JUGENDSOZIALARBEIT EIN UNTERSCHÄTZTER RAUM POLITISCHER BILDUNG?
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NR. 26 • DEZEMBER 2021 • HERAUSGEBEN VOM KOOPERATIONSVERBUND JUGENDSOZIALARBEIT JUGENDSOZIALARBEIT – EIN UNTERSCHÄTZTER RAUM POLITISCHER BILDUNG? Jugendliche haben ein Recht auf politische Bildung und Beteiligung Kinder- und Jugendbeteiligung auf kommunalpolitischer Ebene – Öffnung gegenüber der Jugendsozialarbeit? Demokratie einfach machen!
Editorial Liebe Leser_innen, wir freuen uns, Ihnen die 26. Ausgabe der DREIZEHN mit dem Titel „Jugendsozialarbeit – ein unterschätzter Raum politischen Bildung?“ zu präsentieren. Thematisch passend zum 16. Kinder- und Jugendbericht des BMFSFJ mit dem Fokus „Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter“ (November 2020) befassen wir uns in dieser DREIZEHN ausführlich mit den Themen politischer Bildung, Demokratieverständnis und Methoden dazu. Eine intensive Kooperation zwischen der Jugendsozialarbeit und der politischen Bildung ist notwendig, denn noch immer werden junge Menschen aus unserer Zielgruppe durch politische Bildung zu wenig erreicht. Unsere Autor_innen gehen ins Detail und beschäftigen sich sehr grundlegend mit dem Thema. Zum Beispiel werden im Artikel von Waldemar Stange ab S. 8 die Begriffe Gesellschaft, Demokratie und Partizipation eingeordnet. Außerdem schreibt er: „Im Prinzip sind Kinder und Jugendliche an allen sie betreffenden Belangen zu beteiligen. Sie müssen – so verlangen es viele Gemeindeordnungen – in Planungen der Kommune einbezogen werden, z. B. Stadtplanung, Stadtentwicklung, Ver- kehrsplanung, Umweltschutz und Naturschutz.“ Hanna Lorenzen bezieht sich in ihrer Analyse auf den dreidimensionalen Demokratiebegriff: „Demokratie als eigener Bildungsgegenstand, Demokratie als Struktur und Demokratie als Erfahrung“. Genaueres lesen Sie ab S. 4. Fabian Fritz betont in seinem Artikel ab S. 15 einen sehr wichtigen Punkt: „[I]m Zuge von sich verschärfenden gesellschaftli- chen Polarisierungen bekommt politische Bildung eine zentrale Funktion: Sie soll dabei helfen, gesellschaftlichen Zusammen- halt zu stiften und Menschen zu mündigen und demokratischen Bürger_innen zu erziehen.“ Zum gemeinsamen Gespräch traf sich die DREIZEHN mit Dr. Christian Lüders, der die Abteilung „Jugend und Jugendhilfe“ beim Deutschen Jugendinstitut bis Dezember 2020 leitete. Er sagt: „Alle jungen Menschen müssen die Möglichkeiten erhal- ten, die Regeln des demokratischen Miteinanders zu üben und weiterzuentwickeln.“ Praktische Ansätze beleuchten wir in den Rubriken vor Ort und Praxis konkret. Dort können Sie z. B. von der Plattform „Verstärker“ lesen, einem Netzwerk aktivierender Bildungsarbeit von der Bundeszentrale für politische Bildung, das bereits seit zehn Jahren betrieben wird (S. 41). Politische Bildung ist also wichtig, sie eröffnet neue Räume, in denen junge Menschen ihre Position erkennen und vertreten können. Der 16. Kinder- und Jugendbericht fasst die zunehmende Verschränkung der beiden Arbeitsfelder politische Bildung und Soziale Arbeit auf S. 494 wie folgt zusammen: „Jugendsozialarbeit stellt einen sozialen Raum dar, in dem die Diskussion über den Stellenwert politischer Bildung begonnen hat und sich ein Fachdiskurs etabliert. […] Es wird darauf ankommen, diese Diskussion fortzuführen und den Anschluss an die Fachdiskussion […] zu finden.“ Wir hoffen, einen Beitrag zu diesem Vorhaben leisten zu können, und wünschen Ihnen eine angenehme Lektüre! Ihre Angela Werner Sprecherin des Kooperationsverbundes Jugendsozialarbeit 2020–2021 jugendsozialarbeit.de dreizehn Heft 26 2021 2 Editorial
DIE ANALYSE Jugendliche haben ein Recht auf politische Bildung und Beteiligung Hanna Lorenzen......................................................................... 4 Perspektiven aus dem 16. Kinder- und Jugendbericht für die Jugendarbeit und die Jugendsozialarbeit Kinder- und Jugendbeteiligung auf kommunalpolitischer Ebene Waldemar Stange...................................................................... 8 Öffnung gegenüber der Jugendsozialarbeit? Sozialarbeitspolitik als Demokratisierung der Sozialen Arbeit Fabian Fritz & Alexander Wohnig.............................................. 15 Demokratiebildung und politische Bildung in der Jugendsozialarbeit Jugendberufsagenturen Birgit Beierling......................................................................... 19 Ein unterschätzter Raum der Demokratiebildung Kritische politische Bildung in der Jugendsozialarbeit Zijad Naddaf & Andreas Thimmel.............................................. 23 Im Gespräch mit: Dr. Christian Lüders Julia Schad-Heim & Tom Urig................................................... 27 VOR ORT Jugendsozialarbeit @ Jugendpolitiktage21 Judith Jünger........................................................................... 31 PRAXIS KONKRET Methodische Anregungen der GEBe-Methode Benedikt Sturzenhecker............................................................. 34 für die politische Bildung in der Jugendsozialarbeit Demokratie einfach machen! Julia Schad-Heim & Theresa Schmidt......................................... 37 Mit einfachen Methoden Demokratiebildung in der Jugendsozialarbeit umsetzen Verstärker Lea Goseberg & Camille Toggenburger..................................... 41 Netzwerk aktivierende Bildungsarbeit KOMMENTAR Großer Wurf oder Mogelpackung? Christine Lohn.......................................................................... 45 Schulsozialarbeit als neuer § 13a im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz DIE NACHLESE Turning point JETZT! Angela Werner......................................................................... 50 Nachhaltige Verbesserungen für benachteiligte junge Menschen in die Wege leiten Impressum 55 Inhalt 3 dreizehn Heft 26 2021
