MIGRATION ATLAS DER - FLUCHT, ARBEIT, ZUKUNFT - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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MIGRATION ATLAS DER - FLUCHT, ARBEIT, ZUKUNFT - Rosa-Luxemburg-Stiftung
ATLAS DER
MIGRATION
   Daten und Fakten über
   Menschen in Bewegung

                           FLUCHT,
                            ARBEIT,
                           ZUKUNFT
MIGRATION ATLAS DER - FLUCHT, ARBEIT, ZUKUNFT - Rosa-Luxemburg-Stiftung
IMPRESSUM
Der ATLAS DER MIGRATION ist ein Projekt der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Projektleitung: Johanna Bussemer, Dorit Riethmüller

Redaktion: Christian Jakob (Koordination), Stefanie Kron, Wenke Christoph

Projektmanagement: Dietmar Bartz
Art-Direktion und Herstellung: Ellen Stockmar

Textchefin: Elisabeth Schmidt-Landenberger
Dokumentation und Schlussredaktion: Infotext Berlin

Mit Originalbeiträgen von Fritz Burschel, Wenke Christoph, Johanna Elle, Sabine Hess,
Christian Jakob, Bernd Kasparek, Stefanie Kron, Laura Lambert, Ramona Lenz,
Carlos Lopes, Sowmya Maheswaran, Johanna Neuhauser, Mario Neumann, Jochen Oltmer,
Maria Oshana, Massimo Perinelli, Maximilian Pichl, Matthias Schmidt-Sembdner,
Helen Schwenken, Maurice Stierl, Christian Stock und ein Autor*innenkollektiv

Cover: Ellen Stockmar

Die Beiträge geben nicht notwendig die Ansicht der Rosa-Luxemburg-Stiftung wieder.

V. i. S. d. P.: Alrun Kaune-Nüßlein, Rosa-Luxemburg-Stiftung

1. Auflage, Juni 2019

Druck: Bonifatius GmbH Druck – Buch – Verlag, Paderborn
Klimaneutral gedruckt auf 100 % Recyclingpapier

Dieses Werk mit Ausnahme des Coverbildes steht unter der Creative-Commons-Lizenz
„Namensnennung –4.0 international“ (CC BY 4.0). Der Text der Lizenz ist unter
https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/legalcode abrufbar. Eine Zusammenfassung
(kein Ersatz) ist unter https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de nachzulesen.

Sie können die einzelnen Infografiken dieses Atlas für eigene Zwecke nutzen, wenn
der Urhebernachweis „Bartz/Stockmar, CC BY 4.0“ in der Nähe der Grafik steht, bei
Bearbeitungen „Bartz/Stockmar (M), CC BY 4.0“.

                                                                                             ATLAS OF
                                                                                           MIGRATION
                                                                                              Facts and figures about
                                                                                                people on the move

ADRESSE ZUR KOSTENFREIEN BESTELLUNG UND ZUM DOWNLOAD
Rosa-Luxemburg-Stiftung, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin
www.rosalux.de/atlasdermigration
                                                                                                                        ESCAPE,

Der ATLAS DER MIGRATION erscheint als ATLAS OF MIGRATION auch auf Englisch.
                                                                                                                         WORK,
                                                                                                                         FUTURE

www.rosalux.de/atlasofmigration
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ATLAS DER
ARBEIT
MIGRATION
  Daten und Fakten über
  Menschen in Bewegung

          2019
MIGRATION ATLAS DER - FLUCHT, ARBEIT, ZUKUNFT - Rosa-Luxemburg-Stiftung
INHALT

    02     IMPRESSUM                                       18   VISA
                                                                GRENZEN DER REISEFREIHEIT
    06     VORWORT                                              Grenzenloses Reisen ist innerhalb der EU
                                                                selbstverständlich. Der richtige Pass
                                                                macht es auch möglich, weltweit frei
                                                                unterwegs zu sein. Doch wer ihn nicht hat,
                                                                merkt schnell, dass der Geldbeutel
                                                                über die Bewegungsfreiheit entscheidet.
    08     12 KURZE LEKTIONEN
           ÜBER DIE WELT DER MIGRATION                     20   ARBEITSMIGRATION
                                                                ZWISCHEN BEDARF UND BARRIERE
    10     GESCHICHTE                                           In den Zielländern ist Arbeitsmigration
           MENSCHHEIT IN BEWEGUNG                               politisch umstritten. Einerseits besteht in
           In den letzten Jahrhunderten haben                   Industrieländern eine große Nachfrage nach
           Kolonialismus, Unterdrückung und Armut               migrantischen Arbeitskräften, sowohl nach
           dafür gesorgt, dass Millionen Menschen               besonders qualifizierten als auch für den
           ihre Heimat verließen. Das Ende ihrer                Niedriglohnsektor. Andererseits ist der
           riskanten Reise bedeutete für die einen              Umgang mit Einwanderung oft rassistisch.
           ein besseres Leben, für die anderen
           Sklav*innenarbeit über Generationen.            22   ABWANDERUNG
                                                                GELD AUS DER FERNE
    12     MOBILITÄT                                            Migration und Entwicklung gehören
           ALTE UND NEUE ZIELE                                  zusammen. Für die Herkunftsländer
           Arbeit, Selbstbestimmung und Sicherheit              überwiegen die wirtschaftlichen Vorteile.
           gehören zu den Haupttriebkräften der                 Vor allem die Abwanderung von Fachkräften
           Migration. Sie wandelt sich, beschleunigt            wird überschätzt. Doch viele von
           durch billige Flugtickets und Smartphones            ihnen würden zurückkommen, wenn es
           für den Kontakt mit der Heimat. Doch auch            auch daheim attraktive Arbeitsplätze gäbe.
           die alten Wanderungskorridore gibt es noch.
                                                           24   GENDER
    14     MOTIVE                                               DIE WELT MOBILER FRAUEN
           DRUCK UND REIZ                                       Ob auf der Arbeit oder auf der Flucht – bei
           Es gibt sehr verschiedene Gründe, weshalb            der Suche nach einem besseren Leben
           ein Mensch sein Land verlassen will. Nicht           sind Frauen von Gewalt und Diskriminierung
           immer sind es schlechte Lebensbedingungen.           bedroht. Um sich zu wehren, brauchen
           Die Wahl des Zieles wird ebenfalls von vielen        sie mehr Rechte.
           Faktoren beeinflusst.
                                                           26   EINWANDERUNGSGESETZE
    16     FLUCHT                                               DIE NÜTZLICHKEIT DER ANDEREN
           SCHUTZ BEI DEN NACHBARN                              Die Migrationspolitik vieler Industrieländer
           Noch nie waren so viele Menschen auf der             stellt die wirtschaftlichen Interessen an
           Flucht. Die Weltgemeinschaft versagt                 Einwanderung in den Vordergrund. Die
           beim Kampf gegen Kriege und Konflikte,               Rechte von Migrierenden und Geflüchteten
           aber oft auch beim Schutz der Opfer.                 werden diesem Ziel untergeordnet.

