PERSPEKTIVEN UND HERAUSFORDERUNGEN FÜR DIE LEHRERBILDUNG IN NRW

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PERSPEKTIVEN UND HERAUSFORDERUNGEN FÜR DIE LEHRERBILDUNG IN NRW
Amtsblatt des Ministeriums für Schule und Bildung

                                              Sonderheft April 2018

»PERSPEKTIVEN UND HERAUSFORDERUNGEN
FÜR DIE LEHRERBILDUNG IN NRW«

Tagungsdokumentation des NRW-Netzwerktreffens
im Kontext der Qualitätsoffensive Lehrerbildung
in Essen am 23. November 2017

www.schulministerium.nrw.de
PERSPEKTIVEN UND HERAUSFORDERUNGEN FÜR DIE LEHRERBILDUNG IN NRW
SONDERHEFT TAGUNGSDOKUMENTATION | 04 / 2018

INHALT

Vorworte                                                  3   Kompetenzorientierung                             30
> Yvonne Gebauer, Ministerin für Schule und                   > Prof. Dr. Maik Walpuski, Dr. Andreas Seifert,
  Bildung NRW                                                   Prof. Dr. Johannes König
> Prof. Dr. Isabell van Ackeren, Prorektorin für
  Studium und Lehre, Universität Duisburg-Essen               MILeNa                                            33
> Ulrich Wehrhöfer, Abteilungsleiter »Lehreraus-              > Dr. Bernadette Schorn, Dr. Christian Salinga,
  und -fortbildung« im Ministerium für Schule                   Alexandra Kwiecien, Prof. Dr. Heidrun Heinke
  und Bildung NRW
                                                              Förderung des (wissenschaftlichen)
Einleitung                                                6   Nachwuchses im Lehramt             36
                                                              > Dr. Julia Sacher, Dr. Julia Suckut,
Professionsentwicklung in der                                   Dr. Carolin Dempki, Dr. Lilian Streblow,
Lehrerbildung                                             7     Prof. Dr. Martin Heinrich
> Interview mit Prof. Dr. Julia Košinar
                                                              Bilanz und Ausblick                               38
Planungsmodelle für inklusiven                                > Prof. Dr. Stefan Rumann,
Unterricht                                            13        Dr. Günther Wolfswinkler
> Natascha Stahl-Morabito, Prof. Dr. Conny Melzer
                                                              Kurzdarstellung der QLb-Projekte                  40
Vielfalt und Inklusion in der                                 in Nordrhein-Westfalen
Lehrerausbildung                                      17
> Prof. Dr. Ulf Gebken, Doris Kluge-Schöpp,
  Roxanne Papenberg, Prof. Dr. Petra Scherer,
  Helena Sträter

Das Berufskolleg                                     20
> Prof. Dr. Ursula Bylinski, Melanie Wiegelmann,
  Carolin Heere, Lutz Thelen

Videos in der Ausbildung von
Lehrerinnen und Lehrern                               23
> Prof. Dr. Manfred Holodynski, Prof. Dr. Kornelia Möller,
  Prof. Dr. Johannes König

Praxiserfahrung reflektieren                          26
> Dr. Judith Schellenbach-Zell, Nadine Franken,
  Dr. Silvia Greiten, Felician Führer, Dr. Antje Wehner

Reflektierte (Ausbildungs-)Praxis
für »Reflektierte Praktikerinnen
und Praktiker«?                                      28
> Prof. Dr. Martin Heinrich, Nicole Valdorf,
  Dr. Lilian Streblow

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Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Leserinnen und Leser,

das Ziel der Fachtagung »Impulse 2017 – Perspektiven &
Herausforderungen für die Lehrerbildung in Nordrhein-
Westfalen« am 23. November 2017 war es unter anderem,
die Zusammenarbeit zwischen der ersten universitären
Phase der Lehrerausbildung und der zweiten Phase zu
fördern. Denn nur wenn Hochschullehre und Schul-
praxis systematisch miteinander verzahnt sind und
sich ein »roter Faden« durch die Lehrerausbildung zieht,   Ministerin Yvonne Gebauer

können die zukünftigen Lehrkräfte gut auf die Heraus-
forderungen in der Schule vorbereitet werden.
                                                           tierte Verfahren und das Einwerben von Drittmitteln
Die Qualität der Lehrerausbildung entscheidet mit über     wurde die Lehrerbildung stärker in den Fokus der Hoch-
die Zukunft des Unterrichts. Für die qualitative Wei-      schulleitungen gerückt und die konzeptionelle Arbeit in
terentwicklung der Lehrerbildung haben wir mit der         diesem Bereich intensiviert.
Novellierung des Lehrerausbildungsgesetzes (LABG)
2009 einen tiefgreifenden Umbau vorgenommen, der           Wir wollen hier aber nicht stehen bleiben, sondern die
sich nach meiner Wahrnehmung insgesamt sehr positiv        Lehrerbildung weiterentwickeln. Dies wird aber nur
auf die Lehrerbildung in Nordrhein-Westfalen auswirkt.     in einem langfristig angelegten Prozess möglich sein
Die Grundstrukturen der nordrhein-westfälischen            und erfordert sorgfältige Vorarbeiten. Zunächst müssen
Lehrerausbildung gelten nicht umsonst bundesweit als       Fragen der Schulentwicklung geklärt sein, an denen
Vorzeigemodell.                                            sich die Lehrerausbildung ausrichten muss. Zudem ist in
                                                           Fragen der Lehrerausbildung eine vorauslaufende eva-
Am Beispiel des Praxissemesters zeigt sich besonders,      luierende Einschätzung des IST-Standes erforderlich, die
welche Chancen in der Kooperation der Universitäten        uns der Bericht der Landesregierung an den Landtag im
mit den Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung       Jahr 2020 bringen soll. Dieser wird gemeinsam mit den
(ZfsL) liegen. Für eine gute Begleitung in der schul-      Hochschulen und auch anderen Akteuren der Lehreraus-
praktischen Phase des Studiums brauchen wir aber vor       bildung erarbeitet werden und entsprechend unserer
allem auch engagierte Schulen, die die Praktikantinnen     Verpflichtung im LABG den Entwicklungsstand und die
und Praktikanten gut aufnehmen. Für den personellen        Qualität der Lehrerausbildung darstellen.
Einsatz an den Schulen investiert Nordrhein-Westfalen
laufend über 200 Lehrerstellen (Anrechnungsstunden).       Die Arbeit an der Qualitätsentwicklung der Lehreraus-
Die sich kontinuierlich intensivierende Kooperation        bildung ist mir ein wichtiges Anliegen und auch das Ziel
zwischen Hochschulen, ZfsL und Schulen leistet nicht       dieser Publikation.
zuletzt einen wertvollen Beitrag zur Sicherung der An-
schlussfähigkeit zwischen der ersten und zweiten Phase     Allen Leserinnen und Lesern wünsche ich, dass sie mit
der Lehrerausbildung. Ich danke im Besonderen auch         dieser Tagungsdokumentation ihre Erkenntnisse vertie-
den Schulen für ihre engagierte Unterstützung.             fen und zu neuen Ideen inspiriert werden.

Ich freue mich, dass die Bemühungen des Landes auch
durch das bundesweite Programm »Qualitätsoffensive         Ihre
Lehrerbildung« von Bund und Ländern flankiert werden.
Der Wettbewerb »Qualitätsoffensive Lehrerbildung« ist
eine große Chance für die lehrerbildenden Universitäten
in Nordrhein-Westfalen. Durch das wettbewerbsorien-        Yvonne Gebauer

                                                                                                                  3
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SONDERHEFT TAGUNGSDOKUMENTATION | 04 / 2018

Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

über Ihr Interesse an der Lehrerbildung und an neuen
Impulsen in diesem Bereich freue ich mich sehr!

