Handlungsempfehlung bei Kindeswohlgefährdung - für Fachkräfte des Gesundheitswesens - Dresden.de
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Inhalt Einleitung 4 6. Angebote des Gesundheitsamtes Dresden, Abteilung Kinder‐ und Jugendgesundheit 20 1. Wichtige Begrifflichkeiten 5 6.1 Fachgruppe Kinderschutz 20 6.2 Frühe Gesundheitshilfen 20 2. Aktuelle Datenlage 7 6.3 Kinder‐ und Jugendzahnklinik 21 6.4 Kinder‐ und Jugendärztlicher Dienst 21 3. Gewichtige Anhaltspunkte für das Vorliegen 6.5 Kinder‐ und Jugendpsychiatrischer Dienst in den Bera‐ einer Kindeswohlgefährdung 9 tungsstellen für Kinder, Jugendliche und Familien 22 3.1 Anhaltspunkte beim Kind/Jugendlichen 9 3.2 Anhaltspunkte in Familie und Lebensumfeld 9 7. Weitere Ansprechpartner und 3.3 Exkurs – Erfahrungen und Themen aus der Kinderschutz‐ thematische Beratungsangebote 23 arbeit der Abteilung Kinder‐ und Jugendgesundheit 10 7.1 Angebote für Schwangere und Hilfen für Eltern nach der Geburt 23 4. Handlungsschritte bei Verdacht auf Vorliegen 7.1.1 Allgemeine Beratungsangebote/Frühe Hilfen 23 einer Kindeswohlgefährdung 13 7.1.2 Angebote bei Regulationsstörungen 4.1 Gefährdungsmomente wahrnehmen, (auch Schreibabys) 24 Datenerhebung und ‐sicherung 13 7.1.3 Angebote bei psychischen Problemen/Erkrankungen 24 4.2 Gefährdungseinschätzung – Beratung durch 7.1.4 Angebote bei Suchtproblematiken 25 eine insoweit erfahrene Fachkraft 14 7.2 Angebote der Familien‐ und Erziehungsberatung 25 4.3 Empfehlungen bei Notfällen – 7.3 Angebote der Familienbildung/Familienzentren 26 akute Kindeswohlgefährdung 15 7.4 Angebote bei Gewalterfahrungen 4.4 Empfehlungen bei latender Kindeswohlgefährdung 15 und sexuellem Missbrauch 26 7.5 Angebote für Kinder mit Entwicklungs‐ 5. Notfallnummern 16 besonderheiten/Förderbedarfen 27 5.1 Kinderschutznotruf des Jugendamtes Dresden 16 7.6 Angebote bei Suchtproblematiken 28 5.2 Jugendamt Dresden 16 7.7 Angebote für Menschen mit psychischen Problemen/Erkrankungen 28 5.3 Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD) des Jugendamtes Dresden 16 7.7.1 Für Kinder und Jugendliche 28 5.4 Kinder‐ und Jugendnotdienst 7.7.2 Für Erwachsene 29 des Jugendamtes Dresden 16 7.8 Angebote für Menschen in Notlagen/ 5.5 Rettungsleitstelle/Notarzt 17 Alleinerziehende/Hilfen für Bedürftige 30 5.6 Polizei 17 7.9 Schuldner‐ und Insolvenzberatungsstellen 31 5.7 Polizeidirektion Dresden, Kriminalpolizei 17 7.10 Angebote für Menschen mit Migrationshintergrund und Asylsuchende 32 5.8 Giftnotruf/Giftinformationszentrum 17 5.9 Institut für Rechtsmedizin am 7.11 Angebote der Jugendgerichtshilfe und andere Rechtsberatungen 33 Universitätsklinikum Carl Gustav Carus 17 7.12 Hilfen zum Umgang mit Verlust und Trauer 34 5.10 Babyklappe/Mütternotruf 17 5.11 Hilfen bei häuslicher Gewalt 17 8. Weiterführende Informationen 35 5.12 Krankenhäuser 18 5.13 Kassenärztlicher Bereitschaftsdienst/Notfallpraxen 18 9. Literaturverzeichnis 36 5.14 Medizinische Kinderschutzgruppen der Kliniken 18 5.15 Medizinische Kinderschutzhotline 19 5.16 Hans & Gretel – App zur Erkennung und Vorgehensweise Anlagen 37 bei Kinderschutzfällen in der Medizin 19 3
Einleitung Mit der Einführung des Bundeskinderschutzgesetzes wurde Ergänzend dazu steht die App „Hans und Gretel“ zur Ver‐ das Thema Kinderschutz als eine gemeinsame, kontinuierli‐ fügung. Sie ist eine in Kooperation zwischen der Sächsi‐ che und gesetzlich verpflichtende Aufgabe aller Professionen, schen Landesärztekammer (SLÄK), dem Fachkräfteportal die mit Kindern und Familien arbeiten, definiert. Die Einrich‐ Kindeschutzmedizin in Sachsen und der Techniker Kran‐ tung der Arbeitsgemeinschaft Kinderschutz in der Medizin kenkasse entwickelte Anwendung zur Prävention, Diag‐ e. V. (AG‐KiM) (2016 in die Deutsche Gesellschaft für Kinder‐ nose und Dokumentation von Häuslicher Gewalt und Ge‐ schutz in der Medizin e. V. (DGKiM) umbenannt) und die Ent‐ walt in der Familie für Ärztinnen und Ärzte. Die wicklungen im Bereich der Frühen Hilfen (zum Beispiel durch kostenlose Registrierung erfolgt über den Fortbildungs‐ die Etablierung der Familienhebammen/Familienkinderkran‐ code der SLÄK: www.hansundgretel.help kenschwestern) unterstreichen die wachsende Bedeutung Ein telefonisches Beratungsangebot bei Kinderschutzfra‐ des Kinderschutzes auch in der Medizin. Zum 1. September gen für medizinisches Fachpersonal bietet die deutsch‐ 2016 trat die Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschus‐ landweite Kinderschutzhotline: ses über die Früherkennung von Krankheiten bei Kindern bis www.kinderschutzhotline.de (Telefon: 0800 19 21 00 0) zur Vollendung des sechsten Lebensjahres in Kraft. Ärztinnen Unter www.elearning‐kinderschutz.de ist die Klinik für und Ärzte sind seitdem verpflichtet, bei der Durchführung Kinder‐ und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie am Uni‐ der Früherkennungsuntersuchungen U1 bis U9 verstärkt auf versitätsklinikum Ulm im Feld der Erstellung webbasier‐ die Interaktion zwischen Kind und Eltern zu achten. ter Weiterbildungsangebote zu Themen aus dem Bereich Auf Grundlage dieser Beobachtungen sollen zusätzlicher Be‐ Kinderschutz aktiv. ratungsbedarf dokumentiert und geeignete (Frühe) Hilfen Seit Februar 2019 steht die Handlungsempfehlung der empfohlen werden. Ein frühzeitiges Erkennen von Unterstüt‐ AWMF S3‐Leitlinie Kindermisshandlung, ‐missbrauch und zungsbedarfen beziehungsweise potenziellen Gefährdungsla‐ ‐vernachlässigung zur Verfügung. Alle Informationen und gen bleibt jedoch wirkungslos, wenn die beobachtende Per‐ Materialien zur Kinderschutzleitlinie finden Sie unter: son keine ausreichenden Kenntnisse über die unter‐ www.kinderschutzleitlinie.de stützenden Infrastrukturen vor Ort besitzt, um diese Familien an das bestehende Netzwerk weiterzuvermitteln. Die Strukturen der Kinder‐ und Jugendhilfe bieten auch eine Vielzahl von Materialien. Mit der sechsten Auflage der Handlungsempfehlung bei Kin‐ deswohlgefährdung liegt eine aktualisierte Broschüre zu den Das Netzwerk Kinderschutz und Frühe Hilfen des Jugend‐ vielfältigen Unterstützungsangeboten in der Landeshaupt‐ amtes Dresden hat einen Onlineauftritt eingerichtet. Un‐ stadt Dresden vor. Die Material‐ und Kontaktsammlung rich‐ ter www.dresden.de/kinderschutz finden Fachkräfte aus tet sich dabei insbesondere an Fachkräfte aus dem Gesund‐ Kinder‐ und Jugendhilfe, Gesundheits‐ und Sozialwesen, heitswesen. Der Anspruch dieser Handlungsempfehlung ist Schule, Polizei oder Justiz weiterführende Informationen es nicht, eine allumfassende Abhandlung dieses Themenbe‐ und entsprechende Arbeitsmaterialien zu den Themen reiches zu liefern, sondern gezielt an der Schnittstelle von Kinderschutz, Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung. Medizin und Jugendhilfe in Dresden wirksam zu werden und