Johannes Endres: Die Erfindung des Autors. Schiller und die Populärbiographik Schillers Charakterbild' schwankt in der Geschichte - ein ...

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Johannes Endres:
Die Erfindung des Autors. Schiller und die Populärbiographik∗

Schillers ‚Charakterbild’ schwankt in der Geschichte – ein Schicksal, das der Autor
mit einem seiner bekannteren Dramenhelden teilt. Schillerjubiläen, wie die Feier des
250. Todestages, fügen diesem Vexierbild aus aktuellem Anlass weitere, nicht immer
neue Facetten hinzu. Gilt es doch, mit dem Oeuvre des Dichters zugleich auch ein
Porträt des Menschen im Hintergrund zu propagieren. Was also wissen wir über den
Verfasser jener Texte, die wir mit Schillers Namen verbinden? Inwieweit ist unsere
Vorstellung von dessen Person von einem Vorverständnis der Werke präjudiziert –
und inwieweit ist umgekehrt in die Physiognomie der Schriften immer schon eine
Imago des Autors eingezeichnet? Zugegeben: Derlei Fragen stellen sich dem
Literaturwissenschaftler nicht nur bei der Beschäftigung mit diesem Dichter – oder im
Umgang mit unsicheren Adressen, die sich im Dunkel der Vergangenheit, im
Labyrinth der Überlieferung oder im Nebel von Mystifikationen verlieren.

Die Frage nach dem Autor ist – außer mit praktischen Schwierigkeiten – auch mit
einer grundsätzlichen, methodischen Reservatio verknüpft. So ist der Begriff
desselben der gegenwärtigen Literaturwissenschaft aus guten Gründen fragwürdig
geworden. Dazu muss man keineswegs an die bekannten poststrukturalistischen
Absagen denken. Schon die Struktur- und Prozessgeschichtsschreibung der 60er
und 70er Jahre hatte im Zuge einer Depersonalisierung der historischen Verhältnisse
die Rolle des Individuums neu überdacht und sozial-, gesellschafts- und
mentalitätsgeschichtliche Faktoren in den Mittelpunkt gestellt. Eine Folge dieses
Paradigmenwechsels in den Textwissenschaften ist u.a. die „Tabuisierung“ der
Dichter-Biographik gewesen:1 als eines nicht mehr zeitgemäßen Modells, über das
die wissenschaftliche Erkenntnis hinweg geschritten sei. Auch dieser
Fortschrittsgewinn ist unterdessen wieder geschichtlich geworden, so dass eine

∗
   Der Beitrag ist erschienen in: Zygmunt Mielczarek (Hrsg.): Erinnerte Zeit. FS für Lothar Pikulik zum
70. Geburtstag, Czestochowa 2006, S. 65-76.
1
   Vgl. Gehart v. Graevenitz: Geschichte aus dem Geist des Nekrologs. Zur Begründung der
Biographie im 19. Jahrhundert, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und
Geistesgeschichte. 54, 1980, S. 105-170, hier S. 105. Vgl. auch Hans-Martin Kruckis: Biographie als
literaturwissenschaftliche Darstellungsform im 19. Jahrhundert, in: Jürgen Fohrmann, Wilhelm
Voßkamp (Hrsg.): Wissenschaftgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart, Weimar
1994, S. 550-575.
2

„einfache Opposition von narrativer und theoriefähiger Geschichtsschreibung“ bereits
zu Anfang der 80er Jahre nicht mehr denkbar schien.2 Dafür mag – neben anderem
– auch eine Zeiterfahrung verantwortlich sein: in dem Maße, in dem sich das
Bewusstsein eines Geschichtsverlusts ausbreitet, meldet sich – kompensatorisch –
die Sehnsucht nach dem biographischen Ereignis und seiner Dokumentation zu
Wort. So konnte der Historiker Christian Meier schon 1973 konstatieren:

       Gerade wenn Geschichte als anonymer Prozeß erlebt wird […], scheint es […]
       unabdingbar, die Weisen des Erlebnisses dieses Prozesses und überhaupt
       die Weise, wie solch ein Prozeß in die Erlebnis- und Bewußtseinswelt einer
       Zeit hineinwirkt, zum Thema zu machen.3

Die Positionen des Dekonstruktivismus und der Postmoderne stellten demgegenüber
die Antithese dar. Barthes, Foucault und ihren Nachfolgern ging es jedoch um mehr
als eine Revision der seit Diltheys Zeiten beliebten Gleichung von Kunst und Leben.
Schon die Konjunktur der Erzählung, der Anekdote und der Mythen des Alltags
verdeutlicht (bei aller Skepsis hinsichtlich ihrer Sinnhaftigkeit), dass der ‚Tod des
Autors’ strukturalistische Optionen nicht einfach radikalisierend wiederholte – auch
wenn dies von Anhängern wie Gegnern bisweilen so missdeutet wurde. Vielmehr war
mit der Kritik an einer autorzentrierten Literaturwissenschaft auch und gerade die
Einsicht verbunden, dass unser präsumtives Wissen von jener Instanz selbst immer
schon durch ein Gewebe von Texten konfiguriert ist – und folglich als
Interpretationskonstrukt zu betrachten.