Wir erleben derzeit grundlegende gesellschaftliche
Wandlungsprozesse. In diesen Zeiten werden besonders
hohe Erwartungen an Schule und Lehrerbildung ge-
richtet. Sie werden derzeit besonders durch zahlreiche
Querschnittsthemen herausgefordert. Beispielhaft seien
hier Inklusion, Flucht und Migration sowie Digitalisie-
rung genannt.                                               Prof. Dr. Isabell van Ackeren, Prorektorin für Studium und Lehre, Universität
                                                            Duisburg-Essen

Den Herausforderungen stellen sich alle lehrerbildenden
Standorte im Land mit einem hohen professionalisieren-      lich müssen wir nicht an allen Standorten das Rad neu
den Anspruch, der zugleich angesichts des hohen Lehrer-     erfinden: Welche standortübergreifenden Maßnahmen
bedarfs und des Problems zahlreicher Seiteneinstiege        sind denkbar, bei denen standortspezifische Expertise
unter Druck geraten ist.                                    arbeitsteilig eingebracht und voneinander gelernt
                                                            werden kann? Wie können erprobte Modelle zugäng-
Bei der Bearbeitung der Herausforderungen gibt es zu-       lich gemacht werden? Wie können der Aufbau und die
gleich einen gemeinsamen Rahmen, der vor allem durch        redaktionelle Verwaltung eines gemeinsamen Material-
das noch nicht sehr alte Lehrerausbildungsgesetz und das    pools aussehen? Auf welche Weise können Innovationen
Kerncurriuculum gesetzt ist. Zudem gibt es mit diesem       der QLb systematisch in der zweiten Ausbildungsphase
Rahmen in Nordrhein-Westfalen im bundesweiten Ver-          Verwendung finden und wie können die Expertise und
gleich auch besondere Strukturen, etwa bei der Ausgestal-   Bedarfslage der zweiten Phase in Entwicklungsprozesse
tung des Praxissemesters, das in Kooperation zwischen       einbezogen werden?
dem Ministerium für Schule und Bildung, den Zentren
für schulpraktische Lehrerausbildung, den Schulen und       Inklusion, reflektierte Praxiserfahrung, Videografie,
Universitäten gemeinsam entwickelt und evaluations-         Nachwuchsförderung und Kompetenzmessung sind,
gestützt weiterentwickelt wurde. Dabei hat sich das         wenn auch nicht ausschließlich, zentrale Themenfelder,
Muster der gemeinsamen Verständigung auf Augenhöhe          die im Rahmen der Veranstaltung bearbeitet wurden
zwischen den lehrerbildenden Einrichtungen und dem          und nun noch stärker standortübergreifend gedacht und
Schulministerium in Nordrhein-Westfalen sehr bewährt.       bearbeitet werden können.

In der Lehrerbildung engagierte Akteure sind auch Ende      Ich würde mich freuen, wenn Sie in diesem Heft Impulse
2017 in Essen zur »Impulse-Tagung« zusammengekom-           für Ihren Blick auf und Ihre Tätigkeit in der Lehrerbil-
men. Ein zentraler Rahmen war die Beteiligung einiger       dung gewinnen können!
lehrerbildender Standorte an der Qualitätsoffensive
Lehrerbildung (QLb). Ihre Innovationskraft sollte dabei
gemeinsam und flächendeckend für unsere Schüle-              Ihre
rinnen und Schüler zwischen geförderten und nicht
geförderten Hochschulen der QLb geteilt werden. So
greifen gute Konzepte natürlich nicht nur im Kontext
der Qualitätsoffensive.
                                                            Isabell van Ackeren
In Essen haben wir ausgelotet, wo und wie durch
regionale Kooperationen Mehrwert entsteht. Schließ-

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Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Leserinnen und Leser,

die aktuellen Herausforderungen und Aufgaben der
Lehrerausbildung für die Bildungspolitik werden sein,
für alle Schulformen eine moderne Unterrichts- und
Schulentwicklung so zu gewährleisten, dass einerseits
der Umgang mit Heterogenität im Sinne eines weiten
Inklusionsbegriffes und andererseits auch das Lernen in
der digitalen Welt optimal ermöglicht werden.
                                                            Ulrich Wehrhöfer, Abteilungsleiter »Lehreraus- und -fortbildung« im
                                                            Ministerium für Schule und Bildung NRW
Mit der Verabschiedung der KMK-Strategie „Bildung
in der digitalen Welt“ (2016) haben sich die Länder auf
einen verbindlichen Rahmen für die für unsere Gesell-
schaft wichtige Zukunftsfrage der „Digitalisierung“         Ausbildung ansehen. So haben sich mit Blick auf das
geeinigt. Kenntnisse und Wissen für ein Lernen in der       Praxissemester inzwischen nachhaltige Kooperations-
digitalen Welt sind heute eine wichtige Bedingung für       strukturen unter den Beteiligten, d.h. den Hochschul-
eine erfolgreiche Schul- und Berufslaufbahn. Die Ent-       lehrkräften, Seminarausbilderinnen und -ausbildern
wicklung und das Erwerben der notwendigen Kompe-            sowie Lehrkräften an den Schulen, entwickelt. Besonders
tenzen für ein Leben in einer digitalen Welt betreffen      herausstellen möchte ich die Entstehung der Fachver-
alle Unterrichtsfächer. Bereits heute sind in den Bil-      bünde, die die Schulpraxis in die Fächer bringen. Ich
dungs- und Lehrplänen der Länder wichtige Referenzen        würde es allerdings begrüßen, wenn die Bildungs- und
für die bildungspolitischen Grundlagen des Lernens in       Unterrichtsforschung neben den wichtigen empirischen
der digitalen Welt festgehalten.                            Ergebnissen, die sie präsentiert, verstärkt auch konst-
                                                            ruktive Vorschläge für die Schulpraxis, zum Beispiel für
Im Hinblick auf den Vorbereitungsdienst stellt die          Modelle eines besseren Unterrichts entwickelt. Diese
Landesregierung den Zentren für schulpraktische             Modelle sind dringender denn je.
Lehrerausbildung für die Jahre 2017 bis 2019 rund
11 Mio. Euro zum Aufbau einer zukunftsfähigen digi-         Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern, dass diese
talen Infrastruktur zur Verfügung. Somit werden für         Publikation mit dazu beiträgt, die Lehrerausbildung qua-
Lehramtsanwärterinnen und Lehramtsanwärter beste            litativ weiterzuentwickeln und die bisherigen gemein-
Ausbildungsbedingungen für das Lernen in der Digita-        samen Erfolge der Akteure sichtbarer zu machen.
len Welt bereitgestellt. Flankierend zu diesem Vorhaben
werden Seminarausbilderinnen und Seminarausbilder
umfassend geschult. Qualifizierungen zum professio-
nellen, lernförderlichen Einsatz von digitalen Medien
und modernen Kommunikationstechnologien werden
in enger Kooperation zwischen den Verantwortlichen in       Ulrich Wehrhöfer
der Lehrerausbildung und der Lehrefortbildung entwi-
ckelt und umgesetzt.

Was die Praxisphasen angeht, so ist das „Praxissemester“
in Nordrhein-Westfalen aus meiner Sicht eine Erfolgs-
geschichte. Das zeigen unter anderem die Ergebnisse
der ersten Evaluation des Praxissemesters aus dem Jahr
2016. Hier konnten wir feststellen, dass die Studierenden
das Praxissemester als einen großen Gewinn in ihrer