4   ATLAS DER MIGRATION
MIGRATION ATLAS DER - FLUCHT, ARBEIT, ZUKUNFT - Rosa-Luxemburg-Stiftung
28   KONTROLLE                                       40   GEWALT
     DRUCK AUF DIE ARMEN                                  SCHRECKEN DES ALLTAGS
     Vor allem in Afrika will die EU die Migration        Die Entdeckung der Terrorgruppe
     schon in den Herkunfts- und Transitländern           NSU zeigte, wie falsch Ermittlungsbehörden
     unterbinden. Entwicklungsprogramme                   und Geheimdienste überall in
     über viele Milliarden Euro sollen nun auch           Deutschland mit rechtsradikalen
     der Migrationsverhinderung dienen.                   Gewalttätern*innen umgegangen waren.
                                                          In einem Klima der Straffreiheit hat sich
30   GRENZEN                                              eine gewalttätige Naziszene etabliert.
     STREIT HINTER DEN MAUERN
     DER FESTUNG EUROPA                              42   SELBSTORGANISATION
     Das Asylsystem der EU funktioniert nicht.            IM EIGENEN NAMEN
     Die Ankunftsländer im Süden sind überfordert.        Zu den wichtigsten Zielen organisierter
     Doch viele ihrer Regierungen wollen keine            Migrant*innen gehört der Kampf
     Aufteilung nach Quoten. Stattdessen                  um das Bleiberecht. Sie wollen Kritik
     werden die Barrieren nach Afrika und in die          an den politischen Verhältnissen
     Türkei vorverlagert.                                 äußern, sich gegenseitig unterstützen
                                                          und ihre materielle Lage verbessern.
32   MITTELMEER
     DIE TÖDLICHSTE GRENZE DER WELT                  44   SOLIDARITÄT DER STÄDTE
     Jahr für Jahr ertrinken Tausende von                 LÖSUNGEN VOR ORT
     Migrant*innen im Mittelmeer oder kommen              Netzwerke aus Städten und kommunalen
     schon auf dem Weg zur Küste ums Leben.               Initiativen wollen die Lage ihrer
     Doch die EU-Länder verhindern jede                   migrantischen Bevölkerung verbessern –
     effektive Seenotrettung. Auch das Sterben in         vom Schutz vor Abschiebungen
     der Sahara geht weiter.                              bis zum Alltagsleben unabhängig von der
                                                          Staatsbürgerschaft.
34   ABSCHIEBUNGEN
     WENN DIE UHR TICKT                              46   ZIVILGESELLSCHAFT
     Am Ende eines gescheiterten Asylverfahrens           NEUE GENERATIONEN DER
     drohen die Behörden eine Abschiebung                 SOLIDARITÄT
     an. Sie kann mit Zwangsmitteln durchgesetzt          Die Grenze zwischen politischer
     werden, für die Betroffenen oft eine                 Solidarität und humanitärer
     traumatische Erfahrung.                              Flüchtlingshilfe verschwimmt. Über
                                                          die gemeinsamen Ziele, etwa
36   INTEGRATION                                          Abschiebungen zu verhindern, verbinden
     GUT FÜR ALLE                                         sich unterschiedliche Aktivist*innen.
     In Deutschland wird viel über Integration,
     aber wenig über die Rechte von Migrant*innen
     gesprochen. Der Aufgabe des Zusammen-
     lebens müssen sich aber alle stellen.

38   RECHTSPOPULISMUS
     POLITIK MIT DER ANGST
     Keine Strömung des rechten politischen
     Spektrums verzichtet darauf,
     Migration als Bedrohung für die eigene
     Kultur und Gesellschaft zu dämonisieren.
     Die Hetze gegen Einwander*innen                 48   AUTORINNEN UND AUTOREN,
     verfängt bei denen am besten, die den                QUELLEN VON DATEN, KARTEN
     wenigsten Kontakt zu ihnen haben.                    UND GRAFIKEN

                                                                                             ATLAS DER MIGRATION   5
MIGRATION ATLAS DER - FLUCHT, ARBEIT, ZUKUNFT - Rosa-Luxemburg-Stiftung
VORWORT

    MIGRATION – EIN                           der Migration sind die der „Ströme“,
    UMKÄMPFTES                                „Wellen“ und „Fluten“. Sie haben
                                              allesamt die Tendenz, Migration als
    MENSCHENRECHT                             etwas Bedrohliches erscheinen zu
                                              lassen und die tatsächlich Migrierenden
                                              unsichtbar zu machen.

    M
            igration gab es schon immer,

                                              W
            sie ist die „Mutter aller                   ir wollen das Thema Migration
            Gesellschaften“. Die Mobilität              von einer anderen Seite
    von Menschen, auch über Landes-                     zeigen, um eine politische
    und Seegrenzen und sogar über             Veränderung anzustoßen. Durch
    Kontinente hinweg, ist so alt wie die     einen mit vielen Zahlen und Grafiken
    Menschheit selbst. Wenige Staaten auf     unterstützten Blick auf Migration wollen
    der Welt hätten ihre aktuelle Gestalt     wir zu einer Versachlichung der Debatte
    ohne jahrhundertlange Ein- und            innerhalb der europäischen linken
    Auswanderung.                             Parteien und Bewegungen – aber vor
                                              allem auch darüber hinaus – beitragen.
    Dennoch erhitzt das Thema Migration       In der europäischen Linken reicht
    rund um den Globus politische Debatten.   das Spektrum des Meinungsdiskurses
    Bürger*innen, Politiker*innen, Parteien   vom Paradigma der offenen Grenzen
    und Bewegungen bilden ihre politische     bis zu Haltungen, die Migration
    Meinung nicht selten entlang der Frage    weitgehend ablehnen und oft auf
    der Migration und der Politiken des       der Annahme einer Konkurrenz der
    Umgangs mit ihr. Entsprechend groß        besonders Schwachen in europäischen
    und wirkmächtig sind die Mythen,          Gesellschaften beruhen. Das positive
    Legenden, Geschichten und Bilder, die     Bild einer offenen Gesellschaft mit
    rund um das soziale Phänomen der          genug Ressourcen in allen Bereichen
    Migration entstanden sind und weiterhin   des Lebens für alle und das negative
    entstehen. Dies zeigt sich in der Art,    Bild von Gesellschaften, in denen von
    wie über Migration gesprochen und wie     vielen Seiten und untereinander um
    sie dargestellt wird: Die bekanntesten    diese Ressourcen gekämpft werden
    sprachlichen und visuellen Bilder         muss, stehen sich scheinbar unvereinbar

6   ATLAS DER MIGRATION
MIGRATION ATLAS DER - FLUCHT, ARBEIT, ZUKUNFT - Rosa-Luxemburg-Stiftung
gegenüber. Bei den Europawahlen              die Rechte von Einwanderer*innen
2019 konnten rechte, rechtspopulistische     und Geflüchteten. Gemeinsam mit
und rechtsextreme Kräfte von der             Nicht-Migrierten sind so in Europa
Angst vieler Menschen vor sozialem           und der Welt ungezählte Bewegungen
Abstieg profitieren und sich vor             der Solidarität gegen Abschiebungen,
allem durch nationalistische und             Xenophobie und Rechtspopulismus
migrationskritische Politiken profilieren.   sowie für das Recht auf soziale und
Mit den Positionen vieler Parteien,          kulturelle Teilhabe, würdige Arbeit,
die bei den Europawahlen Zugewinne           angemessenes Wohnen, Bildung und
verzeichnen konnten, werden                  Gesundheit entstanden.
Migrant*innen in Europa soziale Rechte

                                             M
abgesprochen.                                        igration hat viele Realitäten
                                                     und Facetten. Dieser Atlas

D
       ieser Atlas will dementsprechend              wirbt für einen differenzierten
       den Blick auf Migration und           Umgang und eine Anerkennung von
       ihre Akteur*innen verändern.          Fakten. Im derzeitigen gesellschaftlichen
Die Zahlen und Fakten zeigen, dass           Klima ist Mut erforderlich, sich diesem
Migration, gleichwohl sie in allen           Thema unaufgeregt und informiert
Teilen der Welt stattfindet, weder           zuzuwenden – und anzuerkennen,
ein Bedrohungspotenzial für die              dass Einwanderung unsere
Gesellschaften der Zielländer noch           Gesellschaften im demokratischen
für jene der Herkunftsländer birgt.          Sinne pluralisiert. Denn wir leben
Stattdessen profitieren Gesellschaften       in postmigrantischen Gesellschaften,
weltweit nicht nur von kultureller           in denen die Bewegungsfreiheit
Vielfalt, sondern auch oft ökonomisch        von Menschen und der Schutz
von Migration.                               von Geflüchteten als Menschenrechte
                                             gelten sollten.
Doch Migrierende sind nicht nur
Opfer. Im Gegenteil: Sie nehmen ihr
Schicksal selbst in die Hand. Dies           Die Herausgeber*innen
                                             Florian Weis, Johanna Bussemer,
zeigen die Beiträge zu Kämpfen der           Christian Jakob, Wenke Christoph, Stefanie Kron,
Migration – gegen Rassismus und für          Dorit Riethmüller, Franziska Albrecht

                                                                                            ATLAS DER MIGRATION   7
MIGRATION ATLAS DER - FLUCHT, ARBEIT, ZUKUNFT - Rosa-Luxemburg-Stiftung
12 KURZE LEKTIONEN

           ÜBER DIE WELT DER MIGRATION

                 1                                             2
                          Menschen sind schon immer                    Immer mehr Menschen gehen
                          gewandert. Die GESCHICHTE                    heute zum Arbeiten und
                          der Menschheit ist auch eine                 Leben in andere Länder. Meist
                   Geschichte von Migration. Jede               ziehen sie in große STÄDTE. Doch
                   moderne GESELLSCHAFT und jeder               obwohl es nie mehr Migrant*innen
                   Staat sind heute ein Ergebnis von            gab als heute, ist ihr ANTEIL an der
                   MOBILITÄT.                                   Weltbevölkerung SEHR KLEIN.