Dass man sich heute schon wieder jenseits solcher Bedenklichkeiten wähnt,
unterstreicht der Titel eines Sammelbandes, der, 1999 erschienen, nicht weniger als
die „Rückkehr des Autors“ verkündet.4 Damit scheint die Rückbesinnung auf das
exemplarische und geschichtsmächtige Subjekt, die andernorts, wissenschaftlicher
Skrupel unverdächtig, dem menschlichen Hang zum Biographischen ganz ungeniert
nachgibt, innerhalb der Wissenschaften selbst angekommen. Die
literaturgeschichtliche Praxis jedenfalls begünstigt eine solche Vermutung.
Unabhängig von Jubiläen und runden Feiertagen lässt sich ein neuerwachtes
Interesse an Leben und Person der Dichter erkennen: In den letzten Jahren sind

2
  Ebd. S. 106.
3
  Hier zitiert nach ebd. S. 107.
4
  Vgl. Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez, Simone Winko (Hrsg.): Rückkehr des Autors.
Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999.
3

Biographien zu zahlreichen bedeutenden Autoren der deutschen Literaturgeschichte
vorgelegt worden, nachdem man sich zuvor lange Zeit in einer gewissen Abstinenz
geübt hatte. Ein Beispiel mag an dieser Stelle genügen: Bis zu der Brentano-
Biographie von Hartwig Schultz im Jahr 2000 waren mehr als zwei Dezennien seit
dem letzten vergleichbaren Unternehmen verstrichen, und das obwohl – oder weil –
der Dichter im gleichen Zeitraum als einer der wichtigsten Exponenten der deutschen
Romantik wiederentdeckt worden war.5

Solche Phänomene gehen nun aber mit einer spürbaren theoriegeschichtlichen
‚Restauration’ einher. Die seit geraumer Zeit zu beobachtende Abkehr von
Methodeneinflüssen aus Frankreich und Amerika hat nicht nur zu einer –
begrüßenswerten – Rückkehr zu ‚alten’ philologischen Tugenden geführt; sie zieht in
ihrem Gefolge auch eine Rehabilitation der Biographie als literaturwissenschaftlicher
Disziplin nach sich. Auch Schiller aber hat von einer solchen Konjunktur profitiert,
begünstigt nicht zuletzt durch das aktuelle Schillerjahr. Mehr als ein Dutzend
einschlägiger Titel sind in den letzten beiden Jahren speziell auf diesen Anlass hin
produziert worden – das verlegerische Recycling älterer Veröffentlichungen nicht
mitgerechnet.6 Keine dieser Neuerscheinungen aber hat ein vergleichbares Echo
ausgelöst wie Rüdiger Safranskis (gut 500 Seiten starke) Biographie „Schiller oder
Die Erfindung des Deutschen Idealismus“.7 Selbst ein so renommierter Schiller-
Forscher wie Hans-Jürgen Schings hat Safranskis „Schiller“ als bedeutendes

5
  Vgl. Hartwig Schultz: Schwarzer Schmetterling. Zwanzig Kapitel aus dem Leben des romantischen
Dichters Clemens Brentano. Berlin 2000. Der ‚Vorgänger’ ist – wenn man beide Projekte mit einander
vergleichen will – Feilchenfelds Brentano-Chronik gewesen; vgl. Konrad Feilchenfeld: Brentano
Chronik. Daten zu Leben und Werk. München, Wien 1978.
6
  Hier kann nur ein Auswahl genannt werden: Jörg Aufenanger: Friedrich Schiller. Biographie.
München 2004; ders.: Schiller und die zwei Schwestern. München 2005; Otto A. Böhmer: Friedrich
Schiller. Zürich 2005; Sigrid Damm: Das Leben des Friedrich Schiller. Eine Wanderung. Frankfurt a.M.
2004; Friedrich Dieckmann: „Diesen Kuss der ganzen Welt!“ Der junge Mann Schiller. Frankfurt a.M.
2005; Volker Dörr: Friedrich Schiller. Frankfurt a.M. 2005; Christiana Engelmann, Claudia Kaiser:
Möglichst Schiller. Ein Lesebuch. München 2004; Marie Haller-Nevermann: Friedrich Schiller. Ich kann
nicht Fürstendiener sein. Eine Biographie. Berlin 2004, (2. Aufl. 2005); Johannes Lehmann: Unser
armer Schiller. Reinbek bei Hamburg 2005; Manfred Mai: Was macht den Mensch zum Menschen?
Die Lebensgeschichte von Friedrich Schiller. München 2004; Ursula Naumann: Schiller, Lotte und
Line. Frankfurt a.M. 2004.
7
  Vgl. Rüdiger Safranski: Schiller oder die Erfindung des Deutschen Idealismus. München, Wien 2004.
Die Bundeszentrale für politische Bildung hat sogar eine Sonderausgabe aufgelegt – ein Umstand, der
eine eigene Betrachtung wert wäre: Über das Bild, das den Deutschen – und ihren Nachbarn – auf
diese Weise von der Inkubationsgeschichte der deutschen Kultur vermittelt werden soll, kann man
allerdings nur spekulieren. Es wäre zu überlegen, ob hier nicht unter Rückgriff auf ein altes Paradigma
(dasjenige des ‚faustischen’ Deutschen) ein Gegenentwurf im Zeichen der Gebrechlichkeit und der
Schwäche sowie der Selbstüberwindung angesichts einer widrigen Wirklichkeit (in Geschichte wie
Gegenwart) lanciert werden soll. Ob Schiller tatsächlich als Remedur in Zeiten wirtschaftlicher und
sozialer Depression taugt, muss dahin gestellt bleiben.
4