                                                                                                                                  5
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EINLEITUNG
Am 23. November 2017 fand in Essen die Netzwerkta-           punkte lassen sich identifizieren, in denen sich die
gung Impulse 2017 – Herausforderungen und Perspek-           geförderten Hochschulen mit unterschiedlichen Akzent-
tiven für die Lehrerbildung in NRW statt. Auf Einladung      setzungen profilieren: Vielfalt und Inklusion, die Stär-
des Ministeriums für Schule und Bildung NRW und der          kung der Schulpraxis in der universitären Ausbildungs-
Universität Duisburg-Essen versammelten sich Vertre-         phase, unter anderem durch den vermehrten Einsatz
terinnen und Vertreter aller nordrhein-westfälischen         von Videografie, Nachwuchsförderung und Kompetenz-
lehrerbildenden Universitäten, der Zentren für schul-        messung. Diese Schwerpunkte prägten die Diskussion,
praktische Lehrerausbildung und assoziierter Fachhoch-       strukturierten die Workshop-Phase am 23. November
schulen. Ergänzt wurde der Kreis durch Akteurinnen           2017 und gliedern diese Tagungsdokumentation.
und Akteure aus dem Ministerium für Kultur und
Wissenschaft und dem Ministerium für Schule und              Zu den zentralen Zielen der Veranstaltung zählten die
Bildung. Insgesamt kamen damit mehr als 250 Gäste ins        wechselseitige Einsichtnahme in die Zwischenstände
Ruhrgebiet, um Herausforderungen der Lehrerbildung           der Projekte, die Diskussion übergreifender Entwicklun-
in Nordrhein-Westfalen zu diskutieren und den Aus-           gen der nordrhein-westfälischen Lehrerbildung und die
tausch zur Entwicklung von gemeinsamen Perspektiven          Identifikation von Bereichen, in denen Kooperationen
zu nutzen.                                                   Synergieeffekte versprechen. So stand der Vernetzungs-
                                                             gedanke aller lehrerbildenden Standorte und der zwei-
Der Zeitpunkt war kein zufälliger. Die Tagung fand statt     ten Phase der Lehrerbildung im Fokus der Veranstaltung.
zur Hälfte der ersten Förderphase der Qualitätsoffen-        Entsprechend wurden die Workshops von mehr als einer
sive Lehrerbildung – kurz QLb – einem gemeinsamen            Hochschule, zum Teil auch in Kooperation mit Vertrete-
Programm des Bundes und der Länder, das bis zu 500           rinnen und Vertretern der ZfsL, durchgeführt.
Millionen Euro für die Stärkung und Entwicklung der
Lehrerbildung bereitstellt. Zwischen 2015 und 2023 sol-      Diese Sonderausgabe von Schule NRW soll nun Ihnen,
len durch die Förderlinie nachhaltige und systematische      liebe Leserinnen und Leser, Einblicke vermitteln, an
Reformen entwickelt und umgesetzt werden (weitere            welchem Punkt die Lehrerbildung, insbesondere das
Informationen zum Programm unter                             Lehramtsstudium, in Nordrhein-Westfalen aktuell aus
www.qualitaetsoffensive-lehrerbildung.de)                    Sicht der jeweiligen Autorinnen und Autoren steht,
                                                             welche Innovationen geplant und umgesetzt werden
Die QLb beschleunigt im hohen Maße die Ausbildungs-          und welchen Herausforderungen es gemeinsam zu
reform in Nordrhein-Westfalen. Vier Förderschwer-            begegnen gilt.

Alle Fotos (soweit nicht anders angegeben): Alexandra Roth

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PROFESSIONSENTWICKLUNG IN DER
LEHRERBILDUNG
Interview mit Prof. Dr. Julia Košinár

Welches Verständnis haben angehende Lehrpersonen                  Frau Košinár, Nordrhein-Westfalen hat in den vergan-
von der eigenen Professionsentwicklung, wie begeg-                gen Jahren die Praxisphasen in der universitären Ausbil-
nen sie den Anforderungen der Berufspraxis und unter              dung grundlegend geändert, 2009 wurde zum Beispiel
welchen Voraussetzungen bewältigen sie diese? Diese               das – gemeinsam mit den ZfsL verantworte – Praxisse-
Kernfragen der Lehrerbildung stellte Frau Prof. Dr. Julia         mester im Master geschaffen, 2016 dann das Eignungs-
Košinár in den Mittelpunkt ihrer Keynote und hat diese           und Orientierungspraktikum in der Studieneingangs-
im Gespräch mit Günther Wolfswinkler und Nicola                   phase verpflichtend festgeschrieben. Worin sehen Sie
Großebrahm, Mitarbeitende des Zentrums für Lehrer-                zentrale Herausforderungen für diesen Praxiskanon?
bildung der Universität Duisburg-Essen, erörtert. Sie             Košinár: Beide Praktika eröffnen in ihrer Abfolge wichtige
skizziert ein Spannungsfeld, in dem sie einerseits den            Professionalisierungsmöglichkeiten. Studierende nehmen
begrenzten Einfluss der Ausbildungsinstitutionen auf               ein Lehramtsstudium mit bestimmten Bildern von Schule
die Professionalisierungsprozesse von Studierenden so-            und Unterricht auf. Dahinter liegen schulbiografisch
wie Referendarinnen und Referendaren herausarbeitet.              geprägte Überzeugungen und Vorstellungen vom Lehren
Andererseits zeigt Frau Košinár, wie durch eine genaue           und Lernen. Nicht alle diese Bilder sind der professionellen
Analyse der verschiedenen Formen der Bearbeitung                  Entwicklung zuträglich. Ein Eignungs- und Orientierungs-
von Anforderungen in der Schulpraxis entscheidende                praktikum ist aus meiner Sicht unbedingt notwendig, um
Entwicklungsimpulse gegeben werden können.                        Studierende an diese Bilder heranzuführen und beste-
                                                                  hende Vorstellungen mit ihnen auf einer allgemeinen
                              Zur Person: Prof. Dr. Julia         Ebene zu reflektieren und zu irritieren. Sonst besteht die
                              Košinár folgte nach einer          Gefahr, dass mitgebrachte Vorstellungen sich verfestigen
                              mehrjährigen wissenschaftli-        oder sogar verstärken können. Im Praxissemester und im
                              chen Tätigkeit an der Universität   Referendariat steigen die Anforderungen an die Studie-
                              Bremen dem Ruf an die Pädago-       renden und es besteht die Gefahr der unreflektierten Re-
                              gische Hochschule der FH Nord-      produktion mitgebrachter Überzeugungen. Gelingt es al-
                              westschweiz und übernahm            lerdings, diese Konzepte rechtzeitig zu irritieren, bietet ein
    Prof. Dr. Julia Košinár, damit die Leitung der Professur     Langzeitpraktikum hervorragende Möglichkeiten für die
    Professorin für
    Professionsentwick-
                              für Professionsentwicklung. Zu      Professionalisierung: in den Rhythmus eines Schulhalb-
    lung, Fachhochschule      ihren Arbeitsschwerpunkten          jahres einzutauchen, die Verantwortungsbereiche einer
    Nordwestschweiz
                              zählen die Leitung der Berufs-      Lehrkraft auch außerhalb des Unterrichts kennenzulernen
                              praktischen Studien im Institut     und, besonders wichtig, Innovationen aus der Ausbildung
                              Primarstufe, Professionalisie-      in die Schule einzubringen und eigene Ideen auszuprobie-
rungsforschung und -entwicklung sowie die Weiterbildung           ren. Treten dann Krisen auf und werden Entwicklungspro-
von Praxislehrpersonen (Mentorinnen und Mentoren). Frau           zesse verhindert, müssen wir mit den Studierenden ihre
Košinár nutzt qualitative Studien mit fallbasierten und          Form der Anforderungsbearbeitung erörtern.
längsschnittlichen Verfahren, um zentrale Anforderungs-
bereiche angehender Lehrpersonen zu identifizieren, Typo-          Sie haben darauf verwiesen, dass spezifische Formen
logien der Anforderungsbearbeitung in der Schulpraxis zu          der Anforderungsbearbeitung durch Studierende
generieren und Professionalisierungsverläufe zu rekonstruie-      problematisch für die Professionsentwicklung werden
ren. Im Fokus stehen individuelle und kontextuelle Gelingens-     können. Würden Sie uns zunächst etwas näher erläu-
und Misslingensbedingungen der Professionalisierung.              tern, was dies für Anforderungen sind?

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PERSPEKTIVEN UND HERAUSFORDERUNGEN FÜR DIE LEHRERBILDUNG IN NRW
SONDERHEFT TAGUNGSDOKUMENTATION | 04 / 2018