                                 3
                                        Migrant*innen arbeiten häufig als
                                        SELBSTSTÄNDIGE oder nehmen
                                        SCHLECHT BEZAHLTE Arbeit an – auch,
                                 weil ihnen SOZIALLEISTUNGEN VERWEHRT
                                 werden. Sie tragen zur wirtschaftlichen
                                 Entwicklung und so zum WOHLSTAND aller bei.

                  4                                            5
                           GUT AUSGEBILDETE                            Die EU versucht heute schon
                           MENSCHEN gehen aus armen                    weit VOR IHREN EIGENEN
                           Ländern oft ins Ausland. Dort               GRENZEN Migrant*innen zu
                   können sie mehr verdienen. Weil sie          stoppen. Dafür nimmt sie schwere
                   meist viel GELD ZURÜCKSCHICKEN               Menschenrechtsverletzungen in
                   und teils auch besser qualifiziert           Kauf. Vor allem in Afrika können sich
                   ZURÜCKKEHREN, ist Migration auch             Menschen deshalb nicht mehr überall
                   für Entwicklungsländer gut.                  FREI BEWEGEN.

                                 6
                                       Menschen aus dem globalen Norden
                                       bekommen leicht VISA. Sie dürfen
                                       fast überall UNGEHINDERT reisen
                                 und können in viele Länder auswandern.
                                 Umgekehrt wird diese Bewegungsfreiheit
                                 den meisten anderen Menschen auf der Welt
                                 VERWEIGERT.

8   ATLAS DER MIGRATION
MIGRATION ATLAS DER - FLUCHT, ARBEIT, ZUKUNFT - Rosa-Luxemburg-Stiftung
7
                          Für arme Menschen und eine
                          Rekordzahl von Flüchtlingen gibt es
                          KEINE LEGALEN WEGE der
                   Migration. Oft müssen sie Schlepper*innen
                   Geld bezahlen, um über Grenzen zu
                   gelangen. Auf diesen sehr GEFÄHRLICHEN
                   Routen STERBEN viele Menschen.

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        Wo Migrant*innen ankommen,                    RASSISMUS ist keine
        werden sie oft DISKRIMINIERT.                 Folge von Migration. Ob
        Sie bekommen dann weniger                     eingewanderte Minder-
Lohn, schlechtere Wohnungen                    heiten angefeindet oder verfolgt
oder schlechtere Bildungschancen.              werden, hängt vor allem
Das hält oft VIELE JAHRE an.                   davon ab, ob Migration als etwas
Auch ihre Kinder und Enkel*innen               NORMALES akzeptiert oder
gelten teils noch als „FREMD“.                 als BEDROHUNG gesehen wird.

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                               Immer mehr FRAUEN UND
                               MÄDCHEN migrieren heute allein –
                               weil sie vor Gefahren fliehen, mehr
                   verdienen, ihr LEBEN FREIER gestalten oder
                   ihren Familien helfen wollen. Auf ihrem Weg
                   brauchen sie besonderen SCHUTZ.

11                                            12
           Die ARBEITSLEISTUNG                             Eine Gesellschaft,
           von Migrant*innen wird                          in der Einheimische
           in Anspruch genommen,                           und Zugewanderte
aber um ihre RECHTE müssen sie                 miteinander leben, ist
oft kämpfen. Von diesen Kämpfen                der NORMALFALL, nicht die
können auch andere profitieren –               Ausnahme. Die Grundlage
etwa einheimische Arbeiter*innen,              dafür ist SOLIDARITÄT – die
wenn sich alle gemeinsam gegen                 Bereitschaft zu teilen.
Ausbeutung wehren.

                                                                            ATLAS DER MIGRATION   9
MIGRATION ATLAS DER - FLUCHT, ARBEIT, ZUKUNFT - Rosa-Luxemburg-Stiftung
GESCHICHTE

     MENSCHHEIT IN BEWEGUNG
     In den letzten Jahrhunderten haben                                                                    In Europa wuchs im 19. Jahrhundert die Zahl der Men-
     Kolonialismus, Unterdrückung und Armut                                                            schen rapide an, die dem Kontinent den Rücken kehrten.
     dafür gesorgt, dass Millionen Menschen                                                            Der kleinere Teil dieser Wandernden zwischen den Konti-
     ihre Heimat verließen. Das Ende ihrer                                                             nenten ging über Land und siedelte sich vornehmlich in
                                                                                                       den asiatischen Gebieten des Russischen Reiches an. Der
     riskanten Reise bedeutete für die einen
                                                                                                       weit größere Teil überwand die maritimen Grenzen Euro-
     ein besseres Leben, für die anderen
                                                                                                       pas: Von den 55 bis 60 Millionen Menschen, die zwischen
     Sklav*innenarbeit über Generationen.                                                              1815 und 1930 nach Übersee zogen, gingen mehr als zwei
                                                                                                       Drittel nach Nordamerika. Rund ein Fünftel wanderte

     M
              enschheitsgeschichte ist Migrationsgeschichte.                                           nach Südamerika ab. Etwa sieben Prozent erreichten Aus-
              Menschen sind keineswegs erst in der Moderne                                             tralien und Neuseeland. In ihren Siedlungsgebieten ver-
              mobil geworden. Sie überwanden bereits weite                                             änderte sich die Zusammensetzung der Bevölkerung – es
     Distanzen, bevor es die heutigen Massenverkehrsmit-                                               entstanden „Neu-Europas“.
     tel gab. Ein Mythos ist auch die Vorstellung, in der Ver-                                             Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, auf
     gangenheit sei Migration immer von Dauer gewesen.                                                 dem Höhepunkt der Auswanderung, begann zugleich die
     Tatsächlich kennzeichnen Rückwanderung, saisonale                                                 Geschichte Europas als Einwanderungskontinent, zu dem
     Bewegung und Fluktuation die lokalen, regionalen und                                              er sich dann nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig wan-
     globalen Wanderungsverhältnisse in Vergangenheit wie                                              delte. Viele Menschen kamen aus den ehemaligen Koloni-
     Gegenwart.                                                                                        en vor allem in Städte wie London, Paris oder Brüssel. Der
         Von globaler Migration, also von Mobilität über die                                           Wirtschaftsaufschwung in Westeuropa nach dem Zweiten
     Grenzen der Kontinente hinweg, kann erst seit Beginn                                              Weltkrieg führte dazu, dass die dortigen Regierungen so-
     des Kolonialismus gesprochen werden. Ein wichtiger                                                genannte Gastarbeiter*innen in Südeuropa anwarben, die
     Faktor war dabei der Sklav*innenhandel. Zehn bis zwölf                                            später ihre Familien nachholten. Bis zur Öffnung des Ei-
     Millionen Menschen wurden vom 16. Jahrhundert an aus                                              sernen Vorhangs 1989 flohen oder übersiedelten auch vie-
     Afrika nach Europa und Amerika verschleppt. In Ostafri-                                           le Menschen aus den Ländern des damaligen Ostblocks in
     ka gerieten ab dem 18. Jahrhundert etwa sechs Millionen                                           den Westen. Nach 1989 stieg ihre Zahl noch erheblich an.
     Menschen in Gefangenschaft. Diese Sklav*innen wurden                                                  In den USA setzte ab 1965 eine „zweite Welle“ der
     vor allem an die Herrscher*innen auf der Arabischen                                               Migration ein. Damals liberalisierten die USA ihr Ein-
     Halbinsel verkauft.                                                                               wanderungsrecht. Bis 2016 stieg daraufhin die Zahl der
                                                                                                       Migrant*innen in den USA auf 41 Millionen, davon etwa
                                                                                                       ein Viertel aus Mexiko.
                                                                                                           Weder heute noch früher gingen Migrierende in eine
        MILLIONEN SUCHEN IHRE NEUE HEIMAT
        Historische Migration in drei Weltregionen,
                                                                                                       völlig unbekannte Fremde. Die Bewegung innerhalb von
        Fünfjahreszeiträume, in Millionen                                                              Netzwerken war immer schon ein tragendes Element der
                                                                                                       Mobilität. Migration war nie Selbstzweck oder gar Ziel –
         18
                                                                                                       der dauerhafte oder zeitweilige Aufenthalt an anderen Or-
         16
                                                                                                       ten sollte den Migrierenden die Möglichkeit geben, ihr Le-
                         über den Atlantik
         14                                                                                            ben selbstbestimmter zu gestalten. Das gilt für die Suche
                         nach Südostasien
         12              nach Nordasien*                                                               nach Erwerbs- oder Bildungschancen ebenso wie für das
         10
                                                                                                       Streben nach Autonomie, zum Beispiel um arrangierten
                                                                                                       Ehen zu entfliehen oder einfach besondere Wünsche bei
         8
                                                                                                       der Berufswahl zu verwirklichen.
         6
                                                                                                           Seit jeher kann Migration aber auch eine Folge der
                                                                       ATLAS DER MIGRATION / McKEOWN