Die Koordinierungsstellen für das Netzwerk Kinderschutz zur besseren Vernetzung dieser zwei Hilfesysteme beizutra‐ und Frühe Hilfen sind Ansprechpartner für alle Fragen gen. Hierzu werden zunächst die grundlegenden Begriffe und zum Kinderschutz (Telefon: (03 51) 4 88 46 28 oder rechtlichen Regelungen kurz vorstellt und anschließend wich‐ 4 88 46 72, E‐Mail: netzwerk‐kinderschutz@dresden.de) tige Netzwerkpartner und zentrale Akteure innerhalb der Der Dresdner Kinderschutzordner ist eine Sammlung von Landeshauptstadt aufgeführt. Informationen, Arbeitsmaterialien und Eine Neuauflage der Broschüre ist für 2021 geplant. Bis dahin Orientierungshilfen zum Thema. auftretende Änderungswünsche für den Kontaktteil können Abrufbar unter: www.dresden.de/kinderschutz an gesundheitsamt‐kjg@dresden.de gesendet werden. Abschließend bedankt sich die Fachgruppe Kinderschutz des Neben dieser Informationssammlung gibt es weitere Gesundheitsamtes bei allen Kooperationspartnern der Möglichkeiten, sich über den medizinischen Kinderschutz Medizin und Kinder‐ und Jugendhilfe für die gute und und Angebote der Jugendhilfe in Dresden zu informieren: vertrauensvolle Zusammenarbeit. Insbesondere in herausfordernden Kinderschutzfällen ist ein gemeinsames Das sachsenweite Informationsportal für Fachkräfte des Agieren aller beteiligten Akteure Grundlage für eine stationären und ambulanten Gesundheitswesens zum dauerhafte Sicherung des Kindeswohls. Thema Kinderschutz ist unter der Internetadresse www.kinderschutzmedizin‐sachsen.de1 zu erreichen. 1 Trotz sorgfältiger inhaltlicher Kontrolle wird keine Haftung für die Inhalte externer Links übernommen. Für den Inhalt der verlinkten Seiten sind ausschließlich deren Betreiber verantwortlich. 4
1. Wichtige Begrifflichkeiten Trotz aller Bemühungen der letzten Jahre ist es bislang nicht Grundbedürfnisse von Kindern nach T. Berry Brazelton gelungen, sich auf deutschlandweit einheitliche Definitionen und Stanley I. Greenspan (2002): oder eine gemeinsame professionsübergreifende Sprache im Kontext Kinderschutz zu verständigen. Scheinbar gleiche Be‐ Bedürfnis nach beständiger liebevoller Beziehung griffe werden sehr unterschiedlich definiert und ausgelegt. Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit, So wird der Begriff der Kindeswohlgefährdung im Kontext der Sicherheit und Regulation Jugendhilfe eher als Prognosefrage verstanden, wo hingegen Bedürfnis nach Erfahrungen, die auf individuelle im Gesundheitswesen eher die Fragestellung bestimmter Unterschiede zugeschnitten sind Missbrauchs‐, Misshandlungs‐ oder Vernachlässigungsspuren Bedürfnis nach entwicklungsgerechten Erfahrungen als die Feststellung von Kindeswohlgefährdung angesehen Bedürfnis nach Grenzen und Strukturen wird [1]. Die im Folgenden genannten Begrifflichkeiten orien‐ Bedürfnis nach stabilen, unterstützenden tieren sich an den derzeit in der juristischen beziehungsweise Gemeinschaften und kultureller Kontinuität sozialwissenschaftlichen Literatur genutzten Definitionen Bedürfnis nach einer sicheren Zukunft für die und ergänzt diese um die medizinische Sichtweise. Menschheit [3] Kindeswohl Kinderschutz Der Begriff des Kindeswohls ist ein unbestimmter Rechtsbe‐ Der Gesetzgeber geht von einem weiten Kinderschutzbegriff griff. In den Gesetzmäßigkeiten finden sich daher keine ab‐ aus. Dieser verbindet den Schutz des Wohles von Kindern schließenden Definitionen hierzu. Aus sozialwissenschaftli‐ und Jugendlichen mit der Förderung der körperlichen, geisti‐ cher Sicht wird Kindeswohl als ein anhaltender Zustand gen und seelischen Entwicklung. Grundsätzlich betreffen altersgerechter und gesunder körperlicher, seelischer und Maßnahmen zum Kinderschutz alle Minderjährigen im Sinne geistiger Entwicklung von Kindern und Jugendlichen be‐ des Bürgerlichen Gesetzbuches. Der Schutz eines Kindes ob‐ schrieben [2]. Grundlage für das Wohl eines Kindes bezie‐ liegt zu allererst den Eltern beziehungsweise den Erziehungs‐ hungsweise Jugendlichen ist die angemessene Reaktion der beauftragten (Elternverantwortung). Erst wenn diese, aus un‐ Sorgeberechtigten und weiterer Bezugspersonen auf deren terschiedlichen Gründen, ihren Schutzauftrag nicht gerecht Bedürfnisse. Ein am Wohl des Kindes ausgerichtetes Handeln werden können oder wollen, greift der öffentliche Jugendhil‐ ist demnach dasjenige, welches sich an den Grundrechten feträger (staatliches Wächteramt) ein. und Grundbedürfnissen von Kindern orientiert und für das Kind jeweils die günstigste Handlungsalternative wählt [3]. Angelehnt an die Ausführungen des Deutschen Jugendinsti‐ Orientierung zum Thema Grundbedürfnisse ist in verschiede‐ tutes (DJI) nutzt auch das Nationale Zentrum Frühe Hilfen nen sozialwissenschaftlichen Modellen zu finden. (NZFH) einen extensiven Kinderschutzbegriff, welcher das ge‐ Zum Beispiel in der „Bedürfnispyramide“ des amerikanischen samte Spektrum der Prävention, Diagnostik und Intervention Psychologen Abraham H. Maslow (1983) oder dem Bedürf‐ umfasst. Zum Kinderschutz gehören demnach alle organisier‐ nismodell des amerikanischen Kinderarztes T. Berry Brazel‐ ten Aktivitäten, die dazu dienen, Fälle von Kindeswohlgefähr‐ ton und des Kinder‐ und Jugendpsychiaters und Psychoanaly‐ dung zu erkennen und zu handhaben. Darüber hinaus gelten tikers Stanley I. Greenspan (2002). alle Formen psychosozialer und sozialmedizinischer Unter‐ stützung von Familien, die darauf abzielen, der potenziellen Entstehung einer Kindeswohlgefährdung entgegenzuwirken, als Kinderschutzmaßnahmen. Nach diesem Verständnis sind auch Maßnahmen der allgemeinen Förderung und der Frü‐ hen Hilfen als Zugang zu einem präventiven Kinderschutz relevant [5]. Kindeswohlgefährdung Der Begriff der Kindeswohlgefährdung stellt keinen objekti‐ vierbaren Sachverhalt, sondern ein normatives und rechtli‐ ches Konstrukt – einen sogenannten unbestimmten Rechts‐ begriff – dar. Juristisch besteht eine Kindeswohlgefährdung, Abbildung 1: Pyramide einer gesunden kindlichen wenn das Verhalten von Eltern oder anderen Personen, wel‐ Entwicklung (nach Maslow 1983). [4] bearbeitet durch che die Fürsorge für Kinder übernehmen, „in einem solchen Mery Herzog 5