Košinár: Gerne. Lassen Sie mich dazu das Entwicklungs-      meine Aufgabe als zukünftige Lehrperson«. Ebenso
aufgabenkonzept erläutern: Wir gehen davon aus, dass         kann es sein, dass sich Studierende nicht zutrauen, eine
es Bündel von Anforderungen gibt, die sich in verschie-      Anforderung zu bewältigen. In dem Moment, in dem
dene Kategorien von Entwicklungsaufgaben einordnen           eine Anforderung nicht als relevant oder bewältigbar
lassen. So unterscheiden Keller-Schneider und Hericks        eingeschätzt wird, wird diese nicht bearbeitet – ein
(2011) für den Berufseinstieg von Lehrpersonen die vier      Entwicklungsprozess bleibt aus.
Kategorien identitätsbildende Rollenfindung, anerken-
nende Klassenführung, mitgestaltende Kooperation und         In dem Schaubild markieren Sie diese Prozessstufe als
adressatenbezogene Vermittlung. In einer Interview-          »Widerstand«.
studie konnten wir zeigen, dass diese Aufgabenkatego-        Košinár: Ja. Unsere Studien zeigen, dass die Studieren-
rien des Berufseinstiegs auch für Studierende Relevanz       den mit einem entsprechenden Deutungsmuster in den
besitzen. Zudem konnten wir noch eine fünfte Kategorie       Widerstand gegen diese Entwicklungsaufgabe gehen.
herausarbeiten, die wir »sich in Ausbildung befinden«         Dies muss nicht einmal bewusst geschehen, es begegnet
genannt haben. Dahinter verbergen sich Anforderungen,        uns dann in Aussagen wie zum Beispiel »die Lehrperson
die durch die Ausbildungssituation entstehen, wie zum        hat in dieser Klasse bestimmte Regeln und Rituale, die
Beispiel: ich werde bewertet, ich versuche, es richtig und   überhaupt nicht zu mir passen und deswegen komme
allen recht zu machen, ich muss sehr schnell Struktur        ich mit der Klasse nicht zurecht«. Nach Hericks (2006)
und Gegebenheiten einer fremden Klasse erfassen und          müssen Entwicklungsaufgaben wahrgenommen oder
versuchen, darauf adäquat zu reagieren.                      bearbeitet werden, damit es zu einer Progression von
                                                             Kompetenz und zu einer Stabilisierung von beruflicher
Mit diesen fünf allgemeinen Entwicklungsaufgaben wer-        Identität kommt. Gehen Studierende in den Widerstand,
den Studierende in Form von Anforderungen in konkre-         bricht hier die Entwicklung schon vor einer »Annahme
ten Unterrichtssituationen, in der Auseinandersetzung        der Anforderung« (siehe Abbildung 1) ab.
mit ihren Mentorinnen und Mentoren und durch Erwar-
tungen seitens der Hochschule und der ZfsL konfrontiert.     Die »habituelle Struktur« bestimmt also die Art und
                                                             Weise, wie Studierende Entwicklungsaufgaben inter-
Diese Entwicklungsaufgaben sollten im Sinne der Profes-      pretieren. Können Sie diese Deutungsmuster für unse-
sionsentwicklung bearbeitet werden. Und jetzt kommen         rer Leserinnen und Leser etwas systematisieren?
die biografisch verfestigten Deutungsmuster ins Spiel?        Košinár: Selbstverständlich. Wir sprechen hier von
Košinár: Genau. Studierende, Referendarinnen und            Orientierungsrahmen. Der Begriff stammt aus der doku-
Referendare werden mit Anforderungen konfrontiert,           mentarischen Methode (Bohnsack, 2013). Wir haben Stu-
die sie bearbeiten müssen, um sich professionell zu          dierende sehr offen über ihre Praxiserfahrungen befragt.
entwickeln. Am Beginn eines Entwicklungsprozesses            Aus der Rekonstruktion ihrer Erzählungen konnten wir
steht eine Irritation oder Krise (siehe Abbildung 1).        drei Vergleichsdimensionen identifizieren:
Diese Begriffe verweisen zunächst nur darauf, dass           1. die Bedeutung der Praktika für die Studierenden
bisherige Routinen für die Bewältigung einer Anforde-        2. die Konstituierung und Bearbeitung von Anforderun-
rung nicht mehr greifen und dies auch so erlebt wird.           gen und
Eigentlich sollte dann eine Lösungssuche einsetzen.          3. die Rolle der betreuenden Lehrperson.
Ob und wie das geschieht, hängt von der »habituellen
Struktur des Subjektes« ab. Damit bezeichnen wir die         Entlang dieser Dimensionen wurden die Fälle analysiert.
durch soziale Herkunft und (schul-)biografische Erfah-
rungen geprägten Orientierungen. Demgemäß sind die           Wir konnten vier Orientierungsrahmen rekonstruieren,
»Bilder« oder »Deutungsmuster«, von denen wir oben           deren Relationierung in vier Typen mündete (siehe
gesprochen haben, höchst individuell. So kann es sein,       Abbildung 2, Seite 10). Aber Vorsicht: Was Situationsdeu-
dass eine Anforderung im Referenzsystem der Stu-             tungen und Handlungen ausmacht, liegt nicht per se auf
dierenden überhaupt nicht relevant ist. Uns begegnet         der bewussten Ebene, d. h. die Studierenden haben uns
das in Aussagen wie zum Beispiel »das ist ja gar nicht       dies nicht einfach in der dargestellten Form erzählt, son-

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PERSPEKTIVEN UND HERAUSFORDERUNGEN FÜR DIE LEHRERBILDUNG IN NRW
SONDERHEFT TAGUNGSDOKUMENTATION | 04 / 2018

Abbildung 1: Professionalisierungsmodell: (Entwicklungs-)Prozesse beim Lösen von Erfahrungskrisen

dern wir haben dies über einen ziemlich aufwendigen                           sicherlich mit dem Typus »Vermeidung«. Studierende,
Prozess aus den Interviews rekonstruiert. Diese Typen                         die wir diesem Typ zuordnen konnten, erleben das
sind also nicht auf der expliziten Bewusstseinsebene                          Praktikum von Beginn an als Bewertungsraum. Ziel
verortet und sollten von daher nicht einfach zum Gegen-                       ist es, das Praktikum so gut es geht zu überstehen und
stand einer Beratungssituation gemacht werden.                                mit einer guten Bewertung abzuschließen. Defizite
                                                                              sollen möglichst nicht auffallen. Die Studierenden
Bevor wir auf den praktischen Nutzen für die Ausbil-                          versuchen sich anzupassen und den angenommenen
dung und Begleitung eingehen, würden wir gerne noch                           Erwartungen entsprechend zu agieren. Dabei verlas-
etwas mehr über diese vier Typen erfahren. Da hätten                          sen sie jedoch ihren eigenen Referenzrahmen nicht
wir zum einen den Typ »Entwicklung«. Ein Selbstläufer                         und verhindern damit den notwendigen persönlichen
in der Ausbildung?                                                            Auseinandersetzungsprozess. Charakteristisch für
Košinár: Sicher, in Bezug darauf, ob Anforderungen bzw.                      Studierende dieses Typus ist auch, dass sie sich nicht
Irritationen angenommen und bearbeitet werden, lässt                          selbstverantwortlich für den eigenen Professionali-
sich ganz klar sagen: Der Entwicklungstypus macht das.                        sierungsprozess zeigen. Sie setzen sich nicht mit den
Studierende, die wir diesem Typus zuordnen konnten,                           Anforderungen auseinander, weil sie überhaupt nicht
haben ein starkes berufsbezogenes Verständnis. Sie                            erkennen, dass es ihre Aufgabe ist, Entwicklungsziele
gehen ganz bewusst ins Praktikum mit dem Ziel, ihre                           zu definieren. Für Ausbilderinnen und Ausbilder be-
Professionalität zu entwickeln. Dafür setzen sie sich                         deutet das, immer wieder in einen kommunikativen
Entwicklungsziele und können diese Dank einer entwi-                          Klärungsprozess hinsichtlich der Anforderungen zu ge-
ckelten pädagogischen und fachdidaktischen Fach-                              hen. Erschwert wird dieser Austausch häufig dadurch,
sprache auch benennen. Dadurch werden sie von den                             dass es den Studierenden an der notwendigen Reflexi-
Ausbilderinnen und Ausbildern auf Augenhöhe wahr-                             vität und Fachsprache mangelt. Diese Vermeidungs-
genommen. Diese Studierenden, Referendarinnen und                             haltung kann sehr defensiv und ängstlich ausgeprägt
Referendare begrüßen Professionelle als Expertinnen                           sein, wir konnten aber auch Studierende ausmachen,
und Experten, die ihnen, falls erforderlich, beratend zur                     die strategisch agieren und Anpassung als Mittel der
Seite stehen. Problematischer verhält es sich hingegen                        Konfliktvermeidung nutzen.

