KULTURRAUM KINDHEIT UND JUGEND - AUF DEN PUNKT II/III - JUGENDPOLITISCHE HANDREICHUNG
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AUF DEN PUNKT II/III KULTURRAUM KINDHEIT UND JUGEND JUGENDPOLITISCHE HANDREICHUNG RAT FÜR KULTURELLE BILDUNG1
AUF DEN PUNKT II/III KULTURRAUM KINDHEIT UND JUGEND JUGENDPOLITISCHE HANDREICHUNG
INHALT VORWORT 4 Prof. Dr. Eckart Liebau, Vorsitzender des Rates für Kulturelle Bildung GRUSSWORT 7 Burkhard Jung, Präsident des Deutschen Städtetages und Oberbürgermeister der Stadt Leipzig KULTURELLE BILDUNG ALS ÖFFENTLICHES GUT 9 BILDUNGSLANDSCHAFT 10 Prof. Diemut Schilling, Künstlerin TEIL I: HANDREICHUNG KULTURRAUM KINDHEIT UND JUGEND 13 DREI SCHLAGLICHTER 25 Frühe Förderung 26 Angebote 36 Infrastrukturen 46 DREI EMPFEHLUNGEN 56 DER RAT FÜR KULTURELLE BILDUNG 58 TEIL II: GEDANKENSTRICHE RATSMITGLIEDER ZUM KULTURRAUM KINDHEIT UND JUGEND 61 Mit Beiträgen von Eckart Liebau, Johannes Bilstein, Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss, Mustafa Akça, Benjamin Jörissen, Antje Klinge, Florian Höllerer und Diemut Schilling ANHANG Endnoten 82 Beteiligte 86 Impressum 96
aufgaben brauchen sie Kulturelle Bildung, die mit ihren spezifischen Ange- Vorwort boten zur produktiven und rezeptiven Auseinandersetzung mit den Küns- „Auf den Punkt“ lautet der Titel der Publikationsreihe des unabhängigen ten und damit zur Entwicklung von Wahrnehmungs-, Gestaltungs- und Expertengremiums Rat für Kulturelle Bildung, die sich in drei Handrei- Reflexionsfähigkeiten anregt. Diese Fähigkeiten werden angesichts offe- chungen vorrangig an Entscheidungsträgerinnen und -träger1 in Politik ner Situationen und Herausforderungen überall gebraucht. Deshalb geht und Verwaltung sowie der Zivilgesellschaft richtet. Die Handreichungen es darum, allen Kindern und Jugendlichen Zugänge zu Kunst und Kultur sollen dazu dienen, das im Rat für Kulturelle Bildung erarbeitete Wissen zu öffnen, aktive Teilhabe zu ermöglichen und das Interesse an Kunst und auf aktuellem Stand in übersichtlicher Weise zusammenzufassen und Kultur nachhaltig zu fördern. Der non-formale Bereich spielt auch deshalb Impulse in Politik und Gesellschaft zu geben. Unser Thema hier: der Kul- eine zentrale Rolle, weil er Kindern und Jugendlichen Gelegenheiten für turraum Kindheit und Jugend. Dazu finden Sie ein einführendes Kapi- freiwilliges Engagement und für freie Interessenbildung und -vertiefung tel sowie drei thematische Schlaglichter und Handlungsempfehlungen. bietet. Die Musikschulen, Jugendkunstschulen, soziokulturellen Zentren, Bibliotheken und die kulturellen Bildungsangebote der Kulturinstitutionen, Zum Kulturraum Kindheit Der Rat für Kulturelle Bildung hat sich in seinen Denkschriften, Studien der Museen, Theater, Orchester und vieler anderer sowie die selbstorga- und Jugend und anderen öffentlichen Äußerungen kontinuierlich mit kulturellen und nisierten Angebote der Jugendverbände stellen eine dafür notwendige ästhetischen Aktivitäten junger Menschen beschäftigt. Er hat in diesem öffentlich geförderte Infrastruktur auf professioneller Grundlage bereit. Zusammenhang auch nach der Bedeutung gefragt, die Familien und andere Akteure im informellen und non-formalen Bereich haben. Kin- Zu dieser Handreichung Der Rat für Kulturelle Bildung versteht Kulturelle Bildung als öffentliches der und Jugendliche wachsen in kulturell gestalteten Kontexten auf. Sie Gut. Um das Recht junger Menschen auf kulturelle Teilhabe zu verwirkli- entwickeln sich auch durch ihre und in ihren ästhetischen Ausdrucksfor- chen, braucht es eine frühe Förderung, hochwertige Angebote und zuver- men. Kindheit und Jugend stellen eine besondere Phase, ja einen eige- lässige Infrastrukturen. Die entsprechenden Handlungsempfehlungen mit nen Kulturraum für die Kulturelle Bildung dar. Begegnungen mit ästheti- Implikationen für den Kulturraum Kindheit und Jugend leiten sich aus schen Praxen zu fördern und kulturelle Teilhabe zu ermöglichen ist eine Begründungen der langjährigen Arbeit des Rates für Kulturelle Bildung wichtige jugendpolitische Aufgabe, die auch die Familienpolitik und das und anderer Akteure ab. Um das Feld möglichst breit zu erfassen, haben Feld der Kinderrechte berührt. wir Akteurinnen und Akteure verschiedener Bereiche der Kulturellen Bil- Die historischen Transformationsprozesse – Globalisierung der Öko- dung eingeladen, sich als Critical Friends2 kommentierend und kritisch nomie, Digitalisierung der Kommunikation, auf verschiedenen Ursachen zu den Themen unserer Handreichung zu äußern. Im zweiten Teil finden beruhende Migration, Klimawandel – werden zweifellos fortschreiten: Dass sich als „Gedankenstriche“ die individuellen Perspektiven von Ratsmit- sie politische Antworten erfordern, gehört längst zum Allgemeinwissen. gliedern auf den Kulturraum Kindheit und Jugend. Dass indessen Pandemien als Quasi-Naturkatastrophen die Welt auf eine Kulturelle Bildung als öffentliches Gut betrifft verschiedene Zustän- geradezu schicksalhafte Weise überfallen und verändern können, ist erst digkeiten und Ressorts. Auf die jugendpolitische und die vorangegan- durch Corona schockartig ins allgemeine Bewusstsein getreten. Die Pan- gene bildungspolitische wird eine kulturpolitische Handreichung folgen. demie hat den Alltag von Kindern und Jugendlichen fundamental umge- Für die Entstehung und Sicherung von Bildungslandschaften, die Kultu- stülpt, und wie sich der Post-Corona-Alltag für sie gestalten wird, ist noch relle Bildung aktiv einbeziehen, bedarf es vieler verschiedener Akteurin- nicht abzusehen. Sicher ist aber, dass es kein Zurück in die Vergangenheit nen und Akteure. Sie müssen sich in der vielfältigen Gemengelage von geben wird. Kinder und Jugendliche wachsen in einer Welt auf, die sich öffentlich geförderten, zivilgesellschaftlichen, privatwirtschaftlichen und schon jetzt radikal von der vorangegangener Generationen unterschei- informellen Orten positionieren und brauchen den Gemeinsinn aus Poli- det, und die Transformationsprozesse werden weitergehen. Sie müssen tik und Gesellschaft. lernen, mit Unsicherheiten und der Offenheit der Situation im Allgemei- nen, vor allem aber auch im Besonderen, nämlich dem eigenen Leben Dank Die Arbeit des Rates für Kulturelle Bildung wird durch das langjährige und den eigenen Lebensplänen, wahrnehmend und gestaltend umzu- Engagement der fördernden Stiftungen im Rat für Kulturelle Bildung e. V. gehen. Kinder und Jugendliche haben dafür günstige Voraussetzungen, (Bertelsmann Stiftung, Deutsche Bank Stiftung, Karl Schlecht Stiftung, weil Entwicklung und Bildung in diesen Lebensphasen ohnehin zentrale PwC-Stiftung, Robert Bosch Stiftung, Stiftung Kunst und Natur, Stiftung Lebensaufgaben darstellen. Zur produktiven Bewältigung dieser Lebens- Mercator) ermöglicht; wir wissen das sehr zu schätzen. Ohne die Mitarbei- 4 5
