Journal of Health Monitoring - RKI
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
SEPTEMBER 2020 GESUNDHEITSBERICHTERSTATTUNG DES BUNDES 6 SPECIAL ISSUE GEMEINSAM GETRAGEN VON RKI UND DESTATIS Journal of Health Monitoring Migräne und Spannungskopfschmerz in Deutschland. Prävalenz und Erkrankungsschwere im Rahmen der Krankheitslast-Studie BURDEN 2020 1
Journal of Health Monitoring Migräne und Spannungskopfschmerz in Deutschland FOCUS Journal of Health Monitoring · 2020 5(S6) DOI 10.25646/6988.2 Migräne und Spannungskopfschmerz in Deutschland. Robert Koch-Institut, Berlin Prävalenz und Erkrankungsschwere im Rahmen der Krankheits- Michael Porst 1, Annelene Wengler 1, Janko Leddin 1, Hannelore Neuhauser 1, last-Studie BURDEN 2020 Zaza Katsarava 2, 3, 4, 5, Elena von der Lippe 1, Aline Anton 1, Thomas Ziese 1, Abstract Alexander Rommel 1, In Deutschland sind Kopfschmerzerkrankungen sowohl unter Frauen als auch unter Männern weit verbreitet und führen für die BURDEN 2020 study group meist zu Einschränkungen der Lebensqualität. Die häufigsten Kopfschmerzerkrankungen sind Migräne und Spannungskopfschmerz. Zum Zweck einer validen Schätzung der Prävalenzen wurde zwischen Oktober 2019 und März 1 Robert Koch-Institut, Berlin 2020 eine telefonische Querschnittbefragung unter Erwachsenen in Deutschland (N = 5.009) durchgeführt. Anhand der Abteilung für Epidemiologie und Gesundheits- diagnostischen Kriterien der International Classification of Headache Disorders wurden Häufigkeit, Dauer, Eigenschaften monitoring und Begleiterscheinungen der Kopfschmerzen erfragt. 57,5 % der Frauen und 44,4 % der Männer in Deutschland berichten, 2 Evangelisches Krankenhaus Unna 3 Universität Duisburg-Essen, binnen eines Jahres mindestens einmal von Kopfschmerzen betroffen zu sein. 14,8 % der Frauen und 6,0 % der Männer Abteilung für Neurologie erfüllen die kompletten Kriterien für Migräne. 10,3 % der Frauen und 6,5 % der Männer sind von Spannungskopfschmerzen 4 EVEX Medical Corporation, Tbilisi, Georgien betroffen. Migräne und Spannungskopfschmerzen treten vorwiegend im erwerbsfähigen Alter auf und nehmen im 5 I.M. Erste Staatliche Medizinische Altersverlauf stetig ab. Migräne geht häufig mit Begleiterkrankungen wie depressiven Symptomen und Angststörungen Setschenow-Universität Moskau, Russland einher. Der Versorgungsgrad bei Kopfschmerzerkrankungen ist gering. Nur eine Minderheit der Betroffenen sucht binnen Eingereicht: 02.04.2020 eines Jahres ärztliche Hilfe. Die Ergebnisse geben ein umfangreiches Bild zu den bevölkerungsbezogenen Beeinträchtigungen Akzeptiert: 22.06.2020 durch Kopfschmerzerkrankungen. Sie werden im Rahmen der Studie BURDEN 2020 genutzt, um zentrale Indikatoren Veröffentlicht: 09.09.2020 der Krankheitslastrechnung zu quantifizieren. MIGRÄNE · SPANNUNGSKOPFSCHMERZ · BURDEN OF DISEASE · ARZNEIMITTEL · BEGLEITERKRANKUNGEN 1. Einleitung letzten zwölf Monaten berichtet [2]. 45,2 % der 11- bis 17-jäh- rigen Mädchen und 28,7 % der gleichaltrigen Jungen Kopfschmerzen sind weit verbreitet und zählen zu den sind nach Ergebnissen der Studie zur Gesundheit von regelmäßig wiederkehrenden Symptomen und Krankheits- Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS Welle 2, erfahrungen vieler Menschen [1]. Entsprechend haben 2014 – 2017) in den drei Monaten vor der Befragung von schon im telefonischen Gesundheitssurvey GSTel 2004 des wiederholt auftretenden Kopfschmerzen betroffen [3]. Robert Koch-Instituts (RKI) 66,6 % der Frauen und 53,0 % Aus Deutschland liegen verschiedene größere epidemio- der Männer in Deutschland von Kopfschmerzen in den logische Studien vor, welche Schätzungen zur Prävalenz der Journal of Health Monitoring 2020 5(S6) Dieser Artikel wurde korrigiert (siehe Corrigendum Seite 26), Stand 30.11.2020 2
Journal of Health Monitoring Migräne und Spannungskopfschmerz in Deutschland FOCUS beiden häufigsten Kopfschmerzerkrankungen, Spannungs- Lohnersatzleistungen wider. Kopfschmerzerkrankungen kopfschmerz und Migräne, vorgelegt haben. Eine Migräne finden sich daher nicht unter den 30 häufigsten Diagno- zeichnet sich durch einen einseitigen, pulsierenden oder sen in allgemeinmedizinischen Praxen. Auch in neurolo- pochenden Schmerz aus, der von den Betroffenen als gischen Praxen, die für eine spezialisierte Versorgung moderat bis schwer empfunden wird und sich meist durch infrage kommen, machen Migräne (Internationale statis- körperliche Aktivität verstärkt. Die Kopfschmerzen können tische Klassifikation der Krankheiten und verwandter mit den Begleiterscheinungen Übelkeit, Erbrechen, Licht- Gesundheitsprobleme, 10. Revision, ICD-10: G43) und und Geräuschüberempfindlichkeit einhergehen. Treten sonstige Kopfschmerzsyndrome (ICD-10: G44) nur 4,4 % zusätzlich Einschränkungen im Sichtfeld (Flimmern oder beziehungsweise 3,8 % der Behandlungsfälle aus [7, 8]. Blitze) oder Sprach- und Sprechstörungen auf, spricht man Entsprechend liegt der Anteil der wegen Kopfschmerz von einer Migräne mit Aura. Ebenfalls ist eine Taubheit erkrankungen behandelten Versicherten der Barmer Ersatz- einer oder mehrerer Gliedmaßen im Verlauf einer Migrä- kasse im einstelligen Bereich [9, 10]. Auch machen Kopf- neattacke möglich. Der Spannungskopfschmerz hingegen schmerz (ICD-10: R51) und Migräne (ICD-10: G43) unter lässt sich als ein beidseitiger, dumpfer oder drückender den Versicherten der Barmer nur 1,9 % der Arbeitsunfä- Schmerz charakterisieren, der als mild oder moderat emp- higkeitsfälle und 0,8 % der Arbeitsunfähigkeitstage aus funden wird und sich nicht durch körperliche Aktivitäten [10]. Allerdings fallen die indirekten Krankheitskosten verstärkt. Dieser Schmerz kann begleitet werden durch höher aus, wenn auf Basis von Befragungsdaten auch Licht- oder Geräuschüberempfindlichkeit, jedoch nicht Kosten durch eine verminderte Leistungsfähigkeit und durch beides gleichzeitig [4]. Produktivität ohne Krankschreibung einfließen. Mehr als Die Häufigkeiten von Kopfschmerzerkrankungen 90 % der schätzungsweise durch Kopfschmerz verursach- schwanken aufgrund unterschiedlicher Stichproben und ten Kosten entfielen nach Angaben der Eurolight-Studie Erhebungsmodi bei Migräne zwischen 15,6 % und 23,9 % (2008 – 2009) der Europäischen Union (EU) auf indirekte bei Frauen und zwischen 4,0 % und 11,1 % bei Männern. Kosten [11, 12]. Für den Spannungskopfschmerz variieren die Befunde Besonders sichtbar wird die Public-Health-Relevanz zwischen 14,5 % und 31,7 % bei Frauen und zwischen von Kopfschmerzerkrankungen bei Betrachtung der Aus- 12,0 % und 26,9 % bei Männern [1, 2, 5, 6]. In den meisten wirkungen auf die Lebensqualität der Betroffenen und ihrer Statistiken zur gesundheitlichen Versorgung ist die Bedeu- Angehörigen. Während der Kopfschmerzattacken ist bei tung von Kopfschmerzen allgemein beziehungsweise von vielen Betroffenen die Funktionsfähigkeit im Alltag stark Migräne und Spannungskopfschmerzen nicht abzulesen. eingeschränkt. Neben einer geminderten Leistungsfähig- Da die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen gering keit im Beruf werden auch Sozialkontakte nur noch einge- und Arbeitsunfähigkeiten meist kurz sind, spiegeln sich schränkt wahrgenommen und auf Freizeitaktivitäten wird die Prävalenzen kaum in abgerechneten Versorgungs- und verzichtet [11, 13]. Schon die Furcht vor der nächsten Journal of Health Monitoring 2020 5(S6) 3