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PERSPEKTIVEN UND HERAUSFORDERUNGEN FÜR DIE LEHRERBILDUNG IN NRW
SONDERHEFT TAGUNGSDOKUMENTATION | 04 / 2018

Abbildung 2: Typen der Anforderungsbearbeitung

Der Kontrast zwischen einem sehr aktiv agierenden,        Ich komme nun zum letzten Typus, den wir »Bewäh-
selbstbewussten Typus und einem eher passiv-reakti-       rung« genannt haben. Studierende, die wir diesem Typus
ven Typus ist hier sehr stark ausgeprägt. Sind dies die   zugeordnet haben, orientieren sich sehr stark an ihren
entscheidenden Prädiktoren für Professionalisierungs-     Ausbilderinnen und Ausbildern, da sie sich selbst als
verläufe?                                                 defizitär erleben. Oft sind das Studierende, die mit einem
Košinár: Nein. Die Gegenüberstellung von defensiv und    ganz großen Ideal ins Studium gehen, die schon lange
selbstbewusst allein trägt hier nicht. So konnten wir     den Wunsch haben, Lehrerin oder Lehrer zu werden. Sie
einen dritten Typus herausarbeiten, den wir »Selbst-      bringen einen sehr starken pädagogischen Impetus mit,
verwirklichung« genannt haben. Die entsprechenden         sprich, die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler
Studierenden betrachten ein Praktikum als Entfaltungs-    liegt ihnen am Herzen. Existentiell ist es für diese Studie-
raum, der es ihnen ermöglicht, eigene Vorstellungen von   renden, eine Bestätigung hinsichtlich ihrer Eignung zu
Unterricht zu realisieren. Dahinter stehen Annahmen       erfahren. Dafür versuchen sie, Schritt für Schritt nach den
wie »ich weiß, wie Schule und Unterricht funktionie-      Vorgaben der Ausbilderinnen und Ausbilder an Entwick-
ren«. Ausbilderinnen und Ausbilder werden erlebt als      lungszielen zu arbeiten. Kritik ist für sie sehr problema-
Personen, die den Studierenden entweder den Raum          tisch, da sie befürchten, dass am Ende des Praktikums ihre
geben, die eigenen Vorstellungen zu realisieren oder      Eignung für den Beruf in Frage gestellt wird.
aber ihnen Steine in den Weg legen. Didaktische Fragen
im Praktikum werden unter pragmatischen Gesichts-         Die Typologie kann uns also helfen festzustellen, wo die
punkten betrachtet mit dem Ziel, zu überlegen, wie sie    Studierenden gerade stehen und mit welcher Ansprache
den späteren Lehrberuf so gestalten können, dass er       und Lernumgebung sie abgeholt werden können. Kann
zu ihnen und ihren Ressourcen passt. Ausbilderinnen       man damit sagen, kein Typus ist per se ungeeignet?
und Ausbilder müssen Studierende dieses Typus immer       Košinár: Ja genau. Aus einer pädagogischen Perspektive
wieder mit den objektiven Anforderungen und indivi-       gehen wir grundsätzlich von einer großen Entwick-
duellen Entwicklungsaufgaben konfrontieren und eine       lungsfähigkeit des Menschen aus. Darauf weisen auch
Auseinandersetzung damit einfordern.                      die Befunde von Maier und Rauin (2007) hin, die anhand

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SONDERHEFT TAGUNGSDOKUMENTATION | 04 / 2018

einer Längsschnittstudie zeigen konnten, dass eine Viel-     machen«. Das ist gut gemeint von den Ausbildenden.
zahl von sogenannten Riskantstudierenden später im           Ich kann das auch verstehen. Sie wollen die Studieren-
Beruf Fuß fassen konnte. Dennoch kann man auf der Ba-        den nicht alleine lassen, sondern ihnen einen Rucksack
sis der Typiken eine prognostische Tendenz ausmachen,        packen. Studierende nehmen das natürlich sehr gerne
ob Entwicklungsaufgaben angenommen und bearbeitet            an. Zudem haben wir keine Fehlerkultur: Krisenerfah-
werden. Und hier müssen wir ansetzen.                        rungen werden mit den Ausbilderinnen und Ausbildern
                                                             oft erst gar nicht geteilt, sei es aus Angst durchzu-
Das ist das Stichwort, um uns noch einmal den ausbil-        fallen oder eine schlechte Note zu bekommen, sei es
denden Institutionen in Nordrhein-Westfalen zuzu-            aus Schamgefühl, zum Beispiel mit einer Klasse nicht
wenden. Am Praxissemester sind Universität, ZfsL und         zurecht zu kommen.
die Schule gleichermaßen beteiligt. Was können die
Beteiligten leisten, um den Professionalisierungspro-        Viel effektiver wäre ein gemeinsames Einlassen und ein
zess der Studierenden bestmöglich zu unterstützen?           miteinander Durchleben einer Krise. Hier müssen wir
Košinár: Zunächst begrüße ich sehr, dass im Praxis-         alle, die wir an Lehrerbildung beteiligt sind, Irritationen
semester alle drei Institutionen beteiligt sind. So fließen   der Studierenden Raum geben und diese gemeinsam
die unterschiedlichen Logiken und Kulturen von Praxis        mit ihnen aushalten. In unserem Reflexionsseminar an
und Wissenschaft in die Lehrerausbildung ein. Grund-         der Pädagogischen Hochschule machen wir mit Studie-
lage der Zusammenarbeit ist, dass diese Logiken wech-        renden zu Beginn der Ausbildung biografische Reflexi-
selseitig Anerkennung finden. Mit unterschiedlichen           onsübungen. Wir arbeiten heraus, dass Krise zunächst
Logiken meine ich übrigens nicht eine Differenzierung        nur bedeutet, dass Handlungsroutinen versagen und ein
nach dem bekannten Theorie-Praxis-Schema: Die                entsprechendes Muster erschüttert wird. Und sich auf
Universitäten sind für die Theorie, die Schulen und ZfsL     dieser Basis tragfähige Lösungen entwickeln lassen. Auf
für die Praxis zuständig. Dieser künstliche Graben im        dieser Erkenntnis können Ausbilderinnen und Ausbilder
Theorie-Praxis-Verhältnis muss dringend aufgelöst wer-       dann in den Langzeitpraktika aufbauen, wenn Studie-
den. Natürlich sind die Möglichkeiten, die Voraussetzun-     rende vor Entwicklungsaufgaben stehen, bei denen ihre
gen und die Ressourcen der jeweiligen Institution sehr       Routinen versagen. Dann wird die Krise zur Herausfor-
unterschiedlich und bedingen eine unterschiedliche           derung, auf die ich mich einzulassen kann und die mir
Ausbildungspraxis, das ist natürlich völlig klar. Umso       schlussendlich eine tolle Möglichkeit bietet, mich als
wichtiger sind Austausch und Abstimmung zwischen             Lehrperson zu entwickeln.
den Institutionen.
                                                             Die Krise aushalten ist also das eine, die gemeinsame
Hierfür könnte ein gemeinsames Ziel sein, die Studie-        Lösungssuche das andere?
renden – auch gegen möglichen Widerstand – anzure-           Košinár: Aus einer Krise alleine lernen Sie nichts. Wenn
gen, sich mit den anstehenden Entwicklungsaufgaben           Studierende alleine vor der Klasse stehen und merken,
auseinanderzusetzen?                                         ihre Routinen versagen, ihr Plan funktioniert nicht, dann
Košinár: Exakt. Wir wollen nachhaltige Veränderungen        kommt häufig Panik auf. Und in einer solchen »Überle-
im Sinne der Professionalisierung erwirken und gemein-       benssituation« versuchen Studierende nur, einigermaßen
sam die mitgebrachten, beruflichen Überzeugungen              gut durchzukommen. Das verschlimmert sich noch, wenn
und Orientierungen der Studierenden irritieren. Gelingt      die Ausbildenden hinten drinsitzen und sich Notizen
dies, ist der erste Schritt getan, dass Studierende sich     machen, während sich vorne jemand abzappelt. Und das
möglichen Krisen produktiv zuwenden können. Das ist          ist auch nicht in einer Nachbesprechung zu retten, wo
der Handlungsauftrag für alle drei Institutionen. Und        der Student oder die Studentin sowieso nichts aufnimmt,
hier liegen entscheidende Fallstricke: In der Ausbil-        weil das Adrenalin noch in den Adern rauscht.
dungspraxis besteht oft der Wunsch, die Irritationen der
Studierenden schnell aufzulösen. Einige Mentorinnen          Hingegen halte ich die Ansätze des Co-Planings und
und Mentoren reagieren dann mit Tipps und Tricks             des Co-Teachings von Studierenden und Ausbildenden
»beim nächsten Mal solltest du besser dieses und jenes       für äußerst gewinnbringend. Ideen werden zusammen

