Handlungsempfehlung bei Kindeswohlgefährdung - für Fachkräfte des Gesundheitswesens - Dresden.de

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Handlungsempfehlung bei Kindeswohlgefährdung - für Fachkräfte des Gesundheitswesens - Dresden.de
Handlungsempfehlung
bei Kindeswohlgefährdung
für Fachkräfte des Gesundheitswesens
Handlungsempfehlung bei Kindeswohlgefährdung - für Fachkräfte des Gesundheitswesens - Dresden.de
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Handlungsempfehlung bei Kindeswohlgefährdung - für Fachkräfte des Gesundheitswesens - Dresden.de
Inhalt

Einleitung                                              4    6.    Angebote des Gesundheitsamtes Dresden,
                                                                   Abteilung Kinder‐ und Jugendgesundheit                20
1.    Wichtige Begrifflichkeiten                        5    6.1   Fachgruppe Kinderschutz                               20
                                                             6.2   Frühe Gesundheitshilfen                               20
2.    Aktuelle Datenlage                                7    6.3   Kinder‐ und Jugendzahnklinik                          21
                                                             6.4   Kinder‐ und Jugendärztlicher Dienst                   21
3.  Gewichtige Anhaltspunkte für das Vorliegen               6.5   Kinder‐ und Jugendpsychiatrischer Dienst in den Bera‐
    einer Kindeswohlgefährdung                          9          tungsstellen für Kinder, Jugendliche und Familien     22
3.1 Anhaltspunkte beim Kind/Jugendlichen                9
3.2 Anhaltspunkte in Familie und Lebensumfeld           9    7.   Weitere Ansprechpartner und
3.3 Exkurs – Erfahrungen und Themen aus der Kinderschutz‐         thematische Beratungsangebote                         23
    arbeit der Abteilung Kinder‐ und Jugendgesundheit 10     7.1 Angebote für Schwangere und Hilfen
                                                                  für Eltern nach der Geburt                            23
4.    Handlungsschritte bei Verdacht auf Vorliegen           7.1.1 Allgemeine Beratungsangebote/Frühe Hilfen            23
      einer Kindeswohlgefährdung                       13    7.1.2 Angebote bei Regulationsstörungen
4.1   Gefährdungsmomente wahrnehmen,                              (auch Schreibabys)                                    24
      Datenerhebung und ‐sicherung                     13    7.1.3 Angebote bei psychischen Problemen/Erkrankungen      24
4.2   Gefährdungseinschätzung – Beratung durch               7.1.4 Angebote bei Suchtproblematiken                      25
      eine insoweit erfahrene Fachkraft                14    7.2 Angebote der Familien‐ und Erziehungsberatung          25
4.3   Empfehlungen bei Notfällen –                           7.3 Angebote der Familienbildung/Familienzentren           26
      akute Kindeswohlgefährdung                       15    7.4 Angebote bei Gewalterfahrungen
4.4   Empfehlungen bei latender Kindeswohlgefährdung   15         und sexuellem Missbrauch                              26
                                                             7.5 Angebote für Kinder mit Entwicklungs‐
5.   Notfallnummern                                     16        besonderheiten/Förderbedarfen                         27
5.1  Kinderschutznotruf des Jugendamtes Dresden         16   7.6 Angebote bei Suchtproblematiken                        28
5.2  Jugendamt Dresden                                  16   7.7 Angebote für Menschen mit psychischen
                                                                  Problemen/Erkrankungen                                28
5.3  Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD)
     des Jugendamtes Dresden                            16   7.7.1 Für Kinder und Jugendliche                           28
5.4 Kinder‐ und Jugendnotdienst                              7.7.2 Für Erwachsene                                       29
     des Jugendamtes Dresden                            16   7.8 Angebote für Menschen in Notlagen/
5.5 Rettungsleitstelle/Notarzt                          17        Alleinerziehende/Hilfen für Bedürftige                30
5.6 Polizei                                             17   7.9 Schuldner‐ und Insolvenzberatungsstellen               31
5.7 Polizeidirektion Dresden, Kriminalpolizei           17   7.10 Angebote für Menschen mit
                                                                  Migrationshintergrund und Asylsuchende                32
5.8 Giftnotruf/Giftinformationszentrum                  17
5.9 Institut für Rechtsmedizin am                            7.11 Angebote der Jugendgerichtshilfe
                                                                  und andere Rechtsberatungen                           33
     Universitätsklinikum Carl Gustav Carus             17
                                                             7.12 Hilfen zum Umgang mit Verlust und Trauer              34
5.10 Babyklappe/Mütternotruf                            17
5.11 Hilfen bei häuslicher Gewalt                       17
                                                             8.    Weiterführende Informationen                         35
5.12 Krankenhäuser                                      18
5.13 Kassenärztlicher Bereitschaftsdienst/Notfallpraxen 18
                                                             9.    Literaturverzeichnis                                 36
5.14 Medizinische Kinderschutzgruppen der Kliniken      18
5.15 Medizinische Kinderschutzhotline                   19
5.16 Hans & Gretel – App zur Erkennung und Vorgehensweise    Anlagen                                                    37
     bei Kinderschutzfällen in der Medizin              19

                                                                                                                         3
Handlungsempfehlung bei Kindeswohlgefährdung - für Fachkräfte des Gesundheitswesens - Dresden.de
Einleitung

Mit der Einführung des Bundeskinderschutzgesetzes wurde                     Ergänzend dazu steht die App „Hans und Gretel“ zur Ver‐
das Thema Kinderschutz als eine gemeinsame, kontinuierli‐                    fügung. Sie ist eine in Kooperation zwischen der Sächsi‐
che und gesetzlich verpflichtende Aufgabe aller Professionen,                schen Landesärztekammer (SLÄK), dem Fachkräfteportal
die mit Kindern und Familien arbeiten, definiert. Die Einrich‐               Kindeschutzmedizin in Sachsen und der Techniker Kran‐
tung der Arbeitsgemeinschaft Kinderschutz in der Medizin                     kenkasse entwickelte Anwendung zur Prävention, Diag‐
e. V. (AG‐KiM) (2016 in die Deutsche Gesellschaft für Kinder‐                nose und Dokumentation von Häuslicher Gewalt und Ge‐
schutz in der Medizin e. V. (DGKiM) umbenannt) und die Ent‐                  walt in der Familie für Ärztinnen und Ärzte. Die
wicklungen im Bereich der Frühen Hilfen (zum Beispiel durch                  kostenlose Registrierung erfolgt über den Fortbildungs‐
die Etablierung der Familienhebammen/Familienkinderkran‐                     code der SLÄK: www.hansundgretel.help
kenschwestern) unterstreichen die wachsende Bedeutung                       Ein telefonisches Beratungsangebot bei Kinderschutzfra‐
des Kinderschutzes auch in der Medizin. Zum 1. September                     gen für medizinisches Fachpersonal bietet die deutsch‐
2016 trat die Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschus‐                     landweite Kinderschutzhotline:
ses über die Früherkennung von Krankheiten bei Kindern bis                   www.kinderschutzhotline.de (Telefon: 0800 19 21 00 0)
zur Vollendung des sechsten Lebensjahres in Kraft. Ärztinnen                Unter www.elearning‐kinderschutz.de ist die Klinik für
und Ärzte sind seitdem verpflichtet, bei der Durchführung                    Kinder‐ und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie am Uni‐
der Früherkennungsuntersuchungen U1 bis U9 verstärkt auf                     versitätsklinikum Ulm im Feld der Erstellung webbasier‐
die Interaktion zwischen Kind und Eltern zu achten.                          ter Weiterbildungsangebote zu Themen aus dem Bereich
Auf Grundlage dieser Beobachtungen sollen zusätzlicher Be‐                   Kinderschutz aktiv.
ratungsbedarf dokumentiert und geeignete (Frühe) Hilfen                     Seit Februar 2019 steht die Handlungsempfehlung der
empfohlen werden. Ein frühzeitiges Erkennen von Unterstüt‐                   AWMF S3‐Leitlinie Kindermisshandlung, ‐missbrauch und
zungsbedarfen beziehungsweise potenziellen Gefährdungsla‐                    ‐vernachlässigung zur Verfügung. Alle Informationen und
gen bleibt jedoch wirkungslos, wenn die beobachtende Per‐                    Materialien zur Kinderschutzleitlinie finden Sie unter:
son keine ausreichenden Kenntnisse über die unter‐                           www.kinderschutzleitlinie.de
stützenden Infrastrukturen vor Ort besitzt, um diese Familien
an das bestehende Netzwerk weiterzuvermitteln.                             Die Strukturen der Kinder‐ und Jugendhilfe bieten auch eine
                                                                           Vielzahl von Materialien.
Mit der sechsten Auflage der Handlungsempfehlung bei Kin‐
deswohlgefährdung liegt eine aktualisierte Broschüre zu den                 Das Netzwerk Kinderschutz und Frühe Hilfen des Jugend‐
vielfältigen Unterstützungsangeboten in der Landeshaupt‐                     amtes Dresden hat einen Onlineauftritt eingerichtet. Un‐
stadt Dresden vor. Die Material‐ und Kontaktsammlung rich‐                   ter www.dresden.de/kinderschutz finden Fachkräfte aus
tet sich dabei insbesondere an Fachkräfte aus dem Gesund‐                    Kinder‐ und Jugendhilfe, Gesundheits‐ und Sozialwesen,
heitswesen. Der Anspruch dieser Handlungsempfehlung ist                      Schule, Polizei oder Justiz weiterführende Informationen
es nicht, eine allumfassende Abhandlung dieses Themenbe‐                     und entsprechende Arbeitsmaterialien zu den Themen
reiches zu liefern, sondern gezielt an der Schnittstelle von                 Kinderschutz, Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung.
Medizin und Jugendhilfe in Dresden wirksam zu werden und                     Die Koordinierungsstellen für das Netzwerk Kinderschutz
zur besseren Vernetzung dieser zwei Hilfesysteme beizutra‐                   und Frühe Hilfen sind Ansprechpartner für alle Fragen
gen. Hierzu werden zunächst die grundlegenden Begriffe und                   zum Kinderschutz (Telefon: (03 51) 4 88 46 28 oder
rechtlichen Regelungen kurz vorstellt und anschließend wich‐                 4 88 46 72, E‐Mail: netzwerk‐kinderschutz@dresden.de)
tige Netzwerkpartner und zentrale Akteure innerhalb der                     Der Dresdner Kinderschutzordner ist eine Sammlung von
Landeshauptstadt aufgeführt.                                                 Informationen, Arbeitsmaterialien und
Eine Neuauflage der Broschüre ist für 2021 geplant. Bis dahin                Orientierungshilfen zum Thema.
auftretende Änderungswünsche für den Kontaktteil können                      Abrufbar unter: www.dresden.de/kinderschutz
an gesundheitsamt‐kjg@dresden.de gesendet werden.
                                                                           Abschließend bedankt sich die Fachgruppe Kinderschutz des
Neben dieser Informationssammlung gibt es weitere                          Gesundheitsamtes bei allen Kooperationspartnern der
Möglichkeiten, sich über den medizinischen Kinderschutz                    Medizin und Kinder‐ und Jugendhilfe für die gute und
und Angebote der Jugendhilfe in Dresden zu informieren:                    vertrauensvolle Zusammenarbeit. Insbesondere in
                                                                           herausfordernden Kinderschutzfällen ist ein gemeinsames
 Das sachsenweite Informationsportal für Fachkräfte des                   Agieren aller beteiligten Akteure Grundlage für eine
  stationären und ambulanten Gesundheitswesens zum                         dauerhafte Sicherung des Kindeswohls.
  Thema Kinderschutz ist unter der Internetadresse
  www.kinderschutzmedizin‐sachsen.de1 zu erreichen.