Journal of Health Monitoring Migräne und Spannungskopfschmerz in Deutschland FOCUS Erkrankungsepisode kann die Lebensqualität stark Kopfschmerzerkrankungen angelehnt an die Logik der Infobox: beeinträchtigen und Begleiterkrankungen wie Depression, Global-Burden-of-Disease-Studie [22]. Relevante Studien in Burden of Disease Schlafstörungen oder andere Schmerzerkrankungen Deutschland liegen bereits einige Zeit zurück, weisen nur Die Global-Burden-of-Disease-Studie führt welt- begünstigen [13, 14]. einen regionalen Bezug auf oder decken notwendige Infor- weit umfassende Krankheitslastberechnungen Die verminderte Lebensqualität durch krankheits mationen nicht vollständig ab [1–3, 5, 6, 23–27]. Im Rahmen durch und stellt ein wichtiges Informationssystem für internationale Vergleiche dar [15]. Dabei wird bedingte Einschränkungen wird bei der Berechnung der von BURDEN 2020 wurde daher ein bevölkerungsbezoge- die vorzeitige Mortalität (years of life lost, YLL) mit Krankheitslast (Burden of Disease) über den Verlust an ner Befragungssurvey zu Schmerzerkrankungen durch den durch Krankheit verlorenen gesunden Lebens- jahren (years lived with disability, YLD) zum Sum- gesunder Lebenszeit gemessen [15]. Nach Berechnungen geführt, um aktuelle Daten zur Verfügung zu stellen. menmaß DALY (disability adjusted life years) der Global-Burden-of-Disease-Studie (Infobox) hatte Der vorliegende Beitrag möchte auf Basis dieser Studie addiert. Erkrankungen werden also nicht primär in Migräne in Deutschland 2017 einen Anteil von 5,1 % der in einen Überblick über Kopfschmerzerkrankungen in ihrer Häufigkeit, sondern in ihrer unterschiedlichen Auswirkung auf die Bevölkerungsgesundheit, Krankheit verbrachten Lebenszeit (years lived with disabil- Deutschland, insbesondere in Bezug auf Migräne und gemessen in verlorener gesunder Lebenszeit, ver- ity, YLD) und nahm damit Rang zwei aller Erkrankungen Spannungskopfschmerzen, geben. Dabei stehen die Häu- glichen. Da Kopfschmerzerkrankungen keine gül- ein. Die stärker beeinträchtigende Migräne ist dabei von figkeit von Kopfschmerzerkrankungen sowie deren Vertei- tige Todesursache im Sinne der Kodiervorgaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind, größerer Bedeutung als der Spannungskopfschmerz, auf lung nach Alter und Geschlecht im Vordergrund. Zudem gehen sie in die Berechnungen der YLL nicht ein. den ein Anteil von 0,7 % entfiel (Rang 31) [16]. Limitationen wird ein Überblick zur Erkrankungsschwere anhand der Ihr Anteil an der gesamten Krankheitslast, ausge- der Global-Burden-of-Disease-Studie sind in Bezug auf die Dauer, Intensität und Häufigkeit von Kopfschmerzen gege- drückt in DALY, fällt daher geringer aus als ihr Anteil an den YLD. Dennoch war Migräne auf Rang Verfügbarkeit von Daten zu sehen [17–19]. Daraus wird die ben. Soziale Determinanten von Kopfschmerzerkrankun- neun aller Erkrankungen 2017 immer noch für Notwendigkeit abgeleitet, Kopfschmerzerkrankungen in gen werden in einer multivariaten Analyse untersucht. 2,4 % der DALY in Deutschland verantwortlich [54]. die Erhebungsprogramme nationaler Gesundheitssurveys In Bezug auf die Versorgung von Kopfschmerzerkrankun- zu integrieren, um die Datengrundlage für die Krankheits- gen werden die Häufigkeit der Inanspruchnahme ambu- lastberechnung zu verbessern [20]. lanter ärztlicher Leistungen und die Häufigkeit der Ein- In der Studie „BURDEN 2020 – Die Krankheitslast in nahme von Arzneimitteln beleuchtet. Dabei wird auch die Deutschland und seinen Regionen“ werden für wichtige Häufigkeit eines Medikamentenübergebrauchs abgeschätzt. Erkrankungen, darunter Spannungskopfschmerz und Migräne, Berechnungen zu den verlorenen gesunden 2. Methode Lebensjahren (YLD) durchgeführt [21]. Ziel des Projekts ist 2.1 Datenerhebung es, die Datengrundlage für Krankheitslastberechnungen in Deutschland zu verbessern und an die spezifischen Infor- Zwischen Oktober 2019 und März 2020 wurde eine Studie mationsbedarfe anzupassen. Herausforderungen bestehen zu Kopf-, Rücken- und Nackenschmerzen in Deutschland in der Messung der Prävalenz nach den Kriterien der als bundesweite telefonische Querschnittbefragung durch- International Classification of Headache Disorders [4] geführt. Befragt wurden deutschsprachige Personen ab sowie in der Operationalisierung von Schweregraden bei 18 Jahren mit einem Wohnsitz in Deutschland. Die Studie Journal of Health Monitoring 2020 5(S6) 4
Journal of Health Monitoring Migräne und Spannungskopfschmerz in Deutschland FOCUS wurde im RKI konzipiert und vom Markt- und Sozialfor- (American Association for Public Opinion Research) schungsinstitut USUMA GmbH durchgeführt. Umsetzung berechnet [35]. Die Responserate belief sich auf 24,0 %. und Qualitätssicherung der Befragung orientierten sich an einem standardisierten Konzept [28]. Zur Kontaktierung 2.2 Erfassung von Migräne und Spannungskopfschmerz der Teilnehmenden wurde zufällig je eine Stichprobe aus Festnetz- und Mobilfunknummern auf Basis des Telefon- Im Bereich Kopfschmerzen wurde ein früheres Instrument stichprobensystems des Arbeitskreises Deutscher Markt- zur Messung von Migräne aus dem Telefonischen Gesund- und Sozialforschungsinstitute gezogen [29]. Die Gesamt- heitssurvey GSTel 2004 des RKI weiterentwickelt [5, 32]. stichprobe setzt sich aus 60 % Festnetz- und 40 % Diese Erweiterung hatte zum Ziel, sowohl Migräne als auch Mobilfunknummern zusammen [29]. Alle in der Bundes- Spannungskopfschmerzen nach den diagnostischen Krite- republik Deutschland nutzbaren Telefonnummern können rien der International Classification of Headache Disorders Teil der Stichprobe sein, sodass die Studie für alle poten- (3rd edition) abbilden zu können [4], an denen sich auch ziell in Deutschland telefonisch erreichbaren Privathaus- die