Die Analyse JUGENDLICHE HABEN EIN RECHT AUF POLITISCHE BILDUNG UND BETEILIGUNG Perspektiven aus dem 16. Kinder- und Jugendbericht für die Jugendarbeit und die Jugendsozialarbeit von Hanna Lorenzen Viele Akteur_innen tragen Verantwortung für politische Bildung. Der 16. Kinder- und Jugendbericht macht dies anhand der Analyse von elf sozialen Räumen deutlich, die für die Phase des Aufwach- sens relevant sind (z. B. Familie, Kita, Schule, Ausbildung, Jugend- bildungsstätten oder Medien). Die Jugendsozialarbeit liegt quer zu vielen dieser sozialen Räume, denn die Akteur_innen der Jugend- sozialarbeit sind in mehreren sozialen Räumen relevant. Politische Bildung ist ein spezialisiertes Arbeitsfeld innerhalb Politische Bildung als konzeptionell geplantes An- der Jugendarbeit und zugleich eine Querschnittsaufgabe. Die gebot, bei dem politische Themen zum Ausgangs- für den 16. Kinder- und Jugendbericht von Becker erstell- punkt von Bildungsprozessen gemacht werden te Studie „Demokratiebildung und politische Bildung in den (z. B. ein Projekt zum Thema Kolonialismus) Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendarbeit“¹ hat auf der Grundlage von Expert_inneninterviews sowie einer Dokumen- Politische Bildung situativ anlassbezogen (z. B. tenanalyse dargestellt, dass die Förderung gesellschaftlicher sprechen Jugendliche während eines Projektes po- und politischer Teilhabe als Grundanliegen in allen Feldern litische Fragen/Themen an, die bearbeitet werden) der Jugendarbeit und auch in der Jugendsozialarbeit angese- hen wird. In der Studie werden drei Kategorien beschrieben, Anlässe politischer Bildung durch demokratisch wie politische Bildungsangebote innerhalb der verschiedenen bildende Situationen in den Einrichtungen (z. B. Handlungsfelder ermöglicht werden können: Beteiligungsmöglichkeiten bei der Programm gestaltung im offenen Treff) dreizehn Heft 26 2021 4 Die Analyse
„Politische Bildung ist nach wie vor mit der Vorstellung verbunden, voraussetzungsvoll und wissensbasiert zu sein.“ Gute politische Bildung im Verständnis des Jugendberichts Organisationen politischer Bildung die Bundeszentrale oder findet auf allen drei Ebenen dieses Demokratieverständnisses die Landeszentralen politischer Bildung.³ Häufig weniger be- statt. Die unterschiedlichen Arbeitsfelder der Jugendarbeit und kannt als Anbieter_innen politischer Bildung sind die Träger auch der Jugendsozialarbeit zeichnen sich durch gemeinsame politischer Jugendbildung, die sich als Teil von Jugendarbeit Gestaltungsprinzipien aus: Freiwilligkeit, Offenheit, Partizi- verstehen und die entsprechenden pädagogischen Gestaltungs- pation, Lebenswelt- und Sozialraumorientierung sowie ein prinzipien teilen. Die Praxis politischer Bildung in Verant- geteiltes Selbstverständnis, die Interessen junger Menschen wortung dieser Trägerlandschaft ist von einer großen Vielfalt jugendpolitisch zu vertreten. Hier liegt ein großes Potenzial geprägt und richtet sich an sehr heterogene Teilnehmer_innen- für politische Bildung im Sinne dieses dreidimensionalen gruppen. Die Angebote politischer Jugendbildung reichen von Demokratieverständnisses gegenüber stärker formalisierten einem Seminar in einer Bildungsstätte und Bildungsreisen, die Bildungsräumen, wie beispielweise der Schule. es Jugendlichen ermöglichen, sich über einen erlebnisorientier- ten Ansatz Politik anzunähern, über projektförmige oder spiel- basierten Angeboten bis hin zu digital und computerspielge- Viel zu abgehoben? – stützten Formen politischer Bildung. Ebenso vielfältig wie die Zugänge und Formate non-formaler politischer Jugendbildung Die Praxis non-formaler sind die Themenbereiche, die vom Datenschutz über Populis- mus und Radikalisierungsprozessen bis hin zum Klimawandel politischer Bildung ist vielfältig reichen. Der politischen Bildung haften von jeher Vorurteile an, die Die Berichtskommission geht von einem Verständnis politi- sich zum Teil auch bei Fachkräften der Jugendarbeit und der scher Bildung im Sinne der Charta des Europarats von 2010 Jugendsozialarbeit wiederfinden und nur schwer auszuräumen aus.4 Politische Bildung setzt es sich zum Ziel, Jugendliche zu sind. Politische Bildung ist nach wie vor mit der Vorstellung gesellschaftlichem und politischem Engagement zu ermuti- verbunden, voraussetzungsvoll und wissensbasiert zu sein und gen und Politik als gestaltbar zu begreifen. Dies schließt ein, eine Form der Staatsbürgerkunde darzustellen, die sich vor- dass Jugendliche in ihrer Kritikfähigkeit gestärkt werden, aber nehmlich an politisch interessierte, bildungsaffine Jugendliche auch in ihrer Fähigkeit, Visionen für die Gesellschaft zu den- richtet.² Ursache dieser Annahme ist oftmals ein schulisches ken. Dazu gehört die eigenständige Urteilsbildung, die Ent- Verständnis politischer Bildung als Politikunterricht. Neben wicklung einer begründeten Meinung und die Fähigkeit, sich Erfahrungen mit dem Politikunterricht sind andere bekannte demokratisch zu beteiligen. Dieses Verständnis politischer Bil- dung macht deutlich, dass politische Jugendbildungsangebo- te Demokratie genau nicht nur als Herrschaftsform, sondern auch als Gesellschafts- und Lebensform behandeln. Es geht in Dreidimensionaler der non-formalen politischen Jugendbildung darum, alle drei Demokratiedimensionen einzubeziehen: Demokratie als Bil- dungsgegenstand zu behandeln, Jugendlichen durch politische Demokratiebegriff Bildungsangebote aber auch zu ermöglichen, den Bildungs- raum mitzugestalten und dort eigene demokratische Partizipa- tionserfahrungen zu machen. ie Analyse gelingender politischer Bildung im Ver- D ständnis des Berichts stützt sich auf einen dreidimen- sionalen Demokratiebegriff: Raus aus dem Nischendasein Demokratie als eigener Bildungsgegenstand – beginnende Fachdiskussion (Welche Angebote politischer Bildung haben Demokratie zum Inhalt?) über politische Bildung in der Demokratie als Struktur (Inwiefern sind die Rahmenbedingungen und Bil- Jugendsozialarbeit dungsstrukturen selbst demokratisch gestaltbar?) Demokratie als Erfahrung Politische Bildung oder Demokratiebildung fristete im Fach- (Welche demokratischen Erfahrungen werden diskurs der Sozialen Arbeit und der Jugendsozialarbeit lange ermöglicht?) Zeit ein Schattendasein. Dies beginnt sich seit einiger Zeit je- doch zu ändern. Positionierungen wichtiger Träger, Fachveran- staltungen und eine beginnende Fachdiskussion sind Indizien Die Analyse 5 dreizehn Heft 26 2021