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Handlungsempfehlung bei Kindeswohlgefährdung - für Fachkräfte des Gesundheitswesens - Dresden.de
1. Wichtige Begrifflichkeiten

Trotz aller Bemühungen der letzten Jahre ist es bislang nicht    Grundbedürfnisse von Kindern nach T. Berry Brazelton
gelungen, sich auf deutschlandweit einheitliche Definitionen     und Stanley I. Greenspan (2002):
oder eine gemeinsame professionsübergreifende Sprache im
Kontext Kinderschutz zu verständigen. Scheinbar gleiche Be‐       Bedürfnis nach beständiger liebevoller Beziehung
griffe werden sehr unterschiedlich definiert und ausgelegt.       Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit,
So wird der Begriff der Kindeswohlgefährdung im Kontext der        Sicherheit und Regulation
Jugendhilfe eher als Prognosefrage verstanden, wo hingegen        Bedürfnis nach Erfahrungen, die auf individuelle
im Gesundheitswesen eher die Fragestellung bestimmter              Unterschiede zugeschnitten sind
Missbrauchs‐, Misshandlungs‐ oder Vernachlässigungsspuren         Bedürfnis nach entwicklungsgerechten Erfahrungen
als die Feststellung von Kindeswohlgefährdung angesehen           Bedürfnis nach Grenzen und Strukturen
wird [1]. Die im Folgenden genannten Begrifflichkeiten orien‐     Bedürfnis nach stabilen, unterstützenden
tieren sich an den derzeit in der juristischen beziehungsweise     Gemeinschaften und kultureller Kontinuität
sozialwissenschaftlichen Literatur genutzten Definitionen         Bedürfnis nach einer sicheren Zukunft für die
und ergänzt diese um die medizinische Sichtweise.                  Menschheit [3]

Kindeswohl                                                       Kinderschutz
Der Begriff des Kindeswohls ist ein unbestimmter Rechtsbe‐       Der Gesetzgeber geht von einem weiten Kinderschutzbegriff
griff. In den Gesetzmäßigkeiten finden sich daher keine ab‐      aus. Dieser verbindet den Schutz des Wohles von Kindern
schließenden Definitionen hierzu. Aus sozialwissenschaftli‐      und Jugendlichen mit der Förderung der körperlichen, geisti‐
cher Sicht wird Kindeswohl als ein anhaltender Zustand           gen und seelischen Entwicklung. Grundsätzlich betreffen
altersgerechter und gesunder körperlicher, seelischer und        Maßnahmen zum Kinderschutz alle Minderjährigen im Sinne
geistiger Entwicklung von Kindern und Jugendlichen be‐           des Bürgerlichen Gesetzbuches. Der Schutz eines Kindes ob‐
schrieben [2]. Grundlage für das Wohl eines Kindes bezie‐        liegt zu allererst den Eltern beziehungsweise den Erziehungs‐
hungsweise Jugendlichen ist die angemessene Reaktion der         beauftragten (Elternverantwortung). Erst wenn diese, aus un‐
Sorgeberechtigten und weiterer Bezugspersonen auf deren          terschiedlichen Gründen, ihren Schutzauftrag nicht gerecht
Bedürfnisse. Ein am Wohl des Kindes ausgerichtetes Handeln       werden können oder wollen, greift der öffentliche Jugendhil‐
ist demnach dasjenige, welches sich an den Grundrechten          feträger (staatliches Wächteramt) ein.
und Grundbedürfnissen von Kindern orientiert und für das
Kind jeweils die günstigste Handlungsalternative wählt [3].      Angelehnt an die Ausführungen des Deutschen Jugendinsti‐
Orientierung zum Thema Grundbedürfnisse ist in verschiede‐       tutes (DJI) nutzt auch das Nationale Zentrum Frühe Hilfen
nen sozialwissenschaftlichen Modellen zu finden.                 (NZFH) einen extensiven Kinderschutzbegriff, welcher das ge‐
Zum Beispiel in der „Bedürfnispyramide“ des amerikanischen       samte Spektrum der Prävention, Diagnostik und Intervention
Psychologen Abraham H. Maslow (1983) oder dem Bedürf‐            umfasst. Zum Kinderschutz gehören demnach alle organisier‐
nismodell des amerikanischen Kinderarztes T. Berry Brazel‐       ten Aktivitäten, die dazu dienen, Fälle von Kindeswohlgefähr‐
ton und des Kinder‐ und Jugendpsychiaters und Psychoanaly‐       dung zu erkennen und zu handhaben. Darüber hinaus gelten
tikers Stanley I. Greenspan (2002).                              alle Formen psychosozialer und sozialmedizinischer Unter‐
                                                                 stützung von Familien, die darauf abzielen, der potenziellen
                                                                 Entstehung einer Kindeswohlgefährdung entgegenzuwirken,
                                                                 als Kinderschutzmaßnahmen. Nach diesem Verständnis sind
                                                                 auch Maßnahmen der allgemeinen Förderung und der Frü‐
                                                                 hen Hilfen als Zugang zu einem präventiven Kinderschutz
                                                                 relevant [5].

                                                                 Kindeswohlgefährdung
                                                                 Der Begriff der Kindeswohlgefährdung stellt keinen objekti‐
                                                                 vierbaren Sachverhalt, sondern ein normatives und rechtli‐
                                                                 ches Konstrukt – einen sogenannten unbestimmten Rechts‐
                                                                 begriff – dar. Juristisch besteht eine Kindeswohlgefährdung,
Abbildung 1: Pyramide einer gesunden kindlichen                  wenn das Verhalten von Eltern oder anderen Personen, wel‐
Entwicklung (nach Maslow 1983). [4] bearbeitet durch             che die Fürsorge für Kinder übernehmen, „in einem solchen
Mery Herzog

                                                                                                                             5
Handlungsempfehlung bei Kindeswohlgefährdung - für Fachkräfte des Gesundheitswesens - Dresden.de
Ausmaß in Widerspruch zu körperlichen, geistigen, seeli‐                  In der Praxis lassen sich die Begriffe häufig nicht immer ein‐
schen und erzieherischen Bedürfnissen eines Kindes oder Ju‐               deutig voneinander unterscheiden. Oft liegen auch mehrere
gendlichen steht, dass mit ziemlicher Sicherheit eine erhebli‐            Formen einer Kindeswohlgefährdung zeitgleich vor. Beson‐
che Beeinträchtigung in der Entwicklung des Kindes droht“                 ders die die Einschätzung bzw. Bewertung von Vernachlässi‐
[4].                                                                      gung gestaltet sich schwierig. In jedem Fall bedarf es zur Ab‐
                                                                          klärung, ob eine Kindeswohlgefährdung besteht, einer
                                                                          interpretativen Bewertung jedes Einzelfalls durch mehrere
Abbildung 2: Übersicht zu Formen der Kindeswohlgefährdung                 Fachkräfte und falls möglich, die Hinzuziehung einer insoweit
angelehnt an: Kinder in guten Händen. Praxishandbuch zur                  erfahrenen Fachkraft (siehe 4.2, Seite 13). Die letztendliche
präventiven Kinderschutzarbeit für Kindertageseinrichtungen               Entscheidung, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, trifft
und Kindertagespflege. DKSB Landesverband Sachsen e. V.                   das zuständige Jugendamt im Rahmen der Abprüfung einer
2012, verändert durch Katja Sturm [9]                                     Meldung.