Ausmaß in Widerspruch zu körperlichen, geistigen, seeli‐ In der Praxis lassen sich die Begriffe häufig nicht immer ein‐ schen und erzieherischen Bedürfnissen eines Kindes oder Ju‐ deutig voneinander unterscheiden. Oft liegen auch mehrere gendlichen steht, dass mit ziemlicher Sicherheit eine erhebli‐ Formen einer Kindeswohlgefährdung zeitgleich vor. Beson‐ che Beeinträchtigung in der Entwicklung des Kindes droht“ ders die die Einschätzung bzw. Bewertung von Vernachlässi‐ [4]. gung gestaltet sich schwierig. In jedem Fall bedarf es zur Ab‐ klärung, ob eine Kindeswohlgefährdung besteht, einer interpretativen Bewertung jedes Einzelfalls durch mehrere Abbildung 2: Übersicht zu Formen der Kindeswohlgefährdung Fachkräfte und falls möglich, die Hinzuziehung einer insoweit angelehnt an: Kinder in guten Händen. Praxishandbuch zur erfahrenen Fachkraft (siehe 4.2, Seite 13). Die letztendliche präventiven Kinderschutzarbeit für Kindertageseinrichtungen Entscheidung, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, trifft und Kindertagespflege. DKSB Landesverband Sachsen e. V. das zuständige Jugendamt im Rahmen der Abprüfung einer 2012, verändert durch Katja Sturm [9] Meldung. Kindeswohlgefährdung Vernachlässigung Erziehungsgewalt und Sexualisierte Gewalt Häusliche Gewalt Misshandlung Körperliche Vernachlässigung Körperliche Erziehungsgewalt Körperliche sexualisierte Gewalt Gewaltformen zwischen den zum Beispiel: Kurzzeitige Formen der körperli‐ Körperliche Handlungen mit und Erziehungspersonen, die Kinder unzureichende Versorgung chen Gewalt als Erziehungsmaß‐ ohne Körperkontakt. beobachten, sehen oder/und mit Nahrung, Flüssigkeit, nahme. zum Beispiel: miterleben witterungsangemessener zum Beispiel: Küssen zum Beispiel: Kleidung Klaps auf den Mund Manipulieren der das Miterleben von Schlagen, unzureichende Hygiene Ohrfeigen Geschlechtsorgane Treten, Würgen, Erniedrigen, oder/und medizinische hartes Anpacken des Kindes Sexualverkehr Drohen und Einsperren unter Versorgung Zuschauen bei der den Erwachsenen, das Miterle‐ unzureichender Raum zum Seelische Erziehungsgewalt Selbstbefriedigung ben vom Zwang zu sexuellen Spielen und Schlafen Kurzzeitige Formen der seelischen Handlungen unter den Gewalt als Erziehungsmaßnahme. Seelische sexualisierte Gewalt Erwachsenen, das Miterleben Erzieherische und kognitive zum Beispiel: zum Beispiel: einer Vergewaltigung unter Vernachlässigung Anschreien anzügliche oder beleidigende den Erwachsenen zum Beispiel: kurzzeitige extreme verbale Bemerkungen und Witze über fehlende Kommunikation Ablehnung den Körper oder die Sexualität Sonderformen der fehlende erzieherische eines Kindes häuslichen Gewalt Einflussnahme Körperliche Misshandlung altersunangemessene zum Beispiel: fehlende Anregungen zur Mit Absicht Verletzungen herbei‐ Gespräche über Sexualität Kind wurde durch eine altersgerechten Entwicklung führen und Folgen bewusst Zugänglichmachen von porno‐ Vergewaltigung durch Eltern in Kauf nehmen. grafischen Darstellungen gezeugt Emotionale Vernachlässigung zum Beispiel: Kind wächst in einer zum Beispiel: Schläge und Tritte Sonderformen der Atmosphäre von Gewalt Mangel an Geborgenheit Verbrennungen sexualisierten Gewalt im Elternhaus auf und Wertschätzung Vergiftungen zum Beispiel: Mangel an liebevollem Schütteln des Kindes pornografische Ausbeutung Verhalten Einklemmen von Kindern Kinderprostitution Unzureichende Aufsicht Seelische Misshandlung sexualisierte Gewalt in den zum Beispiel: Verhaltensweisen, die dem Kind neuen Medien Alleinlassen des Kindes das Gefühl geben, es sei wertlos, im und außerhalb des ungewollt oder schlecht. Wohnraumes zum Beispiel: Verspotten oder Beschimpfen Abwerten des Kindes Stigmatisierung als Sündenbock Isolierung oder Einsperren des Kindes Kind zu strafbaren oder selbstzerstörerischen Verhalten veranlassen Überbehütung 6
2. Aktuelle Datenlage Mit der Einführung des Bundeskinderschutzgesetzes wurde (23,4 Prozent der Verfahren). Bei 13,5 Prozent kamen die die statistische Erfassung der Gefährdungseinschätzung in‐ Hinweise von Schulen oder Kindertageseinrichtungen. Be‐ folge einer Meldung für die Träger der öffentlichen Kinder‐ kannte oder Nachbarn meldeten in 11,2 Prozent der Fälle und Jugendhilfe verpflichtend. Exakte Zahlen, wie viele Kin‐ und gut jeden zehnten Hinweis (10,6 Prozent) erhielten die der und Jugendliche in Deutschland unter kindeswohlgefähr‐ Jugendämter anonym [7]. denden Umständen aufwachsen, gibt es dennoch nicht. Die Statistiken der Jugendämter geben hierzu nur einen ersten Einblick in die Höhe der Fallzahlen. Es muss von einem hohen Daten zum Kinderschutz der Dunkelfeld ausgegangen werden. Auch Forschungen zu den Folgen von Kindesvernachlässigung und ‐misshandlung sowie Landeshauptstadt Dresden die zur Wirksamkeit von Kinderschutzmaßnahmen stehen noch am Anfang [5]. Nichts desto trotz lassen erste Studien Im Jahr 2017 hat der Allgemeine Soziale Dienst des Jugend‐ zur Prävalenz oder zur frühen Programmierung von Krankheit amtes Dresden 1530 Verdachtsmeldungen auf Kindeswohlge‐ und Gesundheit Rückschlüsse auf gesundheitliche Folgen von fährdung (bis vollendetes 17. Lebensjahr) erhalten. Rund 51 belastenden Faktoren in der Kindheit zu. Prozent davon entfielen auf die Altersgruppe bis sechs Jahre, was die Bedeutung der Frühen Hilfen unterstreicht. In 17,32 Prozent aller 1530 Verdachtsmeldungen wurde nach Abprü‐ fung dieser durch die Teams des Allgemeinen Sozialen Diens‐ Bundesweite statistische Betrachtung tes (ASD) eine akute Kindeswohlgefährdung festgestellt. Eine latente Kindeswohlgefährdung lag in 74,44 Prozent der Das Statistische Bundesamt (Destatis) teilte in seiner Presse‐ Fälle vor. Keine Gefährdung wurde in 8,23 Prozent festge‐ meldung Nr. 344 mit, dass die deutschen Jugendämter im stellt. Die meisten Verdachtsmeldungen gingen mit 14,83 Jahr 2017 rund 143.300 Verfahren zur Einschätzung der Ge‐ Prozent im ASD Prohlis ein, gefolgt vom ASD Plauen mit fährdung des Kindeswohls durchführten. Bei rund 21.700 die‐ 13,27 Prozent, ASD Pieschen mit 13,10 Prozent und 13,07 ser Verfahren bewerteten die Jugendämter den Fall eindeu‐ Prozent im ASD Gorbitz. tig als Kindeswohlgefährdungen („akute Kindeswohl‐ Werden die Anzahl der Meldungen ins Verhältnis zu den im gefährdung“). Bei weiteren 24.100 Verfahren konnte eine Ortsamtsbereich lebenden Kindern und Jugendlichen gesetzt, Gefährdung des Kindes nicht ausgeschlossen werden („la‐ rücken neben Gorbitz, die Stadtteile Prohlis und Plauen in tente Kindeswohlgefährdung“). In rund 48.900 Fällen kamen den Vordergrund, gefolgt von Leuben und Pieschen. 