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entwickelt, umgesetzt und verantwortet. Damit schaffen       Zweitens Neugier: Wir haben viele Mentorinnen und
wir in den Praktika Situationen, in die die Expertise der    Mentoren, die über ihren Austausch mit Studierenden
Ausbilderinnen und Ausbilder in die Unterrichtsplanung       eine Teilhabe am wissenschaftlichen Diskurs realisieren
mit eingebracht wird und die Studierenden bei der Um-        und sich auch ganz praktisch Inspiration für ihre Unter-
setzung hinterher nicht alleine da stehen. Das entspricht    richtsgestaltung versprechen. Diese Einstellung hilft zum
meinem Konzept einer modernen Lehrerausbildung.              einen, den oben genannten, künstlichen Graben zwi-
                                                             schen Theorie und Praxis zuzuschütten und zum anderen
Unterrichtsnachbesprechungen halten Sie nicht für            ist dies die Grundlage für einen konstruktiven Prozess des
effektiv?                                                    gemeinsamen Nachdenkens über Unterricht und über
Košinár: Doch, wenn die zeitliche Distanz zur »Überle-      das Schülerlernen. So kann wirklich Neues entstehen.
benssituation« gegeben ist und für Studierende Fragen
der Bewertung in der Beratungssituation nicht domi-          Drittens Wissen: Dazu gehören Kenntnisse über die Pro-
nant sind. Für die Reflexion sind die Problemartikulation     zessstruktur des Erfahrungslernens und der Professio-
und die Versprachlichung der gedankenexperimentellen         nalisierung sowie die Kompetenzen, die notwendig sind,
Lösungssuche natürlich unverzichtbare Bestandteile           dieses Wissen in Beratungs- und Begleitsituationen
des Professionalisierungsprozesses. Dies lässt sich im       einzubringen. Dabei gilt es, die unterschiedlichen Vor-
Rahmen sogenannter Erfahrungsgemeinschaften üben,            aussetzungen der Studierenden zu rezipieren und indivi-
die neben den Mentorinnen und Mentoren auch die              duellen Professionalisierungsprozessen Raum zu geben.
Peergroup der Mitstudierenden, Mitreferendarinnen            Unser Einfluss ist begrenzt, aber durchaus vorhanden!
und -referendaren einbeziehen.
                                                             Vielen Dank für Ihre Impulse, um dieser Herausforde-
In dem Zusammenhang möchte ich noch einen Aspekt             rung zu begegnen und Lehrerausbildung zu gestalten.
nennen, der für alle Institutionen relevant ist: Videogra-
phie von Unterricht. Die universitäre Ausbildung nutzt
                                                                ZUM WEITERLESEN
zunehmend kasuistische Zugänge, um fallorientiert und
                                                                Bohnsack, R. (2013). Dokumentarische Methode. In R.
methodisch kontrolliert Unterricht zu analysieren. Videos
                                                                Bohnsack, W. Marotzki & M. Meuser (Hrsg.), Hauptbe-
kommen in diesem Zusammenhang eine immer größere
                                                                griffe Qualitativer Sozialforschung (S. 40-44). Opladen:
Bedeutung zu. Auch in der Schule bietet Videomaterial ein       Leske + Budrich.
großes Potenzial zur Nachbesprechung von Unterricht, in
                                                                Keller-Schneider, M. & Hericks, U. (2011). Beanspruchung,
denen alle Akteure dann gemeinsam in einer Distanz über
                                                                Professionalisierung und Entwicklungsaufgaben im
den Unterricht nachdenken können. Daher wirklich mein           Berufseinstieg von LehrerInnen. Journal für Lehrerin-
Appell an Schulen und auch an Mentorinnen und Mento-            nen- und Lehrerbildung, 11 (1), S. 20-31.
ren, Videographie zu unterstützen und als ein relevantes        Košinár, J. (2014). Professionalisierungsverläufe in der
Element in der Lehrerbildung von heute zu begreifen.            Lehrerausbildung. Anforderungsbearbeitung und Kom-
                                                                petenzentwicklung im Referendariat. Opladen: Barbara
Können wir bilanzierend hier nochmal die Rolle der              Budrich.
schulischen Mentorinnen und Mentoren in den Blick               Košinár, J., Schmid, E. & Diebold, N. (2016). Anforde-
nehmen? Was braucht es?                                         rungswahrnehmung und -bearbeitung Studierender in
Košinár: Ganz im Ernst: Erstens gute Nerven. Studierende       den Berufspraktischen Studien. In: J. Košinár, S. Leine-
professionalisieren sich durch krisenhafte Erfahrungen.         weber & E. Schmid (Hrsg.), Schulpraktische Professionali-
                                                                sierung: Entwicklungsprozesse angehender Lehrpersonen
Und diese Erfahrungen müssen sie auch machen dürfen.
                                                                (S. 139-154). Münster: Waxmann.
Ich plädiere deutlich für eine Abkehr vom »Meisterleh-
rerprinzip«, bei dem die oder der Studierende die Praxis-       Rauin U. & Maier, U. (2007). Subjektive Einschätzungen
                                                                des Kompetenzerwerbs in der Lehramtsausbildung. In
lehrperson kopieren soll. Lassen Sie Studierende bei der
                                                                M. Lüders & J. Wissinger (Hrsg.), Forschung zur Lehrer-
Lösungssuche experimentell vorgehen, lassen Sie auch
                                                                bildung (S. 103-133). Münster: Waxmann.
das Riskante zu. Also auch keine Schließung der Experi-
mentierfreude durch Tipps und Tricks.

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SONDERHEFT TAGUNGSDOKUMENTATION | 04 / 2018

PLANUNGSMODELLE FÜR INKLUSIVEN
UNTERRICHT
Welche Kompetenzen benötigen Lehramtsstudierende für die zweite Phase
der Lehrerausbildung?
Lehrerinnen und Lehrer sehen                                                                   des Handlungsfelds Studium
sich heute mit einem ausge-                                                                    inklusiv innerhalb der Zukunfts-
sprochen vielseitigen Berufsbild                                                               strategie Lehrerausbildung der
konfrontiert. Dennoch bleibt                                                                   Universität zu Köln gemeinsam
das Unterrichten eine zentrale                                                                 mit Dozierenden und Studieren-
Tätigkeit, für die die Grundlage                                                               den einige dieser Kompetenzen
in Wissen, Handlungskompetenz                                                                  herausgegriffen worden, um auf
und Einstellungen in Studium              Natascha Stahl-Morabito, Zentrum für schulprak-      dieser Basis zu überlegen, ob und
                                          tische Lehrerausbildung, Gelsenkirchen;
und Referendariat erworben                Prof. Dr. Conny Melzer, Humanwissenschaftliche
                                                                                               wenn  ja wie, die erste und die
werden sollten (European Agency           Fakultät, Universität zu Köln                        zweite Phase der Lehrerbildung
for Development in Special Needs                                                               besser voneinander profitieren
Education, 2012, S. 13; Melzer,                                                                können und um aus Sicht der
Hillenbrand, Sprenger & Hennemann, 2015). Die Heraus-                 Unterrichtspraxis heraus darzustellen, warum diese
forderungen, die insbesondere durch Integration und                   Kompetenzen für das Unterrichten bedeutsam sind:
Inklusion entstehen, wie auch der im Schulgesetz für                    1. Lehrerinnen und Lehrer kooperieren zielgerichtet mit
Nordrhein-Westfalen rechtlich verankerte Anspruch auf                      verschiedenen Menschen in verschiedenen Professionen.
individuelle Förderung, führen zu einer veränderten Un-                 2. Sie diagnostizieren in Unterrichtsfächern und Ent-
terrichtsrealität und bedingen dementsprechend auch                        wicklungsbereichen und leiten aus diesen diagnos-
Konsequenzen für alle Phasen der Lehrerbildung.                            tischen Erkenntnissen passende Handlungen und
                                                                           Strategien ab.
Unter diesem Aspekt setzt sich der vorliegende Beitrag                  3. Sie beherrschen die Fächer, die sie unterrichten.
in Anlehnung an den gleichnamigen Workshop mit der                      4. Sie erkennen persönliche und systemische Diskri-
Frage auseinander, welche Kompetenzen angehende                            minierung von Schülerinnen und Schülern und
Lehrerinnen und Lehrer in Studium und Referendariat                        arbeiten daran, diese abzubauen.
erwerben sollten, damit sie sich nach der Ausbildung gut                5. Sie erkennen »Lücken« und bauen eine fragende, for-
gerüstet den anspruchsvollen Aufgaben widmen können                        schende Haltung sich selbst und dem System Schule
und welchen Beitrag Universität sowie Zentrum für schul-                   gegenüber auf und suchen aktiv nach Antworten.
praktische Lehrerausbildung (ZfsL) dazu leisten können.
                                                                      Die Aufgabe, zunehmend in Kooperation und/oder unter
Welche Kompetenzen sollten angehende Lehre-                           Einhalten von Absprachen, Unterricht zu planen und
rinnen und Lehrer in Studium und Referendariat                        diese Planung auch so zu verschriften, dass in Teams
erwerben?                                                             damit gearbeitet werden kann, wird erleichtert, wenn
Für die ersten beiden Phasen der Lehrerausbildung                     Unterrichtende sich auf der Basis von Modellen über
regeln zentrale Vorgaben, welche Kompetenzen ange-                    den zu planenden Unterricht verständigen können.
hende Lehrerinnen und Lehrer erwerben müssen. Für
den Vorbereitungsdienst werden diese in den Hand-                     Planungshilfen für Unterricht und Differenzierung
lungsfeldern des Kerncurriculums spezifiziert und in                   im Rahmen der Ausbildung
konkreten Handlungssituationen integriert erwor-                      Im Rahmen der Ausbildung sollten angehende Lehre-
ben. Zudem sind im Rahmen der Zukunftswerkstatt                       rinnen und Lehrer deswegen verschiedene Modelle ken-