terinnen der Geschäftsstelle des Rates für Kulturelle Bildung in Essen wäre diese Publikation nicht möglich gewesen. Wir freuen uns sehr über das Grußwort Grußwort des Präsidenten des Deutschen Städtetages und Oberbürger- Erzählen, Schreiben, Musik, Rhythmik, Spiel, Tanz oder Theater, Film oder meisters der Stadt Leipzig, Burkhard Jung, und über die Beiträge der Criti- Fotografie, Bildende Kunst und digitale Medien: Kulturelle Bildung ist cal Friends, die unser eigenes Nachdenken beflügelt haben. Allen, die zum weit mehr als ästhetische Kenntnisse und Fertigkeiten zu erwerben. Sich Gelingen dieser Handreichung beigetragen haben, danken wir herzlich! spielerisch und künstlerisch mit Themen auseinanderzusetzen, Haltun- gen und Sichtweisen zu entwickeln, ein Stück mehr die Welt zu begreifen, Wir hoffen auf eine breite Debatte in der interessierten Öffentlichkeit das alles schafft neue Zugänge und einen eigenen Blick auf sich selbst und wünschen uns, dass die Politik die durch die Stiftungen ermöglich- und die Umwelt. Für den sozialen Zusammenhalt ist das ungemein wich- ten Anstöße des Rates für Kulturelle Bildung aufnimmt und für eine dau- tig. Und insbesondere für benachteiligte Kinder und Jugendliche schafft erhafte und intensive Förderung und Sicherung der Kulturellen Bildung Kulturelle Bildung wertvolle gesellschaftliche Teilhabechancen. auf allen relevanten Ebenen sorgt. Die Corona-Pandemie bringt auch hier vieles ins Wanken. Die zeit- weise Schließung außerschulischer Bildungseinrichtungen wie der Bib- liotheken, Musik- und Jugendkunstschulen und Archive, aber auch von Museen und Theatern hat die Angebote der Kulturellen Bildung in den Städten weitgehend lahmgelegt. Innerhalb weniger Wochen wurden mit Professor Dr. Eckart Liebau viel Kreativität und Herzblut alternative Digitalformate geschaffen, die Vorsitzender des Rates für Kulturelle Bildung stetig weiterentwickelt und verbessert werden; Präsenzangebote können Essen, im März 2021 sie gleichwohl nicht ersetzen. Kulturelle Bildung ist für unsere Städte ein hohes öffentliches Gut. Dies kommt in der Trägerschaft einer Vielzahl von kulturellen Bildungseinrich- tungen zum Ausdruck. Allerdings können kultur- und bildungspolitische Ziele ohne Unterstützung von Ländern und Bund nicht umgesetzt wer- den. Um ein inklusives System mit der kulturellen Beteiligungsmöglich- keit für jeden Einzelnen zu ermöglichen, bedarf es insbesondere verläss- licher Strukturen und finanzieller Förderung. Welches sind konkrete Gelingensbedingungen für einen breiten Zugang zu Kultureller Bildung? Wie können soziale Ausschlüsse vor allem für Kinder und Jugendliche möglichst vermieden werden? Die vorliegende jugendpolitische Handreichung „Kulturraum Kindheit und Jugend“ des Rates für Kulturelle Bildung greift diese Fragestellungen auf. Eine Reihe von Handlungsvorschlägen zeigen: Erfolge in der Kulturellen Bildung sind maßgeblich von ihrer Anschlussfähigkeit an die aktuelle Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen abhängig. Sie setzt damit gut vernetzte, krisenfeste kommunale Bildungsnetzwerke voraus. Lassen Sie uns weiter gemeinsam an dieser für uns so zentralen Auf- gabe arbeiten! Burkhard Jung Präsident des Deutschen Städtetages Oberbürgermeister der Stadt Leipzig Berlin, im März 2021 6 7
Kulturelle Bildung als öffentliches Gut Die Achtung der Freiheit der Kunst ist ein wesentlicher Teil der freiheitlich-demokratischen Ordnung unserer Gesellschaft und genießt Verfassungsrang. In den Künsten wird das Verhältnis von Mensch und Welt in besonderer und unersetzlicher Weise wahrgenommen und gestaltet. Eine darauf bezogene Kultu- relle Bildung hilft dabei, eigene gestalterische Möglichkeiten zu entwickeln und mit diesen Kompetenzen in den Dialog mit anderen zu treten. Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Transformations- prozesse wie Digitalisierung, Globalisierung, demografischer Wandel und Migration gewinnt Kulturelle Bildung eine höhere Bedeutung denn je als entscheidende Ressource für individu- elle Bildungsprozesse und die gesellschaftliche Entwicklung. Um kulturelle Beteiligung des Einzelnen zu ermöglichen und Interesse an gesellschaftlicher Teilhabe zu fördern, bedarf es verlässlicher Strukturen und professionell qualifizierter Per- sonen in der Vermittlung. Dabei muss benachteiligten Kin- dern und Jugendlichen eine besondere Förderung zukommen. Kulturelle Bildung, als wesentlicher, eigenständiger Bestand- teil der Gesellschaft, stellt somit ein öffentliches Gut dar, das niemandem verwehrt werden darf und zu dem jeder Mensch in unserer Gesellschaft Zugang haben muss. 9
© Diemut Schilling
TEIL I: HANDREICHUNG KULTURRAUM KINDHEIT UND JUGEND
Erfahrungen führen. Angeboten der kulturellen Kinder- und Jugendar- Position Kulturraum Kindheit und Jugend beit kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu; sie bieten Zugänge, die mit vielfältigen Teilhabemöglichkeiten verbunden sind. Kulturelle Bildung als selbstverständlicher Teil des Aufwachsens Die Möglichkeit kultureller Teilhabe sollte nicht von der Herkunft, vom Wohn- ort, von der Nachbarschaft oder gar vom Zufall abhängen. Damit im Kultur- Gemeinsame Position der Die Begegnung mit kulturellen, ästhetischen Inhalten ist Bestandteil der raum Kindheit und Jugend Beteiligung möglich ist, muss Kulturelle Bildung Expertinnen und Experten Kindheit und Jugend. Erste Weltzugänge erschließen Kinder sich über selbstverständlicher Teil des Aufwachsens sein und bedarfsbezogene Ange- im Rat für Kulturelle die Sinne und die Entdeckung von Farben, Formen, Klängen und Stoffen. bote vorhalten, die auch sozioökonomische und soziokulturelle Benachtei- Bildung Das Spielen in seinen äußerst vielfältigen Formen hat dabei von frühester ligungen ausgleichen. Die Bereitstellung und Priorisierung von Gelegen- Kindheit an zentrale Bedeutung. Später imitieren Kinder Tanzsequenzen heitsstrukturen für informelle und non-formale ästhetische Begegnungen aus Videospielen, streamen Filme oder singen mit ihren Großeltern. Das für Kinder und Jugendliche sind Ausdruck eines politischen Willens, in den Lieblingsbuch, die neue Serie, der