dafür, dass politische Bildung auch in der Jugendsozialarbeit an Bedeutung gewinnt, auch wenn häufig der Begriff Demo- Drei Schlussfolgerungen aus kratiebildung gegenüber der politischen Bildung bevorzugt wird. Es wäre zu diskutieren, ob und inwiefern sich hier kon- dem 16. Kinder- und Jugend- zeptionelle Unterschiede zum Verständnis politischer Bildung, wie im Jugendbericht dargelegt, auftun. Der beginnende Fach- bericht zum Verhältnis von diskurs macht deutlich, „dass Beteiligung bzw. Partizipation das zentrale Medium politischer Bildung in der Jugendsozial- politischer Bildung und Parti- arbeit darstellen“5. Der Bericht beschreibt in seiner Zusam- menfassung der Fachdiskussion eine gewisse Unbestimmtheit, zipation was die Konzepte und die konkrete Ausgestaltung politischer Bildung innerhalb der Jugendsozialarbeit anbelangt. In Rück- Politische Bildung und Partizipation gehören zusammen blick auf den dreidimensionalen Demokratiebegriff stehen in Beteiligung an politischen Aktivitäten motiviert zur politi- der Jugendsozialarbeit Demokratie als Erfahrung und die Ge- schen Bildung und dies wiederum erweitert das Repertoire staltbarkeit der Bildungsstruktur im Mittelpunkt. Offen bleibt politischen Handelns. Politische Bildung und Partizipation jedoch, inwiefern auch Demokratie als Bildungsgegenstand in gehören zusammen. In der non-formalen politischen Jugend- Form eines konzeptionell geplanten politischen Bildungsange- bildung ebenso wie in der Jugendsozialarbeit müssen daher bots Teil der täglichen Praxis der Jugendsozialarbeit eine Rolle die Voraussetzungen für dieses Wechselverhältnis geschaffen spielen sollte. Der beginnende Fachdiskurs lässt bisher auch werden. Die Qualität der Partizipationsmöglichkeiten muss offen, ob politische Bildung in der Jugendsozialarbeit eine Art von den Fachkräften regelmäßig hinterfragt werden. Eine Subkategorie darstellt, die von den ohnehin zu leistenden För- fundierte politische Bildung in Verbindung mit wirkungsvol- der-, Unterstützungs-, Bildungs- und Empowermentangebo- len Beteiligungsmöglichkeiten trägt dazu bei, junge Menschen ten mit abgedeckt ist, oder ob sie einer eigenen Fachlichkeit für die Demokratie zu gewinnen und zu befähigen. Wirkungs- unterliegt. Unbestimmt bleibt zudem, ob politische Bildung voll bedeutet, dass Beteiligungsprozesse Jugendlichen nicht in Verantwortung der Jugendsozialarbeit inhaltliche und in- nur in vereinzelten von Erwachsenen ausgewählten Bereichen stitutionelle Schwerpunktsetzungen verfolgt. An dieser Stelle Mitsprache zubilligen, sondern überall dort, wo ihr Alltag könnte eine verstärkte Praxisforschung zur politischen Bildung durch politische Entscheidungen betroffen ist. Diese Betrof- im Feld der Jugendsozialarbeit dabei unterstützen, diesen Fra- fenheit äußert sich nicht zuletzt auch in den Bildungsräumen, gen auf den Grund zu gehen. Der Bericht hat aufgezeigt, dass die von den Akteur_innen der Jugendarbeit oder der Jugend- die politische Bildungspraxis in den unterschiedlichen Hand- sozialarbeit gestaltet werden. Bildung, Berufsfindung, Armut lungsfeldern der Jugendarbeit und auch der Jugendsozialarbeit und Benachteiligung sind immer auch politisch verantwortet. höchst anschlussfähig für eine stärkere Zusammenarbeit wäre. Die Lebenslagen und Unterstützungsbedarfe von Jugendli- Leider gibt es bisher keinen gemeinsam geführten Fachdiskurs, chen sind die Ausgangspunkte einer politischen Bildung, die der die Auseinandersetzung über Praktiken und Konzepte poli- von den Jugendlichen selbst getragen wird. Daher verfügt die tischer Bildung handlungsfeldübergreifend verknüpft. Daher Jugendsozialarbeit in besonderer Weise über einen Anknüp- empfiehlt der 16. Kinder- und Jugendbericht die gegenseitige fungspunkt zur politischen Bildung, der in der lebensweltli- Kenntnis- und Bezugnahme der verschiedenen Fachdebatten chen Betroffenheit ihrer Adressat_innen liegt. durch gemeinsame Fort- und Weiterbildungsangebote, Infor- mationsangebote in den Ausbildungsgängen oder durch mehr Politische Bildung ist mehr als Partizipation Kooperationen. Daher lautet eine weitere wichtige Schlussfolgerung aus dem 16. Kinder- und Jugendbericht, dass politische Bildung mehr ist als Partizipation. Nicht jede Form der sozialen Kompetenz- aneignung für gemeinschaftliches Handeln ist zugleich auto- matisch eine Ermöglichung politischer Bildungsprozesse. Par- tizipation ist eine notwendige, aber noch keine ausreichende Voraussetzung für politische Bildungsprozesse. Dürfen Jugend- liche im Jugendhaus die Öffnungszeiten oder das Thekenan- gebot mitbestimmen oder können sie auf einer Jugendfreizeit über die Aktivitäten der Woche entscheiden, so sind diese Parti- zipationserfahrungen Anlässe für politische Bildung, sie stoßen für sich genommen jedoch noch keine politischen Bildungs- prozesse an. Die Erfahrungen, die Kinder und Jugendliche in Beteiligungsprozessen machen, müssen kritisch reflektiert wer- dreizehn Heft 26 2021 6 Die Analyse
den, um politische Bildungsprozesse zu ermöglichen. Diese Re- Die Autorin: flexion muss in ihrer pädagogischen Perspektive gestärkt und Hanna Lorenzen leitet als Bundestutorin der Evangelischen von Fachkräften moderiert werden. Die reflexive Auseinander- Trägergruppe für gesellschaftspolitische Jugendbildung (et) setzung mit Partizipationserfahrungen kann beispielsweise da- eine bundesweit tätige Organisation der außerschulischen poli- rin bestehen, dass Jugendliche hinterfragen, was sie durch die tischen Jugendbildung. Sie war Mitglied der Sachverständigen- Beteiligungserfahrung gelernt haben und wie sie in der Grup- kommission zur Erstellung des 16. Kinder- und Jugendberich- pe zu einer Entscheidung gelangt sind. Welche Interessen sind tes der Bundesregierung. durch die Entscheidung berührt und sind alle Menschen, deren lorenzen@politische-jugendbildung-et.de Interessen berührt sind, auch in den Entscheidungsprozess ein- bezogen? Schließlich können Partizipationserfahrungen in der Anmerkungen: Reflexion in einen gesellschaftspolitischen Kontext transferiert 1 Becker, H. (2020): Studie zum Thema „Demokratiebil- werden. An welcher Stelle habe ich weitere Mitbestimmungs- dung und politische Bildung in den Handlungsfeldern der rechte und wo fehlen mir diese? Meist finden sich auch leicht Kinder- und Jugendarbeit (SGB VIII § 11–13)“. Recherche im inhaltliche Anknüpfungspunkte, um die gesellschaftspolitische Rahmen des 16. Kinder- und Jugendberichts der Bundesregie- Relevanz der Alltagswelten und der Anliegen Jugendlicher rung (www.dji.de/16_kjb). sichtbar zu machen, sei es durch eine Thematisierung der Her- 2 Deutscher Bundestag (2020): 16. Kinder- und Jugendbe- stellerfirmen der Getränkeauswahl an der Jugendhaustheke richt. Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Ju- oder durch eine Auseinandersetzung mit dem Mittelaltermotto gendalter. BT-Drucksache 19/24200. Berlin. S. 343 ff. (https:// der Jugendfreizeit. Jugendliche sollten in Bildungsangeboten www.bmfsfj.de/kinder-und-jugendbericht/gesamt). der Jugendarbeit und der Jugendsozialarbeit Gelegenheit be- 3 Thimmel, A. (2020): Politische Bildung und Soziale Arbeit kommen, ihren eigenen Politikbegriff zu reflektieren und zu (https://profession-politischebildung.de/grundlagen/bildungs- erkennen, dass Probleme des Alltags mit politischen Struktu- bereiche/soziale-arbeit). ren und gesellschaftlichen Konflikte zusammenhängen.6 Diese 4 Council of Europe (2010): Charter on Education for De- Auseinandersetzung kann situativ anlassbezogen im Gespräch mocratic Citizenship and Human Rights (dt.: Europarats- oder mithilfe eines konzeptionell geplanten politischen Bil- Charta zur Politischen Bildung und Menschenrechtsbildung). dungsangebots ermöglicht werden. In einem weiteren Schritt Empfehlung CM/Rec(2010)7 des Ministerkomitees des Eu- können sich Jugendliche damit auseinandersetzen, wo ihre le- roparats an die Mitgliedstaaten. Strasbourg (https://rm.coe. bensweltlichen Interessen politisch verhandelt werden und wo int/1680489411). es für sie Möglichkeiten der Mitbestimmung gibt. 5 Deutscher Bundestag (2020): 16. Kinder- und Jugendbe- richt. Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Ju- Fachkräfte müssen ein eigenes politisches Verständnis und gendalter. BT-Drucksache 19/24200. Berlin. S. 439 (https:// einen weiten Politikbegriff mitbringen www.bmfsfj.de/kinder-und-jugendbericht/gesamt). Befragt nach ihren Interessen an Politik, antworten insbesonde- 6 Wohnig, A. (2021): Klärungsversuche: Zum Begriff „Poli- re bildungsbenachteiligte Jugendliche oft abweisend. Dies liegt tische Bildung“ im Bericht. In: Journal für politische Bildung. jedoch sehr häufig daran, dass sie selbst ein enges Verständnis Ausgabe 3. 2021. S. 14–19. von Politik als staatliches Handeln oder als Parteipolitik haben.7 7 Arnold, N./Fackelmann, B./Graffius, M./ Krüger, F./Talas- Dies kann aber nicht der Politikbegriff sein, der der politischen ka, S./Weißenfels, T. (2011): Sprichst du Politik? Ergebnisse Bildung in der Kinder- und Jugendarbeit und der Jugendsozial- des Forschungsprojekts und Handlungsempfehlungen. Berlin arbeit zugrunde liegt. Dieser Politikbegriff ist weit und knüpft (http://www.sprichst-du-politik.de/downloads/sprichst-du-po- an den Interessen der Jugendlichen an, um das Politische in die- litik_Studie.pdf). sen Anliegen kenntlich zu machen und sie bei der Suche nach Antworten, eigenständigen Urteilen und Handlungsoptionen zu unterstützen. Auch für Jugendliche, die sich selbst als politisch desinteressiert beschreiben, stellen Themen wie Mobbing, Dis- kriminierung, Liebe oder Ungerechtigkeit, große Potenziale für politische Jugendbildung dar. Zugleich sind die Fachkräfte bei der Bearbeitung dieser Themen noch mehr gefordert, heraus- zuarbeiten, inwiefern es sich bei allen Themen, die Jugendliche betreffen, immer auch potenziell um politische Themen handelt. Wenn Jugendliche Politik nur in einem engeren Sinne wahrneh- men, geht ihnen eine Vielzahl an Möglichkeiten verloren, ihre Interessen politisch einzuordnen und auch ihren Alltag im gesell- schaftspolitischen Sinne mitzugestalten. Die Analyse 7 dreizehn Heft 26 2021
KINDER- UND JUGEND BETEILIGUNG AUF KOMMU- NALPOLITISCHER EBENE Öffnung gegenüber der Jugendsozialarbeit? von Waldemar Stange In diesem Beitrag geht es darum zu skizzieren, wie Kinder und Ju- gendliche auf kommunaler Ebene beteiligt werden können. Es geht um die Teilnahme von Kindern und Jugendlichen an der Demo- kratie und die Partizipation an der Gestaltung der Gesellschaft auf kommunaler Ebene. Letztlich geht es um ernst gemeinte Inklusion und die glaubhafte Integration von Kindern und Jugendlichen als gleichwertige Mitglieder in die Gesellschaft. Der folgende Beitrag nimmt die kommunale Ebene der Jugend- Ausführungen ist deshalb ein anderer: Es geht nicht um die partizipation in den Blick. Dabei denkt man nicht als allerers- Maßnahmen der Jugendsozialarbeit selber und wie innerhalb tes an die Jugendsozialarbeit. Denn die meisten Maßnahmen der Maßnahmen verstärkt Partizipationsstrukturen implemen- der Jugendsozialarbeit, von der Streetwork über die Schul- tiert werden können. Das ist ein eigener Diskurs, der momen- sozialarbeit bis hin zu Jugendberufshilfe finden in der Regel tan intensiv geführt wird. An dieser Stelle geht es darum, die zwar vor Ort im kommunalen Sozialraum statt, werden aber Möglichkeiten auszuloten, wie die Zielgruppen der Jugend- meistens nicht kommunal verantwortet, weil die rechtliche Zu- sozialarbeit in die bereits vorhandenen kommunalen Jugend- ständigkeit eher über Bundesgesetze (z. B. SGB II, SGB III, SGB partizipationsstrukturen integriert werden können. Deswegen VIII) und Landesgesetze (z. B. Schulgesetze, Ausführungsgeset- liegt der Fokus vor allem auf den allgemeinen kommunalen ze zum SGB VIII) geregelt ist. Der Blickwinkel der folgenden Jugendbeteiligungsstrukturen selber. dreizehn Heft 26 2021 8 Die Analyse
Die große Bedeutung der Demokratie als Lebensform erkennt 1. Begriffliche Einordnung: man schnell, wenn man sich klarmacht, dass im Nahbereich der Menschen im kommunalen Bereich und auf der sozial- Gesellschaft – Demokratie – räumlichen (kleinräumigen) Ebene die Chancen für politische und demokratische Lernprozesse von Kindern und Jugendli- Partizipation chen besonders groß sind. Hier sind direkte eigene Erfahrun- gen mit Demokratie und Selbstwirksamkeit möglich. Die emo- Gesellschaften können – wie wir historisch und aktuell immer tionale und motivierende Wirkung schafft außergewöhnlich wieder erkennen müssen – prinzipiell in einem breiten Spekt- gute Bedingungen für das Erlernen von Demokratie. Das ist rum von demokratisch bis zu nicht-demokratisch organisiert eine wichtige Feststellung, für die Oskar Negt eine wichtige sein. Unsere Gesellschaft hat sich dafür entschieden, demokra- Begründung liefert. Er schreibt, dass die Demokratie „die ein- tisch zusammenzuleben, und dies verfassungsrechtlich fixiert. zige politisch verfasste Gesellschaftsordnung [ist], die gelernt Damit verbunden ist – hier besteht ein breiter gesellschaftlicher werden muss“ (Negt 2010, S. 515). Konsens –, dass auch alle gesellschaftlichen Teilsysteme demo- kratisch verfasst und organisiert sein sollen. Das ist in vielen Demokratie hat unterschiedliche Intensitäten und Reichweiten Bereichen gut gelungen. Nicht so gut gelungen ist es im gesell- Die Demokratie kann sehr unterschiedlich ausgeprägte Intensi- schaftlichen Teilsystem der „Kinder- und Jugenddemokratie“1. tätsgrade der Partizipation der Bürger_innen aufweisen (vgl. Schmidt 2010a, S. 164 f.). Die Reichweite, d. h. der Grad, in Der Kern der Demokratie dem die partizipationsberechtigten Personengruppen ausge- Welche sind nun die Merkmale von Demokratie – sei es in weitet werden, oder der Umfang der Themen, bei denen Par- einem „großen“ oder in einem „kleinen“ Teilsystem (vgl. tizipation zugelassen ist, können sich stark unterscheiden. In Schmidt 2010a, S. 164 f., und 2010b, S. 236 ff., S. 453 ff.)