Global-Burden-of-Disease-Studie orientiert [22]. Diese halte repräsentativ ist. Die Auswahl der Teilnehmenden Kriterien lassen sich zu vier zentralen Indikatoren zusam- erfolgt bei Festnetzanschlüssen zufällig anhand des menfassen, und zwar (i) die Anzahl der Kopfschmerz- sogenannten Schwedenschlüssels (auch Kish-Selection- attacken, (ii) die Dauer der Attacken, (iii) Charakteristiken Grid) [28]. sowie (iv) etwaige Begleiterscheinungen. Die Konzeption des Fragebogens orientierte sich an Tabelle 1 gibt eine Übersicht, wie in der vorliegenden anderen telefonischen Studien des Gesundheitsmonito- Studie auf Basis der Kriterien der International Classifica- rings am RKI [28]. Zur Vergleichbarkeit und zur Bestim- tion of Headache Disorders die Indikatoren zur Identifika- mung von zeitlichen Trends wurden für die Erhebung vali- tion Betroffener mit Migräne oder Spannungskopfschmerz dierte Instrumente zur Messung von Kopf-, Rücken- und gebildet wurden. Zur Messung der Intensität wurden die Nackenschmerzen im Vorfeld gesichtet und im Fragebogen Befragten gebeten, ihre Kopfschmerzen als leicht, mäßig umgesetzt [1, 30–34]. In der Studie wurden umfangreiche oder stark einzustufen. Des Weiteren wurde die mittlere Informationen zu Charakteristiken der einzelnen Schmerz Zahl an Kopfschmerzattacken pro Monat und die Dauer erkrankungen erhoben. Themen der allgemeinen Gesund- der Attacken erhoben. Gemäß den Kriterien der Interna heit sowie Lebenszufriedenheit waren ebenfalls Gegen- tional Classification of Headache Disorders wurden die stand der Befragung. Darüber hinaus wurden Angaben zum Befragten außerdem gebeten einzuschätzen, wie lange der Medikamentengebrauch bei Personen mit Kopfschmerzen Kopfschmerz dauern würde, wenn sie keine Schmerz erfasst. Die durchschnittliche Interviewzeit betrug 23 Minu- medikation einsetzen würden oder eine Behandlung erfolg- ten. Der Fragebogen steht auf Anfrage zur Verfügung. Die los bliebe. So werden Teilnehmende als an Migräne erkrankt Responserate wurde nach den Kriterien der AAPOR klassifiziert, wenn sie mindestens fünf Attacken im Laufe Journal of Health Monitoring 2020 5(S6) 5
Journal of Health Monitoring Migräne und Spannungskopfschmerz in Deutschland FOCUS ihre Lebens hatten (A), ihre Attacken vier bis 72 Stunden zwischen 30 Minuten und sieben Tagen andauerten (B), andauerten (B), mindestens zwei von vier Kopfschmerz- mindestens zwei der vier Charakteristiken zutrafen (C) und charakteristiken zutrafen (C) und mindestens eine der beide angegebenen Begleiterscheinungen (D) erfüllt waren. zwei genannten Begleiterscheinungen während ihrer Kopf- Werden wiederum alle Kriterien (A – D) erfüllt, liegt ein Span- schmerzen auftraten (D). Setzt man voraus, dass jeweils nungskopfschmerz vor (komplette Kriterien). Wird eines alle Indikatoren (A – D) zutreffen, kann man von einer der Kriterien nicht erfüllt, spricht man auch hier von einem Migräne ausgehen (komplette Kriterien; engl. üblicher- wahrscheinlichen Spannungskopfschmerz. weise „definite“). Wird eines der Kriterien nicht erfüllt, Das Krankheitsbild der Migräne lässt eine weitere Dif- spricht man von einer wahrscheinlichen Migräne (engl. ferenzierung in Migräne mit oder ohne Aura zu (Tabelle 1). üblicherweise “probable“). Als von Migräne mit Aura betroffen gelten Teilnehmende, Demgegenüber werden Befragte als von Spannungskopf- bei denen eine Migräne vorliegt (sowohl komplette Krite- schmerzen betroffen eingestuft, wenn sie mindestens zehn rien als auch wahrscheinlich) und die eine Einschränkung Episoden im Laufe ihre Lebens hatten (A), ihre Attacken im Sichtfeld, ein Schwächegefühl in den Gliedmaßen oder Migräne (ohne Aura) Spannungskopfschmerz A. Anzahl Mindestens fünf Attacken auf die gesamte Lebenszeit Mindestens zehn Episoden des Kopfschmerzes auf bezogen die gesamte Lebenszeit bezogen B. Dauer der Attacken 4 – 72 Stunden (unbehandelt oder erfolglos Zwischen 30 Minuten und sieben Tagen (unbehandelt behandelt) oder erfolglos behandelt) C. Charakteristiken Mindestens zwei der folgenden Charakteristiken: Mindestens zwei der folgenden Charakteristiken: 1. Schmerz tritt auf der linken oder rechten Kopfhälfte 1. Beidseitiger Schmerz auf (einseitig) 2. Schmerz ist dumpf, drückend oder ziehend 2. Pulsierender oder pochender Schmerz 3. Milde oder moderate Intensität 3. Moderate oder schwere Schmerzintensität 4. Schmerz wird nicht durch körperliche Aktivität 4. Schmerz wird durch körperliche Aktivität verstärkt verstärkt D. Begleit Mindestens einer der folgenden Punkte: Beide Punkte sind erfüllt: erscheinungen 1. Übelkeit und/oder Erbrechen 1. Keine Übelkeit oder Erbrechen 2. Geräuschüberempfindlichkeit und Lichtüberemp- 2. Lichtüberempfindlichkeit oder Geräuschüberemp- findlichkeit findlichkeit, es kann nicht beides vorhanden sein Zusätzlicher Indikator Migräne (mit Aura) 1. Migräne (ohne Aura) liegt vor 2. Weiterhin erfüllt die Person mindestens eine der folgenden Kriterien: Tabelle 1 a. Flimmern oder Blitzen vor den Augen für Indikatoren zur Erfassung von Migräne mindestens fünf Minuten sowie Spannungskopfschmerz b. Schwäche, Lähmung oder Taubheitsgefühl eines Quelle: Eigene Darstellung Armes oder Beines, oder Sprachstörungen Journal of Health Monitoring 2020 5(S6) 6
Journal of Health Monitoring Migräne und Spannungskopfschmerz in Deutschland FOCUS Sprachstörungen angegeben haben (Tabelle 1). Darüber Migräne als auch einen Spannungskopfschmerz erfüllt sein hinaus werden Teilnehmende mit Migräne (komplette können. Des Weiteren werden komplett erfüllte Kriterien Kriterien) und Spannungskopfschmerz (komplette Krite- wahrscheinlich erfüllten Kriterien vorgezogen: Erfüllen die rien) nach episodisch auftretenden Kopfschmerzen (weni- Befragten neben den kompletten Kriterien einer Migräne ger als 15 Tage pro Monat) sowie chronischen Kopfschmer- auch die Kriterien für den wahrscheinlichen Spannungs- zen (15 oder mehr Tage pro Monat) unterteilt. kopfschmerz, wird die Migräne priorisiert. Wenn die kom- Alle Teilnehmenden mit Kopfschmerzen in den letzten pletten Kriterien des Spannungskopfschmerzes und die zwölf Monaten hatten die Möglichkeit, mehrere Kopf- Kriterien der wahrscheinlichen Migräne erfüllt werden, schmerzarten zu beschreiben. Hierzu wurde die Frage erfolgt die Zuordnung zu Spannungskopfschmerz. Zudem gestellt: „Haben Sie immer den gleichen Kopfschmerz oder ist der wahrscheinliche Spannungskopfschmerz der wahr- haben Sie verschiedene Kopfschmerzarten?