Blick aus dem Fenster und ins Smart- auch Kriterien der Qualität und Professionalität eingehen müssen. Infolge der phone eröffnen Zugänge zu ästhetischer Wahrnehmung. Kindheit und Corona-Pandemie sind Anerkennung und Strukturen7 und damit die Grund- Jugend sind besonders kreative und produktive Lebensphasen und von versorgung mit kultureller Kinder- und Jugendbildung besonders in Gefahr daher auch als ein eigener Kulturraum zu verstehen. Ästhetische Prak- – doch gerade jetzt ist außerschulische Kulturelle Bildung für Kinder und tiken und Erfahrungen sind wesentliche Bestandteile des Aufwachsens Jugendliche besonders wichtig, auch angesichts von Belastungserfahrungen. und der Auseinandersetzung mit Ich und Welt; sie sind wichtige Grund- Das in der UN-Kinderrechtskonvention8 verbriefte und im Zwölften lagen und Ausgangspunkte für das weitere Leben. und Achten Sozialgesetzbuch konkretisierte9 Recht auf Beteiligung am Diese grundlegenden Ressourcen können durch frühe Kulturelle Bil- kulturellen und künstlerischen Leben trifft bei der Umsetzung auf unter- dung gestärkt und angereichert werden. Damit können sie Kindern und schiedliche lebensweltliche Voraussetzungen. Dies gilt insbesondere für Jugendlichen immer wieder neue Anreize geben und Wege zu vertiefter informelle Prozesse Kultureller Bildung in Familie und Alltag, die große ästhetischer Erfahrung öffnen. Dies geschieht an verschiedenen Orten und Bedeutung für die Ausgestaltung des Kulturraums Kindheit und Jugend durch unterschiedliche Formate der formalen, non-formalen und informel- haben. Die Institutionen non-formaler kultureller Kinder- und Jugendbil- len Bildung: Kulturelle Bildung findet in Kitas und Schulen, in gemeinnüt- dung, die in Deutschland über eine lange Tradition verfügen und einen zigen und kommerziellen Angeboten sowie unter Freunden, in Familien politischen Auftrag im Sinne der Kinder- und Jugendhilfe erfüllen, tragen und in den Medien statt – vielfach „nebenbei“ oder spielerisch vermittelt. neben Schulen und Kultureinrichtungen wesentlich zur Grundversorgung Zwischen den verschiedenen Arten und Ebenen der ästhetischen Bildung mit Kultureller Bildung bei und sind in vielen Städten und Gemeinden bestehen wechselseitige Abhängigkeiten und Zusammenhänge, die den wichtige Akteure der Bildungslandschaften.10 Sie stellen freiwillig nutz- Kulturraum Kindheit und Jugend vielfältig und komplex machen. Eine bare, oft bewusst niederschwellig ausgerichtete Angebote zur Verfügung wichtige Rolle spielt auch die Vorbildfunktion der Familie: Kulturelle Inte- – etwa nicht-kommerzielle Mal- und Theaterkurse oder musikalische Früh ressen und ästhetische Präferenzen von Eltern und Geschwistern führen erziehung –, für die materielle und strukturelle Ressourcen und eine gute häufig zu gemeinsamen Aktivitäten wie Filme schauen, Musik hören oder Vernetzung eine entscheidende Rolle spielen. Doch selbst gemeinnützige, machen und Fotografieren.3 Kinder musizierender Eltern nehmen später oft öffentlich geförderte Angebote der kulturellen Kinder- und Jugendbildung, selbst Musikunterricht, und Kinder, deren Eltern über ein hohes Bildungs- die prinzipiell allen offen stehen, können exklusiv sein. Umso wichtiger niveau verfügen, nehmen öfter außerunterrichtliche kulturelle Bildungsan- ist es, im Bereich der Kulturellen Bildung nicht nur auf Komm-, sondern gebote wahr – ob Kunst, Musik, Tanz oder Theater.4 Darüber hinaus ist es auch auf Gehstrukturen zu setzen und Angebote Kultureller Bildung wie in erheblichem Maße von der Schulform, aber auch von der Einzelschule Bücherbusse, Medienmobile und Tiny Music Houses in die Stadtteile und abhängig, inwieweit junge Menschen inner- und außerhalb des Curricu- Gemeinden, Kitas und öffentlichen Treffpunkte zu bringen, eben dahin, lums Anregungen zur ästhetischen Auseinandersetzung finden können.5 wo die Kinder und Jugendlichen im Alltag sind. Unabhängig von Eltern, Lehrkräften, Mitschülerinnen und Mitschülern, Eine frühe aktive Beteiligung am kulturellen Leben und die Auseinan- Freunden und Freundinnen6 können viele weitere Impulse zu kulturellen dersetzung mit kulturellen Ausdrucksformen sind wesentliche Vorausset- 14 KULTURRAUM KINDHEIT UND JUGEND 15 KULTURRAUM KINDHEIT UND JUGEND
zungen für die individuelle Entwicklung und Teilhabe am gesellschaftlichen ob Angebote der kulturellen Kinder- und Jugendarbeit zu aktiver Teil- Leben. Dabei lebt Kulturelle Bildung gerade im non-formalen und infor- habe und nachhaltigem Interesse führen, hängt nicht zuletzt davon ab, mellen Bereich von Freiwilligkeit und Teilhabeinteresse. Daraus ergibt sich wie bekannt sie sind und wie attraktiv sie auf ihre Zielgruppen wirken. die jugendpolitische Herausforderung, in Abstimmung mit Expertinnen Dies ist eine Herausforderung für die Gestalterinnen und Gestalter kul- und Experten der Kinder- und Jugendkulturarbeit Rahmenbedingungen tureller Bildungsangebote vor Ort. Darüber hinaus ist es eine Aufgabe für die Entwicklung individueller kultureller Interessen unter Berücksich- für die Jugendpolitik und Verwaltung, physische Freiräume und Begeg- tigung pädagogischer und künstlerischer Qualitätskriterien zu schaffen.11 nungsorte, Sport- und Spielplätze für Kinder und Jugendliche vorzuhal- ten. Es geht darum, Angebote kultureller Teilhabe in Bildungslandschaf- Kulturelle Mobilität braucht Räume ten zu integrieren, deren Nutzung zu bewerben und Qualitätsansprüche Ein souveräner und reflexiver Umgang mit kulturellen Inhalten gewinnt durchzusetzen. für alle Kinder und Jugendlichen an Bedeutung – denn das Aufwachsen bringt immer wieder Gelegenheiten und Situationen mit sich, in denen Kriterien für gelingende kulturelle Kinder- und Jugendarbeit Perspektivenwechsel zwischen Stilen und Geschmacksvorlieben, Inter- pretationen und Glaubenssätzen gefordert sind. Kulturelle Gegenstände Räume schaffen: Teilhabegerechte Kulturelle Bildung öffnet ästhe- und Praktiken erschließen in diesem Zusammenhang Zugänge zu gesell- tische Erfahrungsräume, die der Vielfalt junger Menschen gerecht schaftlichen Phänomenen und Prozessen. Kinder und Jugendliche sind werden und ihnen die Gelegenheit bieten, Räume als Spiel- und unter anderem aufgrund der frühen Begegnung mit elektronischen Medien Erprobungsräume zu entdecken, sich anzueignen und zu gestalten. mit einer Vielfalt an Ausdrucksformen und kulturellen Phänomenen kon- Räume öffnen: Für die kulturelle Kinder- und Jugendarbeit ge Siehe Eckart Liebau: frontiert. Sich in