Ereignis begrüßt, weil es diesem gelänge, das „allzu Bekannte und Abgenutzte“ zu
neuem Leben zu erwecken, ohne dabei in „tüftelnde Pedanterie“ zu verfallen.8
Schings lobt Safranskis „beharrliche Luzidität“ im Umgang mit seinem Gegenstand,
seine „Bravour“ bei der Darstellung der verwickelten philosophischen Probleme,
seine „fesselnde Sachlichkeit“, die selbst dem ausgewiesenen Schiller-Forscher noch
„mancherlei Überraschungen“ biete. Schings Fazit: „Man greife zu Safranskis Buch,
und man wird die Erfahrung machen: Schiller ist immer noch da. Und wie!“9

Safranski scheint die Frage nach der Aktualität dieses Dichters, die dem Schiller-
Jahrbuch eine mehrteilige Diskussionsrunde wert war, gleichsam en passant zu
lösen.10 Dabei ist die Schwierigkeit, die der Schiller-Biograph zu überwinden hat,
keine geringe. Denn Schillers ‚äußeres’ Leben hat eigentlich wenig Aufregendes zu
bieten. Schon Peter-André Alt musste in seiner monumentalen Darstellung aus dem
Jahr 2000 einen „auffällige[n] Mangel an spektakulären Erfahrungen“ konstatieren.11
Verglichen mit jenem ‚anderen dort, in Weimar’, verglichen also mit Goethe
höchstselbst, nimmt sich Schillers irdischer Lebenslauf doch eher bescheiden aus:
„exotische Reiseabenteuer, große Amouren, psychische Katastrophen,
Erweckungserlebnisse und Umkehrpunkte fehlen in diesem Leben fast völlig“.12
Anders als Goethe hat Schiller nicht einmal Tagebuch geführt, ganz zu schweigen
von einer Autobiographie à la „Dichtung und Wahrheit“. Alts „Eindruck, dass in
[Schillers] Briefen ein spannungsvolles Ich weder entworfen noch vorsätzlich
versteckt wird“, kann man sich schwerlich entziehen.13 Goethes ‚große
Menschlichkeit’ geht Schiller weitgehend ab. Auch kann das Spektrum seiner
Interessen mit Goethes universaler Vielseitigkeit nicht konkurrieren. Vor allem aber
ist dem von der Natur weniger begünstigten der beiden Dioskuren ein gesegnetes
Alter nicht beschieden gewesen. Alts Schluss aus einer solchen Bestandsaufnahme
ist schon von vielen vor ihm gezogen worden: Wo es keine nennenswerte
Erlebniskurve gibt, da hat der Schiller-Forscher das Augenmerk auf das Werk zu
8
  Hans-Jürgen Schings: Er ist immer noch da, er ist noch lange nicht unser. Betriebsgeheimnisse des
Geistes: Die Schiller-Biographien von Sigrid Damm und Rüdiger Safranski, in: Frankfurter Allgemeine
Zeitung, 6.10.2004, hier zitiert nach: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=7737.
9
  Ebd.
10
   Vgl. den Auftakt in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft. 48, 2004, S. 377-415 – die
Diskussion wird fortgesetzt. Lothar Pikulik hat eine literaturhistorisch seriöse Antwort auf diese Frage
gegeben: Der Dramatiker als Psychologe. Figur und Zuschauer in Schillers Dramen und
Dramentheorie. Paderborn 2004.
11
   Peter-André Alt: Schiller. Leben – Werk – Zeit. 2 Bde. München 2000. Bd. I, S. 14.
12
   Ebd.
13
   Ebd.
5

richten, das nicht biographisch eingefärbt ist, sondern umgekehrt Schillers Leben an
„Wirkungsmacht“ übertrifft.14 An die Stelle der Künstler-Biographie hat folgerichtig die
Werkbiographie Schillers zu treten.

Ein lebensweltliches Detail ragt aber doch aus so viel Ereignisarmut hervor, ein
Faktum, nur scheinbar nebensächlich, vor dem kein Biograph die Augen
verschließen kann: Schillers lebenslängliche Krankengeschichte, der sich der Dichter
mit geradezu exzessiver Ausdauer gewidmet hat. Seine – nur zu berechtigten –
Klagen sind allseits bekannt: Sie gelten einer hinfälligen körperlichen Konstitution,
die sich den Plänen des Künstlers immerzu in den Weg stellt. Der frühe Tod – im
Alter von nur 45 Jahren – erscheint in solcher Perspektive folgerichtig und
vorbestimmt. Da passt es ins Bild, wenn nicht einmal Schillers sterbliche Überreste
der irdischen Drangsal entkommen: Die Odyssee des Leichnams, die erst über 20
Jahre nach Schillers Tod in der Weimarer Fürstengruft endet, hat Albrecht Schöne
erst kürzlich wieder nachgezeichnet.15 Natürlich lässt sich auch Safranski diesen
cantus firmus (so Schings) aus Krankheit und Leiden nicht entgehen. Er lokalisiert
das Motiv des Schmerzes gar in Schillers biographischem und geistigem
Lebenszentrum, um das die übrigen Daten der Lebens- und Schaffensgeschichte
konzentrisch angeordnet werden. Wie suggestiv der Biograph ‚seinen’ Schiller auf
einen Generalbass der Vergänglichkeit abstimmt, führen der erste und der letzte Satz
des Buchs vor Augen – in beiden ist es die Silhouette des Leichnams, die Schillers
Leben von vorne wie von hinten beschließt.16 Eindrücklich setzt der Prolog mit
folgendem anatomischen Befund ein:

       Nach Schillers Tod am 9. Mai 1805 wurde die Leiche obduziert. Man fand die
       Lunge „brandig, breiartig und ganz desorganisiert“, das Herz „ohne
       Muskelsubstanz“, die Gallenblase und die Milz unnatürlich vergrößert, die
       Nieren „in ihrer Substanz aufgelöst und völlig verwachsen“.17