2017 die Fachkräfte des Jugendamtes zu dem Ergebnis, dass zwar wurden Meldungen am häufigsten durch die Polizei an den keine Kindeswohlgefährdung, aber ein weiterer Hilfe‐ oder ASD des Jugendamtes Dresden übergeben (15,71 Prozent). Unterstützungsbedarf besteht. Weitere Gruppen waren mit 10,52 Prozent anonyme Melder, Die meisten der rund 45.700 Kinder, bei denen eine akute gefolgt von Schulen (9,84 Prozent) und den Leistungserbrin‐ oder latente Kindeswohlgefährdung vorlag, wiesen Anzei‐ gern in laufenden Hilfen zur Erziehung (9,53 Prozent). chen von Vernachlässigung auf (60,8 Prozent). In 29,6 Pro‐ Alle Meldungen von Ärztinnen und Ärzten, Kliniken und zent der Fälle wurden Anzeichen für psychische Misshandlun‐ Gesundheitsamt lagen bei 8 Prozent [7]. gen festgestellt wie beispielsweise Demütigungen, Einschüchterung, Isolierung und emotionale Kälte. Etwas sel‐ tener (26,0 Prozent) wiesen die Kinder Anzeichen für körper‐ liche Misshandlung auf. Anzeichen für sexuelle Gewalt wur‐ Studien zum Dunkelfeld – Prävalenz den in 4,5 Prozent der Fälle von Kindeswohlgefährdung von Misshandlungen und Missbrauch festgestellt. Mehrfachnennungen waren hierbei möglich. Die Gefährdungseinschätzungen wurden ungefähr gleich häufig in Deutschland für Jungen und Mädchen durchgeführt. Kleinkinder waren bei den Verfahren besonders betroffen. Fast jedes vierte Witt et al. (2017) haben anhand des Childhood Trauma Ques‐ Kind (23,2 Prozent), für welches ein Verfahren durchgeführt tionnaire (CTQ) eine für die deutsche Bevölkerung repräsen‐ wurde, hatte das dritte Lebensjahr noch nicht vollendet. tative Untersuchung (N = 2510 Personen zwischen 14 und 94 Drei‐ bis fünfjährige Kinder waren von einem Fünftel (19,2 Jahren, 53,3 % Frauen) zur Häufigkeit von Misshandlungen Prozent) der Verfahren betroffen. In 22,6 Prozent der Fälle und Missbrauch durchgeführt. Im Ergebnis gaben 31 Prozent waren es Kinder im Grundschulalter. Mit zunehmendem Al‐ der Befragten an, mindestens eine Form von Misshandlung in ter nehmen die Gefährdungseinschätzungen wieder ab. Kin‐ ihrer Kindheit erlebt zu haben. 14 Prozent der Befragten be‐ der im Alter von zehn bis 13 Jahren hatten einen Anteil von richten von mehr als einer Form von Misshandlung. Frauen 19,3 Prozent an den Verfahren, Jugendliche von 14 bis 17 waren häufiger von sexuellem Missbrauch und emotionaler Jahren einen Anteil von 15,7 Prozent. Am häufigsten mach‐ Misshandlung betroffen [9] Die folgende Tabelle fasst die Er‐ ten Polizei, Gericht oder Staatsanwaltschaft das Jugendamt gebnisse aus den Jahren 2010 und 2016 bezogen auf die auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung aufmerksam Formen von Kindesmisshandlung kurz zusammen. 7
Kindesmisshandlung Häufigkeit* Gesundheitliche Langzeitfolgen 2010 2016 Emotionale Misshandlung 4,6 % 6,5 % von frühen Stresserfahrungen und Körperliche Misshandlung 5,6 % 6,5 % psychosozialer Belastungen Sexueller Missbrauch 6,3 % 7,6 % in der Kindheit Emotionale Vernachlässigung 14,0 % 13,3 % Körperliche Vernachlässigung 28,8 % 22,6 % Erlebte emotionale Vernachlässigung und körperliche Miss‐ handlung in der Kindheit erhöht lebenslang das Risiko von Tabelle 1: Häufigkeit von Misshandlungen und Missbrauch funktionellen und psychischen Störungen. Zudem zeigen neu‐ bei Kindern und Jugendlichen (Witt et al., 2017) este Ergebnisse, dass bei Betroffenen eine erhöhte Vulnera‐ bilität für das Auftreten körperlicher Erkrankungen besteht. * Bezieht sich auf kumulierte Werte für die Einschätzung Hierzu zählen: mäßig bis schwer und schwer bis extrem durch die Childhood Trauma Questionnaire (CTQ) [9]. Typ 2 Diabetes Kreislauf‐Erkrankungen Chronische obstruktive Lungenerkrankungen (COPD) Hepatitiden immunologische Erkrankungen Pharynx‐ und Lungenkarzinome Schmerzerkrankungen [10]. Im Rahmen von neurobiologischen Forschungen konnte zu‐ dem gezeigt werden, „dass chronische Misshandlungen zu bleibenden Beeinträchtigungen der kognitiven und emoti‐ onsregulierenden Funktionen, zu EEG‐Veränderungen und zu messbaren Verringerungen des Hirnvolumens führen kön‐ nen.“ [11] Mit Blick auf diese Langzeitfolgen, sind frühzeitige Hilfen und ein gut koordiniertes Helfernetzwerk maßgebend. 8
3. Gewichtige Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Kindeswohlge‐ fährdung Die im Folgenden Kapitel benannten beispielhaften Auffällig‐ Hinweise auf nichtbehandelte Verletzungen, keiten können, müssen aber nicht, Hinweise auf Misshand‐ Vielzahl und untypische Lokalisation von Verletzungen lung oder Vernachlässigung sein. Die Merkmale bezeichnen (siehe dazu Anlage 5) mögliche Warnsignale dafür, dass es einem jungen Men‐ verbale oder nonverbale Äußerungen des Kindes, die auf schen nicht gut geht und Hilfe benötigt wird. Vor allem wenn Misshandlung, sexuellen Missbrauch oder Vernachlässi‐ es zur Kumulation verschiedener Hinweise kommt, sollte gung hinweisen oder ein dem Alter des Kindes nicht an‐ Vorsicht geboten sein. Heranwachsende, welche sich in die‐ gemessenes/stark sexualisiertes Verhalten [12] ser Situation befinden, sind darauf angewiesen, dass Fach‐ kräfte gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefähr‐ dung erkennen und angemessen darauf reagieren. Das Alter 3.2 Anhaltspunkte des Kindes spielt bei der Beurteilung der Anhaltspunkte eine maßgebende Rolle. Auch die Fähigkeit der Sorgeberechtig‐ in Familie und Lebensumfeld ten, Missstände benennen und ändern zu können bezie‐ hungsweise ändern zu wollen, muss bei der Einschätzung be‐ Ablehnung des Kindes (zum Beispiel nach dacht werden. Unterstützend zu den hier aufgeführten traumatischen Schwangerschaftserlebnissen) Punkten können auch die altersspezifischen „Ampelbögen“ psychische Erkrankung oder geistige Behinderung des Kinderschutzordners zur Falleinschätzung verwendet der Eltern werden. Abrufbar unter: Suchtmittelkonsum, Suchtmittelabusus der Eltern www.dresden.de/Kinderschutz. mangelnde Entwicklungsförderung durch die Eltern schädigendes Erziehungsverhalten (Demütigung, fehlende Grenzsetzung) nicht altersentsprechende Aufsicht 3.1 Anhaltspunkte traumatisierende Lebensereignisse beim Kind/Jugendlichen Gewalttätigkeit in der Familie (gegenüber dem Kind, in der Paarbeziehung) unzureichende oder übermäßige Flüssigkeits‐ soziale Isolierung der Familie und/oder des Kindes und/oder Nahrungszufuhr (mangelndes Unterhautfettge‐ sexuelle oder kriminelle Ausbeutung des Kindes webe, Dehydratation, Adipositas) oder Jugendlichen unzureichender Pflegezustand (mangelnde Körperpflege, hochstrittige Trennungs‐ oder Scheidungssituationen mehrfach verschmutzte oder nicht Versagen notwendiger ärztlicher Versorgung, fehlende witterungsgerechte Kleidung) Vorsorgeuntersuchungen (auch unzureichende nicht plausibel erklärbare Verletzungen (Blutergüsse, Umsetzung ärztlicher Empfehlungen) Hautabschürfungen, Hauteinblutungen, Schnitt‐/Bissver‐ desolate Wohnsituation (fehlende kindgerechte letzungen, Verbrühungen, Verbrennungen, Knochenbrü‐ Einrichtung, Nichtbeseitigung von Gefahren im Haushalt, che, Selbstverletzungen, Hämatome bei einem prämobi‐ „Messi“‐Haushalte, Zwangsräumung oder len Säugling) Stromsperren) [4] Kind wirkt berauscht und/oder benommen oder ernste und häufige Erkrankungen in der Kindheit im Steuern seiner Handlungen unkoordiniert viele Umzüge/häufiger Wechsel von Kindertageseinrich‐ (Einfluss von Drogen, Alkohol, Medikamenten) tungen oder Schulen wiederholtes apathisches, aggressives oder längere Trennung (> 2 Wochen) von der primären stark verängstigtes Verhalten des Kindes Bezugsperson im ersten Lebensjahr körperliche oder seelische Krankheitssymptome alleinerziehende Mütter oder Väter ohne (sekundäres Einnässen/Einkoten, Ängste, Zwänge) familiäres Netzwerk schulpflichtige Kinder bleiben häufig oder ständig der Lern‐ oder Verhaltensstörungen beim Kind [10] Schule fern (besondere Aufmerksamkeit sollte dabei auf häufiger Arztwechsel „Ärzte‐Hopping“ Kinder/Jugendliche gerichtet werden, welche häufig niedriger sozioökonomischer Status/Arbeitslosigkeit [12] ohne ärztliche Abklärung von den Eltern entschuldigt werden) [4] (Zum Thema Schulabsentismus siehe auch 3.3, Seite 11) reduzierter Allgemeinzustand (auch psychosozialer Minderwuchs) extremes Schreien (Schreibabys) oder Regulationsprobleme beim Kind 9