dieser Vielfalt zurechtfinden und verorten zu lernen und nutzte öffentliche Räume, Einrichtungen der non-formalen Bildung, Im Konjunktiv, S. 64. sie auch für die Identitätsbildung zu nutzen, ist eine Aufgabe, vor der der Kinder- und Jugendhilfe und der zivilgesellschaftlichen Orga- alle jungen Menschen stehen. Kulturelle Bildung spielt eine zentrale Rolle, nisationen sind diskriminierungsfrei zugänglich. wenn es darum geht, Orientierungswissen aufzubauen und Partizipation zu ermöglichen. Denn in der kulturellen Kinder- und Jugendarbeit geht es Räume mit Leben füllen, Ressourcen bereitstellen: Zielgruppen- darum, Vielfalt zu ermöglichen und ästhetische Räume zu öffnen, um die freundliche Öffnungszeiten, künstlerisch und pädagogisch qualifi- Entwicklung von Haltungen zu unterstützen, die Widersprüche aushalten ziertes Personal, Ausstattung mit Gerät und Material sind gesichert. und Gegensätze einschließen, kurzum: trotz unterschiedlicher Ausgangs- Teilhabequalität sichern: In der kulturellen Kinder- und Jugend- lagen und Auffassungen gemeinsam etwas zu bewirken. bildung ergänzen sich Qualität und Teilhabe. Hochwertige Kul- In der Kinder-, Jugend- und Familienpolitik ist es unabdingbar, für turelle Bildung ist auf Beteiligung und Teilhabe ihrer Zielgruppe die Kulturelle Bildung sowohl den individuellen Lebenslauf als auch den ausgerichtet. sozialen Raum im Blick zu haben. Das Ziel, Kindern und Jugendlichen die Gelegenheit zur aktiven Begegnung mit den Künsten zu geben, ist dann Über alle Kanäle: Gerade in „begegnungsärmeren“ Zeiten wird die erreicht, wenn auf allen Ebenen barrierearme Räume und interessante Auseinandersetzung mit Ich und Welt besonders wichtig. Behut- Angebote für kulturelle Aktivitäten und ästhetische Praxen geschaffen same und kreative Lösungen über die Distanz zu finden, kann ein werden, die zu intensiver Nutzung einladen – in der Jugend- und Fami- guter Grund für kulturelle Bildnerinnen und Bildner sein, nicht nur lienhilfe, in urbanen wie ländlichen Räumen, an physischen wie digita- die Strukturen, sondern auch die Kulturen und Ästhetiken des Web len Orten – und wenn dabei auch überall dort, wo es notwendig ist, ein zu nutzen. besonderer Förderungsbedarf berücksichtigt wird. Auf den Schirm und auf die Karte: Kulturelle Kinder- und Jugend- Die Umsetzung des kulturellen Teilhaberechts von Kindern und Jugend- arbeit ist ein wichtiger Teil des Vor-Ort-Bildungsangebotes. Sie lichen hängt von verschiedenen Akteuren ab. Schulen, Institutionen der wird dementsprechend in lokalen Bildungslandschaften berück- frühkindlichen Bildung und Betreuung, Eltern und andere Bezugsperso- sichtigt und sichtbar, damit kulturelle Kinder- und Jugendbildung nen inner- und außerhalb der Familie, Gleichaltrige, Gestalter der kom- zum öffentlichen Gut wird. munalen Bildungslandschaft inklusive pädagogischer und kultureller Pro- fessionen und Medien bieten Zugänge und Teilnahmemöglichkeiten. Aber 16 KULTURRAUM KINDHEIT UND JUGEND 17 KULTURRAUM KINDHEIT UND JUGEND
Befund I Kulturelle Inhalte begleiten das Aufwachsen Besonders Jüngere sind in ihrer Freizeit kulturell aktiv Die Zugänge zu kulturellen Inhalten haben sich vervielfältigt: Beispiel Musikhören Malen und Zeichnen Basteln und Handarbeit AMAZON MUSIC 60% 48% APPLE MUSIC 16% 42% 20% 10% Instrument spielen Singen CD/PLATTE 50% 9% 44% 27% 36% 19% 54% YOUTUBE 25% Häufigkeit ausgewählter kultureller Aktivitäten nach Altersgruppe laut Kinder- und Jugendbefragung (n=4931) MeDiKus (2011/2012)12. Obere Balken: 9- bis 12-Jährige, untere Balken: 13- bis 17-Jährige. MP3/DOWNLOAD SPOTIFY 17% 25% 49% Die Kulturinteressen junger Menschen sind vielfältig 17% SMARTSPEAKER YOUTUBE MUSIC SPEZIELLE WEBCHANNELS/ DJ-ING INTERNETRADIOS LIVE BEI RADIOSENDERN SINGEN COSPLAY KREATIVES GESTALTEN GESCHICHTEN SCHREIBEN COMPUTERSPIELE Kumulierte Häufigkeiten der Antworten „täglich“/„mehrmals die Woche“ zu verschiedenen Wegen des Musikhörens 12- bis 19-Jähriger (n=1200) laut JIM-Studie 2020.14 GAMING KREATIVES GESTALTEN COMICS THEATER FOTOGRAFIE MALEN FILM ZEICHNEN ROLLENSPIELE GRAFFITI TANZEN MUSIZIEREN VIDEO CHOREOGRAPHIEN LESEN GEDICHTE SCHREIBEN MODE BÜCHER BESPRECHEN Kulturelle Interessen Jugendlicher laut Befragung des Rates für Kulturelle Bildung (2019)13 von 12- bis 19-jährigen YouTube-Nutzerinnen und -Nutzern (n=710). Die Größe der abgebildeten Begriffe orientiert sich an der relativen Häufigkeit der Zustimmung auf die Frage „Interessierst du dich für diese Aktivität?“ 18 KULTURRAUM KINDHEIT UND JUGEND 19 KULTURRAUM KINDHEIT UND JUGEND
Befund II Der digitale Wandel hat neue Befund III Familien sind Orte der Kulturellen Kulturräume geschaffen Bildung Kulturelle Aktivitäten sind relevant für Eltern und Familien 1% 4% Audiovisuelle Inhalte haben in der Online-Nutzung Jugendlicher an rela- 8% 47% 17% 43% tiver Bedeutung gewonnen. Gemeinsame kul- Für die Entwicklung 50% turelle Aktivitä- Kommunikation von Kindern halte ten sind wichtig für ich kulturelle Aktivi- den Zusammenhalt 40% täten für..." unserer Familie. 30% 44% 36% Unterhaltung (z. B. Musik, Videos, Bilder) 20% Spiele Informationssuche Antworthäufigkeiten „sehr wichtig“/„wichtig“/ Zustimmungswerte „voll und ganz“/„eher“/ 10% „weniger, kaum, gar nicht wichtig“/„unentschie- „eher nicht“, „überhaupt nicht“ /„unentschie- den, keine Angabe“ laut Elternbefragung (n=664) den, keine Angabe“ laut Elternbefragung (n=664) des Rates für Kulturelle Bildung (2017).17 des Rates für Kulturelle Bildung (2017)18 0% 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 n=1188 n=1188 n=1182 n=1170 n=1185 n=1166 n=1184 n=1183 n=1182 n=1181 n=1200 Kulturelle Vorlieben werden innerhalb der Familie weitergegeben 83% 74% Inhaltliche Verteilung der Internetnutzung Jugendlicher laut JIM-Studie 2010–2020.15 Beispiel Musizieren:19 Eltern, die mindestens einmal im Monat ein Instrument spielen Onlinemedien bieten Aktivierungspotenzial für kulturelle und ästhetische laut Elternbefragung des Rates für Kulturelle Bildung (2017) Praktiken: Beispiel Tutorials Tutorials nach Genre 0% 10% 20% Foto, Film, Videoschnitt musizieren auch zusammen mit ihren Die Kinder spielen auch ohne Eltern ein Kindern Instrument. Musik Zeichnen, Gestalten, Comic, Graffiti, Malen Tanz 50% Eltern sind oft impulsgebend für das Kulturinteresse ihrer Kinder Kreatives Gestalten/Upcycling Kreatives Schreiben On Stage, Performance, Theater Zustimmungswerte nach ausgewählten Genres zur Frage „Schaust du YouTube-Videos aus diesem Themenbereich an?“ laut Befragung des Rates für Kulturelle Bildung (2019)16 von 12- bis 19-jährigen YouTube-Nutzerinnen und -Nutzern (n=710). Antworthäufigkeit „Eltern“ auf die Frage nach dem Ursprung des eigenen Kulturinteresses laut Befra- gung des Rates für Kulturelle Bildung (2015) von Schülerinnen und Schülern der 9. und 10. Klassen,20 hier: Befragung der nach eigenen Angaben „sehr“ oder „etwas“ kulturinteressierten Schüler und Schü- lerinnen (70 Prozent der Stichprobe (n=532)). 20 KULTURRAUM KINDHEIT UND JUGEND 21 KULTURRAUM KINDHEIT UND JUGEND