                                                    Kindeswohlgefährdung
            Vernachlässigung                Erziehungsgewalt und                Sexualisierte Gewalt                  Häusliche Gewalt
                                                Misshandlung

    Körperliche Vernachlässigung      Körperliche Erziehungsgewalt        Körperliche sexualisierte Gewalt    Gewaltformen zwischen den
    zum Beispiel:                     Kurzzeitige Formen der körperli‐    Körperliche Handlungen mit und      Erziehungspersonen, die Kinder
     unzureichende Versorgung        chen Gewalt als Erziehungsmaß‐      ohne Körperkontakt.                 beobachten, sehen oder/und
       mit Nahrung, Flüssigkeit,      nahme.                              zum Beispiel:                       miterleben
       witterungsangemessener         zum Beispiel:                        Küssen                            zum Beispiel:
       Kleidung                        Klaps auf den Mund                 Manipulieren der                   das Miterleben von Schlagen,
     unzureichende Hygiene            Ohrfeigen                            Geschlechtsorgane                    Treten, Würgen, Erniedrigen,
       oder/und medizinische           hartes Anpacken des Kindes         Sexualverkehr                         Drohen und Einsperren unter
       Versorgung                                                          Zuschauen bei der                     den Erwachsenen, das Miterle‐
     unzureichender Raum zum         Seelische Erziehungsgewalt             Selbstbefriedigung                   ben vom Zwang zu sexuellen
       Spielen und Schlafen           Kurzzeitige Formen der seelischen                                           Handlungen unter den
                                      Gewalt als Erziehungsmaßnahme.      Seelische sexualisierte Gewalt          Erwachsenen, das Miterleben
    Erzieherische und kognitive       zum Beispiel:                       zum Beispiel:                           einer Vergewaltigung unter
    Vernachlässigung                   Anschreien                         anzügliche oder beleidigende          den Erwachsenen
    zum Beispiel:                      kurzzeitige extreme verbale          Bemerkungen und Witze über
     fehlende Kommunikation             Ablehnung                           den Körper oder die Sexualität   Sonderformen der
     fehlende erzieherische                                                 eines Kindes                     häuslichen Gewalt
        Einflussnahme                 Körperliche Misshandlung             altersunangemessene               zum Beispiel:
     fehlende Anregungen zur         Mit Absicht Verletzungen herbei‐       Gespräche über Sexualität         Kind wurde durch eine
        altersgerechten Entwicklung   führen und Folgen bewusst            Zugänglichmachen von porno‐          Vergewaltigung durch Eltern
                                      in Kauf nehmen.                        grafischen Darstellungen            gezeugt
    Emotionale Vernachlässigung       zum Beispiel:                                                            Kind wächst in einer
    zum Beispiel:                      Schläge und Tritte                Sonderformen der                       Atmosphäre von Gewalt
     Mangel an Geborgenheit           Verbrennungen                     sexualisierten Gewalt                  im Elternhaus auf
       und Wertschätzung               Vergiftungen                      zum Beispiel:
     Mangel an liebevollem            Schütteln des Kindes               pornografische Ausbeutung
       Verhalten                       Einklemmen                           von Kindern
                                                                           Kinderprostitution
    Unzureichende Aufsicht            Seelische Misshandlung               sexualisierte Gewalt in den
    zum Beispiel:                     Verhaltensweisen, die dem Kind         neuen Medien
     Alleinlassen des Kindes         das Gefühl geben, es sei wertlos,
       im und außerhalb des           ungewollt oder schlecht.
       Wohnraumes                     zum Beispiel:
                                       Verspotten oder Beschimpfen
                                       Abwerten des Kindes
                                       Stigmatisierung als
                                          Sündenbock
                                       Isolierung oder Einsperren
                                          des Kindes
                                       Kind zu strafbaren oder
                                          selbstzerstörerischen
                                          Verhalten veranlassen
                                       Überbehütung

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2. Aktuelle Datenlage

Mit der Einführung des Bundeskinderschutzgesetzes wurde          (23,4 Prozent der Verfahren). Bei 13,5 Prozent kamen die
die statistische Erfassung der Gefährdungseinschätzung in‐       Hinweise von Schulen oder Kindertageseinrichtungen. Be‐
folge einer Meldung für die Träger der öffentlichen Kinder‐      kannte oder Nachbarn meldeten in 11,2 Prozent der Fälle
und Jugendhilfe verpflichtend. Exakte Zahlen, wie viele Kin‐     und gut jeden zehnten Hinweis (10,6 Prozent) erhielten die
der und Jugendliche in Deutschland unter kindeswohlgefähr‐       Jugendämter anonym [7].
denden Umständen aufwachsen, gibt es dennoch nicht. Die
Statistiken der Jugendämter geben hierzu nur einen ersten
Einblick in die Höhe der Fallzahlen. Es muss von einem hohen     Daten zum Kinderschutz der
Dunkelfeld ausgegangen werden. Auch Forschungen zu den
Folgen von Kindesvernachlässigung und ‐misshandlung sowie        Landeshauptstadt Dresden
die zur Wirksamkeit von Kinderschutzmaßnahmen stehen
noch am Anfang [5]. Nichts desto trotz lassen erste Studien      Im Jahr 2017 hat der Allgemeine Soziale Dienst des Jugend‐
zur Prävalenz oder zur frühen Programmierung von Krankheit       amtes Dresden 1530 Verdachtsmeldungen auf Kindeswohlge‐
und Gesundheit Rückschlüsse auf gesundheitliche Folgen von       fährdung (bis vollendetes 17. Lebensjahr) erhalten. Rund 51
belastenden Faktoren in der Kindheit zu.                         Prozent davon entfielen auf die Altersgruppe bis sechs Jahre,
                                                                 was die Bedeutung der Frühen Hilfen unterstreicht. In 17,32
                                                                 Prozent aller 1530 Verdachtsmeldungen wurde nach Abprü‐
                                                                 fung dieser durch die Teams des Allgemeinen Sozialen Diens‐
Bundesweite statistische Betrachtung                             tes (ASD) eine akute Kindeswohlgefährdung festgestellt.
                                                                 Eine latente Kindeswohlgefährdung lag in 74,44 Prozent der
Das Statistische Bundesamt (Destatis) teilte in seiner Presse‐
                                                                 Fälle vor. Keine Gefährdung wurde in 8,23 Prozent festge‐
meldung Nr. 344 mit, dass die deutschen Jugendämter im
                                                                 stellt. Die meisten Verdachtsmeldungen gingen mit 14,83
Jahr 2017 rund 143.300 Verfahren zur Einschätzung der Ge‐
                                                                 Prozent im ASD Prohlis ein, gefolgt vom ASD Plauen mit
fährdung des Kindeswohls durchführten. Bei rund 21.700 die‐
                                                                 13,27 Prozent, ASD Pieschen mit 13,10 Prozent und 13,07
ser Verfahren bewerteten die Jugendämter den Fall eindeu‐
                                                                 Prozent im ASD Gorbitz.
tig als Kindeswohlgefährdungen („akute Kindeswohl‐
                                                                 Werden die Anzahl der Meldungen ins Verhältnis zu den im
gefährdung“). Bei weiteren 24.100 Verfahren konnte eine
                                                                 Ortsamtsbereich lebenden Kindern und Jugendlichen gesetzt,
Gefährdung des Kindes nicht ausgeschlossen werden („la‐
                                                                 rücken neben Gorbitz, die Stadtteile Prohlis und Plauen in
tente Kindeswohlgefährdung“). In rund 48.900 Fällen kamen
                                                                 den Vordergrund, gefolgt von Leuben und Pieschen. 2017
die Fachkräfte des Jugendamtes zu dem Ergebnis, dass zwar
                                                                 wurden Meldungen am häufigsten durch die Polizei an den
keine Kindeswohlgefährdung, aber ein weiterer Hilfe‐ oder
                                                                 ASD des Jugendamtes Dresden übergeben (15,71 Prozent).
Unterstützungsbedarf besteht.
                                                                 Weitere Gruppen waren mit 10,52 Prozent anonyme Melder,
Die meisten der rund 45.700 Kinder, bei denen eine akute
                                                                 gefolgt von Schulen (9,84 Prozent) und den Leistungserbrin‐
oder latente Kindeswohlgefährdung vorlag, wiesen Anzei‐
                                                                 gern in laufenden Hilfen zur Erziehung (9,53 Prozent).
chen von Vernachlässigung auf (60,8 Prozent). In 29,6 Pro‐
                                                                 Alle Meldungen von Ärztinnen und Ärzten, Kliniken und
zent der Fälle wurden Anzeichen für psychische Misshandlun‐
                                                                 Gesundheitsamt lagen bei 8 Prozent [7].
gen festgestellt wie beispielsweise Demütigungen,
Einschüchterung, Isolierung und emotionale Kälte. Etwas sel‐
tener (26,0 Prozent) wiesen die Kinder Anzeichen für körper‐
liche Misshandlung auf. Anzeichen für sexuelle Gewalt wur‐       Studien zum Dunkelfeld – Prävalenz
den in 4,5 Prozent der Fälle von Kindeswohlgefährdung            von Misshandlungen und Missbrauch
festgestellt. Mehrfachnennungen waren hierbei möglich. Die
Gefährdungseinschätzungen wurden ungefähr gleich häufig          in Deutschland
für Jungen und Mädchen durchgeführt. Kleinkinder waren
bei den Verfahren besonders betroffen. Fast jedes vierte         Witt et al. (2017) haben anhand des Childhood Trauma Ques‐
Kind (23,2 Prozent), für welches ein Verfahren durchgeführt      tionnaire (CTQ) eine für die deutsche Bevölkerung repräsen‐
wurde, hatte das dritte Lebensjahr noch nicht vollendet.         tative Untersuchung (N = 2510 Personen zwischen 14 und 94
Drei‐ bis fünfjährige Kinder waren von einem Fünftel (19,2       Jahren, 53,3 % Frauen) zur Häufigkeit von Misshandlungen
Prozent) der Verfahren betroffen. In 22,6 Prozent der Fälle      und Missbrauch durchgeführt. Im Ergebnis gaben 31 Prozent
waren es Kinder im Grundschulalter. Mit zunehmendem Al‐          der Befragten an, mindestens eine Form von Misshandlung in
ter nehmen die Gefährdungseinschätzungen wieder ab. Kin‐         ihrer Kindheit erlebt zu haben. 14 Prozent der Befragten be‐
der im Alter von zehn bis 13 Jahren hatten einen Anteil von      richten von mehr als einer Form von Misshandlung. Frauen
19,3 Prozent an den Verfahren, Jugendliche von 14 bis 17         waren häufiger von sexuellem Missbrauch und emotionaler
Jahren einen Anteil von 15,7 Prozent. Am häufigsten mach‐        Misshandlung betroffen [9] Die folgende Tabelle fasst die Er‐
ten Polizei, Gericht oder Staatsanwaltschaft das Jugendamt       gebnisse aus den Jahren 2010 und 2016 bezogen auf die
auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung aufmerksam                Formen von Kindesmisshandlung kurz zusammen.