Da wundert sich der Leser natürlich (wie schon Schillers Zeitgenossen), „wie der
arme Mann so lange hat leben können“.18 Nicht minder erstaunlich aber ist die

14
   Ebd. S. 14f.
15
   Vgl. Albrecht Schöne: Schillers Schädel. München 2002.
16
   Rüdiger Safranski, Anm. 7, S. 11 und 525.
17
   Ebd. S. 11.
18
   Ebd. Vgl. auch Goethes Bemerkung gegenüber Eckermann am 20.12.1829: „Schiller war auch
beständig krank. Als ich ihn zuerst kennen lernte, glaubte ich, er lebte keine vier Wochen“ (bei
Safranski auf S. 348 zitiert). Folgende – mutmaßliche – Äußerung Goethes zu Eckermann vom
18.1.1825 hat sich Safranski dagegen entgehen lassen: „Ja, sagte Goethe, alles Übrige an ihm
6

Diagnose, die der Biograph aus dem Obduktionsbefund herausliest; dieser enthalte
nicht weniger als die „Definition von Schillers Idealismus“: „Idealismus ist, wenn man
mit der Kraft der Begeisterung länger lebt, als es der Körper erlaubt. Es ist der
Triumph eines erleuchteten, eines hellen Willens“.19 Schillers Lebensnerv ist
demnach im Prinzip der Willensfreiheit gegründet, als Fähigkeit, die Hinfälligkeit des
Körperlichen und das Leibgefängnis zu transzendieren.20 Im folgenden gelingen
Safranski noch zahlreiche Formulierungen, die dieses kontradiktorische Verhältnis
von Innen und Außen, Seele und Körper, Ich und Welt eingängig illustrieren: Vom
„kombattante[n] Verhältnis“ zur Natur ist die Rede; vom Körper als „Attentäter“,21 von
Schiller als einem „Athleten des Willens“, vom Gegenspiel von „Enthusiasmus“ und
„Lebensekel“,22 vom „Triumph des Stolzes über die Qual“,23 alles in allem: von der
„Freiheit des Geistes gegen die kranke Materie“.24 Schillers literarisches Wirken
erscheint in einer solchen Beleuchtung in eine durchgängige „Stimmung des
Abschieds“ getaucht und einer Antizipation des Todes unterworfen.25 Die Ahnung
des baldigen Endes steigert sich bis zur „Gewißheit, daß er [Schiller] nur noch
wenige Jahre zu leben haben werde, daß sein langsames Sterben begonnen habe,
daß er also haushälterisch mit der Zeit, die ihm noch blieb, umgehen mußte“.26 Nicht
minder gehen Safranskis Protokolle vom Krankenlager des Dichters zu Herzen,
Bulletins eines empathisch gestimmten Chronisten:

        […] bei jedem Atemzug ein Gefühl, als ob die Lunge zerspringt, Fieberfrost,
        Erkalten der Glieder, Verschwinden des Pulses. Der berühmte Doktor Stark
        aus Jena wird gerufen, er verabreicht Opium. Seine Diagnose: Eiterungen am
        Zwerchfell und, womöglich als Folge eines Durchbruches, auch im Unterleib.
        Zwei Tage später wieder eine Attacke.27

Die Mission, die Schillers Schreiben in einer derartigen Misere zukommt, ist denn
auch von der Pathographie des Dichters vorgezeichnet: Die Kunst soll über die

[Schiller] war stolz und großartig, aber seine Augen waren sanft. Und wie sein Körper war sein Talent“;
Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werk nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe.
Hrsg. von Karl Richter u.a. Bd. 19. München, Wien 1986, S. 130.
19
   Ebd. S. 11.
20
   Vgl. ebd. S. 348: „Freiheit wurde für ihn [Schiller] zum Inbegriff jener Kräfte, mit denen man den
Attacken des Körpers widerstehen und sich Spielräume erobern konnte“.
21
   Ebd.
22
   Ebd. S. 12.
23
   Ebd. S. 115.
24
   Ebd. S. 374.
25
   Ebd. S. 490.
26
   Ebd. S. 346
27
   Ebd. S. 344.
7

Abgründe des Lebens und Leidens einen „Schönheitsschleier“ spannen und ein
„System der Sichtblenden“ aufrichten, um das Leben einerseits ästhetisch zu
rechtfertigen, andererseits eine ästhetische Existenz im Zeichen der Schwäche
überhaupt zu ermöglichen.28 Dass Schillers Ästhetik damit nachdrücklich in die Nähe
der Kunstmetaphysik Nietzsches gerückt wird, ist durchaus beabsichtigt (um deren
Implikationen der Nietzsche-Biograph Safranski weiß). Der Leser soll Schillers Ideen-
Dichtung als kompensatorisches Produkt eines Ungenügens an der eigenen
Endlichkeit begreifen, als – umgekehrt spiegelbildliche – Kontrafaktur einer
unzulänglichen Wirklichkeit: „Wie Nietzsche hätte auch Schiller sagen können: wir
haben die Kunst, damit wir am Leben nicht zugrunde gehen“.29