         4                                                                                             Androhung oder Anwendung von Gewalt sein. Menschen
         2                                                                                             reagieren auf bewaffnete Konflikte, indem sie diese Orte
         0
         1846– 1856– 1866– 1876– 1886– 1896– 1906– 1916– 1926– 1936–
         1850 1860 1870 1880 1890 1900 1910 1920 1930 1940
                                                                                                       Mit Industrialisierung, Verstädterung und neuen
        * mit Mandschurei, Japan, Zentralasien                                                         Verkehrsmitteln nahm die Mobilität zu.
                                                                                                       Viele Indigene litten unter den neuen Siedler*innen

10   ATLAS DER MIGRATION
ATLAS DER MIGRATION / PHILIP’S, SLAVE VOYAGES, LUEBKE
   AUF DEM LAND UND ÜBER WASSER
   Herkunfts- und Zielregionen der jüngeren Migrationsgeschichte, 1500 bis 1914, Auswahl,
   in Millionen Menschen

                                                                                                10
                                                                                            1880–1914
                                                              Europa                                     Russland
                                                                              2,2
                                          32
                                                                          1880–1914                                                    Japan
         Nordamerika                   1620–1914
                                                                                                                                1850–1914
                                                              1,5                                                                  8
                                        7,4                      1850–1914
                                                                                                               China
                                      1530–1914
        Mittelamerika                                                                                 Indien   1820–1914   22            1
                                                               1,4                                                                     1880–1914

                                                                     Afrika                       3
                                                                               4,3              1850–1914
                                                  12                                                                   Südostasien
                                                                        1500–1800
                                                  1530–1860
                        Südamerika

                                                                                                                       Australien

                                                                                            3
                                                                                         1790–1914

                                                                                                                                Neuseeland

                                                                                       Vom Kolonialismus bis ins Industriezeitalter
verlassen. Nicht erst in der Gegenwart ist die Vorstellung                      nahmen mehr als 100 Millionen Menschen an großen
verbreitet, durch die Nötigung zur Migration ließe sich                          und weiten Wanderungen teil oder wurden verkauft
Herrschaft stabilisieren oder könnten politische Interes-
sen durchgesetzt werden. Fluchtbewegungen, Vertreibun-
gen oder Deportationen treten auf, wenn – vornehmlich                  Zeiträume gibt es keine Daten, und zudem wird der Be-
staatliche – Akteure Lebens- und Überlebensmöglichkei-                 griff Migration sehr unterschiedlich definiert. Festzustel-
ten sowie körperliche Unversehrtheit, Rechte und Frei-                 len ist, dass die Zahl jener, die sich als Binnenwandernde
heiten, politische Partizipationschancen, ferner die Sou-              innerhalb von Territorien bewegten, schon immer hoch
veränität und Sicherheit von Einzelnen oder Kollektiven                war – etwa durch den folgenreichen und langen Pro-
so weit beschränken, dass Menschen sich zum Verlassen                  zess der Verstädterung. Die Wanderung vom Land in die
ihrer Herkunftsorte gezwungen sehen.                                   Stadt, die Urbanisierung, war Voraussetzung und Ergeb-
    Schon die heiligen Schriften des Judentums, des Chris-             nis der Industrialisierung. Doch nur der geringste Teil
tentums und des Islam sind durchsetzt mit Berichten über               der Menschen hat in den vergangenen Jahrhunderten Be-
Schutzsuchende und deren Aufnahme oder Abweisung.                      wegungen über größere Distanzen, über staatliche oder
Rom, so lautete die Botschaft antiker Autoren, sei deshalb             gar kontinentale Grenzen unternommen. Die UN zählt
so mächtig geworden, weil es immer und in großer Zahl                  aktuell weltweit 258 Millionen Migrant*innen, die Staats-
Verfolgte aufgenommen habe. In den folgenden Jahrhun-                  grenzen überschritten haben. Doch 97 von 100 Menschen
derten gab es bereits Regelungen zum Asyl. Differenzier-               auf der Welt leben in den Staaten, in denen sie geboren
te, national und international gültige Normen aber, die                wurden.
verfolgte und vor Gewalt fliehende Menschen schützen                       Migration, vor allem über große Distanzen, ist ein sehr
sollten, entstanden erst viel später, seit dem Ersten Welt-            voraussetzungsvoller sozialer Prozess. Dennoch bleibt er
krieg. Als Wegmarke im überstaatlich vereinbarten Recht                eine Konstante der menschlichen Entwicklung. Keine
gilt die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951.                        moderne Gesellschaft, kein heute existierender National-
    Die häufig gestellte Frage, ob es heute mehr Migration             staat und auch keine große Stadt würde ohne Migration
als früher gebe, lässt sich nicht beantworten. Für viele               existieren.

                                                                                                                           ATLAS DER MIGRATION                                                             11
MOBILITÄT

     ALTE UND NEUE ZIELE
     Arbeit, Selbstbestimmung und Sicherheit                           Lange waren Europa und Nordamerika die wichtigs-
     gehören zu den Haupttriebkräften der                          ten Zielregionen. Mittlerweile verlagert sich der Schwer-
     Migration. Sie wandelt sich, beschleunigt                     punkt allmählich nach Asien. Seit der Jahrtausendwende
     durch billige Flugtickets und Smartphones                     ist Asien zum Ziel von mehr als 30 Millionen internatio-
                                                                   nalen Migrant*innen geworden, stärker als jede andere
     für den Kontakt mit der Heimat. Doch auch die
                                                                   Weltregion in diesem Zeitraum. Zudem stammen mehr
     alten Wanderungskorridore gibt es noch.
                                                                   als 40 Prozent von ihnen aus Asien. Zwischen den Golf-
                                                                   staaten mit ihrem großen Bedarf an Arbeitskräften und