                                                                                                                              7
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Kindesmisshandlung             Häufigkeit*             Gesundheitliche Langzeitfolgen
                                      2010        2016
    Emotionale Misshandlung           4,6 %       6,5 %
                                                           von frühen Stresserfahrungen und
    Körperliche Misshandlung          5,6 %       6,5 %    psychosozialer Belastungen
    Sexueller Missbrauch              6,3 %       7,6 %    in der Kindheit
    Emotionale Vernachlässigung      14,0 %      13,3 %
    Körperliche Vernachlässigung     28,8 %      22,6 %    Erlebte emotionale Vernachlässigung und körperliche Miss‐
                                                           handlung in der Kindheit erhöht lebenslang das Risiko von
Tabelle 1: Häufigkeit von Misshandlungen und Missbrauch    funktionellen und psychischen Störungen. Zudem zeigen neu‐
bei Kindern und Jugendlichen (Witt et al., 2017)           este Ergebnisse, dass bei Betroffenen eine erhöhte Vulnera‐
                                                           bilität für das Auftreten körperlicher Erkrankungen besteht.
* Bezieht sich auf kumulierte Werte für die Einschätzung   Hierzu zählen:
mäßig bis schwer und schwer bis extrem durch die
Childhood Trauma Questionnaire (CTQ) [9].                     Typ 2 Diabetes
                                                              Kreislauf‐Erkrankungen
                                                              Chronische obstruktive Lungenerkrankungen (COPD)
                                                              Hepatitiden
                                                              immunologische Erkrankungen
                                                              Pharynx‐ und Lungenkarzinome
                                                              Schmerzerkrankungen [10].

                                                           Im Rahmen von neurobiologischen Forschungen konnte zu‐
                                                           dem gezeigt werden, „dass chronische Misshandlungen zu
                                                           bleibenden Beeinträchtigungen der kognitiven und emoti‐
                                                           onsregulierenden Funktionen, zu EEG‐Veränderungen und zu
                                                           messbaren Verringerungen des Hirnvolumens führen kön‐
                                                           nen.“ [11] Mit Blick auf diese Langzeitfolgen, sind frühzeitige
                                                           Hilfen und ein gut koordiniertes Helfernetzwerk maßgebend.

8
Handlungsempfehlung bei Kindeswohlgefährdung - für Fachkräfte des Gesundheitswesens - Dresden.de
3. Gewichtige Anhaltspunkte für
das Vorliegen einer Kindeswohlge‐
fährdung
Die im Folgenden Kapitel benannten beispielhaften Auffällig‐    Hinweise auf nichtbehandelte Verletzungen,
keiten können, müssen aber nicht, Hinweise auf Misshand‐         Vielzahl und untypische Lokalisation von Verletzungen
lung oder Vernachlässigung sein. Die Merkmale bezeichnen         (siehe dazu Anlage 5)
mögliche Warnsignale dafür, dass es einem jungen Men‐           verbale oder nonverbale Äußerungen des Kindes, die auf
schen nicht gut geht und Hilfe benötigt wird. Vor allem wenn     Misshandlung, sexuellen Missbrauch oder Vernachlässi‐
es zur Kumulation verschiedener Hinweise kommt, sollte           gung hinweisen oder ein dem Alter des Kindes nicht an‐
Vorsicht geboten sein. Heranwachsende, welche sich in die‐       gemessenes/stark sexualisiertes Verhalten [12]
ser Situation befinden, sind darauf angewiesen, dass Fach‐
kräfte gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefähr‐
dung erkennen und angemessen darauf reagieren. Das Alter       3.2 Anhaltspunkte
des Kindes spielt bei der Beurteilung der Anhaltspunkte eine
maßgebende Rolle. Auch die Fähigkeit der Sorgeberechtig‐       in Familie und Lebensumfeld
ten, Missstände benennen und ändern zu können bezie‐
hungsweise ändern zu wollen, muss bei der Einschätzung be‐      Ablehnung des Kindes (zum Beispiel nach
dacht werden. Unterstützend zu den hier aufgeführten             traumatischen Schwangerschaftserlebnissen)
Punkten können auch die altersspezifischen „Ampelbögen“         psychische Erkrankung oder geistige Behinderung
des Kinderschutzordners zur Falleinschätzung verwendet           der Eltern
werden. Abrufbar unter:                                         Suchtmittelkonsum, Suchtmittelabusus der Eltern
www.dresden.de/Kinderschutz.                                    mangelnde Entwicklungsförderung durch die Eltern
                                                                schädigendes Erziehungsverhalten (Demütigung,
                                                                 fehlende Grenzsetzung)
                                                                nicht altersentsprechende Aufsicht
3.1 Anhaltspunkte                                               traumatisierende Lebensereignisse
beim Kind/Jugendlichen                                          Gewalttätigkeit in der Familie (gegenüber dem Kind,
                                                                 in der Paarbeziehung)
 unzureichende oder übermäßige Flüssigkeits‐                   soziale Isolierung der Familie und/oder des Kindes
  und/oder Nahrungszufuhr (mangelndes Unterhautfettge‐          sexuelle oder kriminelle Ausbeutung des Kindes
  webe, Dehydratation, Adipositas)                               oder Jugendlichen
 unzureichender Pflegezustand (mangelnde Körperpflege,         hochstrittige Trennungs‐ oder Scheidungssituationen
  mehrfach verschmutzte oder nicht                              Versagen notwendiger ärztlicher Versorgung, fehlende
  witterungsgerechte Kleidung)                                   Vorsorgeuntersuchungen (auch unzureichende
 nicht plausibel erklärbare Verletzungen (Blutergüsse,          Umsetzung ärztlicher Empfehlungen)
  Hautabschürfungen, Hauteinblutungen, Schnitt‐/Bissver‐        desolate Wohnsituation (fehlende kindgerechte
  letzungen, Verbrühungen, Verbrennungen, Knochenbrü‐            Einrichtung, Nichtbeseitigung von Gefahren im Haushalt,
  che, Selbstverletzungen, Hämatome bei einem prämobi‐           „Messi“‐Haushalte, Zwangsräumung oder
  len Säugling)                                                  Stromsperren) [4]
 Kind wirkt berauscht und/oder benommen oder                   ernste und häufige Erkrankungen in der Kindheit
  im Steuern seiner Handlungen unkoordiniert                    viele Umzüge/häufiger Wechsel von Kindertageseinrich‐
  (Einfluss von Drogen, Alkohol, Medikamenten)                   tungen oder Schulen
 wiederholtes apathisches, aggressives oder                    längere Trennung (> 2 Wochen) von der primären
  stark verängstigtes Verhalten des Kindes                       Bezugsperson im ersten Lebensjahr
 körperliche oder seelische Krankheitssymptome                 alleinerziehende Mütter oder Väter ohne
  (sekundäres Einnässen/Einkoten, Ängste, Zwänge)                familiäres Netzwerk
 schulpflichtige Kinder bleiben häufig oder ständig der        Lern‐ oder Verhaltensstörungen beim Kind [10]
  Schule fern (besondere Aufmerksamkeit sollte dabei auf        häufiger Arztwechsel „Ärzte‐Hopping“
  Kinder/Jugendliche gerichtet werden, welche häufig            niedriger sozioökonomischer Status/Arbeitslosigkeit [12]
  ohne ärztliche Abklärung von den Eltern entschuldigt
  werden) [4] (Zum Thema Schulabsentismus siehe auch
  3.3, Seite 11)
 reduzierter Allgemeinzustand
  (auch psychosozialer Minderwuchs)
 extremes Schreien (Schreibabys) oder
  Regulationsprobleme beim Kind

