JANUAR 2020 - Mitgliedermagazin des BVF - Berufsverband Heilpädagogische Früherziehung

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JANUAR 2020 - Mitgliedermagazin des BVF - Berufsverband Heilpädagogische Früherziehung
Mitgliedermagazin des BVF
                 NR. 100 – JANUAR 2020

   SCHWERPUNKT

 WIRKUNGSVOLLES
HANDELN IN DER HFE

      SEITE 8

                            JANUAR 2020

                               FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2020
JANUAR 2020 - Mitgliedermagazin des BVF - Berufsverband Heilpädagogische Früherziehung
2      Inhaltsverzeichnis

Was wir diesmal zum
Thema machen:

Editorial...............................................................................................    3
Aktuelles aus dem BVF...................................................................... 4

Wirkungsvolles Handeln in der HFE

Was bleibt nach der HFE von der HFE?..........................................                             8

Blick in den Hörsaal der Pädagogischen Hochschule FHNW....... 14

Autismus gut behandeln:
Beziehungen entwickeln oder Verhaltenstraining?.......................... 21

Wirksames Handeln aus der Praxis für die Praxis

Der DIRFloortime Play-Ansatz ist mehr als eine Methode!............ 27

Das psychodramatische Symbolspiel in der Elternberatung.......... 33

Wirkungsvolles Handeln in der Praxis
einer Heilpädagogischen Früherzieherin.......................................... 36

Masterarbeit: Joggeli, wottsch go riite?........................................... 38

Aktuelle Berufspolitik......................................................................... 45

Rezensionen.......................................................................................       50
Mitgliederversammlung/Vorankündigung........................................                             55
Abkürzungsverzeichnis......................................................................              56
Vorstand..............................................................................................   57
Geschäftsstelle/Vorschau..................................................................               58
Cartoon...............................................................................................   59
Impressum.........................................................................................       60

FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2020
Editorial   3

                  Liebe Leserin, lieber Leser
                                        Tanja Alther

Zunächst möchte ich dem BVF ganz herzlich       nur geschehen, wenn immer wieder auch die
zu dieser speziellen Ausgabe gratulieren – es   Wirksamkeit unserer Arbeit hinterfragt wird.
ist nämlich die 100. Ausgabe unseres Mitglie-   Heute wird dies evidenzbasiertes Arbeiten
dermagazins «Forum».                            genannt.
Einen kurzen Überblick über die Geschichte      In dieser Ausgabe gehen wir verschiedenen
des «Forums» findet ihr in der Rubrik «Aktu-    Ansätzen auf den Grund. Wir werfen einen
elles». Ich möchte mich an dieser Stelle ganz   Blick auf verschiedene Diagnostikverfahren in
herzlich bei allen Mitwirkenden bedanken!       der HFE und erhalten einen ersten Einblick in
Die Themen, Texte, Ideen, Bilder, Neuerungen    ein Dissertationsprojekt aus dem Kanton
und Inspirationen wären ohne das Mitwirken      Zürich, in dem es um die helpfulness der HFE
vieler im Hintergrund nicht möglich. Ganz       aus Sicht der Eltern geht. Wir erfahren mehr
herzlichen Dank an alle, die unser Magazin      über den DIRFloortime-Ansatz in der Arbeit
möglich machen, und natürlich auch einen        mit Kindern mit ASS und dessen Evidenz und
besonderen Dank an alle Leser*innen, die es     über die Arbeit mit Psychodrama in der HFE.
erst lohnenswert machen, das Heft zu produ-     Des Weiteren wird eine Masterarbeit zum
zieren.                                         sozialinteraktiven Spiel vorgestellt.
                                                In der Rubrik Berufspolitik werden die Quali-
Ins Wasser fallend                              tätsstandards im Zusammenhang mit der
zieht ein Stein seine Kreise                    Familienorientierung beleuchtet.
versinkt in Tiefen
(Marion Kühnen, 1948)                           Ich wünsche allen Leser*innen ein frohes
                                                neues Jahr und eine spannende Lektüre.
So wie der Stein ziehen auch wir in unserer
Arbeit unsere Kreise im Leben vieler Familien
und bewirken dabei einiges. Manchmal sind
es kleine Wirkungen, manchmal vielleicht
auch grosse. Mit dem Thema Wirksamkeit in
der HFE beschäftigen wir uns in dieser Aus-
gabe.
So wie sich auch unser Magazin über die Jah-
re verändert hat, so verändert sich auch die
HFE immer wieder. Es werden neue Ansätze
entwickelt, neue Erkenntnisse gewonnen und             Mit herzlichen Grüssen
veraltete Methoden verschwinden. Dies kann             Tanja Alther

P.S. Eine Formel, die mir bei der Recherche nach Ideen begegnete,
möchte ich euch nicht vorenthalten: Effizienz = M x C2 (M = Motivation, C = Competence)
(Hans-Jürgen Quadbeck-Seeger, 1939)                FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2020
4   Aktuelles

                    Aktuelles aus dem BVF
                                    Marianne Bossard

Zurückblicken, staunen, sich freuen und wei-    rat als Verbindungsglied zwischen Redaktion
ter blicken – mit der heutigen 100. Ausgabe     und Feld der HFE
des «Forums» wird deutlich, dass das Mitglie-   2019 Rubrik «Aktuelle Berufspolitik» wird lan-
dermagazin ein wertvoller und etablierter Ka-   ciert
nal ist, um die Mitglieder und das Netzwerk     2020 im Januar erscheint die 100. Ausgabe
des BVF zu informieren.                         des «Forums»

Worum Forum?                                    Zahlreiche Themen aus der praktischen
Weil das Forum den Zusammenhalt                 Arbeit, aus berufspolitischen Bewegungen
einer kleinen, exklusiven und wichtigen         und den Geschäften des BVF wurden in die-
Berufsgruppe fördert und stärkt.                sen Mitgliedermagazinen publiziert. Die
Hundertfach sendete es wichtige,                Kooperationen mit den Verfasser*innen der
spannende, innovative, wissenswerte             Artikel, den Mitgliedern des BVF und dem
Impulse in die ganze Schweiz.                   Forumsbeirat stellen das Forum sicher und
Das ist super.                                  halten es aktuell. Die Arbeiten in der Redak-
Dorum Forum!                                    tion, im Korrektorat und im Sekretariat
Angela Hepting                                  machen es möglich, dass der BVF den viel-
                                                fältigen Prozess gelingend abrundet.
Begonnen hat es 1985 mit dem ersten Infor-
mationsblatt. Weitere Eckdaten aus der Chro-
nik des BVF zum Forum sind nachfolgend
kurz aufgeführt:
1985 Das erste Informationsblatt erscheint
1991 folgt die zweite Sondernummer und 1993
die dritte Sondernummer
2007 Forum erhält erstmals ein Schwerpunkt-
thema
2008 Forumsbeirat wird gegründet, Redak-
tionssitzungen zwischen Geschäftsleitung und
Ressort Publikationen
2009 Erste Sitzung des Forumsbeirats
2014 Forum in neuem Layout, mit neuem
Logo, keine Redaktionssitzungen mehr, die
Zusammenarbeit digitalisiert sich, Forumsbei-   Erstes Informationsblatt (Archiv BVF)

FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2020
Aktuelles   5

Im ersten Informationsblatt war das Tessin          gegebenen Vorstudie zu «Familienzentrierter
vertreten, so nehmen wir für die 100. Ausgabe       Vernetzung in der Schweiz». Die Projektlei-
die Gedanken und Gratulationsworte von Ele-         tung dieser Vorstudie liegt bei Prof. Dr. Mar-
na Casellini auf:                                   tin Hafen und Prof. Dr. Claudia Meier Ma-
                                                    gistretti von der Hochschule Luzern. Dem BVF
«Gentili Signore, ecco che cosa FORUM               ist es ein grosses Anliegen, als Praxispartner
ha significato per me:                              in der Entwicklung eines Modells für «Fami-
                                                    lienzentrierte Netzwerke im Frühbereich» in-
– contatto con colleghi di altre regioni            terprofessionell mitzuwirken und die Erfah-
– possibilità di definire più chiaramente           rungen der Heilpädagogischen Früherziehung
  il mio ruolo professionale, in rapporto           einzubringen. Zahlreiche Verbände, Organi-
  all' attività associativa                         sationen und Fachpersonen aus der Frühen
– aggiornamento sugli aspetti teorici               Bildung, Betreuung und Erziehung sind als
– possibilità di essere aggiornata                  Praxispartner oder im Soundingboard vertre-
– spunti di riflessioni su aspetti etici            ten. Die Vorstudie ist im Zeitraum von August
Grazie mille a FORUM!»                              2019 bis Dezember 2020 in sechs Module
                                                    aufgeteilt. Nach der Analyse von Good-
Vieles wird neu: sich rollend verändern             Practice-Beispielen in der Schweiz und Mo-