? ihren extremen Ausprägungen käme es auf der einen Seite zur Der Begriff „Demokratie“ stammt aus dem Griechischen (de- Elitendemokratie, auf der anderen zur partizipatorischen De- mos = das Volk und kratein = herrschen). Demokratie meint mokratie, also zur „Beteiligung möglichst Vieler an möglichst also eine Regierung des Volkes durch das Volk und für das vielen Angelegenheiten des öffentlichen Lebens“ (Schmidt Volk. Das kann geschehen durch direkte Demokratie durch 2010, S. 589). Anwesenheit der abstimmungsberechtigten Bürger_innen oder Die meisten der bisher genannten Merkmale von Demokratie durch repräsentative Demokratie, also über gewählte oder de- finden wir nicht nur in den großen Systemen auf gesamtgesell- legierte Repräsentant_innen. Damit verbunden sind freie und schaftlicher Ebene, sondern auch in den kleineren Systemen gleiche Wahlen, die garantierte Möglichkeit zur freien Inter- wieder. Alle Aussagen gelten also auch für eine Kommune oder essen- und Meinungsäußerung sowie zur Interessenbündelung eine einzelne pädagogische Einrichtung und vor allem – auch und Opposition und die Existenz von Verfassungsinstitutio- wenn das noch viel zu selten so diskutiert wird – im gesamten nen. In einer Demokratie nach diesem Muster geht es im Kern System der Kinder- und Jugenddemokratie! darum, dass die Betroffenen von Entscheidungen in möglichst starkem Maße auch deren Erzeuger_innen sind. 2. Was ist Partizipation? Demokratie als Regierungs- und Herrschaftsform oder Demo- kratie als Lebensform? Den Begriff Partizipation kann man auf das lateinische ‚parti- Demokratie sollte im Sinne Ulrich von Alemanns nicht nur als ceps‘ (also „Anteil habend, beteiligt sein an“) zurückführen. Staats-, Herrschafts- und Regierungsform, sondern auch als Man kann aber auch auf ‚partem carpere‘ zurückgreifen, was „politisches Prinzip“ und als „Lebensform“ angesehen werden wörtlich bedeutet, „einen Teil (weg-)nehmen“. In ‚particeps‘ (vgl. Alemann 1986, S. 78 f.). wie auch in ‚partem carpere‘ enthalten sind die lateinischen „Insgesamt bleibt die ‚Demokratie als Lebensform‘ die ‚Ur- Wörter pars („Teil“, „Anteil“) und capere, also „nehmen/fas- form‘ der ‚Idee der Demokratie‘ (J. Dewey). In ihr erfahren sen“. Die einfachste Übersetzung wäre Teilnahme oder Betei- z. B. Kinder, Schüler und Jugendliche ‚erste Annäherung und ligung. Der Begriff „Teilnahme“ ist aber viel zu schwach, z. B. Begegnung‘ mit den Regeln der sozialen Kooperation und der ist die Teilnahme an einem Konzert sicher keine Partizipation. Freien und Gleichen (S. Oettinger). Die Demokratie als Le- Deshalb verwenden wir die Bezeichnungen „Beteiligung“ oder bensform ist die ‚ursprüngliche Form‘ der Demokratie (C. J. „Partizipation“. Die Bezeichnung „Beteiligung“ wird oft als Friedrich), […] das ‚erhaltende Prinzip in der Bauform‘ der etwas schwächer empfunden, sie ist aber im Prinzip synonym Demokratie als Herrschaftssystem (F. W. Böckenförde). Sie mit „Partizipation“ und hat sich umgangssprachlich ebenfalls ist zugleich aber auch die ‚Vorform‘ und das ‚Rückgrat‘ der durchgesetzt. Demokratie als Herrschaftsform (D. Eglin)“ (Himmelmann 2007, S. 264). Die Analyse 9 dreizehn Heft 26 2021
Wenn wir im Begriff der Partizipation in besonderer Weise auf ‚partem carpere‘ zurückgreifen, was – wie gesagt – wörtlich bedeutet, „einen Teil (weg-)nehmen“ oder „abgeben“, meinen wir, dass den Erwachsenen ein gewisser Teil („pars“) zu Guns- ten der Kinder und Jugendlichen weggenommen wird. Bei die- sem Teil handelt es sich um die Verfügungsgewalt der Kinder und Jugendlichen über ihre Lebensverhältnisse, aber insbeson- dere auch um Entscheidungsrechte und Kompetenzen – also letztlich Macht. „Teil“ kann aber auch das Teilen von Verant- wortung bedeuten! Es werden also (An)Teile auf die Kinder und Jugendlichen übertragen. Partizipation heißt „Teilen“! 3. Skizze einer flächendecken- den kommunalen Beteiligungs- struktur Wir können noch lange nicht von einer flächendeckenden Ver- breitung sprechen, aber glücklicherweise bestehen inzwischen an etlichen Orten punktuell schon reichhaltige „Beteiligungs- landschaften“, die wir empirisch gut belegen können, z. B. in der Studie zu den „Starken Kinder- und Jugendparlamenten“ in Deutschland (Roth & Stange 2020, S. 22.). Wenn man nun versucht eine gewisse Struktur in das bunte und vielfältige Bild der „Lokalen Beteiligungslandschaften“ mit ausgeprägtem „Partizipationsmix“ zu bringen, kann man von folgender Systematik „flächendeckender Beteiligungs- strukturen“ in Kommunen ausgehen: Die Vielfalt der konkreten Partizipationsangebote lässt sich gut ordnen, wenn man sie entlang der folgenden Dimensionen be- trachtet: • Zielgruppen (3.1) • Handlungsfelder (Demokratiefelder oder Orte der Parti- zipation) (3.2) • Themen der Beteiligung (3.3) • Methoden („Formate“ oder „Grundformen“ der Partizi- pation) (3.4) Die beschriebene Gesamtsystematik flächendeckender kom- munaler Beteiligungsstrukturen lässt sich in folgender Grafik inkludiert werden und Exklusionsprozesse konsequent ausge- zusammenfassen: schlossen werden. Dazu einige Beispiele. Wie kommt nun die Jugendsozialarbeit in diesem Modell ins Spiel? Einerseits weil ihre eigenen Institutionen und Einrich- 3.1. Dimension „Zielgruppen“: Adressaten der Jugendsozial- tungen in diesem kommunalen Raum liegen, zwar häufig von arbeit in kommunalen Partizipationsprojekten nicht-kommunalen Institutionen verantwortet (z. B. Jugendbe- Die klassischen Zielgruppen der Jugendsozialarbeit (§ 13 SGB rufshilfe), aber dennoch im Nahraum stattfinden. Aber das ist VIII), also z. B. benachteiligte junge Menschen ohne Schul- ja – wie gesagt – nicht der Fokus der Argumentation in diesem abschlüsse, arbeitslose Jugendliche, Jugendliche mit abwei- Beitrag. Andererseits geht es darum, dass die Zielgruppen der chenden Karrieren und Suchtproblemen, benachteiligte junge Jugendsozialarbeit in alle bereits vorhandenen kommunalen Menschen mit Migrationshintergrund usw., stellen eine Teil- Handlungsfelder („Demokratiefelder“) möglichst partizipativ menge aller auf kommunaler Ebene agierenden Jugendlichen dreizehn Heft 26 2021 10 Die Analyse