3.3. Exkurs – Erfahrungen und Als Risikofaktoren gelten unter anderem der exzessive Ge‐ brauch der mit stark zuckerhaltigen Getränken gefüllten Nu‐ Themen aus der Kinderschutzarbeit ckelflasche und mangelnde Mundhygiene. Karies führt zu der Abteilung Kinder‐ und Zahnschmerzen und zu Schwierigkeiten bei der Nahrungsauf‐ nahme und ‐zerkleinerung. Im fortgeschrittenen Stadium Jugendgesundheit stellen Mundgeruch und Störungen bei der Entwicklung der Sprache Probleme dar, die die Gefahr der sozialen Ausgren‐ Im Rahmen der Kinderschutzarbeit am Gesundheitsamt Dres‐ zung in sich bergen. Unbehandelte Karies der Milchzähne den sehen sich die Fachkräfte mit einer Vielzahl von Themen kann darüber hinaus darunterliegende Zahnkeime der blei‐ konfrontiert. Beispielhaft hierfür sind besonders herausfor‐ benden Dentition und die Allgemeingesundheit schädigen. dernde und komplex zu bearbeitende Kinderschutzthemen Die betroffenen Kinder sind, wie in verschiedenen Studien im Folgenden näher beschrieben. gezeigt werden konnte, maßgeblich in ihrer Lebenszufrieden‐ heit/Lebensqualität eingeschränkt. Bei fehlender Mitwirkung Schütteltrauma‐Syndrom der Sorgeberechtigten ist eine dentale Vernachlässigung als Gerade in der Betreuung von Familien mit Säuglingen muss Kindeswohlgefährdung kritisch zu prüfen ‐ gegebenenfalls über Regulationsstörungen, exzessives Schreien und die Fol‐ unter Einbezug von Angeboten der Jugendhilfe [11, ergänzt gen des Schüttelns aufgeklärt und Bewältigungsstrategien durch Frau Dr. Ursula Schütte, Leiterin der Kinder‐ und Ju‐ besprochen werden. Hierzu stehen gute Materialien zur Ver‐ gendzahnklinik Dresden]. Die Angebote der Kinder‐ und Ju‐ fügung. In Sachsen wird mit der Ausgabe des Vorsorgeheftes gendzahnklinik Dresden sind ab Seite 21 aufgeführt. in den Kliniken der Flyer „Babys nicht schütteln“ an alle El‐ tern übergeben (siehe Anlage 9). Ergänzend dazu steht ein Münchhausen‐by‐proxy‐Syndrom/ Flyer des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen zur Verfügung. Münchhausen‐Stellvertretersyndrom Er wurde ebenfalls in den Sprachen Englisch, Französisch, Das Münchhausen‐by‐proxy‐Syndrom/Münchhausen‐Stell‐ Russisch, Türkisch, Arabisch und Farsi aufgelegt. vertreter‐Syndrom ist eine schwer zu diagnostizierende kom‐ Herunterladbar oder bestellbar ist er unter: binierte Form der Kindesmisshandlung, die darauf beruht, https://www.fruehehilfen.de/index.php?id=2188 dass eine nahe stehende Person (in der Regel die Mutter) bei Auf der Webpage des Bündnisses finden sich noch weitere einem Kind Anzeichen einer Krankheit vortäuscht oder aktiv Materialien sowie ein Aufklärungsfilm zum Thema Schüttel‐ erzeugt, um es wiederholt zur medizinischen Abklärung vor‐ trauma. zustellen. Die erwachsene Person, welche oft medizinisch Eine sehr gute und kurze Zusammenfassung zur Prävention vorgebildet ist, verfolgt damit das Ziel, Zuwendung und Auf‐ und sicheren medizinischen Diagnostik des Schütteltrauma‐ merksamkeit zu ihren Gunsten zu generieren. Das Wiederho‐ Syndroms ist auf einer „Kittelkarte“ der Kinderschutzhotline lungsrisiko bei diagnostizierten Fällen beträgt 30 bis 50 Pro‐ erschienen (siehe Anlage 7). Sie ist ebenfalls im Downloadbe‐ zent. Als Ursache dieses Verhaltens kann eine ausgeprägte reich unter www.kinderschutzhotline.de zu finden. Persönlichkeitsstörung vermutet werden [11]. Die Traumatisierungswirkung beim Kind übersteigt oft Das frühzeitige Erkennen von Belastungsanzeichen bei Eltern, die am Körper vorgenommene Schädigung. die Aufklärung zum Thema und die schnelle Vermittlung an weiterführende Hilfen sind wichtige Eckpunkte der Betreu‐ Charakteristische Merkmale beim Kind: ung dieser Familien. Frühzeitige Hilfen für Eltern von 1. Persistierende oder rekurrierende Symptomatik, Schreibabys in Dresden, wie zum Beispiel die „Schrei‐Babybe‐ die trotz gründlicher Durchuntersuchung zu keiner ratung“ einer Familienhebamme am Gesundheitsamt sind Erklärung führt. unter 6.2 ab Seite 20 zusammengefasst. 2. Die Diagnose bleibt deskriptiv und bezieht sich auf den Verdacht einer extrem seltenen oder atypischen Verletzungen innerhalb der Mundhöhle/ Erkrankung. Dentale Vernachlässigung 3. Die Symptomatik spricht entgegen der Erwartungen 65 bis 75 Prozent der misshandelten Kinder weisen Verlet‐ nicht auf eine übliche, etablierte Therapie an. zungen des Kopfes/des Gesichts auf, insbesondere im HNO‐ 4. Es besteht eine Diskrepanz von Untersuchungs‐ und Bereich. Durch eine fehlende oder flüchtige Ganzkörperun‐ Laborbefunden zu den anamnestischen Angaben tersuchung können Verletzungen innerhalb der Mundhöhle der Mutter. leicht übersehen werden. Insbesondere bei Säuglingen und 5. Die Untersuchungsbefunde und anamnestischen Kleinkindern mit Fütterproblemen besteht die Gefahr von so‐ Angaben passen nicht zum Eindruck, wie stark genannten „Fütterverletzungen“ (zum Beispiel Kontusionen erkrankt das Kind wirkt. der Lippen, Verletzungen der Mundschleimhaut) durch ge‐ 6. Eine zeitliche Verknüpfung zwischen dem Auftreten der waltsames Einführen von Essbesteck oder das Verabreichen Symptomatik und der Anwesenheit der Mutter fällt auf. von zu heißen Speisen. Durch Schläge ins Gesicht kann es durch 7. Es liegen unvollständige beziehungsweise unkorrekte die eignen Zähne zu Verletzungen der Zunge kommen. Neueren Angaben der Mutter zur Anamnese der Vorbehandlun‐ Erkenntnissen nach sind Verletzungen des Lippen‐ oder Zungen‐ gen vor. bändchens, entgegen früherer Annahmen, kein pathognomoni‐ 8. Die präsentierte Symptomatik umfasst Beschwerden scher Hinweis auf eine Misshandlung. Trotzdem sollte dieser Be‐ wie unerklärliche Blutungen, Anfälle, Bewusstseinsver‐ fund Anlass für eine weitere Diagnostik sein. lust, Apnoe, Diarrhö, Erbrechen, Lethargie oder berich‐ Zur Vernachlässigung im Rahmen der Gesundheitsfürsorge tete Unverträglichkeitsreaktionen auf Nahrungsmittel zählt auch der Bereich der Zahnpflege. Dentale Vernachlässi‐ oder Medikamente [13]. gung und die dadurch bedingte Entstehung von Karies (Zahn‐ fäule) hat weitereichende Folgen für die betroffenen Kinder. Die Intervention in solchen Fällen ist oft sehr komplex, müh‐ Im Milchgebiss wird an dieser Stelle von der sogenannten sam und zeitraubend. Erschwerend kommt in solchen Fällen „Frühkindlichen Karies“ gesprochen, die bereits kurz nach hinzu, dass das betreffende Elternteil durch die aufopfe‐ dem Zahndurchbruch auftritt und rasch voranschreitet. rungsvolle Betreuung des Kindes oft für sehr vertrauenswür‐ dig und kompetent eingeschätzt wird. 10