Nachgefragt Critical Friends Nicht nur eine Phase: Was macht Wie kommt Kunst in Bewegung oder: nachhaltige Kulturelle Bildung aus? Wie wird Kunst zum eigenen Ding? Sind kulturelle Anregungsmilieus in Kindheit und Jugend prägend für Natalia Zum Tanzen bin ich über das Fernsehen gekommen. Schon als Kind habe eine nachhaltige Entwicklung ihrer kulturellen Interessen und Aktivitäten? ich es geliebt, mir Musikvideos anzuschauen. Meine Favoriten waren Lam- Diese Frage lässt sich im Sinne linearer Wirkungserwartungen nicht ein- bada, Michael Jackson und DJ BoBo. deutig beantworten. Es kommt auf das Setting an. Selbst die ehrgeizigste Gina Bereits als Kind habe ich beim Mitmachzirkus mitgewirkt. Die kreative Art Absicht, ein lebenslang anhaltendes Interesse an Kunst etwa durch dis- der Bewegung steckte immer in mir, ich habe mir schon damals kleine zipliniertes Üben entstehen zu lassen, kann das glatte Gegenteil hervor- Acts ausgedacht und vorgeführt. rufen, obwohl so in Einzelfällen die Bahnung für spätere Berufskarrieren Natalia Meine Mutter erfüllte mir meinen Wunsch und schrieb mich mit sechs in gelegt worden sein mag. Und umgekehrt können absichtslose Anregun- die Tanzschule ein. Mit 12 Jahren konnte ich durch ein Casting mit DJ BoBo gen, auch unter kulturell kargen Umständen, lebensgeschichtlich anhal- in der Kölnarena tanzen. Das Tanzen hat mir unglaublich viel Freude und tenden Einfluss gewinnen. Wichtig ist der Respekt vor den eigensinni- Bühnenerfahrung gebracht. Es war aber auch kostspielig und nur mit der gen, selbstbestimmten Aneignungsweisen der jungen Menschen. Dies Unterstützung meiner Eltern möglich. gilt für die Spannweite ihrer Zu- und Abwendungen zu und von kultu- Gina Die Begegnungen mit professionellen Artisten und meine ersten Shows rellen Gegenständen und Praktiken, sozialen Beziehungen und eigenen im Theater an Bord eines Kreuzfahrtschiffes gaben mir Mut, für meinen Selbstkonzepten. Sinnvoll sind Impulse in offen strukturierten Möglich- Traum zu kämpfen: vom stillen Kind zur selbstbewussten Artistin. keitsräumen. Sie sollten reichhaltig, aber nicht überladen sein, verschie- Natalia Nach dem Schulabschluss konnte ich ein paar Tanzjobs ergattern und dene kulturelle Praktiken und soziale Beziehungen anbieten, gesichert bin in die kommerzielle Szene gerutscht. Dabei habe ich schnell gemerkt, durch finanzielle und personelle Ausstattung. Doch gilt es, das kindliche dass das nichts für mich ist. Ich habe eine Ausbildung gemacht und bin und jugendliche Erleben von Gegenwart nicht zugunsten einer zukunfts- durch einen Freund auf Urbanatix gestoßen. fixierten Nachhaltigkeitsidee zu entwerten. Zu fördern ist eine allgemeine Gina Durch Bewegungskunst kann man sich ausdrücken; es gibt Kraft und Haltung neugierigen Interesses an Vielfalt und Unterschiedlichkeit, haben Energie. Mit Urbanatix konnten wir unseren Horizont erweitern und haben junge Menschen so doch die Wahl, sich über gute Gegenwartserfahrung gelernt, dass jeder eine Art von Kunst in sich trägt. Darauf kommt es an, auch langfristig stabil auf bestimmte Genres einzulassen. sein „Ding“ in der Kunst zu finden, sich auszuprobieren. Wie viele Men- schen trauen sich nicht, aus der Norm auszubrechen? Aus Angst vor Aus- grenzung und davor, einen Teil von sich preiszugeben. Deshalb ist ein sicheres Umfeld so wichtig, in dem man anders und kreativ sein kann. Rainer Treptow Natalia Nowakowski und Gina Sibila Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Bewegungskünstlerinnen beim Street-Art-Projekt URBANATIX, Bochum Sozialpädagogik an der Eberhard Karls Universität Tübingen 22 KULTURRAUM KINDHEIT UND JUGEND 23 KULTURRAUM KINDHEIT UND JUGEND
DREI SCHLAGLICHTER FRÜHE FÖRDERUNG ANGEBOTE INFRASTRUKTUREN
Eine deutliche Mehrheit der Eltern von Kindern zwischen 3 und 17 Jahren Schlaglicht 1 Frühe Förderung erkennt Kulturaktivitäten als wichtig für Kindheit und Familie an.21 Eltern sind für viele Kinder Schlüsselpersonen bei der Entwicklung kul- tureller und ästhetischer Interessen.22 Früh übt Jedes dritte befragte Elternteil traut sich nicht zu, die eigenen Kinder bei Bildungsambitionen im künstlerischen oder musikalischen Bereich selbst zu unterstützen. Zugleich nimmt die Teilnahmequote von Kindern an kul- turellen Aktivitäten außerhalb von Schule und Kindergarten bei niedrige- rem formalen Bildungshintergrund der Eltern ab.23 sich – oder Viele Kinder verbringen einen wesentlichen Teil ihrer Zeit in Kindertages- einrichtungen.24 In welchem Umfang und auf welche Weise dort früh- kindliche Kulturelle Bildung angeboten wird, ist abhängig vom Profil der jeweiligen Einrichtung. nicht. Früh übt sich – oder nicht: Ästhetische Erfahrungs- räume in der frühen Kindheit sind in starkem Maße abhängig von Elternhaus und Kita. Die kulturellen Bildungsaktivitäten in Kindertagesstätten werden von den Konzepten der Einrichtungen, der Quali- fikation und Initiative des Personals sowie den Res- sourcen der Träger bestimmt. 27 FRÜHE FÖRDERUNG