                                                                                                                        9
Handlungsempfehlung bei Kindeswohlgefährdung - für Fachkräfte des Gesundheitswesens - Dresden.de
3.3. Exkurs – Erfahrungen und                                     Als Risikofaktoren gelten unter anderem der exzessive Ge‐
                                                                  brauch der mit stark zuckerhaltigen Getränken gefüllten Nu‐
Themen aus der Kinderschutzarbeit                                 ckelflasche und mangelnde Mundhygiene. Karies führt zu
der Abteilung Kinder‐ und                                         Zahnschmerzen und zu Schwierigkeiten bei der Nahrungsauf‐
                                                                  nahme und ‐zerkleinerung. Im fortgeschrittenen Stadium
Jugendgesundheit                                                  stellen Mundgeruch und Störungen bei der Entwicklung der
                                                                  Sprache Probleme dar, die die Gefahr der sozialen Ausgren‐
Im Rahmen der Kinderschutzarbeit am Gesundheitsamt Dres‐          zung in sich bergen. Unbehandelte Karies der Milchzähne
den sehen sich die Fachkräfte mit einer Vielzahl von Themen       kann darüber hinaus darunterliegende Zahnkeime der blei‐
konfrontiert. Beispielhaft hierfür sind besonders herausfor‐      benden Dentition und die Allgemeingesundheit schädigen.
dernde und komplex zu bearbeitende Kinderschutzthemen             Die betroffenen Kinder sind, wie in verschiedenen Studien
im Folgenden näher beschrieben.                                   gezeigt werden konnte, maßgeblich in ihrer Lebenszufrieden‐
                                                                  heit/Lebensqualität eingeschränkt. Bei fehlender Mitwirkung
Schütteltrauma‐Syndrom                                            der Sorgeberechtigten ist eine dentale Vernachlässigung als
Gerade in der Betreuung von Familien mit Säuglingen muss          Kindeswohlgefährdung kritisch zu prüfen ‐ gegebenenfalls
über Regulationsstörungen, exzessives Schreien und die Fol‐       unter Einbezug von Angeboten der Jugendhilfe [11, ergänzt
gen des Schüttelns aufgeklärt und Bewältigungsstrategien          durch Frau Dr. Ursula Schütte, Leiterin der Kinder‐ und Ju‐
besprochen werden. Hierzu stehen gute Materialien zur Ver‐        gendzahnklinik Dresden]. Die Angebote der Kinder‐ und Ju‐
fügung. In Sachsen wird mit der Ausgabe des Vorsorgeheftes        gendzahnklinik Dresden sind ab Seite 21 aufgeführt.
in den Kliniken der Flyer „Babys nicht schütteln“ an alle El‐
tern übergeben (siehe Anlage 9). Ergänzend dazu steht ein         Münchhausen‐by‐proxy‐Syndrom/
Flyer des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen zur Verfügung.         Münchhausen‐Stellvertretersyndrom
Er wurde ebenfalls in den Sprachen Englisch, Französisch,         Das Münchhausen‐by‐proxy‐Syndrom/Münchhausen‐Stell‐
Russisch, Türkisch, Arabisch und Farsi aufgelegt.                 vertreter‐Syndrom ist eine schwer zu diagnostizierende kom‐
Herunterladbar oder bestellbar ist er unter:                      binierte Form der Kindesmisshandlung, die darauf beruht,
https://www.fruehehilfen.de/index.php?id=2188                     dass eine nahe stehende Person (in der Regel die Mutter) bei
Auf der Webpage des Bündnisses finden sich noch weitere           einem Kind Anzeichen einer Krankheit vortäuscht oder aktiv
Materialien sowie ein Aufklärungsfilm zum Thema Schüttel‐         erzeugt, um es wiederholt zur medizinischen Abklärung vor‐
trauma.                                                           zustellen. Die erwachsene Person, welche oft medizinisch
Eine sehr gute und kurze Zusammenfassung zur Prävention           vorgebildet ist, verfolgt damit das Ziel, Zuwendung und Auf‐
und sicheren medizinischen Diagnostik des Schütteltrauma‐         merksamkeit zu ihren Gunsten zu generieren. Das Wiederho‐
Syndroms ist auf einer „Kittelkarte“ der Kinderschutzhotline      lungsrisiko bei diagnostizierten Fällen beträgt 30 bis 50 Pro‐
erschienen (siehe Anlage 7). Sie ist ebenfalls im Downloadbe‐     zent. Als Ursache dieses Verhaltens kann eine ausgeprägte
reich unter www.kinderschutzhotline.de zu finden.                 Persönlichkeitsstörung vermutet werden [11].
                                                                  Die Traumatisierungswirkung beim Kind übersteigt oft
Das frühzeitige Erkennen von Belastungsanzeichen bei Eltern,      die am Körper vorgenommene Schädigung.
die Aufklärung zum Thema und die schnelle Vermittlung an
weiterführende Hilfen sind wichtige Eckpunkte der Betreu‐         Charakteristische Merkmale beim Kind:
ung dieser Familien. Frühzeitige Hilfen für Eltern von            1. Persistierende oder rekurrierende Symptomatik,
Schreibabys in Dresden, wie zum Beispiel die „Schrei‐Babybe‐          die trotz gründlicher Durchuntersuchung zu keiner
ratung“ einer Familienhebamme am Gesundheitsamt sind                  Erklärung führt.
unter 6.2 ab Seite 20 zusammengefasst.                            2. Die Diagnose bleibt deskriptiv und bezieht sich auf
                                                                      den Verdacht einer extrem seltenen oder atypischen
Verletzungen innerhalb der Mundhöhle/                                 Erkrankung.
Dentale Vernachlässigung                                          3. Die Symptomatik spricht entgegen der Erwartungen
65 bis 75 Prozent der misshandelten Kinder weisen Verlet‐             nicht auf eine übliche, etablierte Therapie an.
zungen des Kopfes/des Gesichts auf, insbesondere im HNO‐          4. Es besteht eine Diskrepanz von Untersuchungs‐ und
Bereich. Durch eine fehlende oder flüchtige Ganzkörperun‐             Laborbefunden zu den anamnestischen Angaben
tersuchung können Verletzungen innerhalb der Mundhöhle                der Mutter.
leicht übersehen werden. Insbesondere bei Säuglingen und          5. Die Untersuchungsbefunde und anamnestischen
Kleinkindern mit Fütterproblemen besteht die Gefahr von so‐           Angaben passen nicht zum Eindruck, wie stark
genannten „Fütterverletzungen“ (zum Beispiel Kontusionen              erkrankt das Kind wirkt.
der Lippen, Verletzungen der Mundschleimhaut) durch ge‐           6. Eine zeitliche Verknüpfung zwischen dem Auftreten der
waltsames Einführen von Essbesteck oder das Verabreichen              Symptomatik und der Anwesenheit der Mutter fällt auf.
von zu heißen Speisen. Durch Schläge ins Gesicht kann es durch    7. Es liegen unvollständige beziehungsweise unkorrekte
die eignen Zähne zu Verletzungen der Zunge kommen. Neueren            Angaben der Mutter zur Anamnese der Vorbehandlun‐
Erkenntnissen nach sind Verletzungen des Lippen‐ oder Zungen‐         gen vor.
bändchens, entgegen früherer Annahmen, kein pathognomoni‐         8. Die präsentierte Symptomatik umfasst Beschwerden
scher Hinweis auf eine Misshandlung. Trotzdem sollte dieser Be‐       wie unerklärliche Blutungen, Anfälle, Bewusstseinsver‐
fund Anlass für eine weitere Diagnostik sein.                         lust, Apnoe, Diarrhö, Erbrechen, Lethargie oder berich‐
Zur Vernachlässigung im Rahmen der Gesundheitsfürsorge                tete Unverträglichkeitsreaktionen auf Nahrungsmittel
zählt auch der Bereich der Zahnpflege. Dentale Vernachlässi‐          oder Medikamente [13].
gung und die dadurch bedingte Entstehung von Karies (Zahn‐
fäule) hat weitereichende Folgen für die betroffenen Kinder.      Die Intervention in solchen Fällen ist oft sehr komplex, müh‐
Im Milchgebiss wird an dieser Stelle von der sogenannten          sam und zeitraubend. Erschwerend kommt in solchen Fällen
„Frühkindlichen Karies“ gesprochen, die bereits kurz nach         hinzu, dass das betreffende Elternteil durch die aufopfe‐
dem Zahndurchbruch auftritt und rasch voranschreitet.             rungsvolle Betreuung des Kindes oft für sehr vertrauenswür‐
                                                                  dig und kompetent eingeschätzt wird.