     I
        n den Medien entsteht oft der Eindruck, Menschen           den Staaten Süd- und Südostasiens haben sich breite
        würden heute vor allem versuchen, nach Europa oder         Migrationskorridore herausgebildet. Bau- und Hausar-
        in die USA zu gelangen. Aber dies macht nur einen ge-      beiter*innen machen bereits die Mehrheit der Bevölke-
     ringen Teil der weltweiten Wanderungsbewegungen aus.          rung in der Region aus. In den Vereinigten Arabischen
     Jedes Land kennt grenzüberschreitende Zu- und Abwan-          Emiraten etwa haben 88 Prozent der Bevölkerung eine
     derungen – also internationale Migration – oder Wande-        ausländische Staatsbürgerschaft. Allein 3,3 Millionen In-
     rungen im Landesinneren – die Binnenmigration. Migra-         der*innen leben heute dort.
     tion ist ein globales Phänomen.                                   Die Wanderungskorridore zeigen, dass trotz aller Fort-
         Nach Schätzungen der Vereinten Nationen (UN) leb-         schritte bei Verkehr und Telekommunikation die Geo-
     ten 2017 etwa 258 Millionen Menschen zeitweise oder dau-      grafie eine wichtige Rolle spielt. Die meisten Menschen
     erhaft in anderen Ländern. Diese Zahl hat sich innerhalb      migrieren innerhalb ihrer Region. Weil neue Staatsgren-
     einer Generation verdreifacht: 1970 gab es weltweit nur       zen wie die in der ehemaligen Sowjetunion entstanden
     84 Millionen Migrant*innen, 1990 waren es 153 Millionen       sind, gehören dazu auch Nachbarländer – entlang fami-
     und seit der Jahrtausendwende sind 85 Millionen hinzu-        liärer, ethnischer und historischer Bindungen. Der welt-
     gekommen. Ihr Anteil an der Weltbevölkerung allerdings        weit größte Migrationskorridor ist jedoch jener zwischen
     veränderte sich kaum: 1970 lag er bei 2,3 Prozent, 2017 bei   Mexiko und den USA. Ins nördliche Nachbarland zogen
     rund 3,4 Prozent.                                             98 Prozent aller im Ausland lebenden Mexikaner*innen,
         Deutlich höher ist die Zahl der Menschen, die ihren       bis 2017 etwa 12,7 Millionen Menschen. Auch die Flucht
     Geburtsort verlassen, aber im selben Land bleiben. Die        vor Konflikten oder Katastrophen spielt sich meist inner-
     UN schätzte die Zahl dieser Binnenmigrant*innen schon         halb von Regionen ab. Während die türkische Grenzpoli-
     2005 auf 763 Millionen. Allein in China sollen es 2017 etwa   zei im Jahr 2000 nur 1.400 irreguläre Grenzübertritte aus
     244 Millionen gewesen sein. Aber auch in Indien, den USA      dem Nachbarland Syrien registrierte, ließ der Krieg die
     und selbst in Deutschland mit seinem Ost-West-Unter-          Zahl der syrischen Flüchtlinge in der Türkei auf 3,6 Millio-
     schied kommen große interne Wanderungsbewegungen              nen Menschen Anfang 2019 ansteigen.
     vor, oft vom Land in die Städte oder von wirtschaftlich           Migration hat viele Facetten, nicht nur die dauer-
     abgehängten in die Wachstumsregionen.                         hafte Aus- oder Einwanderung. Viele Menschen kehren
         Die globalen Wanderungsbewegungen nehmen zu,              nach einem Auslandsstudium oder einer temporären
     die Gründe dafür sind vielfältig. Da zwingen Konflikte        Arbeit im Ausland zurück. Dazu gehören auch die „Ex-
     und Kriege die Menschen zur Flucht. Da lässt die Globali-     pats“, kurz für „Expatriates“, die oft für eine bestimm-
     sierung der Wirtschaft eine wachsende Anzahl von Men-         te Zeit in Dienstleistungs- oder Managementfunktionen
     schen migrieren. Auch alte Wanderungskorridore spielen        entsendet werden. Andere ziehen weiter, wieder andere
     noch eine Rolle. Sie entstanden zwischen benachbarten         bewegen sich immer wieder zwischen Herkunfts- und
     Ländern (zum Beispiel von Italien in die Schweiz), durch      Zielländern hin und her. Von den Medien beachtet, aber
     die koloniale Geschichte (etwa aus Indien nach Großbri-       zahlenmäßig unerheblich ist die neue Gruppe der „di-
     tannien) oder durch weit zurückreichende Handelsbezie-        gitalen Nomaden“, die mit dem Internet arbeiten, meist
     hungen (wie zwischen China und Ostafrika).                    aus wohlhabenden Ländern stammen und gerne kosten-
         Heute leben in den wirtschaftlich entwickelten Län-       günstig in ärmeren Gegenden leben.
     dern knapp zwei Drittel aller internationalen Migrant*in-
     nen. Doch auch in arme Entwicklungsländer sind im-
     merhin elf Millionen Menschen gewandert. Fast die                          Im globalen Maßstab sind sie nicht viele: Der
     Hälfte aller internationalen Migrant*innen stammt aus                   Anteil der internationalen Migrant*innen an der
     nur zwanzig Herkunftsländern.                                             Weltbevölkerung pendelt um die drei Prozent.

12   ATLAS DER MIGRATION
GLOBALE WEGE
Internationale Migration im Überblick
                                                                                   Lateinamerika und Karibik

    Wanderungsbewegungen
    zwischen und                                                             26
                                      Europa           41
    innerhalb von sechs                                              8                                Nordamerika
    Kontinenten bzw.
    Teilkontinenten,
    in Millionen, 2017

                                                                                                            Ozeanien
                                                 20
                                                                                                            unbekannt
                                                            17
                                                                             9
                                                                 7

                                                                                                19
                                                                                                         Afrika

                                                            63

                                             Asien

    Anzahl in Millionen und Verteilung                                   Anzahl in Millionen und Verteilung
    nach Geschlechtern, in Prozent, 2017                                 nach Geschlechtern

                                                                 300
                                    258 alle Migrierten                                                                            258
                                                                                       Männer                            248
                                    234 ab 15 Jahre alt          250                   Frauen                     220
                                                                                                         191
                                    164 erwerbstätig             200                           173
                                                                            152      161

                                                                 150
     48 % 46 % 41 %                    59 % 54 % 52 %
                                                                 100

                                                      Männer
                                                                 50
                                                      Frauen
                                                                  0
                                                                            1990     1995      2000      2005     2010   2015      2017

    Verteilung der Migration
    auf elf Zielregionen,
    in Prozent, 2017
                                                                                            Nord-, Süd-, Westeuropa 23,9
                             Nordamerika 23,0

        Lateinamerika und Karibik 2,7

                            Nordafrika 0,7
                                                                                                      Osteuropa 8,1
                    Subsahara-Afrika 7,2

                                                                                                 Ostasien 3,6
                                                                                                                                                ATLAS DER MIGRATION / ILO, UN

                              arabische Länder 13,9
                                                                                            Südostasien und Pazifik 7,1

                                                       Südasien 4,5              West- und Zentralasien 5,2

Differenzen durch Rundung

                                                                                                                                ATLAS DER MIGRATION                             13
MOTIVE

     DRUCK UND REIZ
     Es gibt sehr verschiedene Gründe, weshalb                                                  Ein solcher Auslandsaufenthalt galt lange Zeit als wichti-
     ein Mensch sein Land verlassen will. Nicht                                                 ger Schritt hin zum Erwachsensein, der es ermöglichte,
     immer sind es schlechte Lebensbedingungen.                                                 nach einiger Zeit mit etwas Vermögen zurückzukommen
     Die Wahl des Zieles wird ebenfalls von vielen                                              und eine Familie zu gründen. Bereits zu vorkolonialen
                                                                                                Zeiten sorgten mobile Kaufleute dafür, dass der Goldhan-
     Faktoren beeinflusst.
                                                                                                del in Schwung kam und der Fernhandel funktionierte.
                                                                                                    In den 1960er- und 1970er-Jahren gingen zahlreiche

     D
             er damals 20-jährige Mody Boubou Coulibaly aus                                     frankophone Westafrikaner*innen zum Arbeiten nach
             Mali arbeitete als Bauarbeiter in Nouakchott, der                                  Frankreich, ganz legal und mit Visum. Das ist heute kaum
             Hauptstadt des Nachbarlandes Mauretanien. Am                                       noch möglich. Weil die Reise nach Europa für viele Men-
     9. Mai 2016 sprang er auf einer Baustelle aus dem drit-                                    schen inzwischen mit großen Risiken verbunden ist, ma-
     ten Stock und starb wenig später an den Folgen dieses                                      chen sich eher junge Leute auf den Weg. Motive „irregulä-
     Sprungs. Veranlasst zu dieser Verzweiflungstat hatte ihn                                   rer“ Migrant*innen sind nicht nur die Aussicht auf Arbeit
     die Verfolgung durch einen Polizisten. Coulibalys Verge-                                   und Einkommen. Sie wollen sich weiterbilden, Erfahrun-
     hen war, dass er sich illegal in Mauretanien aufhielt. Er                                  gen sammeln, einen bestimmten Lebensstil verwirklichen
     konnte sich die umgerechnet 85 Euro teure Aufenthalts-                                     oder sie suchen die Nähe zu Familien, die bereits im Ziel-
     genehmigung nicht leisten.                                                                 land leben.
         Seit 2017 ist Mauretanien assoziiertes Mitglied der                                        Im Sommer 2018 befragte die Internationale Organi-
     Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (Ecowas),                                        sation für Migration (IOM) der UN in Westafrika mehr als
     der auch Mali angehört. Bei deren Gründung 1975 ging es                                    5.400 reisende Migrant*innen an Verkehrsknotenpunk-
     nicht zuletzt darum, die Grenzziehungen der Kolonialzeit                                   ten wie etwa Busterminals. 83 Prozent waren Männer,
     zu überwinden und den Bewohner*innen Westafrikas                                           17 Prozent Frauen. Vier von fünf Befragten gaben an,
     Freizügigkeit innerhalb der Region zu garantieren. Denn                                    aus ökonomischen Gründen unterwegs zu sein. Ähnlich
     Mobilität ist hier nicht nur lebensnotwendig, sondern                                      sieht es in Lateinamerika aus, wo das Washingtoner For-
     auch kulturell tief verankert.                                                             schungsinstitut Center for Immigration Studies ebenfalls
         Innerhalb Westafrikas waren immer viele Menschen                                       2018 Menschen in Honduras nach den Gründen für eine
     mobil und zogen für eine gewisse Zeit in ein anderes Land.                                 Migration in die USA befragte. 82,9 Prozent der Befragten
                                                                                                nannten Arbeitslosigkeit und Einkommensmöglichkei-
                                                                                                ten, 11,3 Prozent Gewalt und Unsicherheit.
                                                                                                    Die Annahme, dass Migration vor allem eine Reak-
        DIE GANZ GROSSEN WANDERUNGEN
        Gesamtmigration von über 2 Millionen Personen zwischen
                                                                                                tion auf besonders schlechte Lebensbedingungen ist,
        einzelnen Ländern, offiziell Registrierte, bis 2017,                                    ist ein Irrtum. Den Ärmsten fehlt es meist an Mitteln für
        in Millionen                                                                            die Migration. Es ist deswegen ein Irrglaube, dass erfolg-
                       von                      nach                                            reiche Entwicklungshilfe und Investitionen zu weniger
                     Mexiko              11,6                                                   Migration führen. Tatsächlich fördert sozioökonomische
                                                USA
                                                                                                Entwicklung Migration eher, als sie zu reduzieren. Die
                                          2,1
                                          2,4                                                   schon in den 1990er-Jahren geprägte These vom „migra-
                       China
                                          2,3 Hongkong                                          tion hump“ („Migrationsbuckel“) besagt, dass erst, wenn
                                          2,3 Saudi-Arabien                                     ein bestimmtes Niveau bei den Einkommen erreicht ist,
                      Indien
                                          3,3 VAE*                                              die Zahlen bei den Auswanderungen wieder sinken. Die
              Afghanistan                 2,3 Iran                                              enge Korrelation zwischen der Höhe des Einkommens und
             Bangladesch                  3,1 Indien                                            der Neigung auszuwandern, die dieses Modell behaup-
                      Syrien              3,3 Türkei                                            tet, vernachlässigt allerdings andere Faktoren: etwa den
                                                                                                demografischen Wandel in Herkunfts- und Zielländern,
                                                                 ATLAS DER MIGRATION / KNOMAD