“ Personen, die scheinlichen Migräne nachgeordnet. verschiedene Kopfschmerzarten angaben, erhielten die In den vorliegenden Analysen stehen folgende Perso- Fragen zu Anzahl, Dauer, Charakteristiken sowie zu Begleit nengruppen (Abbildung 1) im Mittelpunkt: erscheinungen ihrer Kopfschmerzen zweimal. Für jede der beiden berichteten Kopfschmerzarten wurde eine eindeu- Personen mit Kopfschmerzen in den letzten zwölf Mona- tige Zuordnung entweder zu Migräne oder zum Span- ten, nungskopfschmerz vorgenommen, so dass innerhalb einer Personen mit Migräne (komplette Kriterien), durch die Befragten beschriebenen Kopfschmerzart nicht oder Personen mit Spannungskopfschmerz (komplette gleichzeitig die kompletten Kriterien sowohl für eine Kriterien). Migräne Migräne (komplette Kriterien) mit Aura zusätzlich Wahrscheinliche Migräne Medikamentenübergebrauch Kopfschmerzen Spannungskopfschmerz Spannungskopfschmerz (in den letzten zwölf Monaten) (komplette Kriterien) zusätzlich Wahrscheinlicher Abbildung 1 Medikamentenübergebrauch Spannungskopfschmerz Schematische Darstellung der Kopfschmerzen angelehnt an die Global-Burden-of-Disease-Studie Sonstiger Kopfschmerz Quelle: Eigene Darstellung Journal of Health Monitoring 2020 5(S6) 7
Journal of Health Monitoring Migräne und Spannungskopfschmerz in Deutschland FOCUS Im weiteren Verlauf wird eine Migräne, bei der die kom- 2.3 Weitere Indikatoren pletten Kriterien erfüllt sind, als Migräne bezeichnet. Glei- chermaßen wird beim Spannungskopfschmerz verfahren. Neben den Kopfschmerzerkrankungen selbst wurden wei- Ein vergleichsweise seltenes Phänomen mit einer Prä- tere Angaben erfasst, um das Krankheitsgeschehen bei valenz zwischen 1 % und 2 % in der erwachsenen Bevölke- Migräne und Spannungskopfschmerz in der Bevölkerung rung ist der Kopfschmerz durch Medikamentenüberge- abzubilden. Dazu zählen auch weitere Erkrankungen der brauch [36, 37]. Dieser kann sich einstellen, wenn ein hoher Teilnehmenden. Studien zeigen, dass relevante Zusammen- Konsum von Medikamenten zur Akutbehandlung von hänge zwischen Schmerzerkrankungen und dem Auftreten Schmerzen, darunter Migräne oder Spannungskopfschmer- von psychischen Störungen bestehen [13]. Hierbei sind vor zen, stattfindet. Zur Identifizierung möglicherweise betrof- allem Depression und Angststörungen zu nennen. Eine fener Personen wurden die Teilnehmenden gebeten, bis zu depressive Symptomatik sowie eine Angststörung wurden fünf von ihnen eingenommene Medikamente zur Akut durch Selbstangaben zu den vier Items des Patient Health behandlung oder Vorbeugung von Kopf- und anderen Questionnaire (PHQ-4) erfasst, die hinsichtlich der Häu- Schmerzen anzugeben. Hierzu gab es eine umfangreiche figkeit ihres Auftretens in den letzten zwei Wochen beur- Liste an Medikamenten (Marken- bzw. Handelsnamen) zur teilt werden. Je zwei Items bilden die Kernkriterien für Behandlung von Kopf- und anderen Schmerzen, die von Depression und generalisierte Angststörung nach dem den Interviewenden zur Zuordnung verwendet wurde. Auch Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders war es den Teilnehmenden möglich, den Wirkstoff ihrer (DSM-V) der American Psychiatric Association ab. Für bei- Medikamente anzugeben. Falls ein angewendetes Medika- de Skalen wird das Überschreiten des Schwellenwertes von ment nicht in der Liste stand, konnten zusätzlich Freitextan- mindestens drei Punkten auf einer Skala von null bis sechs gaben gemacht werden. Die Teilnehmenden wurden außer- als Hinweis für das Vorliegen einer depressiven Sympto- dem gebeten, neben der Häufigkeit auch die Dauer der matik beziehungsweise Angststörung gewertet [38]. Des Einnahme anzugeben. Ein Kopfschmerz durch Medikamen- Weiteren wurden Rücken- und Nackenschmerzen als selbst- tenübergebrauch wurde gemäß der International Classifi- berichtete 12-Monats-Prävalenzen erfasst, da diese ebenso cation of Headache Disorders bei Personen angenommen, mit Migräne und Spannungskopfschmerzen einhergehen die an mindestens 15 Tagen im Monat von Kopfschmerzen können [13]. Hier wurden vor allem jene Befragte berück- berichteten und an mindestens 15 Tagen im Monat gängige sichtigt, die von schweren oder sehr schweren Rücken- oder Schmerzmittel (z. B. Paracetamol, Ibuprofen, Acetylsalicyl- Nackenschmerzen berichteten. säure oder Mischanalgetika) oder an mindestens zehn Weiterhin wurden soziodemografische Faktoren erho- Tagen im Monat Triptane, Ergotamine oder Opioide ein- ben, und zwar zu Bildung, Haushaltszusammensetzung nehmen. In beiden Fällen muss eine Einnahme für mehr und Erwerbstätigkeit. Hinsichtlich der Erwerbstätigkeit als drei Monate vorliegen. wurde zwischen arbeitslos oder arbeitssuchend und Journal of Health Monitoring 2020 5(S6) 8
Journal of Health Monitoring Migräne und Spannungskopfschmerz in Deutschland FOCUS erwerbstätig beziehungsweise im Ruhestand unterschie- aus Festnetz- und Mobilfunknummern zusammensetzen den. Die International Standard Classification of Education (Dual-Frame-Design) [29]. Die Anpassungsgewichtung (ISCED) 2011 der United Nations Educational, Scientific erfolgt iterativ nach den Merkmalen Geschlecht, Alter, and Cultural Organization (UNESCO) ermöglicht den inter- Bildung und Region, um eine vergleichbare Verteilungs- nationalen Vergleich zwischen Bildungsniveaus und erlaubt struktur dieser Merkmale zur Wohnbevölkerung ab 18 Jah- es, den höchsten erreichten Bildungsabschluss der Befrag- ren in Deutschland zu erzielen. Als Vergleichsbasis dienten ten gemäß EU-Standard in drei Gruppen (niedrig, mittel, hierzu die Daten des Statistischen Bundesamtes (Bevöl- hoch) einzuteilen [39]. Auch wurde berücksichtigt, ob die kerungsstand zum 31.12.2018) sowie des Mikrozensus aus befragte Person mit einer Partnerin oder einem Partner dem Jahr 2017 [41, 42]. zusammenlebt. Die wahrgenommene soziale Unterstüt- Darüber hinaus wurden Zusammenhänge zwischen zung im privaten Umfeld wurde als Hilfsvariable für mög- Merkmalen getestet. Bei nominalen Ausprägungen wurde liche unterstützende Netzwerke hinzugezogen. Sie wird der Pearson χ2-Test für Survey-Stichproben angewendet über die Oslo-3 Social Support Scale gemessen und aus [43]. Hinsichtlich rein metrischer Maße wurden Mittelwert- drei Indikatoren gebildet [40]: (i) der Anzahl der Menschen unterschiede zwischen Gruppen anhand des t-Tests berück- im persönlichen Umfeld, auf die man sich bei ernsten Pro- sichtigt [44]. Weiterhin wurden zur Bestimmung möglicher blemen verlassen kann, (ii) der Anteilnahme anderer Men- sozialer Determinanten von Kopfschmerzerkrankungen schen, (iii) der Einschätzung dazu, wie einfach es ist, prak- multinomiale logistische Regressionen angewendet [45–47]. tische