                                                                                                                             13
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nenlernen, nach denen Unterricht und Differenzierung      zierung genutzt. Dieses Differenzierungsmodell für das
geplant werden können, damit sie während der Aus-         Gemeinsame Lernen setzt voraus, dass alle Lernenden
bildung und im Anschluss daran die für sie sinnvollen     einer Lerngruppe an gleichen bzw. ähnlichen Themen
Aspekte auswählen und nutzen können. Dabei geht es        arbeiten und beinhaltet das zielgleiche sowie das
nicht darum, in vorgegebenen Rastern pedantisch alle      zieldifferente Lernen. Eine zentrale Grundlage ist – wie
leeren Felder zu füllen, sondern einen Denkanstoß für     in jedem Unterricht, der den rechtlichen Anspruch auf
die Planung und ggf. eine Grundlage für ein kooperati-    individuelle Förderung verfolgt – der Gedanke, dass sich
ves Planungsgespräch zu haben. Beispielsweise sind dies   unterschiedliche Kompetenzerwartungen auf der Basis
  > Anforderungsbereiche I-III gemäß der Lehrpläne in     der individuellen Lernvoraussetzungen der Schülerinnen
    Nordrhein-Westfalen                                   und Schüler ergeben. Eine solide Erhebung der Lern-
  > Differenzierungsmatrix nach Sasse (Sasse & Schu-      ausgangslage ist dabei immer die Grundlage jeglicher
    leck, 2013)                                           Differenzierung. Denn aus unterschiedlichen Kompeten-
  > Inklusionsdidaktische Netze nach Kahlert und          zerwartungen ergeben sich individuelle Maßnahmen
    Heimlich (2012)                                       zur Herausforderung und Unterstützung. Differenzie-
  > Förderpädagogische Netze nach Flott-Tönjes und        rung ist nicht nur dann notwendig, wenn zieldifferent
    andere (2017)                                         gearbeitet wird, sondern muss durchgehendes Prinzip
  > Aneignungsniveaus nach Klauß (2009)                   von Unterricht sein, damit tatsächlich individuell geför-
                                                          dert werden kann (siehe Abbildung 1).
Im Verlauf des Berufslebens werden Unterrichtende
diese Planungsmasken nach und nach verändern und          Diese Raute ist auch als Repräsentation der Schülerschaft
für ihren alltäglichen Einsatz optimieren.                einer Lerngruppe vorstellbar: mit Leistungen am oberen
                                                          und unteren Ende der in den Lehrplänen verankerten
Alle fünf Modelle kommen in der Ausbildung Lehramts-      Kompetenzerwartungen und darüber hinaus oder
anwärterinnen und -anwärtern zum Einsatz, haben sich      darunter. Die meisten Schülerinnen und Schüler sind
als praktikabel erwiesen und haben Vor- und Nachteile.    gemäß Wember (2013) in der Basisstufe einzuordnen.
Im Folgenden wird ein Planungsmodell exemplarisch         Sie erfüllen die Kompetenzerwartungen der Lehrpläne
herausgegriffen.                                          für das Fach und das Alter und benötigen dafür keine
                                                          außergewöhnliche Unterstützung. Im ursprünglichen
Differenzierung am Beispiel der »Wember-Raute«            Modell ist lediglich der Bereich der Unterstützungsstufe
Im Seminar Sonderpädagogische Förderung des Zen-          II als zieldifferent (Bildungsgang Geistige Entwicklung
trums für die schulpraktische Lehrerausbildung (ZfsL)     und Bildungsgang Lernen) angedacht. Unter Berücksich-
Gelsenkirchen wird im Rahmen der Ausbildung unter         tigung der in den Aufgabensammlungen zu den Lehrplä-
anderem intensiv das Modell von Wember zur Differen-      nen in NRW entwickelten Anforderungsbereiche muss
                                                          sichergestellt werden, dass die Lernenden, die im Bereich
                                                          der Unterstützungsstufe arbeiten, nicht im Anforde-
                                                          rungsbereich I des Reproduzierens verbleiben, sondern
                                                          ihrem Lernniveau entsprechend auch in den Anforde-
                                                          rungsbereich III der eigenen Konstruktion gelangen.

                                                          Im Rahmen der Ausbildung der Lehramtsanwärterinnen
                                                          und Lehramtsanwärter im Seminar Sonderpädagogische
                                                          Förderung im Fach Englisch kommt folgende Beschrei-
                                                          bung der gestaffelten Kompetenzerwartungen und
                                                          Maßnahmen zum Einsatz (siehe Abbildung 2).

                                                          Vision: Universal Design of Learning
                                                          »Ziel einer inklusiven Schule ist es, das Selbst sich so ent-
Abbildung 1: Planungsmodell nach Wember (2013)

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SONDERHEFT TAGUNGSDOKUMENTATION | 04 / 2018

Abbildung 2: Planungsmodell nach Wember (2013) mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen und individuellen Maßnahmen zur Unterstützung und Heraus-
forderung

wickeln zu lassen, dass es zu persönlicher Exzellenz fin-                   von Lernergebnissen sowie multiple Möglichkeiten der
det, um Chancen einer Selbstbehauptung im nachschu-                        Förderung von Motivation und Bindung (vgl. Schlüter,
lischen Leben zu erhöhen« (Reich, 2014, S. 223). Um diese                  Melle & Wember, 2016). UDL möchte also Barrieren im
Vision, die persönliche Exzellenz für alle Lernenden,                      Unterricht identifizieren und beseitigen und geht damit
verfolgen und vielleicht auch erreichen zu können, muss                    grundsätzlich von den gleichen Lernzielen für alle Ler-
ein inklusiv ausgerichtetes Bildungssystem weit über                       nenden aus. Differenzierung wäre dann ein zusätzliches
die Begriffe von Differenzierung und Individualisierung                    Instrument, um individuelle Maßnahmen für einzelne
hinausgehen. Eine Möglichkeit, inklusiven Unterricht                       Schülerinnen und Schüler, gegebenenfalls auch lern-
zu gestalten, die aktuell viel Beachtung findet, ist das                    zieldifferent und in allen Unterstützungs- und Erweite-
Universal Design for Learning (UDL). Das UDL setzt dabei                   rungsstufen, anzubieten.
noch vor einer Differenzierung bei der gesamten Klasse
an. Es ist ein wissenschaftlich basiertes Rahmenkonzept
                                                                               AUTORINNEN
praktischen Handelns, stellt flexible Wege der Infor-
mationspräsentation dar und reduziert Barrieren im
Unterricht, behält dabei aber eine hohe Erwartung an                           Natascha Stahl-Morabito, Zentrum für schulpraktische
die Leistungen der Schülerinnen und Schüler (Edyburn,                          Lehrerausbildung, Seminar Sonderpädagogik,
                                                                               Lüttinghofallee 5, 45896 Gelsenkirchen
2010, S. 34). Das Konzept hilft also zu verstehen, wie
der Zugang (Access) und Bindung zum und im Lernen
funktioniert, was als Grundvoraussetzung für erfolg-                           Prof. Dr. Conny Melzer, Professur Sonderpädagogische
reiches Lernen angesehen werden kann. Dazu werden                              Grundlagen, Department für Heilpädagogik, Human-
drei Prinzipien konsequent umgesetzt: multiple Mittel                          wissenschaftliche Fakultät, Universität zu Köln
                                                                               Gronewaldstraße 2, 50931 Köln
der Präsentation von Informationen, multiple Mittel
der Verarbeitung von Informationen und Darstellung

