit. In Zeiten von Entwicklung sind sie am war, hat natürlich einen Anruf von mir bekom- verletzlichsten. Hierbei zu unterstützen war für men … Schulseelsorgerinnen und Schulseelsorger von Eine Schulseelsorgerin (Realschule) Beginn der Pandemie an ein großes Anliegen. berichtet: Eine Schulseelsorgerin (Grundschule) Je länger die Pandemie dauerte, desto deutli- berichtet: cher wurde die allgemeine Gereiztheit – und das Auf einmal waren die ganz kleinen, alltäglichen nicht nur bei Schülerinnen und Schülern, son- Gespräche erst einmal weg. Die Schülerinnen dern auch im Kollegium und bei den Eltern. Kein und Schüler waren weg. Was ich vorher einfach Wunder, so lange, wie das jetzt geht! Dem wollte mal schnell nachfragen konnte „Wie geht es ich ein bisschen gegensteuern und initiierte das Dir?“ oder auch anders herum „Frau XX, haben Projekt Ich-bin-nice-Challenge. Drei Wochen Sie mal kurz Zeit für mich?“, das fiel alles weg. lang bekamen alle Gruppen Aufgaben, mit de- Ich glaube, mir war noch nie so bewusst nen sie einer anderen Gruppe etwas Gutes tun wie jetzt, wie viele Tür- und Angelge- konnte. Das wurde gut angenommen und spräche ich eigentlich Tag für Tag führe. jeder war dankbar, ein paar „good vibes“ Und dann machte ich mir natürlich zu empfangen, aber auch zu geben. Insge- Sorgen gerade um die Schülerinnen und samt ein tolles Projekt, um Schüler, die ich schon eine ganze Resilienz und gegenseitige Zeit begleite. Wie werden sie Achtung füreinander zu wohl die jetzige Zeit über- stärken. stehen? Wen haben sie nun Ein Schulseelsorger als Ansprechpartner? Wenn (Berufsschule) berichtet: Familie ein Teil des Problems Als dann die Schule wieder begann, ist …? Wie kann ich sie auch jetzt in dieser Zeit erarbeiteten wir in unserem Kri- gut unterstützen? Sehr schnell wurde klar, dass senteam eine Mischung aus Im- es ja nicht nur mir so mit diesen Überlegungen pulsen für den Unterricht und ei- ging: Auch die Klassenleitungen kamen auf mich ner konzertierten Ansprechbarkeit zu. So entwickelten wir gemeinsam ein Netz für von Schulpsychologen, Beratungslehrern und unsere Schülerinnen und Schüler: Wir teilten Schulseelsorgern. Für ersteres waren uns so ein- auf, wer welche Schüler*in besonders im Blick fache Impulse wie „Meine Gedanken kreisen um hatte. Dann rief ich „meine“ Schülerinnen und …“ wichtig, um erst einmal zu identifizieren, was Schüler an. Natürlich gab es auch Familien, bei die aktuellen Themen unserer Schülerinnen und denen ich deutlich spürte: „Was wollen Sie denn Schüler sind. Und was da rauskam war ein bun- jetzt auch noch von uns?“ Aber häufig schlug das ter Strauß von der Angst um die Zukunft und dann schnell um. Und gerade die Eltern waren die Ausbildungsstelle genauso wie Liebeskum- es, die mir zurückmeldeten, wie froh sie über mer, der durch die Pandemie häufig verschlim- diesen Anruf gewesen seien. Endlich mal einer, mert wurde, weil man Konflikte eben nicht di- der auch ihre Nöte, Sorgen, Gedanken, Anstren- rekt miteinander austragen konnte. Für andere gungen mit anhörte. Diese Wahrnehmung und war aber auch gerade die Einsamkeit eines der diese Resonanz gerade von Seiten der Eltern war quälendsten Erlebnisse, während andere davon neu für mich und machte deutlich, wie wichtig es berichteten, wie Menschen in ihrer Familie an gerade jetzt in dieser Zeit der Pandemie ist, mit Covid erkrankten, manche auch starben. Mit- der ganzen Familie in Kontakt zu sein. Zusätz- hilfe dieses so einfachen Impulses ergaben sich lich hat dieser spezielle Blick auf unsere Schüle- dann schon fast automatisch die Gespräche im rinnen und Schüler uns als Kollegium noch ein- Anschluss, so dass wir recht schnell und umfas- mal ganz neu zusammengebracht. send anknüpfen und helfen konnten. Ein Schulseelsorger (Gymnasium) berichtet: Pfarrerin Meike Hirschfelder Ich habe morgens auf die Plattform immer ein Referat Schulseelsorge, RPZ Heilsbronn Stimmungsbarometer gestellt, wo sich die Schü-
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