Hilfe von Nachbarinnen und Nachbarn zu erhalten. Zielvariablen waren die wahrscheinlichen und kompletten Die Ausprägung „geringe Unterstützung“ wurde von den Ausprägungen von Spannungskopfschmerz und Migräne Kategorien „mittlere“ und „starke Unterstützung“ unter- sowie die Restgruppe derjenigen mit anderen Kopfschmer- schieden. zen. Personen, die sowohl eine Migräne als auch einen Spannungskopfschmerz haben, wurden der Gruppe der 2.4 Statistische Analyse von Migräne Betroffenen zugeordnet. Als Vergleichs- gruppe dienten Teilnehmende ohne Kopfschmerzen. Im Um die Ergebnisse aus der Stichprobe als repräsentativ für vorliegenden Beitrag wird von einem statistisch signifikan- die Gesamtbevölkerung interpretieren zu können, wurde ten Unterschied ausgegangen, wenn der entsprechende sowohl die Auswahlwahrscheinlichkeit einzelner Personen p-Wert kleiner als 0,05 ist. Alle Analysen erfolgten mit dem (Designgewichtung) als auch die Bevölkerungsstruktur Programmpaket STATA (StataCorp LLC, Texas, USA) Ver- (Anpassungsgewicht) berücksichtigt. Die Designgewich- sion 15.1. Alle dargestellten Ergebnisse inklusive 95 %-Kon- tung hat zum Ziel, das Stichprobendesign zu kontrollieren fidenzintervallen (95 %-KI) wurden mittels Gewichtungs- und basiert auf einer Methode zur Bestimmung der Aus- faktoren unter Zuhilfenahme der Surveyprozeduren für wahlwahrscheinlichkeit bei Telefonstichproben, die sich komplexe Stichproben erstellt. Journal of Health Monitoring 2020 5(S6) 9
Journal of Health Monitoring Migräne und Spannungskopfschmerz in Deutschland FOCUS 3. Ergebnisse Befragten von einer chronischen und 9,6 % von einer epi- 3.1 Stichprobe sodischen Migräne. Viele weitere Befragte mit wiederkeh- renden Kopfschmerzsymptomen erfüllen lediglich drei der Insgesamt nahmen in ungewichteten Zahlen an der Studie vier Kriterien und sind somit als wahrscheinlich erkrankte zu Kopf-, Rücken- und Nackenschmerzen in Deutschland Personen einzustufen. Zählt man diese Personen zu den 5.009 Befragte teil, darunter 2.634 Frauen (52,6 %) und 2.375 Fällen, die alle Kriterien erfüllen, hinzu, ist der Anteil der Männer (47,4 %). Die Verteilung der Stichprobe nach Alter, Betroffenen deutlich höher. Insgesamt haben danach 28,4 % Geschlecht und Bildung im Vergleich zu den Angaben der der Frauen und 18,0 % der Männer eine Migräne. Darüber Bevölkerungsfortschreibung des Statistischen Bundesamtes hinaus können sich bei diesen Personen Aura-Symptome sowie des Mikrozensus zeigt, dass die Studienteilnehmer ten- einstellen. Unter den Frauen mit allen Kriterien einer denziell etwas älter und höher gebildet sind (Annex Tabelle 1). Migräne erfüllen 32,1 % laut Selbstangaben auch die Krite- 14,8 % der Frauen und 6,0 % rien für eine Migräne mit Aura, bei den Männern sind dies der Männer in Deutschland 3.2 Häufigkeit von Kopfschmerzerkrankungen 42,9 %. Folglich sind Frauen insgesamt häufiger von einer sind von Migräne betroffen, Migräne betroffen. Männer berichten hingegen häufiger von hinzu kommen 13,7 % der Insgesamt berichten 57,5 % der Frauen und 44,4 % der Män- Aura-Symptomen. Im Altersverlauf zeigt sich, dass Migrä- ner von Kopfschmerzen in den zwölf Monaten vor der Befra- ne sowohl bei Frauen als auch bei Männern in den jüngeren Frauen und 12,0 % der gung. 14,8 % der Frauen und 6,0 % der Männer sind von Altersgruppen häufiger zu beobachten ist und mit steigen- Männer mit wahrscheinlicher einer Migräne betroffen, die alle diagnostischen Kriterien dem Alter stetig abnimmt. Bei Frauen ist die Prävalenz bei Migräne. erfüllt. Anteilig haben 9,1 % der von Migräne Betroffenen 18- bis 29-Jährigen am höchsten, bei den Männern in der chronische Kopfschmerzen. Insgesamt berichten 1,2 % der Altersgruppe der 30- bis 39-Jährigen (Abbildung 2). Anteil (%) 60 Frauen Männer 50 40 30 Abbildung 2 20 Prävalenz von Migräne und Spannungskopf- 10 schmerz bei Erwachsenen nach Geschlecht und Alter 15 – < 30 30 – < 40 40 – < 50 50 – < 60 60 – < 70 ≥ 70 Gesamt 15 – < 30 30 – < 40 40 – < 50 50 – < 60 60 – < 70 ≥ 70 Gesamt (n = 2.634 Frauen, n = 2.375 Männer) Altersgruppe (Jahre) Quelle: Studie zu Kopf-, Rücken- und Nacken- Spannungskopfschmerz (wahrscheinlich) Migräne (wahrscheinlich) schmerzen in Deutschland (2019/2020) Spannungskopfschmerz (komplette Kriterien) Migräne (komplette Kriterien) Journal of Health Monitoring 2020 5(S6) 10
Journal of Health Monitoring Migräne und Spannungskopfschmerz in Deutschland FOCUS Demgegenüber berichten 10,3 % der Frauen und 6,5 % diagnostischen Kriterien dargestellt. Es zeigt sich, dass der Männer von Spannungskopfschmerzen. Diese Befrag- es Befragte gab, die sowohl von Migräne als auch von ten erfüllen vollumfänglich die Diagnosekriterien. Bei 3,4 % Spannungskopfschmerzen betroffen waren. Insgesamt dieser Personen zeigen sich Anzeichen eines chronischen berichteten 51,1 % der Teilnehmenden von Kopfschmerzen Spannungskopfschmerzes. Insgesamt berichten 0,6 % von in den letzten zwölf Monaten. Rund ein Drittel dieser einem chronischen und 8,1 % von einem episodischen Befragten (35,0 %) berichtete von zwei unterschiedlichen Spannungskopfschmerz. Addiert man wiederum die wahr- Kopfschmerzarten. 14,9 % der Befragten mit Kopfschmer- scheinlich erkrankten Personen hinzu, so sind 28,2 % der zen weisen weder eindeutige Symptome der Migräne noch Frauen und 21,8 % der Männer von Spannungskopfschmer- des Spannungskopfschmerzes auf. 75,6 % der Befragten zen betroffen. Im Altersverlauf zeigt sich ein ähnliches Bild mit Kopfschmerzen haben entweder Migräne oder Span- wie bei der Migräne. Am häufigsten treten Spannungs- nungskopfschmerz. Ungefähr jeder Zehnte der von Kopf- 10,3 % der Frauen und 6,5 % kopfschmerzen bei Personen im erwerbsfähigen Alter auf schmerzen Betroffenen (9,5 %) wies dabei sowohl Sym der Männer in Deutschland und nehmen danach stetig ab. Sowohl für den Kopf- ptome der Migräne als auch des Spannungskopfschmerzes sind von Spannungskopf- schmerz insgesamt, aber auch für die beiden häufigsten auf (Abbildung 3). schmerzen betroffen, hinzu Kopfschmerzarten Migräne und Spannungskopfschmerz In Bezug auf die erlebte Schmerzintensität bei Befragten weisen Männer niedrigere Prävalenzen auf als Frauen. Die mit Kopfschmerzen in den letzten zwölf Monaten zeigt sich, kommen 18,0 % der Frauen Unterschiede zwischen Frauen und Männern bleiben im dass Frauen tendenziell häufiger von mäßigen (54,4 %) oder und 15,3 % der Männer Altersverlauf stabil. starken (27,7 %) Kopfschmerzen betroffen sind (Abbildung 4). mit wahrscheinlichen In Abbildung 3 ist die Verteilung der Befragten mit Männer berichten hingegen häufiger von leichten (30,2 %) Spannungskopfschmerzen. Kopfschmerzen in den letzten zwölf Monaten gemäß den oder mäßigen (50,6 %) Kopfschmerzen. Diese Tendenz Hatten Sie in den letzten nur SKS wahrscheinlich zwölf Monaten Kopfschmerzen? nur MIG wahrscheinlich nur SKS komplette Kriterien Diese Personen wurden eingruppiert als... nur MIG komplette Kriterien MIG und SKS wahrscheinlich Nein Ja 48,9 % 51,1% SKS komplette Kriterien und MIG wahrscheinlich Abbildung 3 MIG komplette Kriterien Verteilung der Befragten mit Kopfschmerzen und SKS wahrscheinlich MIG und SKS komplette Kriterien in den letzten zwölf Monaten nach Art des Kopfschmerzes (N = 5.009) andere Kopfschmerzen Quelle: Studie zu Kopf-, Rücken- und Nacken- 0 5 10 15 20 25 30 schmerzen in Deutschland (2019/2020) MIG = Migräne, SKS = Spannungskopfschmerz Anteil (%) Journal of Health Monitoring 2020 5(S6) 11