                                          3,3 Ukraine
                  Russland
                                          2,4 Kasachstan                                        Nachahmungseffekte, Wanderungshürden wie Visa- und
               Kasachstan                 2,6 Russland
                    Ukraine               3,3
                                                                                                Flucht vor Krieg und Terror, die Hoffnung auf
        * Vereinigte Arabische Emirate                                                          Wohlstand, Traditionen und neue
                                                                                                Grenzen erklären die Herkunfts- und Zielländer

14   ATLAS DER MIGRATION
ATLAS DER MIGRATION / AKUF, UNDP, ROG, UNEP
   FLUCHT UND MIGRATION HABEN VIELE GRÜNDE
   Auslöser von Wanderungsbewegungen, Auswahl

      Kriege und bewaffnete Konflikte – Jahresbilanz              Unfairer Zugang zu Einkommen, Gesundheit
      der Hamburger Arbeitsgemeinschaft                           und Bildung – Ungleichheitsbereinigter Index
      Kriegsursachenforschung, Stand Ende 2018                    der menschlichen Entwicklung (IHDI), Stand 2017

         24 Kriege                    landesweit                     0,7 und höher               0,5 bis unter 0,6       unter 0,4
         4 bewaffnete Konflikte       regional                       0,6 bis unter 0,7           0,4 bis unter 0,5       keine Angaben
                                                                  je niedriger der Wert, desto unfairer der Zugang

      Verstöße gegen Menschenrechte – am Beispiel des             Klimakrise, steigender Meeresspiegel, gefährdete
      Civicus-Index für zivilgesellschaftliche Offenheit und      Agrarsysteme – am Beispiel der Bodenverschlechterung,
      Freiheit, Stand 2019                                        UN-Umweltprogramm, ohne Stichjahr

                        offen               unterdrückt                                 stabil                   vegetationslos,
                        eingeschränkt       geschlossen                                 degradiert               keine Daten
                        behindert           keine Angaben                               stark degradiert

                                                                      Wo das Leben perspektivlos ist, folgen Flucht und
Einreisebestimmungen und nicht zuletzt globale ökono-            Auswanderung. Oft bleibt die Bereitschaft zur Rückkehr,
mische und ökologische Entwicklungen.                                  wenn sich die Bedingungen deutlich verbessern
    Auch verschärft die Lebens- und Produktionsweise
des globalen Nordens den Klimawandel und zerstört die
Lebensgrundlage vieler Menschen im globalen Süden.                 „Irreguläre“ Migration entsteht daher auch, weil Ka-
Nach Zahlen des Internal Displacement Monitoring Centre        pital und Güter weltweit ohne Rücksicht auf Umwelt und
(IDMC), einer Einrichtung des Norwegischen Flüchtlings-        Menschenrechte mobil sein können, während den Men-
rates, wurden zwischen 2008 und 2017 insgesamt 246,4           schen legale Flucht- und Migrationswege verweigert wer-
Millionen Menschen weltweit durch Naturkatastrophen            den. Viele Menschen verlassen ihr Land aus zwingenden
vertrieben. Allein 2017 waren es 18,8 Millionen Menschen.      Gründen wie bewaffnete Konflikte oder wegen politischer
    Naturkatastrophen gab es freilich schon immer, aber        oder religiöser Verfolgung. Sie prägen das Bild des glo-
die klimabedingte Migration nimmt zu. Hierfür haben            balen Wanderungsgeschehens, machen davon aber nur
sich die Begriffe „Umweltmigrant*innen“, „Umweltver-           einen kleineren Teil aus: Etwa 71 Millionen Flüchtlin-
triebene“ oder „Klimaflüchtlinge“ etabliert. Doch auch,        gen und Binnenvertriebenen stehen etwa 258 Millionen
wenn etwa die UN mittlerweile einige Umweltfaktoren als        Migrant*innen gegenüber.
Grund für die Flucht definiert, haben die Menschen bis-            Häufig sind Menschen aus einer Vielzahl gleichzeitig
her keine rechtlichen Ansprüche auf Schutz. Menschen,          wirksamer Gründe auf der Flucht oder in der Migration.
die in ihrer Heimat keine Überlebenschancen mehr ha-           Diese Gründe können sich mit der Zeit auch ändern. We-
ben, gelten in Europa nicht als reguläre Flüchtlinge, son-     der Entwicklungshilfezahlungen noch Rückführungen,
dern als „irreguläre“ Migrant*innen oder „Wirtschafts-         Grenzschließungen oder Kriminalisierung werden dies
flüchtlinge“.                                                  ändern.

                                                                                                                         ATLAS DER MIGRATION                                           15
FLUCHT

     SCHUTZ BEI DEN NACHBARN
     Noch nie waren so viele Menschen auf                                                             Hauptursachen dabei sind Dauerkonflikte wie jener in der
     der Flucht. Die Weltgemeinschaft versagt                                                         Demokratischen Republik Kongo, der Krieg im Südsudan
     beim Kampf gegen Kriege und Konflikte,                                                           oder die brutale Vertreibung von Rohingya aus Myanmar
     aber oft auch beim Schutz der Opfer.                                                             nach Bangladesch.
                                                                                                          Über zwei Drittel der Flüchtlinge auf der Welt kamen
                                                                                                      2017 aus nur fünf Ländern. An erster Stelle steht Syrien.