Nicht mehr lange und wir können unsere neue
Website lancieren. Am 1. Februar 2020 ist es
so weit! An dieser Stelle danken wir den Or-
ganisationen Verband Heilpädagogischer
Dienste Schweiz (VHDS), Stiftung Rhaetia und
einer anonymisierten Stiftung, die unseren
neuen Kommunikationsauftritt mit einem fi-
nanziellen Beitrag unterstützen. So blickt der
BVF auf ein erfolgreiches Fundraising zurück.
Der BVF hat an der Nationalen Fachtagung
Frühe Kindheit des Netzwerks Kinderbe-
treuung im Rahmen der Poster-Ausstellung
aufgezeigt, weshalb die Heilpädagogische
Früherziehung besonders für Kinder benach-
teiligter Familien wichtig ist und wie die Inklu-
sion gefördert werden kann. Dies haben wir
anhand unserer Aufgabenfelder, Arbeitswei-
sen und Kooperationen im multidisziplinären
Feld veranschaulicht.
Im alten Jahr erreichte den BVF die Anfrage
zur Mitwirkung als Praxispartner in der vom
Bundesamt für Gesundheit (BAG) in Auftrag           Poster Nationale Fachtagung (BVF, 2019)

                                                       FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2020
6     Aktuelles

dellen ausserhalb der Schweiz (z.B. Frühe          In zahlreichen Begegnungen konnte ich Kol-
Hilfen in Österreich) durch die Projektleitung,    legen*innen mit persönlichem Händedruck
folgt eine Online-Befragung der Praxispartner.     begrüssen, zu Gesprächen und Sitzungen ein-
Aufgrund dieser beiden Elemente entsteht ein       laden und in den Schätzen des BVF blättern.
Basismodell für die familienzentrierte Vernet-     In Kooperationen mit dem Vorstand, den
zung. Die Entwicklung eines Basismodells           Netzwerkpartner*innen und unseren Mitglie-
bildet die Grundlage für Workshops mit den         dern konnten wir gemeinsam an den beste-
Praxispartnern in allen Sprachregionen der         henden BVF-Geschäften anknüpfen, sie wei-
Schweiz. Gestützt auf diese interprofessionel-     terführen und weiterentwickeln. Rollend Rol-
len Diskussionen wird das Basismodell er-          len und Hüte wechseln bleibt mir als Bild vor
gänzt, angepasst und präzisiert. Der BVF           Augen, welches mich in meiner Zeit beim BVF
blickt interessiert auf diese Prozesse und setzt   begleitete. Mit den vielfältigen Aufgabenfel-
sich für die Anliegen der Heilpädagogischen        dern der HFE haben wir im Berufsalltag ver-
Früherziehung ein. Neuigkeiten aus dieser          schiedene Hüte auf und kennen die Kunst,
Vorstudie wird der BVF kontinuierlich kom-         Perspektiven zu wechseln. Rollend wechseln,
munizieren.                                        das kennt auch ihr!
«Und jemand winkt»
Die Bewegungen in der Politik, in der Wissen-      Zurückblicken, innehalten und staunen, ab
schaft, in den Behörden und Verwaltungen, in       allem, was entstanden ist und zuversichtlich
den Durchführungsstellen der HFE fordern die       weiterblicken, das wünsche ich euch. Ich ma-
Präsenz und das Zutrauen aller Fachpersonen        che es nun wie die Kinder, die uns mit freud-
HFE, damit in Veränderungsprozessen mitge-         vollem Blick von weitem zuwinken, und uns
wirkt und partizipiert werden kann. Nur mit        beim Abschied auf Wiedersehen winken: Ich
dir gelingts!                                      winke euch zu!

    Aus dem Netzwerk Kinderbetreuung

    Zwei hilfreiche und informative Links aus dem Netzwerk Kinderbetreuung,
    zusammengestellt und ausgewählt von Astrid Hartmann:

    Der Stände- und Nationalrat heissen für Eltern von schwer kranken oder verunfallten
    Kindern einen bezahlten Betreuungsurlaub von bis zu 14 Wochen gut.

    https://www.netzwerk-kinderbetreuung.ch/de/journal/2019/09/23/nationalrat-heisst-
    betreuungsurlaub-fuer-eltern-gut/

    Ratgeber für Alleinerziehende:

    https://www.oeffentliche-krankenkasse.ch/files/PDF_Ratgeber_fuer_Alleinerziehende.pdf

FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2020
Aktuelles   7

FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2020
8     Wirkungsvolles Handeln in der HFE

    Was bleibt nach der HFE von der HFE?
         Einblick in das laufende Forschungsprojekt zur Einschätzung der helpfulness1
                   der Heilpädagogischen Früherziehung aus Sicht der Eltern

                           Raphaela Iffländer, Michael von Rhein

Angesichts des steigenden Kostendrucks im        sonderpädagogischen Massnahmen im Früh-
Frühbereich ist es unabdingbar zu wissen,        bereich im Kanton Zürich aufgebaut wird.
ob, für wen und wodurch frühe Förderung          Basierend auf der klinischen Datenbank der
wirksam ist. Ein laufendes Forschungs-           Fachstellen, die seit 2013 im Kanton Zürich für
projekt untersucht deshalb, welche Kinder        die Bedarfsabklärung von sonderpädagogi-
im Kanton Zürich sonderpädagogische              schen Massnahmen im Vorschulalter zustän-
Massnahmen im Frühbereich erhalten und           dig sind, soll das neue Register wissenschaft-
was die Heilpädagogische Früherziehung           liche Auswertungen ermöglichen, um die
aus Sicht der Eltern hilfreich macht.            Versorgungssituation der Kinder mit sonder-
                                                 pädagogischen Massnahmen genauer zu be-
Versorgung von Kindern mit Entwicklungs-         schreiben und allfällige Versorgungslücken,
störungen im Kanton Zürich                       regionale Unausgewogenheiten oder ein
Angesichts des Kostenanstiegs für sonderpä-      Missverhältnis von Angebot und Bedarf auf-
dagogische Massnahmen im Vor- und Nach-          zudecken. Dies betrifft logopädische und
schulbereich in den letzten Jahren wächst der    heilpädagogische Massnahmen sowie Low-
politische Handlungsdruck, die kantonalen        Vision und Audiopädagogik bei Kindern im
Ausgaben in diesem Bereich stärker als bisher    Vor- und Nachschulalter. Jedes Jahr werden
zu limitieren und Steuerungselemente zu eta-     rund 2000 Kinder bei den beiden Fachstellen
blieren. Vor diesem Hintergrund ist es von       für die Bedarfsbestimmung angemeldet und
zentraler Bedeutung, empirisch belegte Zah-      – falls erforderlich – Massnahmen in die We-
len zum Bedarf und der Versorgung mit frühen     ge geleitet. An diesem interdisziplinären For-
sonderpädagogischen Massnahmen vorzule-          schungsprojekt sind Heilpädagogische Frü-
gen, um in der politischen Diskussion wissen-    herzieher*innen, Logopäd*innen, Psycholo-
schaftlich fundiert argumentieren zu können.     g*innen, Erziehungswissenschafter*innen und
Seit 2017 läuft deshalb am Kinderspital Zürich   Ärzt*innen des Kinderspitals Zürich und des
mit Unterstützung des Schweizerischen Nati-      Sozialpädiatrischen Zentrums SPZ in Winter-
onalfonds, der Jacobs Foundation und des         thur beteiligt 2.
Kantons Zürich ein Forschungsprojekt, in         Neben der deskriptiven Auswertung des Re-
dessen Rahmen ein zentrales Register der         gisters wird ausserdem untersucht, auf wel-
1   helpfulness meint, wie hilfreich das Angebot für die Eltern subjektiv war.
2   vgl. dazu die Homepage des Projekts: https://www.kispi.uzh.ch/fzk/de/abteilungen/
    uebersicht/entwicklungspaediatrie/Seiten/sonderpaedagogik.aspx

FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2020
Wirkungsvolles Handeln in der HFE        9

chen Zuweisungswegen Kinder zu sonderpä-            duellen Bedürfnisse abzustimmen (vgl. Sa-
dagogischen Massnahmen gelangen, und wie            rimski, 2017, S. 31). Studien haben gezeigt, dass
Eltern im Rückblick die helpfulness der Heil-       Eltern ihren eigenen Einfluss auf die Entwick-
pädagogischen Früherziehung einschätzen.            lung des Kindes, ihre Zufriedenheit sowie den
Dieses Teilprojekt wird im Folgenden genauer        Nutzen der Früherziehung höher einschätzen,
vorgestellt.                                        je stärker die Beratung vom konkreten
                                                    Familienalltag ausgeht (vgl. Sarimski, 2009,
Hintergrund und Fragestellungen                     S. 147). Ausserdem umfasst die Begleitung der
«Early-intervention programs for infants and        Eltern bei Bedarf auch die spezifische Förde-
toddlers are increasingly being asked to pro-       rung der elterlichen Responsivität, da diese
vide data showing that they are effective.          nachweislich und nachhaltig die kindliche
Usually this means proving benefit for child-       Entwicklung begünstigt (ebd., S. 150).
ren, but here we argue that documenting be-
nefit for families is also important.» (Bailey et   Auf theoretischer Ebene herrscht also Kon-
al., 2008, S. 194; Hervorhebung nicht im Ori-       sens, dass zu einer «guten» Früherziehung ge-
ginal). Diese Aussage ist für die Heilpädago-       lebte Familienorientierung gehört und diese
gische Früherziehung nicht neu – sieht sie          nicht nur ein Qualitätsmerkmal, sondern auch
doch die Zusammenarbeit mit den Eltern als          ein zentraler Wirkmoment der HFE darstellt.
wesentlichen Teil ihrer Arbeit an. Ältere Mo-       Doch wie muss diese Familienorientierung im
delle, in denen die Frühförderung Einseitig-        Alltag aussehen, damit sie bei den Eltern «an-
keiten wie die Konzentration auf das Arbeiten       kommt» und diese sie als Gewinn wahrneh-
«am Kind» oder belehrungshafte Inanspruch-          men? Eine amerikanische Studie um Bailey et
nahme der Eltern durch die dominanten Fach-         al. (2008) erarbeitete dafür fünf «family outco-
leute charakterisiert ist, sind heute überholt      mes»: Outcomes bezeichnen dabei Vorteile
(vgl. Otto Speck in Thurmair & Naggl, 2010,         (benefits), die den Familien durch den Erhalt der
S. 11). «Eine Förderung kindlicher Kompeten-        Massnahmen entstehen, wobei Zufriedenheit
zen in einzelnen Entwicklungsbereichen, die         als Outcome ausgeschlossen wird (vgl. S. 195).
[…] ohne aktive Einbeziehung der Familie statt-     Diese Outcomes umfassen die folgenden fünf
findet, entspricht nicht den fachlichen Stan-       kind-, familien- und systembezogenen Bereiche:
dards einer ‹guten Praxis› in der Frühförde-        • Familien kennen die Stärken, Fähigkeiten
rung» (Sarimski, 2017, S. 29).                         und besonderen Bedürfnisse ihres Kindes
Ein Schwerpunkt der Heilpädagogischen Frü-          • Familien helfen ihrem Kind, sich zu entwi-
herziehung liegt heute auf der Begleitung und          ckeln und zu lernen
Unterstützung der Familie, die – je nach Situa-     • Familien kennen ihre Rechte und können
tion des Kindes sowie eigener Ressourcen –             sich effektiv für ihr Kind einsetzen
grossen Belastungssituationen ausgesetzt sein       • Familien haben Unterstützungssysteme
kann. Familienorientierung im Alltag der Früh-      • Familien haben Zugang zu gewünschten An-
förderung bedeutet, den Alltag der Familie und         geboten und Aktivitäten in ihrer Gemeinschaft
ihre sozialen Beziehungen kennenzulernen und        (Übersetzung aus dem Englischen, vgl. Bailey
die Begleitung auf ihre Ressourcen und indivi-      et al., 2008, S. 195).

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10   Wirkungsvolles Handeln in der HFE

Das laufende Forschungsprojekt stützt sich       – Teil B: Rückblick auf die Heilpädagogische
auf diese fünf Bereiche elterlicher Kompeten-      Früherziehung (vgl. Abb. 1)
zen und untersucht davon ausgehend folgen-
de Fragestellungen:                                (entspricht einer Einschätzung der helpful-
1.) Wie haben die Eltern die Begleitung durch      ness der HFE in Bezug auf diese 24 Items)
    die Heilpädagogische Früherziehung er-
    lebt, v.a. in Bezug auf die oben genannten   – Teil C: Zusammenfassende Beurteilung der
    fünf Bereiche elterlicher Kompetenzen          Heilpädagogischen Früherziehung
    sowie das Zutrauen in ihre eigenen Kom-        (erfragt die Einschätzung von sieben allge-
    petenzen?                                      meinen Qualitätsmerkmalen der HFE)
    • In welchen Bereichen haben sie beson-
      ders profitiert, resp. welche Massnah-     – Teil D: Demographische Angaben
      men/Hilfestellungen haben sie als hilf-
      reich erlebt?                              Der Fragebogen wurde in die drei häufigsten
    • In welchen Bereichen resp. bei welchen     Fremdsprachen der Stichprobe (Englisch,
      Themen hätten sich die Eltern mehr         Albanisch und Italienisch) übersetzt.
      oder andere Unterstützung gewünscht?
2.) Was bleibt – aus Sicht der Eltern – nach     Ergebnisse
    der HFE von der HFE? Erleben die Eltern      Die Rücklaufquote der Fragebogen betrug
    auch nach Abschluss der HFE positive         30% (142 vollständige Fragebögen). Für diesen
    Effekte für ihren eigenen Alltag in Erzie-   quantitativen Teil der Studie liegen bereits ers-
    hung und Betreuung ihres Kindes und in       te Ergebnisse vor; einige davon sollen an die-
    der Familie?                                 ser Stelle vorgestellt werden.

                                                 Bei ungefähr 70% der Fragebögen war die
Methode/Erhebung
                                                 ausfüllende Person die Mutter, wobei 56%
Um die letzte Frage beantworten zu können,
                                                 davon fremdsprachig sind. 14% geben die ob-
wurde die Erhebung nicht zum Zeitpunkt des
                                                 ligatorische Schulzeit, 25% eine Berufslehre
Abschlusses der HFE durchgeführt, sondern
                                                 und 26% einen Universitätsabschluss als
ein Jahr danach. Für die Studie wurden alle
                                                 höchsten Bildungsabschluss an. Von den be-
Familien befragt, die im Jahr 2018 im Kanton
                                                 troffenen Kindern sind 72% männlich und bei
Zürich die Heilpädagogische Früherziehung
                                                 55% aller Kinder wurde angegeben, dass eine
abgeschlossen haben (n=475). Die Familien
                                                 medizinische Diagnose vorliegt.
erhielten im Frühling 2019 – also ca. ein Jahr
nach Abschluss der HFE – einen Fragebogen        Das Item C1, das nach der allgemeinen Zufrie-
zugeschickt, der folgende Bereiche umfasst:      denheit mit der Heilpädagogischen Früherzie-
                                                 hung fragt, fällt ausgesprochen gut aus (vgl.
– Teil A: Einschätzung der aktuellen Situation   Abb. 2). Über 80% der Eltern sind rückbli-
  als Familie (entspricht den oben genannten     ckend zufrieden oder ausserordentlich zufrie-
  fünf Bereichen nach Bailey et al., insgesamt   den mit der Heilpädagogischen Früherzie-
  24 Items)                                      hung.

FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2020
Wirkungsvolles Handeln in der HFE   11

Abb. 1: Ausschnitt aus dem Fragebogen, Teil B

Abb. 2: Vorläufiges Ergebnis des Items C1:
«Wie zufrieden waren Sie ganz allgemein mit der Heilpädagogischen Früherziehung?»

                                                FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2020
12   Wirkungsvolles Handeln in der HFE

Bei der Analyse, mit welchen anderen Items       wicklungsstand des Kindes oder nächste Ent-
des Fragebogens dieses Ergebnis allenfalls       wicklungsschritte zu kennen), die ebenfalls
korreliert, d.h. an welchen Elementen die El-    sehr positiv bewertet werden. Interessanter-
tern diese Zufriedenheit festmachen, zeigt       weise ergibt sich bei der Frage nach der
sich, dass es vor allem die kindbezogenen        helpfulness der HFE für die Eltern ein anderes
Items sind (also beispielsweise den Ent-         Bild:

Abb. 3: Vorläufiges Ergebnis des Items B16: «Wie hilfreich war die Heilpädagogische
Früherziehung für Sie, um Kontakt zu anderen Familien aufzubauen, die ein Kind mit
ähnlichen Bedürfnissen haben?»

In diesem Item gibt etwa die Hälfte der Eltern   Beim Item B16 (Abb. 3) bleibt beispielsweise
an, die HFE als hilfreich empfunden zu haben,    offen, ob der Kontakt von den Eltern er-
während die andere Hälfte dies nicht so erlebt   wünscht gewesen wäre oder nicht. Viele
hat.                                             Eltern haben das Freitextfeld am Ende des
Erste Analysen haben keine signifikanten Zu-     Fragebogens genutzt, um Präzisierungen zu
sammenhänge zwischen der Einschätzung der        den Items zu machen. Bei der weiteren Aus-
helpfulness und demographischen Merkma-          wertung sollen nun besonders die Interviews
len (wie beispielsweise Fremdsprachen /          Aufschluss darüber geben, welche Themen
Migrationshintergrund, sozio-ökonomischem        für die Familien zum Zeitpunkt der HFE im
Status) oder Merkmalen des Kindes (z.B. der      Vordergrund standen, welche Aspekte sie
medizinischen Diagnose) gezeigt. Diese           positiv erlebt haben und aus welchen Grün-
Merkmale scheinen also keinen wesentlichen       den, so dass in diesen Fällen ein umfassen-
Einfluss auf die Beurteilung der helpfulness     deres Bild der familiären Gesamtsituation
der HFE durch die Eltern zu haben.               entsteht.

FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2020
Wirkungsvolles Handeln in der HFE               13

Ausblick und Ziele                                              wir uns ausserdem Hinweise auf Themen oder
In den nächsten Monaten wird die detaillierte                   Anliegen, die aus der Sicht der Eltern nicht
Auswertung der quantitativen sowie qualitati-                   ausreichend im Rahmen der HFE thematisiert
ven Daten erfolgen, wobei vor allem auch die                    worden sind.
Verbindung beider Teile in den Fokus gestellt
wird.                                                           Die Ergebnisse dieses Teilprojekts sollen –
Die Ergebnisse sollen zeigen, welche Bedürf-                    in Verbindung mit den Ergebnissen aus den
nisse die Eltern im Rückblick formulieren und                   anderen Teilprojekten – darstellen, was Heil-
welche Erwartungen sie an die HFE hatten,                       pädagogische Früherziehung im Kanton Zü-
wie sie die Zusammenarbeit mit den Fachper-                     rich leisten kann und was aus der Perspektive
sonen erlebt haben und was die HFE aus ihrer                    der Eltern zentrale Wirkmomente der HFE
Sicht leisten kann. Falls vorhanden erhoffen                    sind.

Literaturverzeichnis
Bailey, D., Hebbeler, K., Olmsted, M., Raspa, M. und Bruder, M. B. (2008). Measuring family outcomes –
Considerations for large-scale data collection in early intervention. Infants and Young Children, 21(3), 194–206.
Bailey Jr, D. B., Bruder, M. B., Hebbeler, K., Carta, J., Defosset, M., Greenwood, C., ... und Walker, D. (2006).
Recommended outcomes for families of young children with disabilities. Journal of Early Intervention, 28(4), 227–251.
Thurmair, M. und Naggl, M. (2010). Praxis der Frühförderung (4. Auflage). München: Ernst Reinhardt.
Sarimski, K. (2009). Frühförderung behinderter Kleinkinder. Grundlagen, Diagnostik und Intervention. Göttingen: Hogrefe.
Sarimski, K. (2017). Handbuch interdisziplinäre Frühförderung. München: Ernst Reinhardt.

      Raphaela Iffländer                                               Michael von Rhein
      MA Sonderpädagogik HFE,                                          PD Dr. med., Wissenschaftlicher
      Doktorandin Universitäts-Kinderspital                            Projektleiter Universitäts-Kinderspital
      Zürich, Abteilung Entwicklungspädia-                             Zürich, Abteilung Entwicklungspädia-
      trie, Steinwiesstrasse 75, 8032 Zürich                           trie, Steinwiesstrasse 75, 8032 Zürich
      Raphaela.ifflaender@kispi.uzh.ch                                 Michael.vonrhein@kispi.uzh.ch

                                                                     FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2020
14   Wirkungsvolles Handeln in der HFE

         Blick in den Hörsaal
 der Pädagogischen Hochschule FHNW
       Entwicklungstests im Masterstudium Sonderpädagogik mit Vertiefungsrichtung
                   Heilpädagogische Früherziehung an der PH/FHNW 1

                    Claudia Ermert, Sarah Wabnitz und Diana Sahrai

Zu Beginn jeder Reise mit einer Familie,     Fragen, die jede Fachperson Heilpädagogi-
ihrem Kind und dem jeweiligen Bezugs-        sche Früherziehung in ihrem Alltag kennt und
system steht immer die Frage, wo wir         auf ihre jeweilige Art und Weise begegnet. Ein
stehen und welchen Weg wir gemeinsam         Spannungsfeld zwischen Evidenz und Erfah-
gehen wollen.                                rung, Wissenschaft und Praxis.
                                             Jede Fachperson schlägt einen durch ver-
                                             schiedenste Faktoren beeinflussten individu-
                                             ellen Weg mit der Familie und ihrem Kind ein.
                                             Diese Wahl ist geprägt von erworbenem Wis-
                                             sen, Erfahrung, der Entwicklung des Kindes
                                             und gemeinsamen Zielen, die mit der Familie
                                             entwickelt werden. Der Schluss liegt nahe,
                                             dass jede Fachperson im Labyrinth auf der
                                             Suche nach dem richtigen Ausgang, zur Be-
                                             fähigung der Familie und Unterstützung des
                                             Kindes, ihre eigene Richtung wählt.