Journal of Health Monitoring Migräne und Spannungskopfschmerz in Deutschland FOCUS Tabelle 2 Geschlecht Kopfschmerzen Migräne Spannungskopfschmerz Anzahl pro Monat und Dauer der (in den letzten zwölf Monaten) (komplette Kriterien) (komplette Kriterien) Kopfschmerzen insgesamt sowie bei Migräne MW MD STD MW MD STD MW MD STD (komplette Kriterien) und Spannungskopf- Tage mit Frauen 3,2 1,0 5,3 4,0 1,5 6,2 2,6 1,0 4,5 schmerz (komplette Kriterien) Kopfschmerzen (n = 1.321) (n = 332) (n = 231) Quelle: Studie zu Kopf-, Rücken- und Nacken- (Tage/Monat) Männer 2,4 1,0 4,6 4,4 1,0 6,6 2,2 1,0 4,0 schmerzen in Deutschland (2019/2020) (n = 958) (n = 111) (n = 143) Dauer der Frauen 1,0 0,1 2,1 1,3 1,0 1,1 0,6 0,1 1,1 Kopfschmerzen (n = 1.289) (n = 340) (n = 235) (in Tagen) Männer 0,8 0,1 2,4 0,8 1,0 0,7 0,6 0,1 0,8 (n = 936) (n = 113) (n = 148) Fett = Signifikanter Unterschied (p-Wert < 0,05) im Mittelwert zwischen Frauen und Männern MW = Mittelwert, MD = Median, STD = Standardabweichung spiegelt sich größtenteils auch innerhalb der Gruppe von von Betroffenen vornehmlich als mäßig schmerzintensiv Befragten mit Migräne und Spannungskopfschmerz wider. wahrgenommen (Frauen 72,0 %, Männer 61,7 %). Anders Frauen mit einer Migräne beschreiben ihre Schmerzinten als bei der Migräne zeigt sich dies auch bei Personen mit sität am häufigsten als stark (61,3 %) oder mäßig (38,4 %). chronischen Spannungskopfschmerzen. Dieses Bild verstärkt sich bei Frauen mit chronischer Wird die Anzahl der Tage mit Kopfschmerzen pro Monat Migräne, die zu 79,3 % von einer starken Intensität berich- betrachtet, dann sind betroffene Frauen im Mittel an mehr ten. Bei Männern liegt der Anteil der starken Attacken mit Tagen pro Monat von allgemeinen Kopfschmerzen betroffen 54,5 % insgesamt niedriger. Jedoch berichten, ähnlich wie als Männer (Tabelle 2). Hinsichtlich des Spannungskopf- bei den Frauen, 72,1 % der Männer mit chronischer Migräne schmerzes gibt es keine nennenswerten Geschlechter von starken Schmerzen. Der Spannungskopfschmerz wird unterschiede. Von Migräne betroffene Männer sind im Kopfschmerz (in den letzten zwölf Monaten) Frauen (n=1.365) Männer (n=984) Migräne (komplette Kriterien) Frauen (n=340) Männer (n=113) Abbildung 4 Intensität des Kopfschmerzes insgesamt sowie Spannungskopfschmerz (komplette Kriterien) Frauen (n=235) bei Migräne (komplette Kriterien) und Männer (n=148) Spannungskopfschmerz (komplette Kriterien) 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 Quelle: Studie zu Kopf-, Rücken- und Nacken- Anteil (%) schmerzen in Deutschland (2019/2020) Leicht Mäßig Stark Journal of Health Monitoring 2020 5(S6) 12
Journal of Health Monitoring Migräne und Spannungskopfschmerz in Deutschland FOCUS Abbildung 5 Frauen Männer Intensität des Kopfschmerzes in den letzten Weniger als 3 Tage zwölf Monaten nach Häufigkeit der 3 bis unter 8 Tage Attacken pro Monat (n = 1.320 Frauen, n = 957 Männer) 8 bis unter 15 Tage Quelle: Studie zu Kopf-, Rücken- und Nacken- schmerzen in Deutschland (2019/2020) mehr als 15 Tage 0 20 40 60 80 100 0 20 40 60 80 100 Anteil (%) Leicht Mäßig Stark Durchschnitt etwas häufiger pro Monat von Schmerzattacken Männern. Berichten 14,4 % der Männer mit Attacken an Frauen sind über alle betroffen als Frauen. Dieser Unterschied ist jedoch nicht sig- weniger als drei Tagen pro Monat von starken Kopfschmer- Altersgruppen hinweg nifikant. In Bezug auf die Dauer der Kopfschmerzattacken zen, steigt dieser Anteil bei Attacken an mehr als fünfzehn sowohl häufiger von zeigt sich beim Kopfschmerz in den letzten zwölf Monaten Tagen pro Monat auf 67,6 %. Migräne als auch von wie auch bei der Migräne, dass die Attacken bei Frauen im Mittel länger andauern als bei Männern (Tabelle 2). Hinsicht- 3.3 Begleiterkrankungen von Kopfschmerzen Spannungskopfschmerzen lich des eindeutigen Spannungskopfschmerzes berichten betroffen als Männer. sowohl Frauen als auch Männer, dass ihre Schmerzen weni- Kopfschmerzen können mit körperlichen Erkrankungen ger als einen Tag pro Attacke andauern. Es lassen sich keine und mit einer höheren psychischen Belastung einhergehen nennenswerten Unterschiede hinsichtlich der Dauer der Kopf- [13]. Aus diesem Grund wurden ausgewählte Erkrankungen schmerzen bei Personen mit chronischen gegenüber jenen im Zusammenhang mit der Migräne und dem Spannungs- mit episodischen Kopfschmerzen feststellen. kopfschmerz untersucht. In der Tabelle 3 ist jeweils der Ein Zusammenhang zwischen der Intensität und der Anteil der Begleiterkrankungen unter Personen mit Migrä- Häufigkeit von Kopfschmerzen in den letzten zwölf ne und Spannungskopfschmerz sowie bei Befragten ohne Monaten besteht sowohl für Frauen als auch für Männer Kopfschmerzen dargestellt. Als Vergleichsgruppe (Signifi- dahingehend, dass mit der Häufigkeit der Kopfschmerz kanztest) wurden Personen ohne Kopfschmerzen in den attacken auch die Intensität zunimmt (Abbildung 5). Treten letzten zwölf Monaten herangezogen. die Kopfschmerzen an weniger als drei Tagen pro Monat Befragte mit Migräne und Spannungkopfschmerz auf, berichten 24,0 % der Frauen von einer starken Inten- berichten häufig auch von schweren Schmerzen im Rücken sität. Bei Kopfschmerzen an mehr als fünfzehn Tagen pro (Migräne 30,0 %, Spannungskopfschmerz 23,7 %) oder Monat liegt der Anteil der Frauen mit einer starken Inten- Nacken (Migräne 31,4 %, Spannungskopfschmerz 19,2 %) sität bei 55,7 %. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den (Tabelle 3). Am deutlichsten treten die Unterschiede im Journal of Health Monitoring 2020 5(S6) 13