10
Einen zentralen Stellenwert nimmt in solchen Fällen die Erhe‐      Untersuchungen haben gezeigt, dass etwa 20 Prozent aller
bung einer detaillierten Krankengeschichte unter Einbezie‐         Schulverweigerer vor ihren Fehlzeiten eine körperliche Er‐
hung früherer Kontakte zum Gesundheitswesen sowie eine             krankung hatten und 67 Prozent mindestens eine psychische
interdisziplinäre Zusammenarbeit aller beteiligter Akteurin‐       Störung aufzeigen [15]. Etwa 3 bis 5 Prozent eines Jahrgangs
nen und Akteure ein. Empfehlenswert ist hierbei auch eine          weisen extreme Formen des Schulabsentismus auf, wobei
anonyme Beratung mit einer medizinischen Kinderschutz‐             Jungen in dieser Gruppe überrepräsentiert sind [14]. Statis‐
gruppe (siehe 5.14 Seite 18 oder 6.1 Seite 20).                    tisch lässt sich derzeit das Ausmaß an Schulverweigerung
Eine Konfrontation mit dem Verdacht eines Münchhausen‐             auch für Dresden nicht exakt bestimmen. Rückschlüsse zu
by‐proxy‐Syndroms/Münchhausen‐Stellvertreter‐Syndroms              diesem Phänomen lassen sich aktuell nur aus den erfolgten
sollte nicht zu früh erfolgen, da das Elternteil fast immer sein   Anhörungen im Rahmen von Ordnungswidrigkeiten zur
Handeln verleugnen und sich anschließend oft von der aktu‐         Schulpflichtverletzung ziehen.
ell behandelnden Stelle zurückziehen wird, um andere Fach‐         Seit 2006 hat sich diese Zahl verfünffacht.
kräfte aufzusuchen. Eine weitere Folge einer solchen Gegen‐
überstellung könnte eine psychische Dekompensation sein            Jahr          2006 2008 2010 2012 2014 2015 2016 2017
zum Beispiel durch selbstverletzendes Verhalten bis hin zum        Anzahl        399 704 965 1179 1846 1164 1411 1609
Suizid [12].                                                       Anhörungen

Gesundheit und Kinderschutz im Kontext Schule –                    Tabelle 2: Anhörungen im Rahmen von Ordnungswidrigkeits‐
Schulabsentismus                                                   verfahren Schulpflichtverletzungen in Dresden
In den vergangenen Jahren wurden Fachkräfte des Gesund‐            (Quelle: Schulverwaltungsamt Dresden 2018) [18]
heitswesens, ebenso wie des Bildungsbereiches und der Ju‐
gendhilfe immer häufiger mit Fällen konfrontiert, in denen         Die Vielschichtigkeit von Schulabsentismus sowie die meist
Kinder und Jugendliche der Schule fernblieben. Die Erfahrun‐       große Gruppe an beteiligten Personen und Institutionen
gen der letzten Jahre zeigen, dass eine gute Vernetzung von        macht ein Agieren in diesen Fällen oft schwierig und zeitauf‐
Jugend‐ und Gesundheitshilfe und das gegenseitige Wissen           wändig. Einfache und schnelle Lösungen gibt es nicht. Den‐
um Abläufe und Hintergründe unerlässlich ist, damit Kinder         noch können einige Punkte benannt werden, welche in die‐
und Jugendliche mit multiplen Problemlagen passgenaue              sem Zusammenhang beachtet werden sollten und sich in der
Hilfen erhalten.                                                   Praxis als hilfreich erwiesen haben:
Der Oberbegriff für alle Formen und Intensitäten illegitimer
Schulversäumnisse ist der Schulabsentismus. Er kommt in al‐         Die betreffenden Jugendlichen und deren Familien befin‐
len Altersklassen und allen Schulformen vor, wenngleich Stu‐         den sich in einer ernst zu nehmenden Situation, aus der
dien zeigen, dass der Dropout aus dem System Schule am               sie ohne externe, professionelle Unterstützung meist
häufigsten aus sozial benachteiligten Schichten geschieht            nicht wieder herausfinden [16].
[14].                                                               Hilfeziel im Rahmen von Schulabsentismus sollte die voll‐
                                                                     umfängliche Wiederaufnahme des Schulbesuchs sein.
                                                                    Grundlage für einen erfolgreichen Hilfeverlauf ist die
                                                                     Vernetzung aller Beteiligten (Eltern, Schule, Jugendhilfe,
                                                                     Gesundheitshilfe).
                                                                    Interventionsmaßnahmen sollten multimodal und
                                                                     individualisiert ausgerichtet werden.
                                                                    Therapeutische Ansätze sollten zunächst ambulant
                                                                     erfolgen und erst nach weiterhin ausbleibendem
                                                                     Schulbesuch stationär durchgeführt werden [19].
                                                                    Mit Blick auf die oftmals chronischen Verläufe ist eine
                                                                     frühzeitige kinder‐ und jugendpsychiatrische Diagnostik
                                                                     empfehlenswert. Eine Überweisung sollte vor allem bei
                                                                     somatischen Beschwerden unklarer Genese (Kopf‐
                                                                     und/oder Bauchschmerzen, Kreislaufbeschwerden
                                                                     oder häufiger Übelkeit) erfolgen.
                                                                    Lange Krankschreibungen aufgrund somatischer
                                                                     Beschwerden sind meist nicht ratsam, da sie das
                                                                     schulvermeidende Verhalten verstärken [17].
                                                                    Einzel‐ oder Hausbeschulungen sind in den meisten
                                                                     Fällen nicht zu empfehlen.
                                                                    Ebenso sollte vermieden werden, dass die „schulfreie
Abbildung 3: Klassifikation des Schulabsentismus [17]                Zeit“ ausschließlich mit angenehmen Tätigkeiten
                                                                     (PC, Handy, TV) gefüllt wird.
Schulabsentismus ist nicht als situatives Phänomen, sondern         Hausaufgaben und verpasster Schulstoff sollten zuhause
als Ergebnis einer langwierigen Entwicklung zu verstehen             nachgeholt werden [15].
[16], und entsteht „meist aus einer Akkumulation verschiede‐
ner Belastungsfaktoren im familiären (z. B. Trennung der El‐
tern), schulischen (z. B. Überforderung) und Gleichaltrigen‐
kontext (z. B. Mobbing), die auf individuelle Vulnerabilität
(z. B. Teilleistungsstörungen) treffen.“ [17].
Schulabsentismus kann auch ein Indikator für eine psychische
Störung sein, welche einen pädagogischen und/oder thera‐
peutischen Behandlungsbedarf nach sich zieht [16].

                                                                                                                              11
Informationen und Hilfeangebote für betroffene Kinder,
Jugendliche und deren Familien:

 Informationen zu den Rahmenbedingungen der
  Schulpflicht und deren Verletzung finden sich auf
  www.dresden.de → Leben in Dresden → Schule & Bil‐
  dung → Fragen & Antworten → Schulpflichtverletzung
 Beratung und Unterstützung erhalten Betroffene auch in
  den Beratungsstellen für Kinder, Jugendliche und Fami‐
  lien (siehe hierzu 6.5, Seite 22 oder 7.2, Seite 25) und
  www.dresden.de/familienberatung)
 Wenn es bereits zu einem Ordnungswidrigkeitsverfahren
  wegen Schulverweigerung gekommen ist, finden Schul‐
  verweigerer und deren Eltern Rat und Unterstützung
  durch die Jugendgerichtshilfe des Jugendamtes.
  Pfad: www.dresden.de/Jugendgerichtshilfe →
  das Jugendverfahren → Schulverweigerung
 Angebote der Kinder‐ und Jugendpsychiatrischen Kliniken
  oder des Stationären Bereiches für Pädiatrische Psycho‐
  somatik/Psychotherapie am Städtischen Klinikum
  Dresden finden sie unter 7.7.1 ab Seite 28.
 niedergelassene Fachärzte für Kinder‐ und
  Jugendpsychiatrie auf der Homepage der
  Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen:
  www.kvs‐sachsen.de/arztsuche