Wegweiser im Labyrinth                       In welchen Zug steigen wir ein?
Foto: Sarah Wabnitz                          Foto: Sarah Wabnitz

FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2020
Wirkungsvolles Handeln in der HFE      15

Jeder Reise liegt jedoch eine an gängigen und
wissenschaftlich basierten Verfahren orien-            ● 10 Institutionen: SON-R 2,5–7,
tierte Abklärung zugrunde, die einen ersten              K-ABC und das Vademecum
Wegweiser im Labyrinth bietet und eine Irr-
                                                       ● 9 Institutionen: ET 6–6, MFED 1
gartenfahrt vermeidet.
                                                         und 2–3
Wagt man einen Blick aus dem neuen Gebäu-
de der FHNW in Muttenz, an welchem nun                 ● 6 Institutionen: MOT 4–6, WET
die Fachpersonen Heilpädagogische Früher-                sowie SETK-2 und SETK-3
ziehung studieren, so erstreckt sich ein weiter
Blick über Bahnschienen und Züge. Eine pas-            ● 5 Institutionen: ELFRA, M-ABC-2
sende Metapher für jede Reise mit einer Fa-              und PEP-R.
milie und der Frage in welchen Zug steigen
wir ein?                                            Tab. 1: Nach von Arx (2012), S. 39.
Auf der Suche nach dem richtigen Weg und
Wegweiser werden verschiedenste Methoden            Bergamo und Felder führten 2018 eine On-
eingesetzt, um ein erstes Bild von der aktuel-      line-Erhebung zur Durchführung standardi-
len Situation zu erhalten. Im Hinblick auf ent-     sierter sowie nicht standardisierter Vorgehen
wicklungsdiagnostische Testverfahren im wei-        in den Früherziehungsdiensten der Deutsch-
teren Sinne werden diese im Folgenden näher         schweiz durch und publizierten einige Ergeb-
beleuchtet und ein Einblick in die Modulgrup-       nisse auch 2019 hier im Forum. Bei der Frage
pe «Entwicklungsdiagnostik und Frühe För-           der angewandten Testverfahren in der Heilpä-
derung» an der PH/FHNW gegeben.                     dagogischen Früherziehung war der weitaus
Die Studie von Arx (2012), für die 10 Instituti-    am häufigsten genannte Test der SON-R,
onen der HFE in der Nordwestschweiz befragt         dahinter dicht gefolgt vom Vademecum.
wurden, zeigt, dass es eine Übereinstimmung         Etwas weniger häufig genannt wurden ET
der in der Deutschschweiz verwendeten ent-          6–6, der K-ABC sowie die Bayley-III-Skalen.
wicklungsdiagnostischen Verfahren zur Ent-          Gefolgt wurden diese 5 am häufigsten genann-
wicklungsabklärung gibt. So zeigt Tabelle 1,        ten Verfahren vom IDS bzw. IDS-P, die Abklä-
dass in der Praxis der Heilpädagogischen            rung nach Zollinger, MFED 2 + 3 sowie der
Früherziehung eine hohe Übereinstimmung             M-ABC.
der verwendeten Abklärungsverfahren                 Mit diesen beiden Erhebungen wird deutlich,
herrscht: 2                                         dass zu den gegenwärtig und in den letzten

1   Der VDHS befasste sich im Frühjahr 2019 an einer Sitzung mit dem Thema der Entwicklungstest-
    verfahren in der Ausbildung der Heilpädagogischen Früherziehung. Der dort gehaltene Vortrag ist
    die Grundlage für diesen Artikel. Dies erklärt auch die Engführung des Themas im in Hinblick auf
    entwicklungspsychologische Verfahren in der Ausbildung.
2   In diesem Artikel wird meist die gebräuchliche Abkürzung für die genannten Testverfahren ver-
    wendet. Auf das Ausschreiben des gesamten Verfahrensnamens wird in der Regel verzichtet,
    ebenso auf die Literaturangaben zum Verfahren. Genauere Angaben können bei den Autorinnen
    erfragt werden.

                                                        FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2020
16   Wirkungsvolles Handeln in der HFE

sieben Jahren am häufigsten in der Praxis der    pädagogik mit der Vertiefungsrichtung Heil-
Heilpädagogische Früherziehung angewende-        pädagogische Früherziehung umsetzen zu
ten Verfahren, der SON-R, das Vademecum,         können, steht u.a. die Modulgruppe «Entwick-
der K-ABC und der ET 6–6 zählen.                 lungsdiagnostik und Frühe Förderung» zum
                                                 Kompetenzerwerb der Studierenden zur Ver-
                                                 fügung (vgl. Pädagogische Hochschule
                                                 FHNW, 2017).
                                                 Die Modulgruppe «Entwicklungsdiagnostik
                                                 und Frühe Förderung» setzt sich aus zwei auf-
                                                 einanderfolgenden Seminaren (Entwicklungs-
                                                 diagnostik und Frühe Förderung 1 / Entwick-
                                                 lungsdiagnostik und Frühe Förderung 2) sowie
                                                 einer individuellen Arbeitsleistung (IAL) zu-
                                                 sammen.
                                                 Die spezifischen Kompetenz-Ziele der Modul-
                                                 gruppe «Entwicklungsdiagnostik und Frühe
                                                 Förderung» werden im Modulgruppenbe-
Instrumente für einen gut ausgebildeten          schrieb wie im Hinblick auf entwicklungsdia-
Reisebegleiter                                   gnostische Testverfahren wie folgt umschrie-
Foto: Sarah Wabnitz                              ben:
                                                 « […] Die Studierenden sind in der Lage ent-
In der Ausbildung der Fachpersonen Heilpä-       wicklungsdiagnostische Verfahren und Hand-
dagogische Früherziehung stellen wir uns im      lungsweisen sowohl mit entwicklungs- und
Hinblick auf entwicklungsdiagnostische Ver-      lernpsychologischem Wissen als auch mit
fahren immer wieder die Frage, wie der Ruck-     bildungs- und kultursoziologischem Wissen
sack der Studierenden gefüllt werden muss,       in Verbindung zu bringen. Sie haben vertiefte
damit sie beim Berufseinstieg Kenntnisse über    Kenntnisse ausgewählter Verfahren und sie
die richtigen Instrumente haben, um die Reise    können Einsatz, Verwendung und Wirkungen
mit der Familie entsprechend starten zu kön-     solcher Verfahren und möglicher Alternativen
nen. Es sollte aus unserer Sicht darum gehen,    beschreiben, für das konkrete frühpädagogi-
einerseits die Studierenden über die ge-
bräuchlichsten Verfahren zu orientieren und
sie zugleich über Neuentwicklungen zu infor-
mieren. Dazu braucht es aus unserer Sicht
verschiedene fachliche und wissenschaftliche
Grundlagen, um entwicklungsdiagnostische
Verfahren beurteilen und angemessen, d.h.
person- und kontextgebunden sowie im Hin-
blick auf die formulierte Fragestellung anwen-
den zu können. Um dies im Studium Sonder-        Foto: Sarah Wabnitz

FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2020
Wirkungsvolles Handeln in der HFE     17

sche Handeln und in ihrer systemischen Kom-      schreiben, sind in der Lage diagnostische
plexität praktisch handhaben. Sie sind imstan-   Ergebnisse zielgruppengerecht zu kommuni-
de, die diagnostischen Ergebnisse adressa-       zieren und können eine Auswahl geeigneter
tengerecht schriftlich wie mündlich zu kom-      Verfahren und Methoden treffen.
munizieren. […] Sie können frühpädagogische      Vor dem Hintergrund der oben gemachten
Verfahren vergleichen, situationsgerecht ein-    Ausführungen soll nun die Frage betrachtet
schätzen und anwenden, […]» (Modulgruppen-       werden, welche Verfahren und Instrumente in
beschreibung, 2017, S. 20).                      der Lehrveranstaltung näher beleuchtet wer-
Die Vermittlung von Entwicklungstests im         den. Bei der Auswahl der in den Lehrveran-
Modul «Entwicklungsdiagnostik und Frühe          staltungen behandelten Verfahren lassen wir
Förderung» besteht nie alleine im Sinne der      uns von folgenden Überlegungen leiten:
Einübung des Durchführens einzelner Testver-
fahren, sondern ist immer eingebettet in die
Kenntnis theoretischer und wissenschaftlicher      ● Was sind aktuell gebräuchliche
(Beurteilungs-)Grundlagen solcher Verfahren          Instrumente (siehe Arbeiten von
wie auch das Wissen über Ableitungen für die         von Arx, 2012 und Bergamo und
Praxis im Hinblick auf Förderung und Bezie-          Felder, 2018, 2019), trotz zum Teil
hungsgestaltung. In Anlehnung an den ge-             veralteter oder nicht vorhandener
nannten Vortrag war die Fokussierung auf die         Normierung?
entwicklungsdiagnostischen Testverfahren
gewünscht. Auf Aspekte der Kommunikation           ● Was sind neue, noch weniger
und Berichterstellung, der Beschreibung nach         bekannte Verfahren (z.B. FREDI)?
ICF und auch das SAV wird an dieser Stelle
verzichtet. Diese spielen aber gleichwohl in       ● Exemplarische Darstellung
der Modulgruppe neben anderem eine wich-             verschiedener Typen von Verfahren
tige Rolle.                                          (Testbatterien, …)
Neben der aktiven Teilnahme an zwei Semi-
naren zur «Entwicklungsdiagnostik und Frühe        ● Diskussion über Alter der
Förderung» müssen die Studierenden eine IAL          Normierung (siehe z.B. Flynn-Effekt)
(eine sogenannte «Individuelle Arbeitsleis-          sowie der Testgütekriterien
tung») erbringen. Diese IAL umfasst die Tes-
tung eines Kindes mit einem entwicklungsdi-        ● Verwendungszweck der Ergebnisse
agnostischen Testverfahren, die Erstellung           bzw. im Kontext der Beziehungs-
eines erweiterten Untersuchungsberichts so-          gestaltung mit dem Kind und/oder
wie einer Förderplanung.                             den Eltern
Auf diese Weise erwerben die Studierenden
                                                   ● Zugrundliegendes theoretisches
mit der IAL entwicklungsdiagnostisches Fach-
                                                     Konzept sowie der Zielgruppen-
wissen, sie haben vertiefte Kenntnisse ausge-
                                                     orientierung (z.B. Sprachfreiheit)
wählter Verfahren, sie können Einsatz, Ver-
wendung und Wirkung von Verfahren be-