Schillers Schaffens-Ethos wird im weiteren auf den Nenner eines „protestantischen
‚Trotz alledem’“ gebracht, von der Erfahrung des Schmerzes zum Höhenflug des
Geistes angestachelt.30 Das Motto einer solchen Kunst liest Safranski bei Schiller
selbst auf – in Gestalt von Wallensteins großem Wort, demzufolge der „Geist […]
sich den Körper baut“.31 So wird Schillers Lebensgesetz wie folgt umschrieben: „Es
gibt die Schillersche Wette: das wollen wir doch einmal sehen, wer wen über den
Tisch zieht, der Geist den Körper oder der Körper den Geist!“32 Wallensteins Diktum
dient dem Biographen als Leitwort der Schillerschen Künstlerexistenz, scheint es
doch die produktive Diskrepanz von Materie und Geist unmissverständlich zu
benennen. Safranski übersieht allerdings, dass Wallensteins Ausspruch für eine
affirmative Bezugnahme denkbar schlecht geeignet ist. Denn Wallenstein tätigt jene
Äußerung ja in Unkenntnis der Tatsache, dass die dramatischen Ereignisse eine
Option der Bemeisterung der Welt durch den souveränen Willen des Individuums
bereits zunichte gemacht haben. Das berühmte Wort ist also nichts anderes als
Ausdruck einer Selbsttäuschung der Figur auf der Bühne, die aber vom Zuschauer
als solche erkannt werden soll. Es handelt sich um einen wohl kalkulierten Trick des
Dichters, einen Fall von dramatischer Ironie, ein Wissensprivileg des Publikums, das
den von Schiller beabsichtigen Aufschwung zum Erhabenen auf seiten des
Betrachters (nicht auf seiten der Figur) in Gang setzen soll. Wendet man dieses

28
   Ebd. S. 286.
29
   Ebd. S. 14.
30
   Ebd. S. 13.
31
   „Wallensteins Tod“, Vers 1813 (Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Hrsg. von Gerhard Fricke,
Herbert G. Göpfert. Bd. 2. 7. Aufl. München, Wien 1985, S. 472).
32
   Rüdiger Safranski, Anm. 7, S. 13.
8

Mehrwissen auf Wallensteins rhetorisches Bekenntnis an, dann erweist sich gerade
das Gegenteil des Gesagten als richtig: es ist der Körper, der sich in der Tragödie
den Geist unterwirft. Erst die Gegenbewegung einer ‚intellektuellen Selbstentleibung’
im Gemüt des Zuschauers vermag diese Wahrheit wieder in die Gegenrichtung
umzukehren, nicht jedoch im Sinne einer Unabhängigkeit des Geistes vom Körper.
Vielmehr bleibt gerade die Abhängigkeit des Geistes vom Körper Bedingung des
Wunsches der Vernunft, es möge doch anders sein. Folglich wird man Wallensteins
Sentenz nicht wörtlich nehmen und als Credo des Autors deuten dürfen.

Auch Safranski sieht natürlich, auf wie dünnes Eis Schillers Ästhetik des Erhabenen
gestellt ist, eine Ästhetik, die der Biograph jedoch von der Kunst auf das Leben
überträgt. Gerade die permanente Unsicherheit, die Schillers ästhetischen
Idealismus grundiert, dient Safranski als Ausweis seiner Modernität und damit als
Signatur der Zeitgemäßheit des Dichters. Schiller ist in dem Maße an die Gegenwart
anschlussfähig, in dem er die Gefährdungen eines freiheitlichen Weltentwurfs
seinerseits schon reflektiert. Unter Safranskis Regie wird Schiller darum zum
Existentialisten avant la lettre, zum – so wörtlich – „Sartre des späten 18.
Jahrhunderts“, der den „Nihilismus“ der Moderne mit seiner Freiheitsphilosophie
bereits vorweggenommen habe.33 Denn: „Das Mysterium der Freiheit findet sich
genau in dieser Leere, in dieser Lücke in der Kette der zureichenden
Bestimmungen“.34 Schillers Idealismus ist also nicht nur gegen die Anfechtungen des
Nichts gerichtet, sondern hat dieses Nichts gleichsam als seine Prämisse in sich
aufgenommen. Bezogen auf Schillers Kunst und deren Entstehungsprinzip
korrespondiert dem der Gedanke einer creatio ex nihilo, einer Schöpfung aus dem
Nichts.35 Der Dichter bringt den Kosmos seines Werkes durch einen göttlichen Akt
der Selbstzeugung hervor, der, wie Safranski betont, stets mit der Grundlosigkeit
seines eigenen Seins konfrontiert bleibt. Dies geht so weit, dass der Dichter sogar
seiner eigenen Schöpfung misstraut, hat er doch in die „wahren Abgründe der
Einbildungskraft“ geschaut: „Die Vorahnung von Leere und Nichtigkeit lauert im

33
   Ebd. S. 12. Hier wandelt Safranski auf den Spuren von Käte Hamburger: Schiller und Sartre. Ein
Versuch zum Idealismus-Problem Schillers, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft. 3, 1959,
S. 34-70. Allerdings hatte die Autorin ihr Erkenntnisinteresse sehr viel vorsichtiger formuliert: „Sartre
dient in dieser Methode nur als eine neue Lichtquelle, die geeignet ist, bestimme Probleme und
Schwierigkeiten bei Schiller zu beleuchten und zu erhellen“ (ebd. S. 36). Von einer schlichten
Gleichsetzung hätte Hamburger nichts wissen wollen.
34
   Rüdiger Safranski, Anm. 7, S. 155.
35
   Ebd. S. 11 u.ö.
9

schöpferischen Aufschwung. Im Enthusiasmus gibt es eine Unterströmung der Angst
vor der Ernüchterung, vor dem Ende der traumwandlerischen Sicherheit“.36 Diese
radikale Einsicht in das Prinzip der Kontingenz führe, wie im „Fiesko“, dazu, „daß der
Autor seinerseits nicht mehr weiß, wie er den Helden handeln lassen soll“.37 Der von
Safranski konstatierten „Rangerhebung der Einbildungskraft“ antwortet auf der
anderen Seite ein Prozess ihrer skeptischen Selbstaufhebung.38 Bedenkt man, dass
Schiller das solchermaßen zwiespältige Evangelium der Freiheit in physisch
reduzierter Verfassung empfangen hat – auf dem Krankenbett bei Lektüre von Kants
„Kritik der Urteilskraft“39 – wird man sich über die trüben Ursprünge seines
Idealismus nicht länger wundern. Schillers geistige Physiognomie soll sich restlos als
reziproker Ausdruck seiner Lebensschwäche erklären lassen.40