     A
              lljährlich zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni ver-                                      Nirgends wurden mehr Menschen vertrieben als dort: Seit
              öffentlichen die UN die neuen Flüchtlingszahlen.                                        Beginn des Krieges 2011 flohen 6,2 der einst rund 20 Mil-
              In sechs der vergangenen sieben Jahre gab es da-                                        lionen Einwohner*innen innerhalb des Landes. Weitere
     bei neue „Rekorde“. Die Statistik sei ein „Fieberthermo-                                         5,7 Millionen flüchteten ins Ausland. Damit kommt heu-
     meter des Weltgeschehens“, merkte das Flüchtlingswerk                                            te jede*r dritte internationale Geflüchtete aus Syrien. Aus
     UNHCR dazu an.                                                                                   Afghanistan flohen bis Ende 2017 mehr als 2,6 Millionen
         Die Zahl der Menschen, die nach Europa fliehen, ist                                          Menschen – das ist der zweithöchste Wert für ein einzelnes
     durch die Abschottung der EU-Außengrenzen zuletzt                                                Land. Es folgen Südsudan mit 2,4 Millionen und Myanmar,
     stark zurückgegangen. Doch weltweit verläuft die Ent-                                            wo 1,2 Millionen Angehörige der muslimischen Minderheit
     wicklung genau umgekehrt: 71,4 Millionen Menschen,                                               der Rohingya das Land verlassen mussten.
     schätzt das UNHCR, galten Ende 2017 als schutzbedürftig.                                             Die meisten Geflüchteten kommen nicht weit, sie
     Das sind etwa 50 Millionen mehr als im Jahr 2000 – und                                           bleiben im eigenen Land. Rund 39 Millionen der 71,4
     mehr als je zuvor. Statistisch gesehen war damit fast jeder                                      Millionen sind sogenannte Binnenvertriebene, Internal-
     hundertste Mensch der Welt entweder im eigenen Land                                              ly Displaced Persons genannt. Anders als die überhitzte
     vertrieben, suchte Asyl, war als Flüchtling anerkannt oder                                       Debatte in Europa und den USA nahelegt, gelangt nur ein
     staatenlos. Allein 2016 mussten mehr als 16,2 Millionen                                          Bruchteil der Fliehenden in den Globalen Norden. 85 Pro-
     Menschen fliehen, im Schnitt 44.000 Menschen täglich.                                            zent der internationalen Flüchtlinge werden von Ländern
     Über die Hälfte der vom UNHCR registrierten Flüchtlinge,                                         des Südens aufgenommen.
     52 Prozent, sind Kinder.                                                                             Bei den Aufnahmeländern liegt die Türkei seit einiger
         Diese Zahlen belegen vor allem eines: das Scheitern                                          Zeit an der Spitze. 3,7 Millionen Menschen fanden hier
     der Weltgemeinschaft, wenn es darum geht, Konflikte bei-                                         Zuflucht, die meisten davon aus Syrien. Es folgt Pakistan
     zulegen. Denn die meisten dieser Menschen fliehen der-                                           (1,4 Millionen Aufgenommene), auch wenn die Regierung
     zeit vor Kriegen oder bewaffneten Auseinandersetzungen.                                          begonnen hat, afghanische Geflüchtete des Landes zu
                                                                                                      verweisen. Nach Uganda kamen rund 1,1 Millionen Men-
                                                                                                      schen aus der benachbarten Demokratischen Republik
                                                                                                      Kongo und dem gleichfalls angrenzenden Südsudan. Der
        ANSTIEG OHNE UNTERBRECHUNG
        Zahl der Schutzbedürftigen in Millionen
                                                                                                      Bürgerkrieg im eigentlich fruchtbaren Südsudan hatte
        und Zusammensetzung nach Status                                                               eine drastische Nahrungsmittelkrise zur Folge, was ein-
         80                                                                                           mal mehr zeigt, wie eng Krieg und Armut als Fluchtursa-
                      Geflüchtete                                71,4                                 chen miteinander verzahnt sind.
                      Asylbewerber*innen
         70
                      Binnenvertriebene                                                                   Deutschland lag Ende 2017 mit 970.000 Aufgenom-
                      Rückkehrer*innen                                                                menen weltweit auf Platz sechs. Der UNHCR zählt dabei
         60
                      unter Schutz                                                                    diejenigen nicht hinzu, deren Asylverfahren noch laufen
                      Staatenlose
         50
                      andere
                                                                                                      oder die nur geduldet sind. Diese eingerechnet, käme
                                                                                                      Deutschland auf etwa 1,3 Millionen und würde an Iran
         40
              33,9                                                                                    und Libanon vorbei auf Platz vier ziehen.
         30
                                                                                                          Im Verhältnis zur Bevölkerungszahl sieht es für
                                                                                                      Deutschland anders aus. Mit 11,6 Aufgenommenen je
                                                                        ATLAS DER MIGRATION / UNHCR

         20                                                                                           tausend Einwohner*innen ist das Land im weltweiten

         10

         0                                                                                            Die Zahl der Geflüchteten, die vom UN-
               2010    2011   2012   2013   2014   2015   2016   2017                                 Flüchtlingshilfswerk erfasst werden,
                                                                                                      hat sich in acht Jahren mehr als verdoppelt

16   ATLAS DER MIGRATION
FLUCHT, VERTREIBUNG UND RECHTLOSIGKEIT IN ALLER WELT
   Länder mit über 500.000 registrierten Schutzbedürftigen,
   nach Status, 1.000 Personen, 2018
                                                                                                                                 7.187
                                                                            3.923
                                                                                        994  752         617
                                                                           Türkei Libanon Jordanien Aserbaidschan Syrien
                                                           1.430
                                                       Deutschland     1.845

                           Geflüchtete                               Ukraine
   957                                                                                                    2.537
                           Asylbewerber*innen
   USA
                           Binnenvertriebene
                                                                                              979      Afghanistan
                           Staatenlose
                           andere                                                             Iran
                                                 2.159              2.927                                1.580               862
                                                               619                  2.964
                                                                                                                          Myanmar
                                                Südsudan     Tschad Sudan                      2.405    Pakistan   943
                                                                                    Irak
           7.872                         695                                                                  Bangladesch
                                                                                              Jemen
                                    Elfenbeinküste
                                                                                                                            583
         Kolumbien                                                                                                        Thailand
                                       2.191                                                               2.941
                                                        590                                    2.128
                                      Nigeria         Kamerun

                                                                                                                                          ATLAS DER MIGRATION / UNHCR
                                                                                              Äthiopien Somalia
                                                782                            1.334
                                                                                          508
                                        Zentralafr. Rep.           5.238       Uganda   Tansania

                                                                DR Kongo

                                                                                         Die meisten Geflüchteten und Vertriebenen
Vergleich keineswegs von großer Aufnahmebereitschaft                                leben in oder am Rande von Kriegsgebieten und
geprägt. Ein wesentlich weniger wohlhabendes Land wie                                             Zonen mit bewaffneten Konflikten
Libanon nahm 164 Menschen je tausend Einwohner*in-
nen auf, der weltweit höchste Wert. In Jordanien sind es
71, in der Türkei 43. In Europa ist Schweden das Land, das            auf der Liste der Prioritäten stehen die Langzeitflüchtlin-
relativ gesehen die meisten Menschen aufnimmt: knapp                  ge, die oft schon länger als ein Jahrzehnt in Lagern leben
24 Menschen je tausend Einwohner*innen.                               müssen. Dazu gehören etwa jene Menschen, die vor der
    An der Wirtschaftsleistung gemessen, leben die meis-              Gewalt islamistischer Milizen aus Somalia nach Kenia flo-
ten Flüchtlinge in Südsudan, Uganda, Tschad und Niger.                hen und dort kaum eine Perspektive haben. Schon mit we-
Solche Länder können die Geflüchteten nicht ausrei-                   nig Mitteln ließe sich die Situation deutlich verbessern –
chend versorgen. Sie sind darauf angewiesen, dass die                 wenn nur der politische Wille vorhanden wäre.
internationale Gemeinschaft sie unterstützt. Doch diese
versagt nicht nur dabei, Krisen beizulegen, sondern auch
dabei, ihre Folgen zu bewältigen. Beispielsweise geht
                                                                                                                                          ATLAS DER MIGRATION / UNHCR

                                                                           RELATIVE AUFNAHMEBEREITSCHAFT
die immense Zahl der Geflüchteten aus Syrien ab 2014                       Zahl aufgenommener Geflüchteter im Verhältnis
auch darauf zurück, dass die Lebensmittelhilfen für das                    zur Gesamtbevölkerung, 2018
UN-Welternährungsprogramm (WFP) gekürzt wurden; es
hängt maßgeblich von freiwilligen Zuwendungen der Re-
gierungen ab. Staaten der EU waren erheblich daran be-                              Libanon 1 : 6             Jordanien 1 : 13

teiligt, dass die Hilfen nicht mehr gewährt wurden.
    Alle humanitären Hilfswerke klagen heute darüber,
                                                                                                 Türkei 1 : 21
dass die Nothilfe für Geflüchtete stark unterfinanziert ist.
Die ohnehin schon belastende Fluchterfahrung wird da-
durch für viele Menschen lebensbedrohlich. Ganz unten

               Im Vergleich zur Zahl der Einwohner*innen                                             Deutschland 1 : 58
     haben die Nachbarländer Syriens ein Vielfaches mehr
          an Geflüchteten aufgenommen als Deutschland

                                                                                                                          ATLAS DER MIGRATION                           17
VISA

     GRENZEN DER REISEFREIHEIT
     Grenzenloses Reisen ist innerhalb der EU                                                 gehörige dürfen nur in fünf andere Länder ohne ein Vi-
     selbstverständlich. Der richtige Pass                                                    sum einreisen. In weiteren 25 können sie ein Visum bei
     macht es auch möglich, weltweit frei                                                     Einreise erhalten, aber für 168 Länder müssen sie eines
     unterwegs zu sein. Doch wer ihn nicht hat,                                               beantragen.
                                                                                                  Das „Global Passport Power Ranking“ 2019, das die
     merkt schnell, dass der Geldbeutel
                                                                                              Bedeutung der Staatsangehörigkeit für die Bewegungs-
     über die Bewegungsfreiheit entscheidet.
                                                                                              freiheit misst, sieht Deutschland mit Dänemark und
                                                                                              Italien auf Rang vier von 199 Ländern und Gebieten.