                                                    FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2020
18   Wirkungsvolles Handeln in der HFE

Testinstrumente können verschieden klassifi-      screenings, b) Entwicklungstests, c) Intelli-
ziert werden. Mögliche Unterscheidungsgrup-       genztests, d) vertiefte und spezifische Tests
pen sind etwa die eines Entwicklungs-             sowie e) Elternfragebögen vorgestellt:
screenings, die der Entwicklungstests, Intelli-
genztests, Elternfragebögen und andere mehr
(vgl. hierzu auch Quaiser-Pohl und Rinder-            a) Entwicklungsbeobachtung und
mann, 2010).                                             -dokumentation EBD 3–48 Monate,
                                                         Vademecum, Griffiths Entwicklungs-
Die wohl umfassendste und zugleich aktuells-
                                                         skalen, Entwicklungscheckliste von
te Übersicht über Verfahren der Entwicklungs-
                                                         Kiphard, Entwicklungstabelle von
diagnostik findet sich bei Hagemann-von Arx,
                                                         Beller, Kognitiver Entwicklungstest
Reimann und Grob von 2019. Aus Copyright-
                                                         für das Kindergartenalter (KET-KID)
und Layoutgründen kann die zwei Seiten um-
                                                         sowie das Verhaltensinventar zur
fassende Übersicht nicht wiedergegeben wer-
                                                         Beurteilung exekutiver Funktionen
den. Wir weisen für das vertiefte Lesen auf
                                                         (BRIEF).
das Original hin. Die Übersicht stellt den je-
weiligen Namen des Verfahrens dar, nennt die          b) Frühkindliche Entwicklungsdiagnos-
Autoren und das Jahr der Veröffentlichung,               tik für Kinder von 0–3 Jahren
daneben werden Angaben gemacht zu Funk-                  (FREDI), ET 6–6 R, Bayley Scales
tionsbereichen, zum Altersbereich des zu tes-            of Infant and Toddler Development
tenden Kindes, Angaben zur Dauer der Tes-                (BAYLEY-III) sowie die Münchner
tung, Angaben zu Reliabilität und Validität              Funktionelle Entwicklungsdiagnostik
(geordnet nach differenzieller und konvergen-            (MFED).
ter Validität) sowie Angaben zum Zeitpunkt
                                                      c) SON-R 2–8; IDS P, Wiener Entwick-
der Normierung und der entsprechenden
                                                         lungstest (WET), K-ABC-2, HAWIK-IV
Stichprobengrösse.
                                                      d) Pep-R. Entwicklungs- und Verhal-
Aufgrund der oben formulierten Überlegun-                tensprofil, Frostigs Entwicklungstest
gen ist die Wahl, der in der Veranstaltung vor-          der visuellen Wahrnehmung – 2,
gestellten bzw. besprochenen Verfahren teil-             Geistige Behinderung und schwere
weise fix und teilweise variabel. Dies ermög-            Entwicklungsstörung (KIDS-2),
licht einerseits eine jeweilige Aktualisierung           MOT 4–6, ELFRA, SETK – 2
der Lehre bezogen auf den aktuellen Stand                sowie FegK 0–6.
der Forschung und Entwicklung und die Be-
rücksichtigung der unterschiedlichen Erfah-           e) IMMA 1–6 3
rungen, Kenntnisse und Anliegen der Studie-
renden.
                                                  3   IMMA 1–6. Impuls-Management vom Säug-
In den laufenden entwicklungsdiagnostischen           lings- bis zu Vorschulalter. Ein Elternfragebo-
                                                      gen zum gemeinsamen Umgang mit Bedürfnis-
Seminaren werden in der Regel die folgenden           sen, Zielen und Gefühlen. Sabina Pauen et al.
a) Beobachtungsverfahren/Entwicklungs-                (2018). Unveröffentlichtes Manuskript.

FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2020
Wirkungsvolles Handeln in der HFE   19

Aus Zeitgründen muss leider häufig auch in
den Seminaren auf die Darstellung projektiver
Verfahren verzichtet werden, die in unter-
schiedlichen Kontexten jeweils weiter im Ein-
satz und eng mit der Entwicklung von Testver-
fahren im Frühbereich verbunden sind (siehe
dazu exemplarisch Ermert (2011a und 2011b)).
Der Rucksack wird im Modul «Entwicklungs-
diagnostik und Frühe Förderung» neben vie-
lem anderen mit der Schulung von freien Be-
obachtungen auch in Zusammenhang mit der
ICF gefüllt. Neu unterstützt uns hier der PED-I
(Assessment zur Erfassung von Aktivitäten
des täglichen Lebens bei Kindern mit und
ohne Beeinträchtigung), der 2014 beim Schulz-
Kirchner Verlag erschienen ist.
Damit schliessen wir unseren kleinen Einblick
in unseren Hörsaal mit Blick auf Entwick-
lungstests in der Ausbildung zur Fachperson
Heilpädagogische Früherziehung. An dieser
Stelle möchten wir unseren Dank an euch
Fachpersonen richten, die es uns ermögli-
chen, die Studierenden so ausbilden zu kön-
nen. Erste Testerfahrungen in der Praxis sind
nur durch euch Fachpersonen möglich. Für          Blick in das Seminar: Entwicklungs-
diese Unterstützung sind wir euch sehr dank-      diagnostik und frühe Förderung
bar.                                              Foto: Sarah Wabnitz

                                                     FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2020
20   Wirkungsvolles Handeln in der HFE

Literatur
Von Arx, Gisela (2012). Entwicklungsdiagnostik im Frühförderbereich in ausgewählten Institutionen des Bildungsraums
Nordwestschweiz. Bringen die Sonderpädagogikkonzepte seit 2008 eine Verbesserung? Unveröffentlichte Masterarbeit.
Bergamo, Nadine und Felder, Nadine (2019). Entwicklungs- und Förderdiagnostik in Heilpädagogischen
Früherziehungsinstitutionen. Forum. Mitgliedermagazin des BVF, 1/2019, S. 31–38.
Bergamo, Nadine und Felder, Nadine (2018). Entwicklungs- und Förderdiagnostik in Heilpädagogischen
Früherziehungsinstitutionen in der Deutschschweiz. Eine Erhebung zur Durchführung und Anwendung standardisierter
sowie nicht standardisierter Verfahren. Unveröffentlichte Masterarbeit, Institut Spezielle Pädagogik und Psychologie,
Pädagogische Hochschule FHNW.
Ermert, Claudia (2011a). Der Scenotest. Möglichkeiten und Grenzen eines diagnostischen Instruments in der
sonderpädagogischen Ausbildung. Inklusive 1/2011, S. 18–20.
Ermert, Claudia (2011b). Beitrag zur Geschichte der Kinder- und entwicklungsdiagnostischen Verfahren. Forum BVF,
77/2011, S. 6–13.
Hagemann-von Arx, Priska, Reimann, Giselle und Grob, Alexander (2019). Entwicklungsdiagnostik. In Schneider, Silvia
und Margraf, Jürgen (Hrsg.). Lehrbuch der Verhaltenstherapie. Band 3. Springer, S. 145–155.
Pädagogische Hochschule FHNW (2017). Modul- und Modulgruppenbeschreibungen Masterstudiengang
Sonderpädagogik mit den Vertiefungsrichtungen Heilpädagogische Früherziehung und Schulische Heilpädagogik
vom 1. September 2017
(https://www.fhnw.ch/de/studium/paedagogik/rechtserlasse-und-ordnungen; https://www.fhnw.ch/de/die-fhnw/
hochschulen/ph/rechtliche-dokumente-und-rechtserlasse/rechtserlasse-ausbildung/anhangb-modul-und-modulgrup-
penbeschreibung-sonderpaedagogik.pdf)
Quaiser-Pohl, Claudia und Rindermann, Heiner (2010). Entwicklungsdiagnostik. Reinhardt UTB.