Nachgefragt Critical Friends Wie werden kulturelle Kinderrechte Was macht Kitas zu kulturellen Wirklichkeit? Bildungspartnern? Kulturelle Bildung muss kulturelle Beteiligung sein. Die Kinderrechte Kulturelle Bildung in der frühen Kindheit ist die Grundvoraussetzung für sichern jedem Kind auf der Welt ein gesundes und gutes Aufwachsen Persönlichkeitsentwicklung und künstlerische Teilhabe. Sie beflügelt All- zu. Und zu einem gesunden und guten Aufwachsen ist die Teilhabe und gemeinbildung durch Kunst und Kultur und kann zu einem offenen Welt- Teilnahme am kulturellen Leben unerlässlich. So findet man in vielen der bild beitragen. Um Kulturelle Bildung in ihrer Vielfalt zu ermöglichen, müs- insgesamt 54 Artikel der UN-Kinderrechtskonvention Bestimmungen, sen Kitas Räume schaffen, in denen Kinder sich ausprobieren können, in Erläuterungen, Grundlagen und Hilfestellungen, wenn es um Fragen zur denen Fähigkeiten sowie Fertigkeiten gefördert werden und in denen sie Notwendigkeit, Gestaltung und Umsetzung Kultureller Bildung geht. Kin- mit viel Freude Zugänge zu den verschiedenen Kunstsparten bekommen. der haben ein Recht auf Teilhabe am kulturellen Leben (Artikel 31), ein Ein entsprechendes Handlungskonzept begreift Kitas als lebendigen Recht auf Bildung (Artikel 28), ein Recht auf (kulturelle) Identität (Arti- Ort der Kultur. Es betrachtet Kulturelle Bildung nicht als einmaliges oder kel 8), ein Recht auf kindgerechte Medien (Artikel 17). zusätzliches Projekt, sondern als Teil des Alltags. Es kann durch Material Und auch, wenn kein Kinderrecht wichtiger ist als ein anderes und angebote, Raumkonzepte, Begegnungen mit Künstlerinnen und Künst- Kinderrechte nur in ihrer Gesamtheit wirken, ist es doch ein Recht, das lern unterschiedlichster Kunstsparten in Form von Ausstellungen und uns in der Kulturellen Bildung bedingungslos leiten muss: das Recht auf Flurkonzerten umgesetzt werden. Die Pädagoginnen und Pädagogen Beteiligung (Artikel 12). haben die Aufgabe, den Weg zu kulturellen Orten für Kinder und Eltern Denn dort, wo Kinder beteiligt werden, sie mitbestimmen und selbst- zu bereiten. Sie ermöglichen Familien neue und bestenfalls nachhaltige bestimmen, ihre Individualität und ihre ganz eigene künstlerische Aus- Zugänge zur Kultur. drucksweise im Fokus kulturell bildnerischer Arbeit steht, dort, wo Erwach- In Dortmund wurden gemeinsam mit dem Kulturbüro Qualitätsmerk- sene bereit sind, abseits eigener ästhetischer Normen und ohne eigene male für sogenannte Kulturkitas entwickelt. Kulturkitas sind mit verschie- Machtansprüche Kinder in der Findung und im Leben ihrer eigenen kul- denen Akteuren der Kommune, mit Qualifizierungseinrichtungen und turellen Identität zu begleiten und zu unterstützen, dort kann Kulturelle untereinander vernetzt und nehmen aktiv Kontakt zu Künstlerinnen und Bildung ihre ganze Kraft und Wirkung entfalten. Dort kann sie dazu bei- Künstlern, Theatern und Museen auf. Die Pädagoginnen und Pädagogen tragen, dass Kinder eine Stimme bekommen, wo sie vielleicht nicht spre- können sich in verschiedenen Kunstsparten fort- und weiterbilden. Über chen können, dass ihre Themen und Wünsche und Forderungen gleichwer- Vernetzungen, Kooperationen und einen stetigen Qualitätsdiskurs wird tig mit denen aller anderen stehen und so ihr Recht auf gesellschaftliche das Konzept Kulturkita mit Leben gefüllt und ermöglicht Begegnungen und kulturelle Teilhabe gewährt wird. mit der Kunst, die Kinder und Erwachsene beflügeln. Luise Meergans Barbara Lindemann Abteilungsleiterin Kinderrechte und Bildung, Kunstpädagogin und Leiterin des katholischen Familienzentrums Deutsches Kinderhilfswerk e. V. Forum Bartoldus 28 FRÜHE FÖRDERUNG 29 FRÜHE FÖRDERUNG
Diese kulturell und ästhetisch angereicherten Anregungsräume der frü- Position Früh übt sich. Keine Kindheit ohne hen Kindheit sind die ersten Punkte und Pfade auf der Karte kultureller Kulturelle Bildung Bildungslandschaften und Bildungsbiografien, in denen sich Präferenzen und Interessen, aber auch Ablehnung und Vorbehalte entwickeln. Eltern, Geschwister, Großeltern und andere Bezugspersonen haben nicht nur einen Einfluss auf kulturelle Inhalte in den ersten Lebensjahren, sondern auch darauf, wie die Kinder diese erleben: als integralen, selbst- Gemeinsame Position der Jede kulturelle Bildungsbiografie wird in der Kindheit grundgelegt. Das verständlichen Bestandteil von Alltag, Freizeit und Familienleben oder Expertinnen und Experten Experimentieren und Spielen mit Farben, Formen und Körper, Raum und als fremde Sphäre. Daher wirken sie sowohl wegbereitend wie auch als im Rat für Kulturelle Klang, Sprache und Rolle in seinen zahllosen Varianten konstituiert eigen- Gatekeeper für Zugänge in kulturelle Lebenswelten. Dass hier die Diffe- Bildung ständige Aktions-, Interaktions- und Existenzformen von Kindern, die auch renzen der sozialkulturellen und sozioökonomischen Ausgangslagen eine Teil ihrer ästhetischen Bildung sind. Wahrnehmen und Gestalten nimmt große Rolle spielen, liegt auf der Hand. damit zentrale Bedeutung für die Bildung in den ersten Lebensjahren ein. Die frühe Übung in ästhetischer Praxis, begleitet und unterstützt von Pfadabhängigkeit Kultureller Bildung: Reproduktion und Mobilität der hohen Lernfreude im Kindesalter, ist auch der Einstieg in einen lebens- Die Ergebnisse einer Elternbefragung des Rates für Kulturelle Bildung langen Prozess: die gestaltete Umwelt wahrzunehmen, sich zu ihr in Bezie- deuten darauf hin, dass kulturbezogene Neigungen innerhalb von Fami- hung zu setzen und an ihr aktiv mitzuwirken. Es kommt daher wesentlich lien in vielerlei Hinsicht stabil sind. Kulturvermittlung in der Familie ist eine darauf an, Kindern vielfältige ästhetische Spielräume zu eröffnen. In ihnen Frage der Ressourcen30 – sozial, zeitlich, finanziell, die Fläche und Lage erschließen sie sich die sie umgebende Wirklichkeit und darin erfahren des Wohnraums betreffend.31 Damit einhergehend hängt sie zugleich von sie Selbstwirksamkeit.25 den Kompetenzen der Beteiligten ab, von dem Vertrauen in den Wert Kultureller Bildung und dem erwarteten Gewinn für Kinder und Familie. Frühe Wegbegleitung und Wegbereitung für kulturelle Bildungs- Das Grundvertrauen in die Bedeutung und die Wirksamkeit der Künste biografien ist eine notwendige Bedingung dafür, dass Familien sich entscheiden, in Weil kulturelle Ausdrucksformen, Gegenstände und Inhalte integrale kostenpflichtige Angebote Kultureller Bildung zu investieren oder einen Teile des Aufwachsens sind, kommt dem unmittelbaren sozialen Umfeld Teil der Familienzeit im Museum, im Kindertheater, in Büchereien oder im besondere Bedeutung zu. Kinder verbringen in den ersten Lebensjahren Kino zu verbringen. Denn erst aus dem Vertrautwerden mit den Künsten besonders viel Zeit mit primären Bezugspersonen wie ihren Eltern.26 Der wächst bei den Kindern im Normalfall auch das Vertrauen, dass die Künste Kulturraum Familie ist somit ein wichtiger Ort der Kulturellen Bildung. selbstverständlicher Teil der eigenen Lebenswelt sein oder werden können. Gemeinsame Aktivitäten wie Singen, Musik hören, Vorlesen, Malen und Die Elternbefragung des Rates für Kulturelle Bildung zeigt hierzu ein Gestalten finden in den Familien in unterschiedlichem Ausmaß und unter- ambivalentes Bild: Die meisten befragten Mütter und Väter äußern sich schiedlichen Formen in wiederum unterschiedlichen Familienkonstellatio- positiv zu kulturellen Aktivitäten