Journal of Health Monitoring Migräne und Spannungskopfschmerz in Deutschland FOCUS Tabelle 3 Rücken- Nacken- Depressive Angst- Häufigste Begleiterkrankungen schmerzen schmerzen Symptome störung Quelle: Studie zu Kopf-, Rücken- und Nacken- Migräne (komplette Kriterien) (n = 449) 30,0 % 31,4 % 24,9 % 20,5 % schmerzen in Deutschland (2019/2020) Spannungskopfschmerz (komplette Kriterien) (n = 383) 23,7 % 19,2 % 12,6 % 10,2 % Keine Kopfschmerzen1 (n = 2.632) 12,6 % 6,7 % 15,3 % 8,7 % 1 Personen haben die Frage „Hatten Sie in den letzten 12 Monaten Kopfschmerzen?“ mit „Nein“ beantwortet. Fett = Signifikanter Unterschied (p-Wert < 0,05) im Vergleich zur Gruppe der Personen ohne Kopfschmerzen, Vergleich basiert auf dem Pearson χ2-Test Vergleich zu Personen ohne Kopfschmerzen hervor. Diese Migräne. 40,6 % der von Migräne betroffenen Frauen und berichten lediglich zu 12,6 % von schweren Rücken- und 38,5 % der Männer haben wegen ihrer Kopfschmerzen im zu 6,7 % von schweren Nackenschmerzen. Ein höherer letzten Jahr ärztliche Behandlung gesucht. Bei Vorliegen einer Anteil sowohl von Personen mit depressiven Symptomen chronischen Migräne liegt die Behandlungsquote mit 59,2 % Spannungskopfschmerzen (24,9 %) als auch mit Angststörungen (20,5 %) zeigt sich unter Frauen und 79,6 % unter Männern deutlich höher. Dies und Migräne treten bei Personen mit Migräne. Im Vergleich dazu berichten ist ebenso bei Personen mit chronischen Spannungskopf- überwiegend im Befragte ohne Kopfschmerzen zu 15,3 % von depressiven schmerzen der Fall (Frauen 71,8 %, Männer 24,0 %). erwerbsfähigen Alter Symptomen und zu 8,7 % von Angststörungen. Im Auftre- Von allen Personen, die in den vergangenen zwölf ten der betrachteten Begleiterkrankungen zeigten sich Monaten von Kopfschmerzen berichtet haben, nehmen auf und nehmen kaum Geschlechterunterschiede. Allerdings berichten Per- 82,5 % der Frauen und 67,0 % der Männer Medikamente dann stetig ab. sonen mit chronischer Migräne besonders häufig von zur Behandlung akuter Schmerzen ein. Bei den Betroffe- schweren Nackenschmerzen (62,5 %) und depressiven nen mit Migräne (komplette Kriterien) liegen die Zahlen Symptomen (71,6 %). Bei Personen mit chronischem Span- mit 90,9 % der Frauen und 83,1 % der Männer deutlich nungskopfschmerz zeigt sich kein häufigeres Auftreten der höher. Bei Vorliegen einer chronischen Migräne greifen betrachteten Begleiterkrankungen. nahezu alle Befragten auf Medikamente zur Akutbehand- lung von Kopf- und anderer Schmerzen zurück (Frauen 3.4 Ambulante Versorgung und Arzneimittelgebrauch 97,0 %, Männer 96,3 %). Unter den Personen mit Span- nungskopfschmerz (komplette Kriterien) nehmen 92,8 % Von allen Personen mit Kopfschmerzen in den letzten der Frauen und 75,5 % der Männer Arzneimittel zur zwölf Monaten vor der Befragung suchten 22,0 % der Behandlung akuter Schmerzen ein. Unter den Befragten Frauen und 17,1 % der Männer wegen ihrer Kopfschmerzen mit chronischem Spannungskopfschmerz liegt der Anteil eine Ärztin oder einen Arzt auf. Bei Vorliegen eines Span- im Vergleich zu Personen mit episodischen Kopfschmer- nungskopfschmerzes fallen die Ergebnisse mit 22,1 % zen niedriger (Frauen 73,4 %, Männer 37,3% vs. Frauen der Frauen und 17,0 % der Männer ähnlich aus. Eine 93,9 %, Männer 74,9 %). Deutlich weniger Personen gebrau- höhere Behandlungsquote findet sich bei Vorliegen einer chen Medikamente zur Vorbeugung ihrer Kopf- oder Journal of Health Monitoring 2020 5(S6) 14
Journal of Health Monitoring Migräne und Spannungskopfschmerz in Deutschland FOCUS anderer Schmerzen. Unter allen Befragten mit Kopf- an 3,0 Tagen. Personen mit chronischer Migräne greifen schmerzen in den letzten zwölf Monaten sind dies durchschnittlich an 14,7 Tagen im Monat, Personen mit 3,2 %, unter den Befragten mit Migräne 4,7 % (chronische chronischen Spannungskopfschmerzen an 9,9 Tagen im Migräne 9,8 %) und unter Personen mit Spannungskopf- Monat auf Schmerzmedikamente zur Akutbehandlung schmerz 1,6 % (chronischer Spannungskopfschmerz zurück. Ibuprofen, Paracetamol und Acetylsalicylsäure sind 4,2 %). Geschlechterunterschiede sind bei der vorbeugen- die am häufigsten eingenommenen Präparate (Tabelle 4). den Medikation nur schwach ausgeprägt. Bei den Personen mit Migräne, welche alle Kriterien erfül- Medikamente zur Behandlung akuter Kopf- und anderer len, spielen vor allem die Triptane, die ausschließlich zur Schmerzen nehmen Frauen nicht nur häufiger sondern auch Behandlung einer Migräne eingesetzt werden, im Vergleich regelmäßiger ein als Männer. Unter allen Befragten mit zur Gruppe aller Personen mit Kopfschmerzen eine größere Kopfschmerzen in den letzten zwölf Monaten nehmen Rolle. Sie werden insbesondere von Personen mit Migräne Besonders Migräne geht Frauen solche Arzneimittel im Schnitt an 4,4 Tagen im eingenommen und liegen mit 7,3 % der Nennungen auf häufiger mit depressiven Monat und Männer an 2,8 Tagen im Monat ein. Unter Per- dem fünften Rang. Da ungefähr jede Zehnte der von Kopf- Symptomen und sonen mit Migräne oder Spannungskopfschmerzen (jeweils schmerzen betroffenen Personen Symptome sowohl der Angststörungen einher. komplette Kriterien) finden sich dagegen keine auffälligen Migräne als auch des Spannungskopfschmerzes aufwies, Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Befragte mit finden sich Triptane ebenfalls bei Befragten wieder, welche Migräne greifen im Mittel an 5,8 Tagen im Monat auf die kompletten Kriterien für einen Spannungskopfschmerz Medikamente zur Behandlung akuter Kopf- und anderer erfüllen. Signifikante Geschlechterunterschiede liegen bei Schmerzen zurück, Personen mit Spannungskopfschmerz der Verteilung der Wirkstoffgruppen nicht vor. Kopfschmerz Migräne Spannungskopfschmerz Medikament (in den letzten zwölf Monaten) Medikament (komplette Kriterien) Medikament (komplette Kriterien) Ibuprofen 49,7 % Ibuprofen 46,2 % Ibuprofen 47,8 % Paracetamol 18,7 % Paracetamol 17,1 % Paracetamol 22,5 % Acetylsalicylsäure 15,0 % Acetylsalicylsäure 10,2 % Acetylsalicylsäure 14,9 % Metamizol-Natrium 6,0 % Metamizol-Natrium 9,3 % Metamizol-Natrium 4,0 % Triptan 2,8 % Triptan 7,3 % Diclofenac 2,6 % Diclofenac 2,3 % Diclofenac 2,4 % Triptan 2,4 % Tabelle 4 Naproxen 0,9 % Naproxen 1,2 % Celecoxib 1,0 % Medikamentengebrauch in der Behandlung von Tilidin 0,5 % Tramadol 0,7 % Naproxen 1,0 % Kopfschmerzen (Anteil an allen Nennungen, Nennungen 2.320 Nennungen 578 Nennungen 423 Mehrfachantworten möglich)1 Befragte 2.349 Befragte 453 Befragte 383 Quelle: Studie zu Kopf-, Rücken- und Nacken- 1 In dieser Tabelle sind nicht alle genannten Medikamente dargestellt. Dies ist ein Auszug der acht häufigsten Nennungen. Die Nennungen sind ungewichtet dar- schmerzen in Deutschland (2019/2020) gestellt. Journal of Health Monitoring 2020 5(S6) 15