                                                                                                                                               15
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     ZUM WEITERLESEN
     Edyburn, D.L. (2010): Would you Recognize Universal Design for Learning if you saw it? Ten Propositions for new Directions
     fort he second Decade of UDL. In: Learning Disability Quarterly, 33, S. 33-41.
     European Agency for Development in Special Needs Education (2012): Ein Profil für inklusive Lehrerinnen und Lehrer. Brüs-
     sel: Europäische Agentur für Entwicklungen in der sonderpädagogischen Förderung.
     Flott-Tönjes, U.; Albers, S.; Ludwig, M.; Schumacher, H.; Storcks-Kemming, B.; Thamm, J. & Witt, H. (2017): Fördern planen. Ein
     sonderpädagogisches Planungs- und Beratungskonzept für Förderschulen und Schulen des Gemeinsamen Lernens. Oberhau-
     sen: Athena.
     Heimlich, U. & Kahlert, J. (2012): Inklusion in Schule und Unterricht. Stuttgart: Kohlhammer.
     Kahlert, Joachim & Heimlich, Ulrich (2012): Inklusionsdidaktische Netze – Konturen eines Unterrichts für alle (dargestellt
     am Beispiel des Sachunterrichts. In: Heimlich, Ulrich & Kahlert, Joachim: Inklusion in Schule und Unterricht. Stuttgart:
     Kohlhammer. S. 153-190.
     Klauß, T. (2009): Wie gestalten wir Lernangebote, die wirklich alle einbeziehen? Manuskript zum gleichnamigen Workshop.
     Tagung: Berufsorientierung in Tagesstätten – Lernwege und Bildungsbedarfe von Menschen mit schweren und mehrfa-
     chen Behinderungen.
     Melzer, C.; Hillenbrand, C.; Sprenger, D. & Hennemann, T. (2015): Aufgaben von Lehrkräften in inklusiven Bildungssystemen
     – Review internationaler Studien? In: Erziehungswissenschaft, 26 (51), 61-80.
     Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen (2016): Ordnung des Vorbereitungsdienstes und der
     Staatsprüfung für Lehrämter an Schulen. Abrufbar: www.lpa1.nrw.de/AB2/Staatspruefung/index.html
     Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (2008): Lernaufgaben Englisch Grundschule.
     Abrufbar: www.schulentwicklung.nrw.de/materialdatenbank/material/view/2069
     Reich, Kersten (2014): Inklusive Didaktik. Weinheim und Basel: Beltz.
     Sasse, A. & Schulzeck, U. (2013): Differenzierungsmatritzen als Modell der Planung und Reflexion inklusiven Unterrichts – zum
     Zwischenstand in einem Schulversuch. Thüringen: Thüringer Institut für Lehrerfortbildung.
     Schlüter, A.; Melle, I. & Wember, F. (2016): Unterrichtsgestaltung in Klassen des Gemeinsamen Lernens: Universal Design for
     Learning. Sonderpädagogische Förderung heute, 61 (3), 270-284.
     Wember, Franz (2013): Herausforderung Inklusion: Ein präventiv orientiertes Modell schulischen Lernens und vier zentrale
     Bedingungen inklusiver Unterrichtsentwicklung. In Zeitschrift für Heilpädagogik 10/2013. S. 380-388.

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VIELFALT UND INKLUSION IN DER
LEHRERAUSBILDUNG
Entwicklungen in den Fächern Sport und Mathematik

                              Einleitung                    BA-/MA-Struktur zwar der Bereich »Diagnose und
   Prof. Dr. Ulf Gebken,    Vielfalt und Inklusion ist      Förderung« als verpflichtendes Element festgehalten,
   Doris Kluge-Schöpp,
   Roxanne Papenberg,
                            eines von drei Handlungsfel-    jedoch war ein Schwerpunkt Inklusion noch nicht
   Prof. Dr. Petra Scherer, dern des Projekts ProViel im    sichtbar. Das Gesetz zur Änderung des LABG 2016 in
   Helena Sträter,
   Universität Duisburg-    Rahmen der Qualitätsoffen-      Nordrhein-Westfalen sieht durch verpflichtende Cre-
   Essen                    sive Lehrerbildung (QLb). Das   dits für inklusionsrelevante Fragestellungen Inklusion
                            Handlungsfeld gliedert sich     auch als klare Verantwortung der Fächer. Ferner ist in
                            in die Bereiche Sprachförde-    den erweiterten KMK-Standards, den Empfehlungen
rung und Inklusion mit neun Teilprojekten, darunter die     zur Lehrerbildung für eine »Schule der Vielfalt«, der
Fachdidaktiken Mathematik und Sport. Für den Work-          Schwerpunkt Inklusion zukünftig prominent veran-
shop am 23. November haben sich diese beiden zusam-         kert, sowohl in den Bildungswissenschaften als auch
mengeschlossen, um gemeinsam über inklusionsrele-           in den Fächern.
vante Entwicklungen und Perspektiven in ihren Fächern
zu sprechen. Im bisherigen Verlauf des Projekts gelang      In der konkreten Ausgestaltung einer fachspezifischen
es, die Inklusionsthematik in der Lehrerausbildung          inklusionsorientierten Lehrerausbildung ist die Berück-
an der Universität Duisburg-Essen – sowohl in den im        sichtigung der Ausgangslage, sowohl die Sicht der Stu-
Projekt mitwirkenden Fachdidaktiken als auch fächer-        dierenden als auch die der Lehrenden, von Bedeutung.
übergreifend – in den Blick zu nehmen, zu diskutieren       Neben der Berücksichtigung dieser Vorerfahrungen
und weiterzuentwickeln. So wurde z.B. von den ProViel-      sowie Einstellungen und Beliefs sollten Lehramtsstu-
Beteiligten ein Vorschlag für ein gemeinsames Leitbild      dierende fachdidaktische Grundlagen ergänzt durch
Inklusion entwickelt, das gemeinsam mit den lehramts-       sonderpädagogische Ansätze erwerben und Konzepte
ausbildenden Fächern der Universität Duisburg-Essen         für unterrichtliche Umsetzungen kennenlernen, ergänzt
diskutiert wird. In stetigem Austausch mit weiteren         durch entsprechende Praxiserfahrungen.
(außer-)universitären Akteuren soll das Thema Inklu-
sion weiter vorangetrieben werden.                          Konkrete Beispiele: Sport
                                                            Das Institut für Sport- und Bewegungswissenschaften
Zur fachspezifischen Lehrerausbildung                        (ISBW) der Universität Duisburg-Essen reagierte auf die
Inklusion stellt an die Bildungswissenschaften und          Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention
Fachdidaktiken neue Anforderungen und wirft Fra-            2009 und des LAGB 2016 mit einer verstärkten Imple-
gen der strukturellen und inhaltlichen Ausgestaltung        mentierung von inklusionsrelevanten Inhalten in den
der Lehreraus- und -fortbildung auf. Dabei sind die         sportpraktischen und theoriegeleiteten Seminaren. Im
Ausgangsbedingungen (für Lehrämter, Fächer und              Rahmen des Projekts ProViel und in Zusammenarbeit
Standorte) sehr verschieden: Es existieren Standorte mit    mit dem außeruniversitären Partner DJK Franz-Sales-
und ohne Sonderpädagogik, und auch eine vielfältige         Haus (FSH) wurde ein Fortbildungskonzept für Lehrende
Struktur sowie Studienumfänge für die einzelnen Schul-      entwickelt und umgesetzt, das neben einer praktischen
formen und die jeweiligen Unterrichtsfächer.                Einheit Raum für Diskussionsrunden und einen sport-
                                                            artspezifischen Austausch in Kleingruppen umfasst.
Im Lehrerausbildungsgesetz (LABG) 2009 wurde in             Schlüsselakteure stellten bei der Durchführung am
Nordrhein-Westfalen mit der Umstellung auf die              ISBW die sportlichen Leiter sowie Athleten des FSH dar.

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