Einen zentralen Stellenwert nimmt in solchen Fällen die Erhe‐ Untersuchungen haben gezeigt, dass etwa 20 Prozent aller bung einer detaillierten Krankengeschichte unter Einbezie‐ Schulverweigerer vor ihren Fehlzeiten eine körperliche Er‐ hung früherer Kontakte zum Gesundheitswesen sowie eine krankung hatten und 67 Prozent mindestens eine psychische interdisziplinäre Zusammenarbeit aller beteiligter Akteurin‐ Störung aufzeigen [15]. Etwa 3 bis 5 Prozent eines Jahrgangs nen und Akteure ein. Empfehlenswert ist hierbei auch eine weisen extreme Formen des Schulabsentismus auf, wobei anonyme Beratung mit einer medizinischen Kinderschutz‐ Jungen in dieser Gruppe überrepräsentiert sind [14]. Statis‐ gruppe (siehe 5.14 Seite 18 oder 6.1 Seite 20). tisch lässt sich derzeit das Ausmaß an Schulverweigerung Eine Konfrontation mit dem Verdacht eines Münchhausen‐ auch für Dresden nicht exakt bestimmen. Rückschlüsse zu by‐proxy‐Syndroms/Münchhausen‐Stellvertreter‐Syndroms diesem Phänomen lassen sich aktuell nur aus den erfolgten sollte nicht zu früh erfolgen, da das Elternteil fast immer sein Anhörungen im Rahmen von Ordnungswidrigkeiten zur Handeln verleugnen und sich anschließend oft von der aktu‐ Schulpflichtverletzung ziehen. ell behandelnden Stelle zurückziehen wird, um andere Fach‐ Seit 2006 hat sich diese Zahl verfünffacht. kräfte aufzusuchen. Eine weitere Folge einer solchen Gegen‐ überstellung könnte eine psychische Dekompensation sein Jahr 2006 2008 2010 2012 2014 2015 2016 2017 zum Beispiel durch selbstverletzendes Verhalten bis hin zum Anzahl 399 704 965 1179 1846 1164 1411 1609 Suizid [12]. Anhörungen Gesundheit und Kinderschutz im Kontext Schule – Tabelle 2: Anhörungen im Rahmen von Ordnungswidrigkeits‐ Schulabsentismus verfahren Schulpflichtverletzungen in Dresden In den vergangenen Jahren wurden Fachkräfte des Gesund‐ (Quelle: Schulverwaltungsamt Dresden 2018) [18] heitswesens, ebenso wie des Bildungsbereiches und der Ju‐ gendhilfe immer häufiger mit Fällen konfrontiert, in denen Die Vielschichtigkeit von Schulabsentismus sowie die meist Kinder und Jugendliche der Schule fernblieben. Die Erfahrun‐ große Gruppe an beteiligten Personen und Institutionen gen der letzten Jahre zeigen, dass eine gute Vernetzung von macht ein Agieren in diesen Fällen oft schwierig und zeitauf‐ Jugend‐ und Gesundheitshilfe und das gegenseitige Wissen wändig. Einfache und schnelle Lösungen gibt es nicht. Den‐ um Abläufe und Hintergründe unerlässlich ist, damit Kinder noch können einige Punkte benannt werden, welche in die‐ und Jugendliche mit multiplen Problemlagen passgenaue sem Zusammenhang beachtet werden sollten und sich in der Hilfen erhalten. Praxis als hilfreich erwiesen haben: Der Oberbegriff für alle Formen und Intensitäten illegitimer Schulversäumnisse ist der Schulabsentismus. Er kommt in al‐ Die betreffenden Jugendlichen und deren Familien befin‐ len Altersklassen und allen Schulformen vor, wenngleich Stu‐ den sich in einer ernst zu nehmenden Situation, aus der dien zeigen, dass der Dropout aus dem System Schule am sie ohne externe, professionelle Unterstützung meist häufigsten aus sozial benachteiligten Schichten geschieht nicht wieder herausfinden [16]. [14]. Hilfeziel im Rahmen von Schulabsentismus sollte die voll‐ umfängliche Wiederaufnahme des Schulbesuchs sein. Grundlage für einen erfolgreichen Hilfeverlauf ist die Vernetzung aller Beteiligten (Eltern, Schule, Jugendhilfe, Gesundheitshilfe). Interventionsmaßnahmen sollten multimodal und individualisiert ausgerichtet werden. Therapeutische Ansätze sollten zunächst ambulant erfolgen und erst nach weiterhin ausbleibendem Schulbesuch stationär durchgeführt werden [19]. Mit Blick auf die oftmals chronischen Verläufe ist eine frühzeitige kinder‐ und jugendpsychiatrische Diagnostik empfehlenswert. Eine Überweisung sollte vor allem bei somatischen Beschwerden unklarer Genese (Kopf‐ und/oder Bauchschmerzen, Kreislaufbeschwerden oder häufiger Übelkeit) erfolgen. Lange Krankschreibungen aufgrund somatischer Beschwerden sind meist nicht ratsam, da sie das schulvermeidende Verhalten verstärken [17]. Einzel‐ oder Hausbeschulungen sind in den meisten Fällen nicht zu empfehlen. Ebenso sollte vermieden werden, dass die „schulfreie Abbildung 3: Klassifikation des Schulabsentismus [17] Zeit“ ausschließlich mit angenehmen Tätigkeiten (PC, Handy, TV) gefüllt wird. Schulabsentismus ist nicht als situatives Phänomen, sondern Hausaufgaben und verpasster Schulstoff sollten zuhause als Ergebnis einer langwierigen Entwicklung zu verstehen nachgeholt werden [15]. [16], und entsteht „meist aus einer Akkumulation verschiede‐ ner Belastungsfaktoren im familiären (z. B. Trennung der El‐ tern), schulischen (z. B. Überforderung) und Gleichaltrigen‐ kontext (z. B. Mobbing), die auf individuelle Vulnerabilität (z. B. Teilleistungsstörungen) treffen.“ [17]. Schulabsentismus kann auch ein Indikator für eine psychische Störung sein, welche einen pädagogischen und/oder thera‐ peutischen Behandlungsbedarf nach sich zieht [16]. 11
Informationen und Hilfeangebote für betroffene Kinder, Jugendliche und deren Familien: Informationen zu den Rahmenbedingungen der Schulpflicht und deren Verletzung finden sich auf www.dresden.de → Leben in Dresden → Schule & Bil‐ dung → Fragen & Antworten → Schulpflichtverletzung Beratung und Unterstützung erhalten Betroffene auch in den Beratungsstellen für Kinder, Jugendliche und Fami‐ lien (siehe hierzu 6.5, Seite 22 oder 7.2, Seite 25) und www.dresden.de/familienberatung) Wenn es bereits zu einem Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen Schulverweigerung gekommen ist, finden Schul‐ verweigerer und deren Eltern Rat und Unterstützung durch die Jugendgerichtshilfe des Jugendamtes. Pfad: www.dresden.de/Jugendgerichtshilfe → das Jugendverfahren → Schulverweigerung Angebote der Kinder‐ und Jugendpsychiatrischen Kliniken oder des Stationären Bereiches für Pädiatrische Psycho‐ somatik/Psychotherapie am Städtischen Klinikum Dresden finden sie unter 7.7.1 ab Seite 28. niedergelassene Fachärzte für Kinder‐ und Jugendpsychiatrie auf der Homepage der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen: www.kvs‐sachsen.de/arztsuche 12