Hier geht es nicht darum, Safranskis Schiller-Biographie in toto zu bewerten.
Vielmehr soll das Konstruktionsprinzip aufgezeigt werden, das dieser zugrunde liegt,
das aber vom Verfasser selbst an keiner Stelle namhaft gemacht wird. Dabei sind die
Wurzeln seines Schillerbildes unverkennbar. Sein Porträt entpuppt sich bei
genauerem Hinsehen als eine Phantasie der Geburt des Autors aus dem „Geist des
Nekrologs“.41 Vom existentiellen Faktum der Sterblichkeit wird eine
Geschichtsschreibung des Lebens ex post abgeleitet, die dem Emblem der Leiche
untersteht. Unter deren Vorzeichen ergibt sich die historische Relevanz des
individuellen Schicksals allererst aus dem Wissen um die Endlichkeit des Menschen,
insofern jeder Ausgriff auf eine metaphysische Sinninstanz zugunsten einer
Eigenbedeutsamkeit der irdischen Existenz negiert wird. Letztere ist nur als radikal
innerweltliche legitimiert, so wie unser Interesse am exemplarischen Individuum sich
aus der Immanenzbehauptung erklärt. Am Beginn einer solchen biographischen
Tradition stehen Ludwig Feuerbachs „Gedanken über Tod und Unsterblichkeit“ von
1830, die erstmals eine Identität von Schmerz und Erlebnis statuieren, wie sie noch
Safranskis Schiller-Buch organisiert. Für Feuerbach ist der Schmerz als Ur-Erfahrung
einer Transzendenzlosigkeit des Menschen zu betrachten, aus der ein unbedingter
Primat des Vergänglichen über alle jenseitigen Trostgedanken resultiert:

36
   Ebd. S. 282.
37
   Ebd. S. 156.
38
   Ebd. S. 354.
39
   Vgl. ebd. S. 349.
40
   Vgl. ebd. S. 373: „Der Umstand, daß Schiller die Gedanken den Schmerzen abringen muß, schlägt
sich auch darin nieder, daß er zur selben Zeit einen Aufsatz über das Pathetische beginnt […]“.
41
   Vgl. den Titel des Beitrags von Gerhart v. Graevenitz, Anm. 1.
10

       In jedem Schmerze in dir feiert die Gattung den Triumph ihrer
       Alleinwirklichkeit; das schmerzliche Gewimmer der Kranken und die letzten
       Seufzer der Sterbenden, mit denen sie aus dem Dasein verhallen, sind die
       Siegesgesänge der Gattung, in denen sie ihre Realität und siegreiche
       Herrschaft über die einzelne Erscheinung feiert. In deinen Schmerzen und
       Seufzern ist mehr Philosophie und Vernunft als in deinem ganzen Verstande;
       ja, du philosophierst dann allein, wenn du vor Schmerzen stöhnst und schreist;
       die einzigen Laute der Weisheit, die aus dir kommen, sind die Töne des
       Schmerzes, denn das Wesen, die Gattung, das absolut vollkommene
       Allgemeine, dessen Wirklichkeit in deinem Verstande du verleugnest,
       affirmierst und bejahst du in seinen Schmerzen, diese und deine Seufzer sind
       die einzigen ontologischen Argumente, die du vom Dasein eines Gottes
       gibst.42

In diesem Sinne ist dem Tod – und dessen Vorboten im Leben – der „tatsächliche
Beweis“ einer Individualitätsmöglichkeit des Menschen eingeschrieben.43 Umgekehrt
nobilitiert das Erlebnis der „Vergänglichkeit“ auch wieder die Flüchtigkeit des
„verschwindenden Zeitmoments“, aus dessen Untergang unmittelbar der
„Farbenschein der Schönheit“ erhellt: „nur wo der Anfang an das Ende stößt, wo die
harten Extremen[sic] des Seins und Nichtseins zusammenstoßen, entspringt der
leuchtende Funke der Schönheit“.44 Damit schließt sich die Heraufkunft der Kunst
und der Geschichtsschreibung des Individuums an den Abgesang der Metaphysik
an: „Der seelische Schmerz über einen ‚unendlichen Verlust’ […] erledigt zwar das
dogmatische Jenseits, ist aber als Grundmotiv des ‚Nekrologs’ […] Tor zu einem
Ersatz-Jenseits“, das sich in der Geschichte bzw. im Kunstwerk auftut.45

Auf eine derartige Fundierung des Biographischen spielt auch Safranski an, wenn er
im Hinblick auf Schiller den „Tod als Inbegriff der Endlichkeit menschlicher Existenz“
bestimmt.46 Wie Feuerbach transzendenzloses Individuum nimmt auch Safranskis
Schiller sein Pathos des ‚Statt dessen’ aus der Erkenntnis, dass alle Begriffe der
Freiheit, der Erhabenheit, der Moral usw. seit Kant einzig und allein aus der