als wichtigem Teil der kindlichen Ent- nen und unterschiedlichen Wohnverhältnissen statt; auch die Zugänge zu wicklung. Sie betrachten gemeinsame kulturelle Aktivitäten als förder- kulturellen Inhalten und Gegenständen über analoge und digitale Medien lich für den familiären Zusammenhalt. Auf der anderen Seite fühlt sich treffen auf höchst verschiedene Bedingungen. Generell bietet die erheb- ein Drittel der Befragten nicht oder eher nicht in der Lage, die eigenen lich gewachsene Medien- und Geräteausstattung27 in Haushalten und Kinder bei künstlerischen Aktivitäten zu unterstützen.32 Befunde des Kin- Kinderzimmern neue Anknüpfungspunkte, aber auch Herausforderun- der- und Jugendmigrationsreports deuten zudem darauf hin, dass viele gen für informelle Kulturelle Bildung; sie kann zu einem frühzeitigen28 Eltern im Bereich der ästhetischen frühkindlichen Bildung vor allem auf Einstieg in Medienwelten – vom Bücherregal über die Hörspielbox bis zu professionelle Angebote vertrauen.33 Smartphone und Streamingdiensten – beitragen. Darüber hinaus verbrin- Siehe Mustafa Akça: Wege Damit Kulturelle Bildung zum öffentlichen Gut für alle Kinder werden gen die meisten Kinder29 einen beträchtlichen Teil ihrer Zeit in Kitas, die und Brücken in die Kulturelle kann, braucht die angelegte Pfadabhängigkeit kultureller Bildungsbio- ebenfalls Räume für Kulturelle Bildung eröffnen. Kinder erleben kulturelle Bildung, S. 70. grafien also ein Moment der Erweiterung: öffentliche Angebote in Form und ästhetische Ausdrucksformen auf rezeptive und produktive Weise in von inhaltlichen Impulsen, Mentorinnen und Brückenbauern, die Interes- Umgebungen, die Vielfalt, Anregungspotenzial und Offenheit aufweisen. senbildung anregen und ermöglichen. 30 FRÜHE FÖRDERUNG 31 FRÜHE FÖRDERUNG
Kulturelle Bildung in der Kita – die Kita als Kulturort Zugänge zu Kultur im Elternhaus und in Krippen und Kindergärten bilden Die Bedeutung frühkindlicher Kultureller Bildung in Institutionen der Rahmungen, welche die kulturellen Präferenzen, Interessen und Aktivitä- non-formalen Bildung und Betreuung ist auch vor diesem Hintergrund ten von Kindern nachhaltig prägen können. gewachsen. Erzieherinnen und Erzieher können das kulturelle Familien- Dabei handelt es sich jedoch nicht etwa um eine strikte Determina- leben ergänzen und wesentliche Funktionen als Brückenbauerinnen und tion. Individuelle Bildungsbiografien weisen durch viele Faktoren bedingte Wegbegleiter durch die kulturelle Bildungslandschaft einnehmen. Ob und Nebenstrecken und Abweichungen auf; ob und wie sich kulturelle Interes- inwieweit Kindertageseinrichtungen auch prägende Kulturorte im Sinne sen bilden, hängt schon in der Kindheit häufig auch von zufälligen Begeg- Kultureller Bildung sind, ist jedoch abhängig von dem pädagogischen Siehe Johannes Bilstein: nungen mit Inhalten und/oder Personen ab. Spätestens im Jugendalter Konzept und der Ausrichtung der Kita, der Anerkennung Kultureller Bil- Revolte als Auftrag, S. 66. beginnt dann die Zeit der kulturellen und ästhetischen Exploration. Kind- dung seitens der Fachkräfte und deren fachlicher Qualifikation sowie der heit und Jugend sind also Phasen der Entdeckung und Entwicklung, in Ausstattung der Einrichtungen. Zudem setzen die jeweiligen Bundeslän- denen sich nicht zuletzt der Eigensinn und die besonderen Interessen der mit ihren Orientierungs- und Bildungsplänen und die Trägerorgani- jedes Individuums ausprägen. sationen mit ihren eigenen Konzepten unterschiedliche Rahmungen. Im Dabei werden auch die Wahrnehmung und Gestaltung der eige- Zuge der Corona-Pandemie ist die Umsetzung frühkindlicher Kulturel- nen Erscheinung zu zentralen Aufgaben der ästhetischen Bildung: Der ler Bildung zu einer noch größeren Herausforderung, aber auch zu einer Umgang mit Selbst- und Fremddarstellung ist ein Thema, das Eltern und Chance für die Krisenbewältigung34 geworden. Kinder in zunehmendem Maße beschäftigt.36 Auch hier kann und sollte Das 2019 in Kraft getretene Gesetz zur Weiterentwicklung der Quali- Kulturelle Bildung ansetzen. An und in den Künsten kann sich kulturelle tät und zur Teilhabe in der Kindertagesbetreuung („Gute-KiTa-Gesetz“) Kompetenz als Wahrnehmungs- und Gestaltungsfähigkeit bilden, die auch hat eine Qualitätsoffensive angestoßen, die mit den Handlungsfeldern35 die Ästhetik des Alltags berührt. Das gilt nicht nur für die Jugendlichen, „Kindgerechte Räume“, „Qualifizierte Fachkräfte“, „Sprachliche Bildung“ sondern auch für Eltern und Pädagoginnen und Pädagogen. Hier liegen und „Netzwerke für mehr Qualität“ viele Anknüpfungspunkte für die Ver- wichtige Entwicklungs- und Qualifizierungsaufgaben für die Zukunft. ankerung ästhetischer Praxis und kultureller Auseinandersetzung bietet. In der Realität fehlt es in der professionellen Kinderbetreuung jedoch oft an einer Möglichkeit für die Fachkräfte, sich in ästhetischen und künstleri- schen Kompetenzen weiterzubilden. Auch bedarf es etwa für die Verbin- dung mit Kulturpartnern innerhalb einer Bildungslandschaft Zeit, Interesse Siehe Vanessa-Isabelle Rein- und Kompetenz, solche Kooperationen aufzubauen. Damit Kulturelle Bil- wand-Weiss: Gute KuBi, gute dung zu einem handlungsleitenden Prinzip in Krippen und Kindergärten KiTa!? Qualitätsentwicklung in wird, sind daher ein explizites Bekenntnis auf Bundes- und Länderebene der frühkindlichen Kulturellen und gesetzlich gestützte Qualitätskriterien notwendig, die die Vorausset- Bildung, S. 68. zungen dafür schaffen, dass sich die Einrichtungen zu zuverlässigen und anregenden Orten Kultureller Bildung weiterentwickeln können. Kulturelle Freiheitsgrade ermöglichen – kulturelle Anregungsmilieus stärken Ästhetisch reiche Lebens- und Erfahrungswelten in der Kindheit können durch gezielte Ansprache der Eltern durch Akteure der Kulturellen Bil- dung, durch eine aufsuchende Kulturarbeit von Jugend- und Familien- hilfe sowie durch eine stärkere Verankerung und Durchsetzung des Rechts auf kulturelle Teilhabe in Kindertagesstätten geöffnet werden. Dies sollte nicht dem Zufall überlassen, sondern durch verlässliche Strukturen gesi- chert werden. 32 FRÜHE FÖRDERUNG 33 FRÜHE FÖRDERUNG