dar, für die Partizipationsangebote vorgehalten werden. Die „die aktuelle Zusammensetzung der Kinder- und Jugendver- Zielgruppen der Jugendsozialarbeit sollten immer in relevan- tretung nach sozialen Milieus und Herkunft die Zusammen- ter Anzahl in den regulären Partizipationsprojekten vor Ort setzung der jungen Bevölkerung vor Ort“ widerspiegelte. In vertreten sein. Nehmen wir als Beispiel das kommunale Kin- 39 % der Kommunen waren Jugendliche mit Migrationshin- der- und Jugendparlament. Die vielfach vermutete Exklusion tergrund zwar vertreten, aber weniger stark und in bereits der Zielgruppen der Jugendsozialarbeit aus diesem Format 30 % der Kommunen mit ihrem proportionalen Anteil (vgl. stellt sich inzwischen differenzierter dar. Zwar war diese Art Roth & Stange 2020, S. 29). Diese Tendenz wird unterstri- von Exklusion lange Zeit ein großes Problem, das scheint sich chen durch eine Vielzahl an Good-Practice-Projekten aus aber langsam zu ändern. So gab es in der Untersuchung zu den vielen anderen kommunalen Partizipationsformaten den deutschen Kinder- und Jugendparlamenten von Roth & (vgl. exemplarisch die imponierenden Ergebnisse in der Stu- Stange z. B. den Befund, dass bereits in 55 % der Kommunen die von Sturzenhecker mit benachteiligten Jugendlichen in Die Analyse 11 dreizehn Heft 26 2021
der offenen Jugendarbeit (Sturzenhecker 2016)). Ein beein- Armut betroffene Kinder in Camps „empowert“, anschließend druckendes Beispiel lieferte EJSA bei den Jugend-Politiktagen in eigenen Projekten vor Ort begleitet und zur Selbsthilfe be- 2021. Hier wurden durch didaktisch kluge und beeindrucken- fähigt werden (Bertelsmann Stiftung (2021)). de Maßnahmen Zielgruppen der Jugendsozialarbeit in einem ansonsten von klassischen „kongressaffinen“ Jugendlichen 3.4 Die methodische Dimension – die „Grundformen der Be- dominierten Feld befähigt, gleichwertig substanzielle Beiträge teiligung“ zu leisten. Die Zielgruppen des § 13 SGB VIII scheinen sich Die Methodenebene sollte man aufgrund ihrer Vielfalt ordnen vielleicht doch schrittweise ihre gesellschaftliche und soziale im Sinne von kategorialen „Grundformen“. Bisher dominiert Integration auch in den kommunalen Partizipationsformaten hier die übliche Kategorisierung in „Repräsentative Formate“, zu erobern. Diese Entwicklung gilt es aber, durch Forschung in in „Direkte Demokratie in offenen Versammlungsformen“ und Zukunft empirisch weiter zu beobachten. die „Projektmethode“. Erweitert man hier den Blick auf eine eher wissenschaftliche 3.2 Handlungsfelder / Demokratiefelder Ebene – sowohl was die die empirische Forschung mit ihren Auch die Jugendsozialarbeit ist ein eigenständiges kommu- reichhaltigen statistischen Erhebungen und Fallstudien (Groß/ nales Handlungsfeld mit eigenen Institutionen wie zum Bei- Schilling/Badeda 2017, S.16 ff.; Roth & Stange 2020, S. 16) spiel den Jugendwerkstätten oder der Schulsozialarbeit. Diese als auch die Theorie betrifft (vgl. z. B. Kersting 2008, S. 23 ff.; Einrichtungen der Jugendsozialarbeit haben eine Vielfalt an Decker/Lewandowsky/Solar 2013, S. 36 ff.; Kersting 2016, Good-Practice-Modellen mit kommunalpolitischer Ausstrah- S. 255 ff.) –, stellt sich das Bild sehr viel vielfältiger dar als in lung produziert: So haben beispielsweise im Projekt „Bock auf der klassischen Einteilung. Auf der Basis der empirischen Stu- Politik – Migranten beziehen Position“ die Jugendmigrations- dien – ergänzt um praxisnahe Fallstudien – ergibt sich nämlich dienste der Arbeiterwohlfahrt in Paderborn in drei Gemeinden ein anspruchsvolleres, kategorial gut strukturiertes Gesamtsys- jugendliche Migrant_innen in Kontakt mit der kommunalen tem von zehn Grundformen, die sich dann sogar in eine Viel- Politik und Verwaltung gebracht. Oder auch bei den Jugendmi- zahl von ganz konkreten und praxisnahen Unterformen (sog. grationsdiensten: Türkische Migrant_innen bauten zusammen „Artikulationsformen“) untergliedern lassen2 (vgl. zum Fol- mit Aussiedler_innen ein Amphitheater mitten im Ruhrgebiet. genden Stange 2021; Groß/Schilling/Badeda 2017, S. 16; Roth & Stange 2020, S. 20; Stange 2021, S. 37 ff.). 3.3. Dimension „Themen“ der Beteiligung Im Prinzip sind Kinder und Jugendliche an allen sie betreffen- den Belangen zu beteiligen. Sie müssen – so verlangen es viele Kooperation in Erwachsenen Gemeindeordnungen – in Planungen der Kommune einbezo- gen werden, z. B. Stadtplanung, Stadtentwicklung, Verkehrs- strukturen planung, Umweltschutz und Naturschutz. Es gibt eine breite Palette an Themen, die speziell für die Zielgruppen der Jugendsozialarbeit von Bedeutung sind: von 1. tellvertretende Formen der Interessenwahrneh- S Schul- und Ausbildungsabbruch, Mobbing, Arbeitslosigkeit, mung3 Erziehungs- und Sozialisationsbelastungen bis hin zu Suchtpro- 1.1 Advokatorische Partizipation: z. B. Kinder- u. Jugend- blemen oder Kinderarmut. Es gibt eine Reihe von empirischen beauftragte Belegen dafür, dass diese Themen in den allgemeinen Partizi- 1.2 Ombuds- und Beschwerdestellen pationsprojekten eine erhebliche Rolle spielen (Groß/Schilling/ Badeda 2017, S. 18. ff; Schneider/Stange/Roth 2009, S. 24). 2. Co-Produktion und Co-Management Auch in Kinder- und Jugendparlamenten werden diese Themen 2.1 Beteiligung an den Institutionen der Erwachsenen: z. B. aufgegriffen: In 43 % der deutschen Kinder und Jugendparla- Sitz und Stimme einzelner Jugendlicher in kommunalen mente war das Thema „Integration von Geflüchteten vor Ort“ Erwachsenenausschüssen (z. B. im Jugend- und Sport- stark vertreten, Gewaltprävention und Umgang mit Konflikten ausschuss) in 16 % der Parlamente oder Verbesserung des Wohnumfeldes 2.2 Strukturierte Deliberation und Aushandlung: z. B. Lö- in 18 % der Kommunen (Roth & Stange 2020, S. 39). Also sungen finden in Arbeitsgruppen, Workshops oder Ju- selbst in Partizipationsformaten, denen man nicht von vornhe- gendkonferenzen, aber auch in kooperativen Projekten4 rein eine alltagsweltliche Nähe zu den Zielgruppen der Jugend- gemeinsam mit Erwachsenen sozialarbeit unterstellt, kommen Themen der Zielgruppen der 2.3 Jugend-Politik-Beratung (als konsultative Beteiligung): Jugendsozialarbeit zum Zuge. Es gibt auch eine Vielzahl von Kinder und Jugendliche sind beratend für Erwachsene Partizipationsprojekten, die das Thema „Kinderarmut“ in den tätig – z. B. durch ein Jugendgutachten im Rahmen einer Mittelpunkt stellen. Exemplarisch sei hier das Projekt „2GE- Planungszelle, aber auch im Rahmen von Jugendanhö- THERLAND“ der Bertelsmann Stiftung genannt, in dem von rungen, Hearings, Jugend-Audits usw. dreizehn Heft 26 2021 12 Die Analyse