12
4. Handlungsschritte bei Verdacht
auf Vorliegen einer Kindeswohlge‐
fährdung
Das Bundeskinderschutzgesetz regelt im Sinne einer Befug‐       4.1 Gefährdungsmomente
nisnorm für Berufsgeheimnisträger, wie das Vertrauensver‐
hältnis zwischen medizinischen Fachkräften und deren Pati‐      wahrnehmen, Datenerhebung
entinnen und Patienten geschützt werden kann und die            und ‐sicherung
Weitergabe wichtiger Informationen an den ASD des Jugend‐
amtes (Allgemeiner Sozialer Dienst) ermöglicht wird. Auf eine   Bevor es zur Planung erster Handlungsschritte im Verdachts‐
gesetzliche Meldepflicht oder Verpflichtung zu einer Strafan‐   fall kommt, sollten im medizinischen Kontext folgende
zeige wurde verzichtet. Nach § 4 Gesetz zur Kooperation und     Punkte, wenn möglich im Vier‐Augen‐Prinzip,
Information im Kinderschutz sollen Kindeswohlgefährdungs‐       Beachtung finden.
merkmale, sogenannte „gewichtige Anhaltspunkte“, mit dem
Kind oder Jugendlichen und den Personensorgeberechtigten        Anamneseerhebung in Verdachtsfällen
erörtert werden. Bei einem einfühlsamen Elterngespräch soll     Besonders in Fällen in denen ein erstes „ungutes Gefühl“ be‐
auf die Inanspruchnahme von Hilfen hingewirkt werden, so‐       zogen auf das Wohl eines Kindes aufkommt, ist eine fachge‐
weit hierdurch der wirksame Schutz des jungen Menschen          rechte, strukturierte und vollständige Anamneseerhebung
nicht gefährdet wird. Erst wenn Gespräche mit den Sorgebe‐      wichtig. Handlungsleitende Fragestellung in solchen Fällen ist
rechtigten gescheitert sind, keine Hilfen angenommen wer‐       die nach der Plausibilität – passen die Verletzungen mit dem
den (können) oder durch das Vorgehen der Schutz des Kindes      angegebenen Entstehungsmechanismus zusammen (körperli‐
gefährdet ist, kann eine Datenübermittlung an den zuständi‐     che Misshandlung)? Hierzu sind im Folgenden einige mögli‐
gen Allgemeinen Sozialen Dienst des Jugendamtes erfolgen        che Fragen zusammengefasst, die in solchen Fällen hilfreich
[11]. Falls möglich sollte vor einer Meldung an das Jugend‐     sein können:
amt eine Beratung mit einer „insoweit erfahrenen Fachkraft“
in Anspruch genommen werden. Bei Vorliegen einer akuten          Gibt es Widersprüche zwischen Verletzung/
Kindeswohlgefährdung ist sofortiges Handeln erforderlich,         Krankheitsbild und dem geschilderten (Unfall‐) Ablauf?
gegebenenfalls auch ohne vorherige Information der Eltern.       Wird die Verletzung auffällig bagatellisiert?
                                                                 Wird behauptet, das Kind habe sich selbst verletzt?
                                                                 Liegt zwischen Verletzung und ärztlicher Vorstellung ein
                                                                  unerklärlich langer Zeitraum?
                                                                 Wechseln die Schilderungen zum Verlauf bei
                                                                  wiederholter Befragung?
                                                                 Gibt es Schuldzuweisungen an Dritte?
                                                                 Werden durch verschiedene Bezugspersonen
                                                                  unterschiedliche Versionen dargestellt?
                                                                 Zeigen Eltern Empathie für das Kind?
                                                                  Ist eine emotionale Verbundenheit spürbar?
                                                                 Gibt es noch weitere unerklärbare (ältere)
                                                                  Verletzungen?
                                                                 Fragen die Eltern nach (Untersuchungsergebnissen,
                                                                  Prognose)?
                                                                 Was fällt über das geschilderte medizinische Problem
Abbildung 4: Rechtliche Vorgaben für ein abgestuftes              hinaus noch beim Kind auf? (Zahnstatus, Zustand der
Verfahren gemäß Bundeskinderschutzgesetz (§4 KKG) [11]            Kleidung/Schuhe, Körperpflege, Verhalten des Kindes, In‐
überarbeitet durch Mery Herzog                                    teraktion mit Bezugsperson, Verhalten während der Un‐
                                                                  tersuchungssituation).
                                                                 Halten die Eltern Absprachen zum weiteren
                                                                  Behandlungsverlauf ein?

                                                                Einbezug der medizinischen Vorgeschichte:

                                                                 Wie verlief die Schwangerschaft?
                                                                  Gab es perinatale Probleme?
                                                                 Gab es frühere Erkrankungen, Verletzungen,
                                                                  chronische Erkrankungen, Gedeihstörungen?
                                                                 Wurden Vorsorgeuntersuchungen wahrgenommen?
                                                                 Gibt es familiäre Belastungen mit
                                                                  Blutgerinnungsstörungen?

                                                                                                                           13
Ergeben sich erste Hinweise auf eine mögliche Kindeswohlge‐       zwischen Wahrnehmung, Beobachtung, objektiven Fak‐
fährdung ist eine erweiterte Sozialanamnese ergänzend sehr         ten, Interpretationen, handlungsauslösenden Bewertun‐
hilfreich. Als mögliche Inhalte für Fragestellungen können die     gen klar zu trennen [12].
unter 3. genannten Anhaltpunkte genutzt werden. Alle der          für medizinische Fachkräfte gelten zusätzlich Standards
oben dargestellten Fragen sollten zudem unter Beachtung            für die (Foto‐)Dokumentation von Verletzungen und
des Entwicklungsstandes und der Fähigkeiten des Kindes be‐         Krankheitsbildern. In den Dresdner Kliniken findet hierzu
wertet werden.                                                     die „Rote Mappe“ Anwendung (siehe 8. Weiterführende
                                                                   Informationen Seite 35).
Klinische Untersuchung und Diagnostik
Sollten Sie eine Kindeswohlgefährdung (körperliche Miss‐
handlung) vermuten, ist eine sensible aber auch vollständige
Ganzkörperuntersuchung des gänzlich entkleideten Kindes          4.2 Gefährdungseinschätzung –
erforderlich, welche gründlich zu dokumentieren ist. Neben
der Beurteilung und Behandlung der Verletzung, weswegen          Beratung durch eine insoweit
das Kind vorgestellt wird, sollte sich das Augenmerk auch auf    erfahrene Fachkraft
frühere oder zusätzlich vorliegende Verletzungen richten ‐
insbesondere dann, wenn Eltern diese nicht ansprechen. Er‐       Für Fachkräfte, die Leistungen nach dem SGB VIII erbringen,
gänzend dazu sollten orientierend der aktuelle psychische        ist die Hinzuziehung einer insoweit erfahrenen Fachkraft zur
Befund beziehungsweise der psychosomatische Entwick‐             Gefährdungseinschätzung gemäß § 8a SGB VIII bindend. Per‐
lungsstand dokumentiert werden. Zusammenfassend sollten          sonen, die beruflich mit Kindern und Jugendlichen in Kontakt
folgende klinischen Parameter in Verdachtsfällen auf körper‐     stehen, jedoch nicht nach dem SGB VIII arbeiten (Ärztinnen
liche Misshandlung abgeprüft werden:                             und Ärzte, Hebammen und Entbindungspfleger, Psychologin‐
                                                                 nen und Psychologen, Fachkräfte in der Schwangerenbera‐
 vollständigen Status erheben (körperlich, neurologisch,        tung oder auch Lehrerinnen und Lehrer,) haben ebenfalls ei‐
  anogenital, Prädilektionsstellen beachten)                     nen Anspruch auf eine solche Beratung bei der Gefährdungs‐
 Wachstumsparameter beachten (Körpergewicht,                    und Ressourceneinschätzung. Im § 4(2) Gesetz zur Koopera‐
  ‐länge, Kopfumfang, Perzentilenverlauf)                        tion und Information im Kinderschutz ist der Anspruch auf
 Befundsicherung bei frischen Bissverletzungen                  Beratung bei der Gefährdungseinschätzung durch eine inso‐
  (eventuell rechtsmedizinische Abklärung)                       weit erfahrene Fachkraft und die erforderliche pseudonymi‐
 Einbezug des Verhaltens/der Aussagen                           sierte Datenübermittlung an diese formuliert.
  (keine Suggestivfragen, wenn möglich wörtlich                  Eine „insoweit erfahrene Fachkraft“ muss eine pädagogische
  dokumentieren)                                                 Ausbildung gemäß Fachkräftegebot § 72 SGB VIII und min‐
 Geschwisterkinder mit in den Blick nehmen                      destens drei Jahre einschlägige Berufserfahrung in der fallbe‐
  (falls möglich, ebenfalls untersuchen) [11].                   zogenen Kinderschutzarbeit haben. Sie fungiert als Verfah‐
                                                                 rensexpertin für die Gefährdungseinschätzung einer
Dokumentation                                                    Kindeswohlgefährdung, unterstützt bei der Erstellung eines
In allen Verdachtsfällen muss eine zeitnahe und detaillierte     Schutzplans und regt die Nutzung weiterführender Hilfen an
Dokumentation aller Handlungsschritte der Gefährdungsein‐        beziehungsweise kann hierzu mögliche hilfreiche Netzwerk‐
schätzung im fachlichen Austausch erfolgen. Eine gut ge‐         partner benennen. Sie führt jedoch keine persönlichen Ge‐
führte Krankenakte ist die Grundlage für das gegebenenfalls      spräche mit den Sorgeberechtigten durch oder übernimmt
notwendige weitere Handeln und kann zur Vorbereitung ei‐         die Fallverantwortung. Diese verbleibt bei der anfragenden
nes Elterngespräches sehr hilfreich sein. Darüber hinaus kann    Stelle.
sie auch zu einem späteren Zeitpunkt Bestandteil eines Er‐
mittlungsverfahrens werden. Damit die Dokumentation einer        Rückmeldungen aus dem Bereich der Medizin haben gezeigt,
vermuteten Kindeswohlgefährdung beziehungsweise der              dass Schwierigkeiten bei der Inanspruchnahme einer Bera‐
Verfahrensweise zum Schutzauftrag im Nachhinein einer ge‐        tung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft oft darin beste‐
richtlichen Überprüfung standhält, ist es wichtig:               hen, dass sich die Fachkräfte der Kinder‐ und Jugendhilfe und
                                                                 der Medizin mit der gegenseitigen Fachsprache nicht gut aus‐
 Befunde gut leserlich und zuordenbar zu verfassen,             kennen. Durch diese erschwerte Kommunikation kann es zu
 Personen, Zeiten, Orte und Umstände möglichst genau zu         Missverständnissen kommen. Vor diesem Hintergrund wurde
  dokumentieren (Datum, Uhrzeit und anwesende Perso‐             die medizinische Kinderschutzhotline (Telefon: 0800 19210 00)
  nen bei der Befunderhebung, allgemeiner Pflegezustand,         als ein bundesweites, kostenfreies und 24 Stunden erreichba‐
  Diskrepanzen zwischen Körperkonstitution und altersent‐        res telefonisches Beratungsangebot für Angehörige der Heil‐
  sprechend zu erwartendem Entwicklungsstand),                   berufe bei Verdachtsfällen von Kindesmisshandlung, Ver‐
 Lokalisation, Farbe, Art, Größe, Formung, Zeichen der          nachlässigung und sexuellem Kindesmissbrauch eingerichtet
  Wundheilung und Gruppierung von Verletzungen zu                [9]. In der Landeshauptstadt Dresden bietet auch die Fach‐
  dokumentieren,                                                 gruppe Kinderschutz der Abteilung Kinder‐ und Jugendge‐
 Zur Skizzierung ein Körperschema zu verwenden                  sundheit am Gesundheitsamt § 8a SGB VIII Beratungen durch
  (siehe Anlage 2),                                              eine insoweit erfahrene Fachkraft aus dem Bereich der Ge‐
 (Falls möglich) Verletzungen auszumessen                       sundheitshilfe an (siehe 6.1, Seite 20). Weitere insoweit er‐
  (Skizze mit Messung oder mit Maßstab fotografieren),           fahrene Fachkräfte der Stadt Dresden, welche für eine Bera‐
 Handlungsschritte nachvollziehbar darzustellen,                tung ebenfalls angefragt werden können, finden Sie unter
                                                                 www.dresden.de/kinderschutz → Zugang für Fachkrä e →
                                                                 Fachkräfteliste oder www.kinderschutzmedizin‐sachsen.de
                                                                 → Kinderschutz in der Niederlassung → Insoweit erfahrene
                                                                 Fachkräfte.