4. Handlungsschritte bei Verdacht auf Vorliegen einer Kindeswohlge‐ fährdung Das Bundeskinderschutzgesetz regelt im Sinne einer Befug‐ 4.1 Gefährdungsmomente nisnorm für Berufsgeheimnisträger, wie das Vertrauensver‐ hältnis zwischen medizinischen Fachkräften und deren Pati‐ wahrnehmen, Datenerhebung entinnen und Patienten geschützt werden kann und die und ‐sicherung Weitergabe wichtiger Informationen an den ASD des Jugend‐ amtes (Allgemeiner Sozialer Dienst) ermöglicht wird. Auf eine Bevor es zur Planung erster Handlungsschritte im Verdachts‐ gesetzliche Meldepflicht oder Verpflichtung zu einer Strafan‐ fall kommt, sollten im medizinischen Kontext folgende zeige wurde verzichtet. Nach § 4 Gesetz zur Kooperation und Punkte, wenn möglich im Vier‐Augen‐Prinzip, Information im Kinderschutz sollen Kindeswohlgefährdungs‐ Beachtung finden. merkmale, sogenannte „gewichtige Anhaltspunkte“, mit dem Kind oder Jugendlichen und den Personensorgeberechtigten Anamneseerhebung in Verdachtsfällen erörtert werden. Bei einem einfühlsamen Elterngespräch soll Besonders in Fällen in denen ein erstes „ungutes Gefühl“ be‐ auf die Inanspruchnahme von Hilfen hingewirkt werden, so‐ zogen auf das Wohl eines Kindes aufkommt, ist eine fachge‐ weit hierdurch der wirksame Schutz des jungen Menschen rechte, strukturierte und vollständige Anamneseerhebung nicht gefährdet wird. Erst wenn Gespräche mit den Sorgebe‐ wichtig. Handlungsleitende Fragestellung in solchen Fällen ist rechtigten gescheitert sind, keine Hilfen angenommen wer‐ die nach der Plausibilität – passen die Verletzungen mit dem den (können) oder durch das Vorgehen der Schutz des Kindes angegebenen Entstehungsmechanismus zusammen (körperli‐ gefährdet ist, kann eine Datenübermittlung an den zuständi‐ che Misshandlung)? Hierzu sind im Folgenden einige mögli‐ gen Allgemeinen Sozialen Dienst des Jugendamtes erfolgen che Fragen zusammengefasst, die in solchen Fällen hilfreich [11]. Falls möglich sollte vor einer Meldung an das Jugend‐ sein können: amt eine Beratung mit einer „insoweit erfahrenen Fachkraft“ in Anspruch genommen werden. Bei Vorliegen einer akuten Gibt es Widersprüche zwischen Verletzung/ Kindeswohlgefährdung ist sofortiges Handeln erforderlich, Krankheitsbild und dem geschilderten (Unfall‐) Ablauf? gegebenenfalls auch ohne vorherige Information der Eltern. Wird die Verletzung auffällig bagatellisiert? Wird behauptet, das Kind habe sich selbst verletzt? Liegt zwischen Verletzung und ärztlicher Vorstellung ein unerklärlich langer Zeitraum? Wechseln die Schilderungen zum Verlauf bei wiederholter Befragung? Gibt es Schuldzuweisungen an Dritte? Werden durch verschiedene Bezugspersonen unterschiedliche Versionen dargestellt? Zeigen Eltern Empathie für das Kind? Ist eine emotionale Verbundenheit spürbar? Gibt es noch weitere unerklärbare (ältere) Verletzungen? Fragen die Eltern nach (Untersuchungsergebnissen, Prognose)? Was fällt über das geschilderte medizinische Problem Abbildung 4: Rechtliche Vorgaben für ein abgestuftes hinaus noch beim Kind auf? (Zahnstatus, Zustand der Verfahren gemäß Bundeskinderschutzgesetz (§4 KKG) [11] Kleidung/Schuhe, Körperpflege, Verhalten des Kindes, In‐ überarbeitet durch Mery Herzog teraktion mit Bezugsperson, Verhalten während der Un‐ tersuchungssituation). Halten die Eltern Absprachen zum weiteren Behandlungsverlauf ein? Einbezug der medizinischen Vorgeschichte: Wie verlief die Schwangerschaft? Gab es perinatale Probleme? Gab es frühere Erkrankungen, Verletzungen, chronische Erkrankungen, Gedeihstörungen? Wurden Vorsorgeuntersuchungen wahrgenommen? Gibt es familiäre Belastungen mit Blutgerinnungsstörungen? 13
Ergeben sich erste Hinweise auf eine mögliche Kindeswohlge‐ zwischen Wahrnehmung, Beobachtung, objektiven Fak‐ fährdung ist eine erweiterte Sozialanamnese ergänzend sehr ten, Interpretationen, handlungsauslösenden Bewertun‐ hilfreich. Als mögliche Inhalte für Fragestellungen können die gen klar zu trennen [12]. unter 3. genannten Anhaltpunkte genutzt werden. Alle der für medizinische Fachkräfte gelten zusätzlich Standards oben dargestellten Fragen sollten zudem unter Beachtung für die (Foto‐)Dokumentation von Verletzungen und des Entwicklungsstandes und der Fähigkeiten des Kindes be‐ Krankheitsbildern. In den Dresdner Kliniken findet hierzu wertet werden. die „Rote Mappe“ Anwendung (siehe 8. Weiterführende Informationen Seite 35). Klinische Untersuchung und Diagnostik Sollten Sie eine Kindeswohlgefährdung (körperliche Miss‐ handlung) vermuten, ist eine sensible aber auch vollständige Ganzkörperuntersuchung des gänzlich entkleideten Kindes 4.2 Gefährdungseinschätzung – erforderlich, welche gründlich zu dokumentieren ist. Neben der Beurteilung und Behandlung der Verletzung, weswegen Beratung durch eine insoweit das Kind vorgestellt wird, sollte sich das Augenmerk auch auf erfahrene Fachkraft frühere oder zusätzlich vorliegende Verletzungen richten ‐ insbesondere dann, wenn Eltern diese nicht ansprechen. Er‐ Für Fachkräfte, die Leistungen nach dem SGB VIII erbringen, gänzend dazu sollten orientierend der aktuelle psychische ist die Hinzuziehung einer insoweit erfahrenen Fachkraft zur Befund beziehungsweise der psychosomatische Entwick‐ Gefährdungseinschätzung gemäß § 8a SGB VIII bindend. Per‐ lungsstand dokumentiert werden. Zusammenfassend sollten sonen, die beruflich mit Kindern und Jugendlichen in Kontakt folgende klinischen Parameter in Verdachtsfällen auf körper‐ stehen, jedoch nicht nach dem SGB VIII arbeiten (Ärztinnen liche Misshandlung abgeprüft werden: und Ärzte, Hebammen und Entbindungspfleger, Psychologin‐ nen und Psychologen, Fachkräfte in der Schwangerenbera‐ vollständigen Status erheben (körperlich, neurologisch, tung oder auch Lehrerinnen und Lehrer,) haben ebenfalls ei‐ anogenital, Prädilektionsstellen beachten) nen Anspruch auf eine solche Beratung bei der Gefährdungs‐ Wachstumsparameter beachten (Körpergewicht, und Ressourceneinschätzung. Im § 4(2) Gesetz zur Koopera‐ ‐länge, Kopfumfang, Perzentilenverlauf) tion und Information im Kinderschutz ist der Anspruch auf Befundsicherung bei frischen Bissverletzungen Beratung bei der Gefährdungseinschätzung durch eine inso‐ (eventuell rechtsmedizinische Abklärung) weit erfahrene Fachkraft und die erforderliche pseudonymi‐ Einbezug des Verhaltens/der Aussagen sierte Datenübermittlung an diese formuliert. (keine Suggestivfragen, wenn möglich wörtlich Eine „insoweit erfahrene Fachkraft“ muss eine pädagogische dokumentieren) Ausbildung gemäß Fachkräftegebot § 72 SGB VIII und min‐ Geschwisterkinder mit in den Blick nehmen destens drei Jahre einschlägige Berufserfahrung in der fallbe‐ (falls möglich, ebenfalls untersuchen) [11]. zogenen Kinderschutzarbeit haben. Sie fungiert als Verfah‐ rensexpertin für die Gefährdungseinschätzung einer Dokumentation Kindeswohlgefährdung, unterstützt bei der Erstellung eines In allen Verdachtsfällen muss eine zeitnahe und detaillierte Schutzplans und regt die Nutzung weiterführender Hilfen an Dokumentation aller Handlungsschritte der Gefährdungsein‐ beziehungsweise