Korrespondenzadresse:
Pädagogische Hochschule FHNW, Institut Spezielle Pädagogik und Psychologie
Hofackerstrasse 30, 4132 Muttenz

Diana Sahrai                                Claudia Ermert                            Sarah Wabnitz
Prof. Dr., Leiterin Professur               Dr. phil., Dozentin, Professur            Lehrbeauftragte, Professur
für soziales Lernen unter                   für Berufspraktische Studien              für soziales Lernen unter
erschwerten Bedingungen                     und Professionalisierung                  erschwerten Bedingungen
Diana.sahrai@fhnw.ch                        Claudia.ermert@fhnw.ch                    Sarah.wabnitz@fhnw.ch

FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2020
Wirkungsvolles Handeln in der HFE     21

Autismus gut behandeln: Beziehungen
 entwickeln oder Verhaltenstraining?
                 Ein Plädoyer für den beziehungs-orientierten DIRFloortime
                          Ansatz zu Autismus Spektrum Störungen

                                       Sibylle Janert

Kleine Kinder mit autistisch-ähnlichen             zu behandeln und Entwicklungsrückstände
Verhaltensweisen oder der Verdachts-               aufzuholen, die den Symptomen zugrunde
diagnose Autismus sind momentan in der             liegen
Schweiz, so wie in der ganzen Welt, ein
«brennendes» Thema, denn in den letzten          Die Hauptschwierigkeiten von Kindern mit
Jahren nehmen die Zahlen solcher Kinder          einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) sind
auf beängstigende Weise rapide zu.               bekanntlich im Bereich von Kommunikation
                                                 und Beziehungen, z.B.
Evidenzbasierung von beziehungs-                 1. reziproke emotionale Nähe herzustellen
orientierten Ansätzen und Verhaltens-            2. Kommunikation und erste Worte bewusst
trainingsmethoden                                   und emotional sinnvoll zu benutzen
Auch pädagogische und therapeutische An-         3. einen dauerhaften emotionalen Austausch
sätze, wie mit diesen Kindern und ihren Ver-        aufrechtzuerhalten
haltensweisen am besten umzugehen ist, gibt      4. mangelndes spontanes Explorieren und
es viele. Diese lassen sich grob gesagt in 3        kreatives Symbolspiel
Kategorien einteilen:                            5. hartnäckiger Fokus auf Details von Gegen-
1. Verhaltens-orientierte behavioristische          ständen als Dauerbeschäftigung
   Ansätze, deren Hauptstrategie die operan-     6. oft zusätzlich sekundäre Symptome wie
   te Konditionierung ist, um anhand vorge-         Perseverationen, sensorische Regulations-
   fasster Programme gewünschtes angepass-          und Verarbeitungsprobleme, herausfor-
   tes Verhalten zu trainieren (z.B. ABA/Ap-        dernde oder stereotype Verhaltensweisen
   plied Behaviour Analysis)
2. Biologisch-orientierte Massnahmen, die        Man könnte meinen, dass bei primären Kom-
   die Symptome durch Ernährung, Ernäh-          munikations- und Beziehungsproblemen ei-
   rungsergänzungsmittel und pharmakologi-       nes Kindes beziehungs-orientierte Ansätze,
   sche Mittel zu beeinflussen versuchen         die auch Eltern und Familie miteinbeziehen,
3. Beziehungs-orientierte Ansätze, ein-          offensichtlich wären, – egal was das Kind isst,
   schliesslich von Eltern implementierte An-    an Nahrungsergänzungsmitteln zu sich nimmt
   sätze, deren Ziel es ist, auf non-direktive   oder an Verhaltenstraining erhält. Stattdessen
   und kind-zentrierte Weise, die Kerndefizite   gelten Verhaltenstrainingsmethoden wie ABA

                                                    FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2020
22   Wirkungsvolles Handeln in der HFE

als angeblich einzig anerkannte Methode, ob-      Da der Fokus moderner Heilpädagogen*innen
wohl de facto                                     nicht die Behinderung oder Diagnose ist, son-
a. die Effektivität von ABA keineswegs ein-       dern mit beziehungs-orientiertem Blick das
    deutig nachgewiesen ist                       Kind als ganzen Menschen mit all seinen
b. die eigentlichen Beziehungsschwierigkei-       Fähigkeiten, Problemen und Ressourcen und
    ten des Kindes für ABA nicht Behandlungs-     in seinem Familienkontext zu sehen, ist
    ziel sind                                     es nicht verwunderlich, dass sich immer
                                                  mehr Heilpädagogen*innen für den bezie-
Jedoch hat Verhaltenstraining seit Jahren die     hungs-orientierten DIRFloortime-Ansatz inte-
Überhand. Denn während die verhaltensori-         ressieren, der ihnen eine seit fast 50 Jahren
entierten Ansätze traditionell als evidenz-       erprobte, schlüssige und praktisch-anwend-
basiert gelten, ist die Tatsache, dass auch die   bare Theorie bietet.
beziehungs-orientierten Ansätze seit Jahren
zu den etablierten evidenz-basierten Metho-       Der Glanz in den Augen des Kindes
den gehören, generell noch nicht bekannt.         DIR bezeichnet ein individualisiertes bezie-
Hierzu gehört auch der aus den USA stam-          hungs-orientiertes Entwicklungsmodell (DIR
mende DIRFloortime-Ansatz, der in letzter         = Developmental – Individual-difference –
Zeit auch im deutsch-sprachigen Raum zu-          Relationship-based) mit Floortime als des-
nehmend Anwendung in Familien und Einrich-        sen praktische Anwendung und dem Ziel,
tungen findet, die Alternativen zu den traditi-   emotional stimmige Austauschsituationen mit
onellen behavioristischen Trainingsmethoden       dem Kind herzustellen und unzureichend ent-
suchen.                                           wickelte funktionale emotionale Fähigkeiten
                                                  zu fördern bzw. nachzuholen. Der DIRFloor-
Die Heilpädagogische Früherziehung ist oft-       time-Ansatz ist ein universales, ganzheitliches
mals eine der ersten Fachbereiche, die bei        und ressourcen-orientiertes Entwicklungsmo-
solchen Entwicklungsverzögerungen, Kom-           dell für die sozio-emotionale Entwicklung,
munikations- und Verhaltensschwierigkeiten        das uns hilft, auch Kinder mit autistisch-ähn-
mit Kind und Familie arbeiten und häufig so-      lichen und autistischen Verhaltensweisen neu
gar eine ausgesprochene Verbesserung der          zu verstehen und ganzheitlich zu behandeln.
problematischen Aspekte bewirken können,          Das DIR-Modell stellt die Individualität eines
– oft lange bevor ein diagnostischer Prozess      jeden Kindes in den Vordergrund und bezieht
beginnt oder eine Diagnose feststeht.             die Eltern als primäre Bezugspersonen und
                                                  zentrale Partner in die Behandlung mit ein.
                                                  Denn wenn Eltern mit ihrem Kind jeden Tag
Warum lassen sich autistisch-ähnliche Verhal-     therapeutisch hilfreich kommunizieren, ist al-
tensweisen durch heilpädagogische oder ähn-       len geholfen: dem Kind mit seiner Entwick-
liche Interventionen oft massiv verbessern, so    lung, den Eltern, die hierüber besorgt oder
dass es manchmal gar nicht zu einer Diagno-       verzweifelt sind, – und den öffentlichen Finan-
se kommt?                                         zen. Die Ziele des DIR-Ansatzes sind nicht
                                                  vorrangig «autismus-spezifisch», sondern die-

FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2020
Wirkungsvolles Handeln in der HFE     23

selben, die sich alle Eltern für ihr Kind wün-     die meisten Kinder mit 4 Jahren bewältigt
schen: eine stärkere emotionale Bindung,           haben. Aber Kinder mit Autismus, autis-
Lebensfreude, der Glanz in den Augen des           tisch-ähnlichen oder autistischen Zügen
Kindes, herzliche Beziehungen zu anderen,          haben hier Schwierigkeiten und Aufholbe-
Kommunikation über Gesten und verständli-          darf.
ches Sprechen, Einbindung in sinnvolle Akti-
vitäten, kreative Persönlichkeitsentwicklung.       Funktionale Emotionale Entwicklungsebe-
Um diese Ziele zu erreichen, bietet das DIR-        nen/-kapazitäten (FEDLs/ FELCs):
Floortime-Modell ausdifferenzierte Strate-          Die gesunde mental-emotionale Entwick-
gien, Techniken und Aktivitäten. Ziel ist es,       lung eines Kindes baut sich auf aus
mittels positiver Emotionalität und regelmäs-       FEDL 1: Fokussieren, Aufmerksamkeit tei-
sigen interaktiven 1–1 Spieleinheiten (oft, aber            len, sich selbst regulieren, um an
nicht unbedingt, auf dem Fussboden [floor]),                der Umwelt mit Interesse teilzu-
Beziehungen aufzubauen und die ganzheitli-                  nehmen
che Persönlichkeitsentwicklung des Kindes zu        FEDL 2: Sich auf andere Menschen einlas-
fördern.                                                    sen und liebevoll mit ihnen in Be-
                                                            ziehung treten
Der Führung des Kindes folgen, und ihm              FEDL 3: Interaktion initiieren, beidseitige
gleichzeitig helfen, die Entwicklungsleiter                 gestische Kommunikation, Imitie-
hochzuklettern                                              ren
Indem wir den natürlichen emotionalen Inte-         FEDL 4: Komplexes gemeinsames kreatives
ressen des Kindes folgen (ihm also die Füh-                 Problemlösen mit Hilfe von ges-
rung überlassen), während wir es gleichzeitig               tischer Kommunikation, erste
herausfordern unter Einsatz von Emotionalität               Worte
und spielerischer Interaktion und fortlaufen-       FEDL 5: Erlebtes symbolisieren mit Hilfe
den «Kommunikationskreisen», leiten wir das                 von Phantasie, Bildern und Spra-
Kind an, in Beziehung zu treten und zuneh-                  che
mend Gebrauch von seinen intrinsischen so-          FEDL 6: Brücken bauen zwischen Ideen,
zialen, emotionalen und intellektuellen Fähig-              logischem sowie emotionalem
keiten zu machen. Denn das menschliche                      Denken, Geschichten erzählen,
Gehirn, d.h. JEDES menschliche Gehirn, ist                  Realitätssinn
darauf angelegt, sich zu verändern und zu ler-
nen.                                               Ein ganzheitliches Menschenbild
                                                   Das diesen Ideen zugrunde liegende ganzheit-
Das DIRFloortime-Modell gibt uns eine äus-         liche Menschenbild geht von universalen, den
serst hilfreiche «Landkarte» für die Entwick-      Menschen grundsätzlich ausmachenden An-
lung eines Kindes an die Hand, die uns eine        lagen und Potenzialen aus, die in jedem Men-
klare Orientierung und Richtung aufzeigt. Die-     schen entwickelt werden können, unabhängig
se Entwicklungsleiter besteht aus 6 funktio-       von seiner Behinderung, Beeinträchtigung
nalen emotionalen Entwicklungsebenen, die          oder Diagnose.

                                                      FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 1/2020
24   Wirkungsvolles Handeln in der HFE

Hierin unterscheiden sich beziehungs-orien-       Evidenz-basierte Behandlungsmethoden
tierte Ansätze fundamental von den behavio-       für Autismus
ristischen Methoden, die im Grunde davon          Trotz Hunderten von Studien zur Verhaltens-
ausgehen, dass Autismus ein physisches De-        trainingsmethode ABA (Applied Behaviour
fizit oder als biologischer Defekt «angeboren»    Analysis / Lovaas), die traditionell als die ein-
sei, und Therapie deswegen nur angepasstere       zige effektive Evidenz-basierte Behandlungs-
Verhaltensweisen antrainieren und störende        methode für Autismus gilt, basiert diese Über-
Symptome modifizieren könne.                      zeugung auf nur vier, und in Wirklichkeit auf
Im Unterschied hierzu basiert das DIR-Modell      nur drei Studien zu ABA, die die Kriterien
auf der Annahme, dass Gefühle und emotio-         erfüllten, um in eine meta-analytische Publi-
nal-stimmige Beziehungen grundlegend sind         kation jüngeren Datums aufgenommen zu
für alle folgenden Entwicklungen eines Kin-       werden (eine der vier Studien war eine Fol-
des, einschliesslich Sprache, Kognition, Spiel,   low-up-Evaluation mit denselben Daten). In
Lernen, soziales Verhalten.                       einer jüngsten Rezension (2018) zu evi-
Über diese positive, dynamische und spiele-       denz-basierten Interventionen für Kinder und
rische Herangehensweise definieren wir Au-        Adoleszente mit Autismus, weist Dr. R. Solo-
tismus neu: nämlich als Entwicklungsstörung       mon darauf hin, dass der Rest all dieser vielen
mit oft guten Aussichten auf Wachstum und         ABA-Studien sich durch schwaches Design
positive Veränderungen.                           und follow-up, schwache Methodologie, zu
Mit Hilfe des DIR-Modells, das die allgemei-      kleine Stichproben und mangelnde externe
ne mental-emotionale Entwicklung des Kin-         Validität auszeichnet. Die ursprüngliche Studie
des anhand von Funktionalen Emotionalen           zu ABA von Lovaas entsprach nicht den An-
Entwicklungsebenen (FEDLs) beschreibt,            forderungskriterien für eine rigorose Studie
bringt sie Licht in das Dunkel der rätselhaften   und wurde wegen mangelnder Randomisie-
Symptome. Bei dieser Methode versucht             rung, systematischer Fehler bei der Gruppen-
man, sich in die Welt des Kindes einzufühlen      verteilung und den Werten der Outcomes von
und es über seine Interessen «abzuholen» und      der Meta-analyse ausgeschlossen.
in eine gemeinsame Welt zu geleiten und ihm
zu helfen, «die Entwicklungsleiter hinaufzu-      Gemäss der amerikanischen National Aca-
klettern». Es geht darum, das Kind auf seinem     demy of Sciences gibt es keine nachgewiese-
aktuellen Entwicklungsstand liebevoll anzu-       nermassen regelmässig erfolgreiche Autis-
nehmen und seine Stärken zu fördern, um ihm       musbehandlungsmethode und das National
zu helfen, auch seine Schwächen zu meistern.      Institute of Mental Health (NIMH) stellt fest:
                                                  «There is no single best treatment package for
Denn Beziehungsfähigkeit ist die Grundvoraus-     all children with ASD» (2009).
setzung, damit sich weitere kognitive, soziale,
emotionale, sprachliche und motorische Fertig-    In verschiedenen Rezensionen von RCT-For-
keiten sowie die Selbstwahrnehmung zu ihrem       schungsarbeiten (Randomised Control Trials)
vollen menschlichen Potenzial ausbilden können.   zu DIRFloortime kommen Forscher*innen zu-
                                                  nehmend zu dem Ergebnis, dass DIRFloorti-

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