14
4.3 Empfehlungen bei Notfällen –                                    4.4 Empfehlungen bei
akute Kindeswohlgefährdung                                          latenter Kindeswohlgefährdung
Bei einer akuten Kindeswohlgefährdung liegen gewichtige             Als latente Kindeswohlgefährdung gelten Probleme, die zwar
Anhaltspunkte für eine unmittelbare Gefahr für Leib und Le‐         keine unmittelbare (Lebens‐)Gefahr darstellen, jedoch lang‐
ben des Kindes vor. Eine akute Gefährdung ist auch dann ge‐         fristig negative Auswirkungen auf das Wohl des Kindes haben
geben, wenn die Betreuungspersonen aktuell den altersge‐            können. Sorgeberechtigte können zum Beispiel soziale und
rechten Schutz und das Wohl des Kindes nicht gewährleisten          materielle Missstände nicht selbst kompensieren und benöti‐
können.                                                             gen Unterstützung bei der Problembewältigung. Gewichtige
                                                                    Anhaltspunkte sind neben der Beurteilung der körperlichen
Hilfreich ist hier die Möglichkeit, eine Einweisung in die Klinik   und psychischen Gesundheit des Kindes auch die Einschät‐
zu veranlassen. Eine vorherige Information an die Kinder‐           zung der Fähigkeit der Eltern zu Empathie, Kommunikation
schutzgruppen des Uniklinikums beziehungsweise des Städti‐          und angemessenem Verhalten gegenüber dem Kind.
schen Klinikums Dresden sollte erfolgen und die Familie vor‐
her telefonisch in der Klinik angemeldet werden. Durch die          Der Gesundheitsstatus der Eltern sowie eine mögliche beson‐
Ärztin/den Arzt ist in diesem Fall zu beurteilen, ob die Eltern     dere Belastungssituation der Familie sollten genauso mit be‐
kooperativ und ausreichend kompetent sind, das Kind selbst‐         dacht werden, wie der Umgang mit gesundheitlicher Vor‐
ständig in der Klinik vorzustellen. Mit einem Kontrollanruf, ob     sorge und Behandlung. Erhöhte Vorsicht ist bei gehäuftem
die Eltern in der Klinik angekommen sind, ist der Fall überge‐      Arztwechsel „Ärzte‐Hopping“ ohne plausiblen Grund, einer
ben und die Intervention zunächst beendet.                          wechselnden/widersprüchlichen Anamnese oder einer zeit‐
                                                                    lich verzögerten Vorstellung des Kindes bei Verletzungen ge‐
Wird bekannt, dass die Familie dort nicht angekommen ist,           boten. Die Umsetzung medizinischer Empfehlungen durch
muss eine sofortige Meldung an den ASD des Jugendamtes              die Sorgeberechtigten ist ein weiterer Indikator, der durch
(Kontakte siehe 5.3, Seite 16) oder den Kinderschutznotruf          unbedingt empfohlene Wiedereinbestellung überprüft wer‐
des Jugendamtes erfolgen (Kinderschutznotruf rund um die            den sollte (DRANBLEIBEN). Der Schutz des Kindes muss zu je‐
Uhr unter Telefon: (03 51) 2 75 40 04). Wird eingeschätzt,          dem Gesprächstermin neu abgeklärt werden (siehe Anlage
dass die Eltern nicht in der Lage sind, das Kind sicher in der      3 – Schaubild: Vorgehen bei Verdacht auf Kindeswohlgefähr‐
Klinik vorzustellen, ist der ASD des Jugendamtes ebenfalls so‐      dung).
fort zu informieren. Gegebenenfalls kann die Zuführung in
die Klinik mittels Notarztwagen erfolgen.                           Werden die Eltern als nicht ausreichend kompetent und ko‐
                                                                    operativ eingeschätzt, muss entschieden werden, ob der ASD
                                                                    des Jugendamtes zu involvieren ist. Die Eltern müssen bei ei‐
                                                                    ner Meldung an den ASD des Jugendamtes, außer bei Beste‐
                                                                    hen einer unmittelbaren Gefahr für Leib und Leben,
                                                                    zuvor informiert werden.

                                                                    Als Unterstützung in einem Kinderschutzfall sind unter den
                                                                    Punkten 5. bis 7. in dieser Broschüre Notfallnummern sowie
                                                                    Kontaktdaten wichtiger Ansprechpartner und Beratungsan‐
                                                                    gebote der Stadt Dresden zusammengestellt.

                                                                    Die wichtigsten Punkte zum Vorgehen im Kinderschutzfall fin‐
                                                                    den Sie kompakt auf der Kitteltasche der Kinderschutzhotline
                                                                    zusammengefast. (siehe Anlage 6).

                                                                    Hinweise zum Elterngespräch im Kinderschutzfall sind in der
                                                                    Übersicht im „Elterngespräche im medizinischen Kinder‐
                                                                    schutz“ (Anlage 4) zu finden.

                                                                    Eine umfassende Zusammenstellung zu rechtlichen Grundla‐
                                                                    gen im Kontext Kinderschutz in der Medizin kann über das
                                                                    Fachkräfteportal „Kinderschutzmedizin in Sachsen“ unter:
                                                                    www.kinderschutzmedizin‐sachsen.de → Fachhinweise →
                                                                    Rechtliche Grundlagen (https://ssl.nojata.de/kinderschutz‐
                                                                    medizin‐sachsen/fachhinweise/gesetzliche‐grundlagen)
                                                                    abgerufen werden.

                                                                                                                              15
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