kann hierzu mögliche hilfreiche Netzwerk‐ schätzung im fachlichen Austausch erfolgen. Eine gut ge‐ partner benennen. Sie führt jedoch keine persönlichen Ge‐ führte Krankenakte ist die Grundlage für das gegebenenfalls spräche mit den Sorgeberechtigten durch oder übernimmt notwendige weitere Handeln und kann zur Vorbereitung ei‐ die Fallverantwortung. Diese verbleibt bei der anfragenden nes Elterngespräches sehr hilfreich sein. Darüber hinaus kann Stelle. sie auch zu einem späteren Zeitpunkt Bestandteil eines Er‐ mittlungsverfahrens werden. Damit die Dokumentation einer Rückmeldungen aus dem Bereich der Medizin haben gezeigt, vermuteten Kindeswohlgefährdung beziehungsweise der dass Schwierigkeiten bei der Inanspruchnahme einer Bera‐ Verfahrensweise zum Schutzauftrag im Nachhinein einer ge‐ tung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft oft darin beste‐ richtlichen Überprüfung standhält, ist es wichtig: hen, dass sich die Fachkräfte der Kinder‐ und Jugendhilfe und der Medizin mit der gegenseitigen Fachsprache nicht gut aus‐ Befunde gut leserlich und zuordenbar zu verfassen, kennen. Durch diese erschwerte Kommunikation kann es zu Personen, Zeiten, Orte und Umstände möglichst genau zu Missverständnissen kommen. Vor diesem Hintergrund wurde dokumentieren (Datum, Uhrzeit und anwesende Perso‐ die medizinische Kinderschutzhotline (Telefon: 0800 19210 00) nen bei der Befunderhebung, allgemeiner Pflegezustand, als ein bundesweites, kostenfreies und 24 Stunden erreichba‐ Diskrepanzen zwischen Körperkonstitution und altersent‐ res telefonisches Beratungsangebot für Angehörige der Heil‐ sprechend zu erwartendem Entwicklungsstand), berufe bei Verdachtsfällen von Kindesmisshandlung, Ver‐ Lokalisation, Farbe, Art, Größe, Formung, Zeichen der nachlässigung und sexuellem Kindesmissbrauch eingerichtet Wundheilung und Gruppierung von Verletzungen zu [9]. In der Landeshauptstadt Dresden bietet auch die Fach‐ dokumentieren, gruppe Kinderschutz der Abteilung Kinder‐ und Jugendge‐ Zur Skizzierung ein Körperschema zu verwenden sundheit am Gesundheitsamt § 8a SGB VIII Beratungen durch (siehe Anlage 2), eine insoweit erfahrene Fachkraft aus dem Bereich der Ge‐ (Falls möglich) Verletzungen auszumessen sundheitshilfe an (siehe 6.1, Seite 20). Weitere insoweit er‐ (Skizze mit Messung oder mit Maßstab fotografieren), fahrene Fachkräfte der Stadt Dresden, welche für eine Bera‐ Handlungsschritte nachvollziehbar darzustellen, tung ebenfalls angefragt werden können, finden Sie unter www.dresden.de/kinderschutz → Zugang für Fachkrä e → Fachkräfteliste oder www.kinderschutzmedizin‐sachsen.de → Kinderschutz in der Niederlassung → Insoweit erfahrene Fachkräfte. 14
4.3 Empfehlungen bei Notfällen – 4.4 Empfehlungen bei akute Kindeswohlgefährdung latenter Kindeswohlgefährdung Bei einer akuten Kindeswohlgefährdung liegen gewichtige Als latente Kindeswohlgefährdung gelten Probleme, die zwar Anhaltspunkte für eine unmittelbare Gefahr für Leib und Le‐ keine unmittelbare (Lebens‐)Gefahr darstellen, jedoch lang‐ ben des Kindes vor. Eine akute Gefährdung ist auch dann ge‐ fristig negative Auswirkungen auf das Wohl des Kindes haben geben, wenn die Betreuungspersonen aktuell den altersge‐ können. Sorgeberechtigte können zum Beispiel soziale und rechten Schutz und das Wohl des Kindes nicht gewährleisten materielle Missstände nicht selbst kompensieren und benöti‐ können. gen Unterstützung bei der Problembewältigung. Gewichtige Anhaltspunkte sind neben der Beurteilung der körperlichen Hilfreich ist hier die Möglichkeit, eine Einweisung in die Klinik und psychischen Gesundheit des Kindes auch die Einschät‐ zu veranlassen. Eine vorherige Information an die Kinder‐ zung der Fähigkeit der Eltern zu Empathie, Kommunikation schutzgruppen des Uniklinikums beziehungsweise des Städti‐ und angemessenem Verhalten gegenüber dem Kind. schen Klinikums Dresden sollte erfolgen und die Familie vor‐ her telefonisch in der Klinik angemeldet werden. Durch die Der Gesundheitsstatus der Eltern sowie eine mögliche beson‐ Ärztin/den Arzt ist in diesem Fall zu beurteilen, ob die Eltern dere Belastungssituation der Familie sollten genauso mit be‐ kooperativ und ausreichend kompetent sind, das Kind selbst‐ dacht werden, wie der Umgang mit gesundheitlicher Vor‐ ständig in der Klinik vorzustellen. Mit einem Kontrollanruf, ob sorge und Behandlung. Erhöhte Vorsicht ist bei gehäuftem die Eltern in der Klinik angekommen sind, ist der Fall überge‐ Arztwechsel „Ärzte‐Hopping“ ohne plausiblen Grund, einer ben und die Intervention zunächst beendet. wechselnden/widersprüchlichen Anamnese oder einer zeit‐ lich verzögerten Vorstellung des Kindes bei Verletzungen ge‐ Wird bekannt, dass die Familie dort nicht angekommen ist, boten. Die Umsetzung medizinischer Empfehlungen durch muss eine sofortige Meldung an den ASD des Jugendamtes die Sorgeberechtigten ist ein weiterer Indikator, der durch (Kontakte siehe 5.3, Seite 16) oder den Kinderschutznotruf unbedingt empfohlene Wiedereinbestellung überprüft wer‐ des Jugendamtes erfolgen (Kinderschutznotruf rund um die den sollte (DRANBLEIBEN). Der Schutz des Kindes muss zu je‐ Uhr unter Telefon: (03 51) 2 75 40 04). Wird eingeschätzt, dem Gesprächstermin neu abgeklärt werden (siehe Anlage dass die Eltern nicht in der Lage sind, das Kind sicher in der 3 – Schaubild: Vorgehen bei Verdacht auf Kindeswohlgefähr‐ Klinik vorzustellen, ist der ASD des Jugendamtes ebenfalls so‐ dung). fort zu informieren. Gegebenenfalls kann die Zuführung in die Klinik mittels Notarztwagen erfolgen. Werden die Eltern als nicht ausreichend kompetent und ko‐ operativ eingeschätzt, muss entschieden werden, ob der ASD des Jugendamtes zu involvieren ist. Die Eltern müssen bei ei‐ ner Meldung an den ASD des Jugendamtes, außer bei Beste‐ hen einer unmittelbaren Gefahr für Leib und Leben, zuvor informiert werden. Als Unterstützung in einem Kinderschutzfall sind unter den Punkten 5. bis 7. in dieser Broschüre Notfallnummern sowie Kontaktdaten wichtiger Ansprechpartner und Beratungsan‐ gebote der Stadt Dresden zusammengestellt. Die wichtigsten Punkte zum Vorgehen im Kinderschutzfall fin‐ den Sie kompakt auf der Kitteltasche der Kinderschutzhotline zusammengefast. (siehe Anlage 6). Hinweise zum Elterngespräch im Kinderschutzfall sind in der Übersicht im „Elterngespräche im medizinischen Kinder‐ schutz“ (Anlage 4) zu finden. Eine umfassende Zusammenstellung zu rechtlichen Grundla‐ gen im Kontext Kinderschutz in der Medizin kann über das Fachkräfteportal „Kinderschutzmedizin in Sachsen“ unter: www.kinderschutzmedizin‐sachsen.de → Fachhinweise → Rechtliche Grundlagen (https://ssl.nojata.de/kinderschutz‐ medizin‐sachsen/fachhinweise/gesetzliche‐grundlagen) abgerufen werden. 15
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