9. Projektansatz Interessenvertretungen von Selbstbestimmte Peergroup-Projekte (z. B. Projekte zur Spielplatzentwicklung, Umbau eines Jugendhauses, Pro- Kindern und Jugendlichen in jektmessen usw.) eigenen Strukturen (Querschnittliche Selbstorganisation und Selbstverwaltung) Selbstbestimmte, informelle Gestaltung der eigenen 3. Repräsentative Beteiligungsformate: Z. B. Kinder- und Jugendparlamente, Jugendbeiräte als Lebenswelt „Kleines Parlament“ usw. 4. Direkte Demokratie 10. Informelle Alltags- und Lebensweltpartizipation 4.1 Offene Versammlungsformen – wie die Jugend-Einwoh- 10.1 Informelle Peer-to-Peer-Partizipationsprozesse in der Le- ner-Versammlung, Offenes Jugendforum, Kinderkonfe- benswelt: Selbstorganisation in der Freizeit, Sozialraum-An- renz eignung in der FreizeitAlltagspartizipation in Institutionen 4.2 Referendum/Volksabstimmung durch Kinder und Ju- 10.2 Einfache informelle, dialogische Aushandlungs- und Ge- gendliche, z. B. über Internetabstimmungen oder durch sprächsformen mit Erwachsenen in pädagogischen Ein- einen von Jugendlichen initiierten Einwohnerantrag richtungen (z. B. bei Konflikten, Absprachen, beim Ent- (z. T. ab 16 Jahren) wickeln und Einhalten von Regeln), Mitbestimmung und Mithandeln im Alltag 5. Formen der Selbstorganisation und Selbstver- waltung der Jugend in eigenen Organisationen icht alle diese Grundformen der kommunalen Partizipation N Z. B. Kinder- und Jugendverbände, Jugendringe usw . sind für die Zielgruppen der Jugendsozialarbeit gleich gut ge- eignet. Dazu einige Beispiele: 6. Selbstorganisierte Bewegungen und Initiativen 6.1 Unkonventionelle alternative Partizipationsformen: z. B. a) Stellvertretende Formen der Interessenwahrnehmung Jugendkampagnen, bundesweite Protestbewegungen wie 1.1 Advokatorische Partizipation: z. B. Kinder- u. Ju- „Fridays for Future“ gendbeauftragte (Vertrauenspersonen) in den Einrichtun- 6.2 Punktuelle Einzelhandlungen: z. B. Demonstrationen, gen der Jugendsozialarbeit Petitionen, Warenboykott 1.2 Ombuds- und Beschwerdestellen: auf der Basis von § 45 SGB VIII Selbstorganisation und non- b) Beteiligung an den Institutionen der Erwachsenen: Es gibt bei einigen Trägern für einzelne, ausgewählte Ju- formale Lösungsproduktion in gendliche in den Gremien des Trägers Mitgliedschaften von Jugendlichen, z. B. in Mitarbeiter- und Teamkonfe- selbstverwalteten Zonen renzen, in Planungsgruppen und Ausschüssen usw. c) Repräsentative Beteiligungsformate: 7. Jugendhaushalt – Jugendfonds In Wismar kooperierte eine Gruppe aus einer Maßnahme Jugendliche entscheiden über Finanzmittel z. B. im Schü- der Jugendsozialarbeit mit einem externen Projekt, näm- lerhaushalt, bei der Förderung durch eine Youth Bank lich bei der Gründung eines Kinder- und Jugendparlamen- tes. In den Plan-B-Produktionsschulen in Dortmund wur- 8. Kollaboratives Arbeiten de eine Partizipationsstruktur entwickelt, mit der Wahl Gemeinsames, simultanes Arbeiten bei der Ideenfindung von Teamsprecher_innen der jeweiligen Arbeitsgruppen, und Problemlösung für Konzepte u. Maßnahmen, z. B. die dann an den Gesamtteamtreffen teilnahmen. Auch digital wie bei einem Hackathon (digitaler Ideenwettbe- in einigen Jugendwerkstätten gab es regelmäßig Wahlen werb konkurrierender, synchron arbeitender Teams) von Teamsprecher_innen der jeweiligen Arbeitsgruppe. In einigen schulischen Maßnahmen der Jugendsozialarbeit wurde die Wahl eines Schülersprechers bzw. einer Schüler- sprecherin in der Schulwerkstatt eingeführt. Die Analyse 13 dreizehn Heft 26 2021
d) Direkte Demokratie in offenen Versammlungsformen Der Autor: Häufige Praxis sind hier Vollversammlungen in den Waldemar Stange, Prof. Dr., ist Professor an der Leuphana Einrichtungen der Jugendsozialarbeit (z. B. in der Ju- Universität Lüneburg, hier am Institut für Sozialarbeit/Sozial- gendberufshilfe, etwa in Jugendwerkstätten) oder Just pädagogik, Bildungswissenschaftler. Communities in bestimmten Schulen, auch Gruppenver- stange@uni.leuphana.de sammlungen in Heimen Anmerkungen: e) Jugendhaushalt – Jugendfonds: 1 Zu einigen harten Fakten aus der empirischen Forschung Jugendliche in Maßnahmen der Jugendsozialarbeit ent- zur Kinder- und Jugendbeteiligung vgl. Pickel 2002, die ver- scheiden selber über eigene Finanzmittel schiedenen Shell-Studien (z. B. Deutsche Shell Jugendstudie 2002 und 2016), die Freiwilligensurveys (z. B. Rosenbladt f) Projektansatz 2001): Bruner/Winklhofer/Zinser 1999; Bertelsmann Stiftung Zum Beispiel Projekte zur baulichen Umgestaltung 2005; Deth/Abendschön/Rathke/Vollmer 2007; Betz/Gaiser/ der eigenen Einrichtung: Eine Arbeitsgruppe der Bil- Pluto 2010; World Vision 2007 und 2010; Fatke/Niklowitz dung+Lernen gGmbH aus Lünen initiierte eine Garten- 2003; Biedermann/Oser 2006; Rat der Europäischen Union neuplanung und -gestaltung der Jugendwerkstatt: Neu- 2003, Wedekind/Daug 2000; Schneider/Stange/Roth 2009; gestaltung des Gartenbereiches mit sowohl sportlichen Studie „mitWirkung!“ (Bertelsmann Stiftung 2008); Fatke/ (Basketballkorb, Fußballtor) als auch gemeinschafts- Schneider 2007; Rauschenbach & Bien 2012; Groß/Schilling/ fördernden Nutzungsmöglichkeiten (Platz zum Grillen, Badeda 2017, Landeszentrale für politische Bildung Baden- Sessel zum Chillen). Hochinteressante Ergebnisse liefern Württemberg 2018, LBS/PROKIDS 2016 und 2018, Weigel auch Projekte, in denen Kinder und Jugendliche eigene 2020. Beiträge zu Sozialraumanalysen erstellen (vgl. Deinet 2 Methoden wie die Zukunftswerkstatt, Open Space und 2009). insbesondere die E-Participation sind selber keine Grundfor- men, weil sie keinem bestimmten Grundformat zugeordnet g) Informelle Alltags- und Lebensweltpartizipation sind, sondern zu ganz verschiedenen Anlässen flexibel einge- Formate der Alltagspartizipation sind in vielen Maßnah- setzt werden können. men der Jugendsozialarbeit gute Praxis (Aushandeln von 3 Vgl. dazu Roth/Stange 2021, S. 23. Regeln, dialogische Konfliktgespräche usw.). 4 Nicht zu verwechseln mit Nr. 9 (Projektansatz; Durchfüh- rung eigenverantwortlicher, allein von Kindern und Jugendli- chen durchgeführter Projekte). 4. Schlussbemerkung Wir haben punktuell und schrittweise immer mehr Ansätze zur Integration der Zielgruppen der Jugendsozialarbeit in die kom- munalen Beteiligungsformate. Diese erkennbaren positiven Entwicklungen gilt es, aus ihrem punktuellen Status herauszu- führen und in die Breite zu transformieren. Dafür ist aber viel mehr empirische und theoretische Forschung nötig, wenn die Integration der Zielgruppen der Jugendsozialarbeit in die kom- munalen Partizipationslandschaften und die kommunale Zivil- gesellschaft deutlicher als bisher sichergestellt werden soll. dreizehn Heft 26 2021 14 Die Analyse