42
   Ludwig Feuerbach: Gedanken über Tod und Unsterblichkeit, in: ders.: Gesammelte Werke. Hrsg.
von Werner Schuffenhauer. Bd. 1. Berlin 1981, S. 177-515, hier S. 302. – Vgl. zum Thema auch
Dorothee Vögeli: Der Tod des Subjekts – eine philosophische Grenzerfahrung. Die Mystik des jungen
Feuerbach, dargelegt anhand seiner Frühschrift „Gedanken über Tod und Unsterblichkeit“. Würzburg
1997.
43
   Ludwig Feuerbach, Anm. 42, S. 391.
44
   Ebd. S. 294.
45
   Gerhart v. Graevenitz, Anm. 1, S. 146.
46
   Ebd. S. 480.
11

Subjektivität des Menschen entspringen.47 Im Gegenzug werden jene Gebiete der
Schillerschen Kunstphilosophie, die auf einen objektiven Bestimmungsgrund
abzielen – wie die Ästhetik des Schönen und das anthropologische Ideal der Anmut
– von Safranski konsequent marginalisiert. Wo Schillers Dramen und Erzählungen
auf Vorstellungen der Weltgerechtigkeit oder der Theodizee anspielen (wie am
Schluss der „Räuber“ oder am Ende des „Verbrechers aus verlorener Ehre“),
versucht Safranski dies zu ignorieren:

       Freiheit ist nur Triumph des Stolzes über die Qual. Das ist ein Triumph ohne
       transzendente Beglaubigung. An dieser Stelle kommt Karl [in den „Räubern“]
       und mit ihm Schiller ganz ohne die göttliche Weltordnung aus. […] Freiheit ist,
       wenn sich ein Ich mit seinem Selbst zusammenschließt.48

Schon bei Feuerbach hatte es geheißen: „Leben [ist] nur dort, wo absolute Identität
mit sich selbst ist. Was daher lebt, hat den Grund und das Prinzip seines Seins in
sich selbst […] Leben heißt nichts anderes, als der Grund seiner selbst sein“.49 Dass
Schillers Idealismus des (wohlgemerkt) 18. Jahrhunderts aber sehr wohl noch an die
Möglichkeit einer Übereinstimmung von Ideal und Wirklichkeit, von Geist und
Geschichte glaubt (und sei sie an eine ‚unendliche Annäherung’ verwiesen), kommt
in einem solchen Aufriss zu kurz.

Safranskis Schiller gibt sich dergestalt als ‚Literatur auf zweiter Stufe’ (Genette) zu
erkennen, als Fiktion, die mehrfach gebrochen und vermittelt ist. Zu deren
intertextuellen Ingredienzien gehört auch ein im engeren Sinne fiktionales Schiller-
Porträt: Thomas Manns literarische Schiller-Erzählung „Schwere Stunde“ von 1905.
Sie liefert Safranski den Prätext zu seiner ‚Erfindung des Autors’ (ohne ihrerseits eine
Erwähnung zu finden). In ihr sind die Leitmotive des ‚Pathos der Distanz’ und des
‚Heroismus der Schwäche’ bereits auf Schillers künstlerische Existenz angewendet:
In dunkler Nacht sitzend, ringt der Dichter mit dem „Wallenstein“, seinem
„Leidenswerk“, das er seinem kranken Organismus abzutrotzen versucht:50 „Aber er

47
   Vgl. Rüdiger Safranski, Anm. 7, S. 374 u.ö.
48
   Ebd. S. 115.
49
   Ludwig Feuerbach, Anm. 42, S. 287.
50
   Thomas Mann: Schwere Stunde, in: ders.: Die Erzählungen, Frankfurt a.M. 1986, S. 411-420, hier,
S. 420. – Vgl. auch Thomas Manns Schiller-Rede von 1955: Thomas Mann: Versuch über Schiller, in:
ders.: Ausgewählte Essays in drei Bänden. Bd. 1. Hrsg. von Michael Mann. Frankfurt a.M. 1977, S.
201-215; hier wird Schiller als „das erhabene Stiefkind des Lebens“ geadelt (ebd. S. 209). Inspirator
eines solchen Schiller-Bildes ist Nietzsche, in dem sich Thomas Manns Schiller und derjenige
Safranskis treffen.
12

glaubte ja an den Schmerz, so tief, so innig, daß etwas, was unter Schmerzen
geschah, diesem Glauben zufolge weder nutzlos noch schlecht sein konnte. […] Das
Talent selbst – war es nicht Schmerz?“51 Der von Safranski ausgiebig geschilderte
Raubbau Schillers an der eigenen Natur – Thomas Mann liefert die
Formulierungshilfe:

       Er [Schiller] hatte gesündigt, sich versündigt gegen sich selbst in all den
       Jahren, gegen das zarte Instrument seines Körpers. Die Ausschweifungen
       seines Jugendmutes, die durchwachten Nächte, die Tage in tabakrauchiger
       Stubenluft, übergeistig und des Leibes uneingedenk, die Rauschmittel, mit
       denen er sich zur Arbeit gestachelt – das rächte, rächte sich jetzt!52