Journal of Health Monitoring Migräne und Spannungskopfschmerz in Deutschland FOCUS Bei einem kleinen Teil der von chronischen Kopfschmer- episodisch auftretenden Kopfschmerzen die Einnahme von zen betroffenen Personen besteht Grund zu der Annahme, Medikamenten überdosieren. dass der Kopfschmerz erst bei einem Übergebrauch von Schmerzmedikamenten auftritt oder verstärkt wird. In die- 3.5 Soziale Determinanten des Kopfschmerzes sen Fällen können spezifische Therapieansätze bis hin zum Schmerzmittelentzug angezeigt sein. Bei 1,9 % der Perso- Zur Untersuchung möglicher sozialer Determinanten von nen mit Migräne und 0,9 % der Menschen mit Spannungs- Migräne oder Spannungskopfschmerz wurden abschlie- kopfschmerzen gibt es Anzeichen für einen Medikamen- ßend multivariate Analysen durchgeführt (komplette Kri- tenübergebrauchskopfschmerz. Die Bevölkerungsprävalenz terien: Tabelle 5, wahrscheinliche Kriterien, andere Kopf- unter Erwachsenen liegt bei 0,9 %. Bei weiteren 2,0 % der schmerzen: Ergebnisse auf Anfrage). Befragten besteht Grund zur Annahme, dass sie bei Migräne (komplette Kriterien) Spannungskopfschmerz (komplette Kriterien) OR2 p-Wert (95 %-KI) OR2 p-Wert (95 %-KI) Geschlecht (Referenz: Männer) Frauen 4,68 < 0,001 (3,22 – 6,80) 2,65 < 0,001 (1,85 – 3,80) Altersgruppe (Referenz: 18 – < 30 Jahre) 30 – < 40 Jahre 0,79 n. s. (0,43 – 1,47) 1,65 n. s. (0,84 – 3,25) 40 – < 50 Jahre 0,45 < 0,01 (0,26 – 0,80) 0,69 n. s. (0,34 – 1,38) 50 – < 60 Jahre 0,22 < 0,001 (0,13 – 0,39) 0,37 < 0,01 (0,20 – 0,66) 60 – < 70 Jahre 0,07 < 0,001 (0,03 – 0,13) 0,20 < 0,001 (0,11 – 0,39) ≥ 70 Jahre 0,02 < 0,001 (0,01 – 0,04) 0,07 < 0,001 (0,03 – 0,16) Bildung (Referenz: Mittel) Niedrig 0,49 n. s. (0,25 – 0,99) 0,57 n. s. (0,27 – 1,20) Hoch 0,95 n. s. (0,70 – 1,29) 0,75 n. s. (0,54 – 1,02) Arbeitslosigkeit 2,11 n. s. (0,76 – 5,83) 0,81 n. s. (0,24 – 2,74) (Referenz: Erwerbstätig/Ruhestand) Partnerschaft 1,05 n. s. (0,73 – 1,52) 0,94 n. s. (0,63 – 1,39) Tabelle 5 (Referenz: Keine Partnerschaft) Multinomiale Regression zu den sozialen Soziale Unterstützung (Referenz: Mittel) Determinanten von Migräne und Spannungs- Niedrig 1,24 n. s. (0,76 – 2,02) 1,03 n. s. (0,55 – 1,92) kopfschmerz (komplette Kriterien) Hoch 0,63 < 0,05 (0,44 – 0,91) 0,77 n. s. (0,54 – 1,12) (n = 2.526 Frauen, n = 2.280 Männer)1 OR = Odds Ratio, 95%-KI = 95%-Konfidenzintervall, Fettdruck = signifikant (p < 0,05), n. s. = nicht signifikant 1 Als Referenzgruppe in der multinominalen logistischen Regression wurden alle Personen, die bei der Eingangsfrage „Hatten Sie in den letzten 12 Monaten Quelle: Studie zu Kopf-, Rücken- und Nacken- Kopfschmerzen?“ mit „Nein“ geantwortet haben, herangezogen. schmerzen in Deutschland (2019/2020) 2 Aus der multinominalen logistischen Regression wurden die Relative Risk Ratios (RRR) ausgegeben. Inhaltlich werden diese gleichermaßen als Odds Ratios interpretiert. Journal of Health Monitoring 2020 5(S6) 16
Journal of Health Monitoring Migräne und Spannungskopfschmerz in Deutschland FOCUS Auch im multivariaten Modell zeigt sich, dass Frauen stark zurück. Unter allen Befragten mit Kopfschmerzen eine fast 4,7 mal höhere Chance einer eindeutigen Migräne berichten Frauen seltener als Männer von leichten und haben als Männer (Tabelle 5). Dieses Ergebnis zeigt sich häufiger von mäßigen oder schweren Kopfschmerzen. Die ebenfalls beim Spannungskopfschmerz. Hier haben Frauen Gruppe der Befragten mit starken Schmerzen ist unter eine fast 2,7 mal höhere Chance betroffen zu sein als Män- Frauen mit Migräne am größten. Des Weiteren geht beson- ner. Hinsichtlich des Altersverlaufs bestätigen sich bei bei- ders Migräne häufig mit Begleiterkrankungen wie Rücken- den Erkrankungen im Wesentlichen die Zusammenhänge und Nackenschmerzen, depressiven Symptomen und aus den deskriptiven Analysen: Das Auftreten von Migräne Angststörungen einher. Der Versorgungsgrad von Men- und Spannungskopfschmerz nimmt mit dem Alter stetig schen mit Kopfschmerzen in Deutschland ist gering. 22,0 % ab (Tabelle 5). Keine statistisch signifikanten Zusammen- der Frauen und 17,1 % der Männer suchen wegen ihrer hänge zeigen sich zwischen Migräne oder Spannungskopf- Kopfschmerzen binnen eines Jahres eine Ärztin oder einen schmerz und der Bildung, der Arbeitslosigkeit sowie der Arzt auf. Höhere Behandlungsquoten finden sich bei Men- Partnerschaft. Dagegen zeigt sich ein Zusammenhang zwi- schen mit Migräne. 82,5 % der von Kopfschmerz betroffe- schen dem Auftreten einer eindeutigen Migräne und der nen Frauen und 67,0 % der Männer nehmen zur Behand- sozialen Unterstützung. Befragte mit einem hohen Maß lung akuter Symptome Medikamente ein, am häufigsten an sozialer Unterstützung hatten eine geringere Wahr- Ibuprofen, Paracetamol und Acetylsalicylsäure. scheinlichkeit, an Migräne zu leiden, als Befragte mit einem Bei der Einordnung der vorliegenden Ergebnisse ist es mittleren Maß an sozialer Unterstützung, verglichen mit wichtig, die methodischen Differenzen bei der Bestimmung Befragten, die keinen Kopfschmerz angaben. von Migräne (respektive Spannungskopfschmerz) zu berück- sichtigen. Unterschiede zwischen Erhebungen lassen sich 4. Diskussion durch die Fragebogenkonstruktion beziehungsweise die Umsetzung der diagnostischen Kriterien in auch für fach- 57,5 % der Frauen und 44,4 % der Männer in Deutschland fremde Personen verständliche Fragen, die Erhebungsart, berichten, binnen eines Jahres mindestens einmal von den Erhebungszeitraum oder durch die Differenzierung von Kopfschmerzen betroffen gewesen zu sein. Seltener wer- Kopfschmerztypen bei ein und derselben Person erklären [1]. den dagegen die klinischen Kriterien für Migräne oder Span- Im Vergleich zu einer telefonischen Befragung aus dem Jahr nungskopfschmerz erfüllt: Von einer Migräne, die alle diag 2004, die ebenfalls vom RKI durchgeführt wurde, zeigt sich, nostischen Kriterien erfüllt, sind in Deutschland 14,8 % dass der Anteil der Personen, die in den letzten zwölf Mona- der Frauen und 6,0 % der Männer betroffen. Hinsichtlich ten von Kopfschmerzen berichtet haben, in der vorliegenden der Spannungskopfschmerzen liegen die Prävalenzen Befragung geringer ist. 57,5 % der Frauen und 44,4 % der bei 10,3 % der Frauen und 6,5 % der Männer. Im Altersver- Männer in der vorliegenden Erhebung stehen 66,6 % der lauf gehen Migräne und Spannungskopfschmerzen Frauen und 53,0 % der Männer der Studie aus dem Jahr 2004 Journal of Health Monitoring 2020 5(S6) 17
Sie können auch lesen