SOZIALARBEITSPOLITIK ALS DEMOKRATISIERUNG DER SOZIALEN ARBEIT Demokratiebildung und politische Bildung in der Jugendsozialarbeit von Fabian Fritz & Alexander Wohnig Der Artikel diskutiert, wie politische Bildung und Demokratiebil- dung strukturell in der Jugendsozialarbeit umgesetzt werden kön- nen. Dafür müssen die beiden Konzepte zunächst definiert und voneinander unterschieden werden. Anschließend kann die Not- wendigkeit aufgezeigt werden, sie im Kanon der Sozialarbeitspoli- tik zu verankern. Am Beispiel der sozialpädagogischen Fanarbeit zeigen wir, wie beide Konzepte zusammenzudenken wären. Spätestens seit dem 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundes- unklar, was unter „politischer Bildung“ verstanden wird. Auch regierung (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen wenn der Kinder- und Jugendbericht an sich Demokratiebil- und Jugend 2020) ist politische Bildung in den (Praxis-)Fel- dung unter politische Bildung subsumiert (Ahlrichs & Fritz dern der Jugend-, Jugendsozial- und Bildungsarbeit in aller 2021, o. S.), geht aus dem Kommentar hervor, dass die Bun- Munde. Unter anderem im Zuge von sich verschärfenden ge- desregierung den Terminus „demokratische Bildung“ gegen- sellschaftlichen Polarisierungen bekommt politische Bildung über dem der „politischen Bildung“ präferiert hätte (BMFSFJ, eine zentrale Funktion: Sie soll dabei helfen, gesellschaftlichen 16. Kinder- und Jugendbericht, S. 8). Dabei wird übersehen, Zusammenhalt zu stiften und Menschen zu mündigen und de- dass Demokratiebildung ein etabliertes Konzept der Sozialpä- mokratischen Bürger_innen zu erziehen. In diesem Sinne gibt dagogik/Kinder- und Jugendarbeit ist. Durch eine synonyme es kaum Stimmen, die für weniger politische Bildung eintreten: Verwendung der Begriffe geht der Gehalt der Konzepte verlo- Überall soll politische Bildung, so der Kinder- und Jugendbe- ren. Für die im Bericht ebenfalls angesprochene Jugendsozial- richt, gestärkt werden. Dabei ist im Diskurs allerdings oftmals arbeit (BMFSFJ 2020, S. 492 ff.) entsteht die Herausforderung, Die Analyse 15 dreizehn Heft 26 2021
die Konzepte jeweils zu durchdringen und ihr Praxisfeld hin- politischer Bildung und sozialpädagogischer Demokratiebil- sichtlich der darin vorhandenen Möglichkeiten für politische dung zu unterscheiden (vgl. dazu auch Ahlrichs et al. 2021 Bildung und/oder Demokratiebildung zu befragen. i. E.). Die sozialpädagogische Demokratiebildung lenkt den Blick stärker auf die Strukturen der Bildungsinstitutionen selbst, während die politische Bildung auf die Analyse eines Was meinen politische Bildung Gegenstandes fokussiert. Demokratiebildung hat die Potenzia- le der Bildungsinstitutionen zur Ermöglichung von Mitbestim- und Demokratiebildung? mung und demokratischer Partizipation zum Thema. Die zentrale normative Leitidee politischer Bildung in der De- mokratie ist Mündigkeit. Mündigkeit ist (neben dem ihr einge- „Die zentrale normative Leit- schriebenen Moment der Affirmation, da Bildung auch immer Herrschaft bedeutet) zum einen die Voraussetzung von Demo- idee politischer Bildung in der kratie, zum anderen ist sie immer mit der Fähigkeit zur kriti- schen Analyse von Gesellschaft verbunden. Politische Bildung Demokratie ist Mündigkeit.“ in diesem Sinne bedeutet vier Dinge: Dahinter steht die Idee, Demokratie in demokratischen Struk- ie Fähigkeit zur kritischen Analyse politischer, gesell- d turen als Demokrat_innen einzuüben. Dazu schreibt der Erzie- schaftlicher und ökonomischer Konflikte hungswissenschaftler Thomas Coelen in Bezug auf Verbände und Vereine: „Das Ziel der Bildung eines_r demokratischen as Erkennen der eigenen Interessen in Reflexion auf d Bürgers_in konkretisiert sich in den potentiell demokratischen die eigene Eingebundenheit in politische, gesellschaft- Strukturen der (zumeist vereinsrechtlichen) Organisationen: liche und ökonomische Strukturen Die Beteiligten artikulieren Interessen und bestimmen gemein- sam ihre Umsetzung“ (Coelen 2010, S. 39). Einem solchen die Fähigkeit zur Urteilsbildung Verständnis von Demokratiebildung geht es um die Vernet- zung pädagogischer und zivilgesellschaftlicher Sozialisations- die Fähigkeit zu politischer Partizipation und Bildungsinstanzen sowie deren Demokratisierung – mit dem Ziel einer umfassenden Mitbestimmung. Dies bedeutet für die Fachkräfte, ihre Arbeit im Kontext der Institutionen Grundlage der Urteilsbildung und der politischen Partizipation kritisch zu befragen und zu reflektieren, inwiefern ihre insti- ist jedoch immer die inhaltliche Analyse der Konflikte, die an- tutionellen Strukturen (un)demokratisch ausgestaltet sind. In hand politischer Kategorien strukturiert wird, denen wieder- einem solchen Prozess kann bzw. muss es auch ein Resultat um politische Fragen zugrunde liegen: sein, festzustellen, dass die Institutionen Mitbestimmung und dadurch Demokratiebildung erschweren können (vgl. auch • Macht: Wer hat die Macht zu entscheiden? Sturzenhecker 2014, 28.04.2018) – z. B. durch Verbetriebli- • Interesse: Welche Interessen werden in dem Konflikt arti- chung, Familiarisierung und Verschulung (vgl. u. a. Ahlrichs kuliert? Welche Interessengruppen gibt es? et al. 2021, i. E.). • Recht: Wie ist die rechtliche Lage? • Ideologie: Welche Begründungsmuster werden in dem Wie bereits deutlich wurde, spielt Beteiligung in den Feldern Konflikt artikuliert? der politischen Bildung und der Demokratiebildung eine zen- • Mitbestimmung: Welche Möglichkeiten der Mitbestim- trale Rolle. Beiden geht es jedoch um eine Ausweitung der Be- mung gibt es? Welche Möglichkeiten habe/n ich/wir? teiligungsmöglichkeiten, bspw. durch Bildungssettings, die die realen Möglichkeiten für politische Beteiligung erweitern. Und Den Kern politischer Bildung macht also eine inhaltliche Aus- auch die politische Bildung wendet sich vermehrt der in der De- einandersetzung (Analyse) mit einem Gegenstand (politischer mokratiebildung zentral gesetzten Selbstbefragung der eigenen Konflikt) aus. Darauf aufbauend soll die politische Hand- Strukturen zu. Dies geschieht bspw., wenn die Reproduktion so- lungsfähigkeit im Sinne politischer Beteiligung (politische Ak- zialer Ungleichheit durch den ungleichen Zugang zu politischer tion) gefördert werden. Bildung beklagt wird (Achour & Wagner 2019) oder wenn der 16. Kinder- und Jugendbericht Demokratie auch als Bildungs- Die Beteiligungsmöglichkeiten sind das Kernelement im so- struktur in den Blick nimmt und fragt, wie demokratisch die zialpädagogischen Konzept der Demokratiebildung, das als Bildungsstrukturen selbst sind (BMFSFJ 2020, S. 130). Kinder- und Jugendbildung zentral für die Sozialpädagogik ist (Richter 2016). Trotzdem erscheint es notwendig, zwischen dreizehn Heft 26 2021 16 Die Analyse
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