Auf den Punkt Empfehlung 1 Die primären Lebens- und Bildungswelten von kleinen Kindern und jun- gen Menschen sind entscheidend für kulturelle Teilhabe. In digitalisierten Lebenswelten ist die Rolle von Eltern und Fachkräften der frühkindlichen Verstärkte Förderung kultureller Bildung und Betreuung noch komplexer geworden. Alle Kinder sollen die Möglichkeit haben, frühe Erfahrungen mit Kunst und Kultur zu machen und von ästhetischen Auseinandersetzungen zu profitieren. Kinder im Kita-Alter müssen zu einer stärker beachteten Zielgruppe der non-formalen Kulturellen Bildung werden, da sich schon in der frühen Kindheit Grundlagen für kulturelle Teilhabe und Interessen bilden. Kin- und ästhetischer dertagesstätten, Krippen und Kindergärten müssen darin unterstützt wer- den, diesen bedeutsamen Teil früher Kindheit kompetent zu gestalten. Dazu gehören Qualifikationsmöglichkeiten für das Personal ebenso wie Anregungsräume in der frühen Kindheit die Schaffung der Voraussetzungen für Kooperationen im Rahmen regi- onaler kultureller Bildungslandschaften. Zur Förderung der Kulturellen Bildung im informellen Bereich müssen geeignete Unterstützungs- und Fortbildungsangebote für Familien und Eltern ausgeweitet werden. Dabei muss die kulturelle Diversität der Migra- tionsgesellschaft als Aufgabe und Chance wahrgenommen werden. Hier können und sollten Jugendämter bzw. Kinder- und Jugendhilfe, Kultur-, Schul- und Bildungsämter gezielt zusammenarbeiten. 34 FRÜHE FÖRDERUNG 35 FRÜHE FÖRDERUNG
Kultur hat bei vielen jungen Menschen kein gutes Image: Sie verstehen Schlaglicht 2 Angebote darunter überwiegend hochkulturelle Praktiken37, denen viele von ihnen mit Desinteresse oder Abneigung begegnen38, selbst wenn sie den kul- turellen Bereich als grundsätzlich bedeutsam anerkennen.39 Im Zuge der Digitalisierung und zunehmenden Geräteausstattung40 sind Kultur kulturelle Räume expandiert. Musik, Bilder, Texte und Videos sind – insbe- sondere digital – leichter zugänglich, unbegrenzt verfügbar und werden zunehmend online genutzt.41 Die Rezeption von audiovisuellen Medien spielt gegenüber eigener Produktion und Verbreitung eine weitaus grö- ßere Rolle.42 ohne Ein großer Teil der Kulturellen Bildung findet informell statt. Darüber hinaus haben non-formale Bildungsangebote in der Freizeit an Bedeu- tung gewonnen.43 Angeleitete Formate im außerunterrichtlichen Ange- bot von Schulen erreichen längst nicht alle Schülerinnen und Schüler.44 Anschluss Kultur ohne Anschluss: Die Dissonanzen zwischen dem, was viele junge Menschen unter Kultur ver- stehen und von welchen kulturellen Inhalten ihr Alltag und Aufwachsen geprägt sind, die Expan- sion digitaler Kulturangebote und die Unsichtbar- keit einiger kultureller Genres in der Lebensreali- tät vieler Jugendlicher brauchen eine Antwort in der Kulturellen Bildung. Viele Angebote zur ästhe- tischen Auseinandersetzung werden nur von einer Minderheit junger Menschen wahrgenommen und genutzt. 36 DREI SCHLAGLICHTER 37 ANGEBOTE
Nachgefragt Critical Friends Safe Space oder Breaking The Rules: Was Wollen, müssen, können: Welche Wege . ist zeitgemäße Kulturvermittlung? führen ins Theater? Kunst ist Zumutung, Risiko, Grenzüberschreitung, nicht zu vergessen: Für In der UN-Kinderrechtskonvention ist das Recht auf volle Beteiligung am Bildung gilt das auch. „Erschütterung“, „Widerspruch“, „Freiheit“ – bei kulturellen und künstlerischen Leben festgeschrieben. Kulturelle Bildung allem Ringen um Orte, Methoden und Personal für die Kulturelle Bildung umfasst dabei für mich: (Theater-)Kunst für (junge) Menschen und mit darf diese anstrengende Qualität nicht verloren gehen. Kulturelle Bildung ihnen. In beiden Bereichen spielt möglichst barrierefreie Teilhabe eine (der Begriff wirkt verniedlichend) ist insofern nicht nur „Safe Space“ fürs große Rolle. Ausprobieren, die Selbsterfahrung und Selbstversicherung. Sie ist auch Das Theater für ein junges Publikum bietet dabei große Chancen. Viele Ausprägung von Mut und Regelbruch. Es muss auch eine Befragung beste- Kinder und Jugendliche kommen im Klassenverbund in die Vorstellun- hender Regeln und Systeme geschehen, ein „Breaking The Rules“ – ästhe- gen und/oder nehmen an Workshops teil, quer durch alle Schularten und tisch, institutionell und gesellschaftlich. gesellschaftlichen Schichten. Das bedeutet zugleich eine große Verant- Der durch die meisten von uns nicht kontrollierbare digitale Raum sagt wortung für uns Theatermacher*innen. Unser junges Publikum ernst zu etwas über diese Anstrengung und das Risiko, das man als Jugend-, Kul- nehmen und ihm auf Augenhöhe zu begegnen, sollte selbstverständlich tur- und Bildungsverantwortliche einmal mehr eingehen könnte, müsste, sein. Aber dennoch geht es mit ästhetischen Setzungen auch um das Wei- sollte. Das bedeutet: Grenzen ausloten, Netzwerkdenken und -handeln, tergeben von Erfahrungen, um Weltentwürfe jenseits des Alltags, um die Einfluss testen, Spielen, wechselnde Hierarchien, ästhetisches Experiment, Ermutigung, die Welt anders zu sehen und zu denken. Text-Bild-Sound-Kommunikation, Skizze, Kontrolle und Kontrollverlust. Neben dieser Schule des Sehens wird die Schule des Spielens immer (Und auch: Sehr kleine Gruppen, sehr wenig Publikum, sehr persönli- wichtiger. Die spielerische Weltaneignung im geschützten Rahmen ermög- che Kommunikation statt globaler Reichweiten – dies ist eine gesunde licht empowernde Erfahrungen und Horizonterweiterungen. Erkenntnis aus der Pandemie.) Damit alle Kinder und Jugendlichen an Kunst und Kultur teilhaben kön- Zeitgemäße Kulturvermittlung ist in diesem Sinne eigentlich keine Ver- nen, fordern wir, dass der Anteil der Förderung von Kunst und Kultur für mittlung von etwas, sondern sucht Menschen als Ko-Produzent*innen, junge Menschen im Gesamtbudget der Kulturförderung dem Anteil junger Mitentwickler*innen, Fragenstellende und Antwortgebende. Sie schafft Menschen an der Bevölkerung entspricht. Darüber hinaus MUSS Kulturelle Raum, um das Denken sichtbar zu machen, und sie verletzt auch Regeln Bildung explizit in die Leitlinien aller Bildungspläne eingeschrieben, MUSS und Traditionen. Das verlangt auf Seiten der professionell Verantwort- das Schulfach Theater mit all seinen zeitgenössischen Ausprägungen flä- lichen ein eigenes Rollenverständnis, Risikobereitschaft, das Gegenteil chendeckend eingeführt werden. Was im Bildungsplan steht, darum wird von „Besserwissen“ und vor allem das Bewusstsein, dass Kulturentwick- sich gekümmert, sonst bleibt Kulturelle Bildung eine freiwillige Zusatz- lung täglich geschieht. leistung einzelner Lehrer*innen und Erzieher*innen. Mechthild Eickhoff Brigitte Dethier Geschäftsführerin des Fonds Soziokultur e. V. Intendantin des Jungen Ensembles Stuttgart 38 ANGEBOTE 39 ANGEBOTE
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