Auch das von Safranski als creatio ex nihilo apostrophierte Prinzip der Autogenese
von Künstler und Kunst wird hier bereits wörtlich präformiert: „Wer war ein Künstler,
ein Dichter gleich ihm selbst? Wer schuf, wie er, aus dem Nichts, aus der eigenen
Brust“.53 Schließlich: Die (in der Schiller-Biographik allgegenwärtige) Vergleichung
mit dem glücklicheren Goethe, auch sie hat Thomas Mann schon effektvoll
eingesetzt: „[…] der andere, der dort, in Weimar, den er mit einer sehnsüchtigen
Feindschaft liebte. Der war weise. Der wußte zu leben, zu schaffen; mißhandelte sich
nicht; war voller Rücksicht gegen sich selbst ...“54 Alles in allem ist die Fassung, die
Safranski der Schillerschen Freiheitsphilosophie gibt, weniger aus dessen Schriften
als aus Thomas Manns fiktionalem Schiller-Porträt abgeleitet, wo sie nicht als
‚Freiheit zu etwas’ (wie in Kants Moralphilosophie), sondern als „Freiheit wovon“:
nämlich von den Banden des Körpers interpretiert wird.55

Ohne Frage darf sich der Schiller-Biograph bei einem Schiller-Mythos des späten 19.
Jahrhunderts bedienen, wenn eine solche Anleihe denn transparent gemacht und die
Konstruktion der ‚Erzählung’ thematisiert wird. So aber ist Safranskis „Schiller“
Produkt einer unreflektierten ‚Legende vom Künstler’, deren Funktionsprinzipien
Ernst Kris und Otto Kurz in einer berühmten Studie dargelegt haben – die von ihnen
beschriebenen narrativen Strategien, die bei der Anekdotisierung, Heroisierung und
Dämonisierung des bildenden Künstler seit der Antike am Werk sind, sind auf den
Dichter zu übertragen:

51
   Thomas Mann: Schwere Stunde, Anm. 50, S. 416.
52
   Ebd. S. 415.
53
   Ebd. S. 418f.
54
   Ebd. S. 413.
55
   Ebd. S. 419.
13

       […] wir meinen aufzeigen zu können, daß in aller Biographik gewisse
       Grundvorstellungen vom bildenden Künstler nachzuweisen sind, die, ihrem
       Wesen nach aus einheitlicher Wurzel verständlich, sich bis in die Anfänge der
       Geschichtsschreibung zurückverfolgen lassen. Bei aller Abwandlung und
       Umgestaltung scheinen sie bis in die jüngste Vergangenheit ihre Bedeutung
       nie ganz eingebüßt zu haben. Ihre Herkunft ist für unser Bewußtsein
       verschüttet und muß erst mühsam aufgedeckt werden.56

Bezeichnenderweise sind fünf der dort beschriebenen klassischen Topoi der
Künstler-Hagiographie auch bei Safranski anzutreffen:

       1. Die Stilisierung des Künstlers zum deus artifex, zum gottgleichen Schöpfer,
der aus eigner Machtvollkommenheit eine Welt inauguriert – bei Safranski entspricht
dem das Motiv der creatio ex nihilo57;
       2. die Begründung der besonderen Leistungsfähigkeit des Künstlers aus
dessen Leidensfähigkeit, so dass das Agens seiner exzeptionellen Produktivität auf
einem „physischen Defekt“ zu beruhen scheint – Schillers körperlicher
Gebrechlichkeit58;
       3. das Motiv der „Künstlerkonkurrenz“ – das bei Safranski nach beliebter
Manier als Rivalität zwischen Schiller und Goethe variiert wird59;
       4. die Funktion von Rätsel und Geheimnis, die als Quellen der Inspiration in
ein mystisches Dunkel gehüllt werden – Safranski spricht in diesem Zusammenhang
vom inkalkulablen „Mysterium der Freiheit“60;
       5. der notorische Rückgriff auf eine Künstler-Anekdote als „Urzelle“ der
Biographik – im vorliegenden Fall auf Thomas Manns Schiller-Erzählung.61

Damit bestätigt die „Erfindung des Deutschen Idealismus“ noch einmal Schillers
eigene Prognose (aus dem Prolog zum „Wallenstein“), der zufolge sich das
vermeintliche ‚Charakterbild’ des Porträtierten als eine „Reihe von Gemälden“
enthüllt, die sich wechselseitig erhellen, ohne als „düstre[s] Bild der Wahrheit“
historische Authentizität beanspruchen können.62 Vielleicht gibt das vorliegende

56
   Ernst Kris, Otto Kurz: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch. Mit einem Vorwort
von Ernst H. Gombrich. Frankfurt a.M. 1995 (englische Erstausgabe 1934), S. 23.
57
   Vgl. ebd. S. 64ff.
58
   Ebd. S. 152.
59
   Ebd. S. 155.
60
   Vgl. ebd. S. 21ff.
61
   Ebd. S. 33.
62
   „Wallensteins Lager. Prolog“, Verse 122 und 133f. (Friedrich Schiller, Anm. 31, S. 273f.).
14

Beispiel aber auch Anlass, der selbstverständlichen Rede von der ‚Rückkehr des
Autors’ zu misstrauen – so lange sie theoretisch und methodisch nicht auf einer Höhe
mit ihren Gegnern geführt wird.63 Einstweilen aber bleiben uns die Texte – voran
diejenigen Schillers.

Bibliographischer Nachweis
Zuerst erschienen in: Erinnerte Zeit. Festschrift für Lothar Pikulik zum 70.
Geburtstag, hg. v. Zygmunt Mielczarek, Czestochowa 2006, S. 65-76

63
  Vgl. dazu die Einleitung von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez, Simone Winko: Rede
über den Autor an die Gebildeten unter seinen Verächtern. Historische Modelle und systematische
Perspektiven, in: Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez, Simone Winko (Hrsg.), Anm. 4, S.
3-35.
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