     D
              ie Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ge-                                  Deutsche genießen also weltweit die beinahe größte
              währt jedem Menschen das Recht, sich innerhalb                                  Freiheit bei der Mobilität. Umgekehrt ist die Einreise
              eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufent-                                nach Deutschland ohne Visum nur für Angehörige der
     haltsort frei zu wählen. Auch steht es jedem Menschen                                    anderen 27 EU-Länder, der 5 EU-Beitrittskandidaten und
     frei, jedes Land einschließlich des eigenen zu verlassen                                 von 67 weiteren Staaten möglich, vor allem aus Amerika
     und in sein Land zurückzukehren. Es gibt also ein glo-                                   oder wichtigen politischen und Wirtschaftspartnern wie
     bal anerkanntes Menschenrecht, sich frei innerhalb des                                   Japan oder die USA. Doch Bürger*innen von insgesamt
     eigenen Landes zu bewegen, niederzulassen und auszu-                                     105 Staaten müssen ein meist sehr aufwendiges und vor
     wandern. Eingehalten wird es nicht überall – China oder                                  allem kostspieliges Visaverfahren durchlaufen, selbst
     Tunesien etwa beschränken dieses Recht.                                                  dann, wenn sie nur einen kurzen Besuch in Deutschland
         Was es jedoch nicht gibt, ist das unbeschränkte Recht                                machen wollen.
     auf Einreise in ein anderes Land. Nationalstaaten kontrol-                                   Dabei müssen die Antragsteller*innen ihr Privatleben
     lieren vielmehr den Zugang zu ihrem Territorium, indem                                   offenlegen, Informationen über Dritte preisgeben und
     sie Visa erteilen oder ablehnen, also mit Einreiseerlaub-                                Fragen beantworten: Wie viel Geld ist auf Ihrem Konto?
     nissen. Daraus ergeben sich enorme globale Ungleichhei-                                  Was wollen Sie in Deutschland? Wer ist hier Ihr Arbeitge-
     ten. Wer einen deutschen Pass vorweisen kann, darf in
     127 Länder ohne Visum einreisen, in weiteren 40 Ländern
     wird ein Visum bei Einreise ausgestellt, und nur für 31                                                        „Goldene Visa“ in der EU, eigentlich zur
     Staaten muss vor der Reise ein Visum beantragt werden.                                           Wirtschaftsförderung gedacht, dienen Wohlhabenden
     Am Ende der Skala liegt Afghanistan. Dessen Staatsan-                                                               zur beschleunigten Einwanderung

        EINGANG FÜR REICHE
        EU-Länder, die „Goldene Visa“ gegen Investitionen, den Kauf von Staatsanleihen und Grundstücken ausgeben,
        sowie das dafür ins jeweilige Land geflossene Kapital im Jahresdurchschnitt 2012–2017*, Zahl der erteilten
        Staatsbürgerschaften oder Niederlassungsgenehmigungen sowie die beiden jeweils wichtigsten Herkunftsländer

              Kapitalzufluss durch die Visa-                         erteilte Staatsbürgerschaften                       aus       China        Russland
           43 verkäufe pro Jahr, in Millionen Euro                   und Niederlassungsgenehmigungen                               USA          Brasilien

             303              312             1.290
                                                                                                                                                            24.755
                              25                  43
         Österreich         Bulgarien           Irland
                                                                                                                                             19.838
                                                                                                                       17.521
                                                                                                    17.342
                                                                           10.445
                                                      7.565

                             914 3.336                                                                                                                      976
                                                                                                                                                                      ATLAS DER MIGRATION / TI, GW

              2.027

           205                                         250
                                                                              498                                      670                   434
                                                                                                      180
         Malta               Zypern             Griechenland            Großbritannien             Lettland           Portugal               Ungarn         Spanien
        * Einige Werte seit 2010 und/oder bis 2018. Frankreich, Luxemburg, Niederlande: keine Angaben. Österreich: Angaben unvollständig.
          Zahlen enthalten teilweise Familienangehörige. Zypern, Malta: keine Angaben über Herkunftsländer

18   ATLAS DER MIGRATION
ber? Wer hat Sie eingeladen? Wo werden Sie wohnen? Wer
                                                                 GLOBALE MOBILITÄT – ODER AUCH NICHT
trägt die Kosten des Aufenthaltes? Und vor allem: Werden         Reisefreiheit dank Nationalität und Reisepass, 2019
Sie nach Ablauf des Visums das Land wieder verlassen?
    Wenn die Behörde nicht an die „Rückkehrbereitschaft“
glaubt, wird der Antrag abgelehnt. Die Visaabteilung hat         In wie viele Länder* kann ein*e Bürger*in dieses Landes
hier freie Hand. Weder gelten verbindliche Kriterien noch        ohne Visaantrag einreisen?
gibt es eine Möglichkeit zu widersprechen. In diesem Ver-              30–70        71–100        101–140                141–172
fahren bleibt viel Raum für willkürliche Diskriminierung
und Korruption. So wurden in deutschen Botschaften in
Afrika, Südamerika und Osteuropa zwischen 2008 und
2010 Visa gegen Bestechungsgelder ausgestellt. Und 2018
wurde bekannt, dass Botschaftsmitarbeiter*innen im Li-
banon wegen extremer Wartezeiten für die Visaantragstel-
lung kurzfristige Termine verkauft hatten.
    Insgesamt stellten die deutschen Botschaften im Jahr
2017 rund 2,2 Millionen Visa aus. Etwa 205.000 Anträge
wurden abgelehnt. Diese negativen Bescheide waren sehr
ungleich verteilt. 2016 lag ihre Quote in den USA bei knapp
                                                                                              * Kleinstaaten nicht markiert
1,3 Prozent, in der Türkei bei 7 Prozent. In Nigeria hatten 41
Prozent aller Anträge auf ein Visum keinen Erfolg.
    Für viele Menschen stellen schon die Kosten eine un-
                                                                 In welche Länder dürfen Deutsche unter welchen
überwindliche Hürde dar. Wer in Deutschland studieren            Bedingungen einreisen?
möchte und deshalb einen Antrag stellt, muss derzeit in
                                                                       frei, keine Visumpflicht
der Regel einen Betrag von 8.800 Euro auf ein Sperrkonto               Visum bei Einreise
einzahlen, von dem erst in Deutschland etwas abgehoben                 Onlinedokument* vorab
werden kann. Das soll den Lebensunterhalt für mindes-                  Vorabvisum im Pass
tens ein Jahr garantieren. Angesichts der Löhne in Län-
dern Afrikas oder des Nahen Ostens ist eine solche Sum-
me für viele kaum aufzubringen. Die Möglichkeit, den
Aufenthalt mit Arbeit in Deutschland zu finanzieren, wird
ihnen durch diese Regelung genommen.
    Das wohl drastischste Beispiel dafür, dass der Geld-
beutel maßgeblich über den Grad der Bewegungsfreiheit
entscheidet, sind die sogenannten Goldenen Visa. Sie ge-
hen an Ausländer*innen, die im Zielland Geld in einer be-
stimmten Höhe investiert haben. Nach einer Zählung der
Anti-Korruptions-NGO Transparency International von
                                                                                              * u. a. eVisa, ESTA, eTA
2018 haben weltweit über 20 Länder solche Programme;
die 14 europäischen liegen allesamt in der EU. Griechen-
land beispielsweise vergibt Visa für den Erwerb von Im-
mobilien im Wert von mindestens 250.000 Euro.                    Aus welchen Ländern darf eine Person ohne Visaantrag
    Deutschland kennt eine ähnliche Regelung, die aller-         in Deutschland einreisen? Von wo herrscht Visapflicht?
dings nicht als Goldene Visa eingestuft wird. Seit 2004                ohne Visum        mit Visum
kann ein Investorenvisum erhalten, wer eine größere
Summe in ein eigenes Unternehmen in Deutschland in-
vestiert, das „sicher finanziert“ und „tragfähig“ ist. An-
fangs galt ein Betrag ab 250.000 Euro, heute wird ein
                                                                                                                                   ATLAS DER MIGRATION / PASSPORTINDEX.ORG

substanzieller Vorteil für den Wirtschaftsstandort erwar-
tet. Verläuft das Projekt erfolgreich und sichert es den
Lebensunterhalt, lockt nach drei Jahren eine unbefristete
Niederlassungserlaubnis.

          Bei den vielen Einschränkungen der Reisefreiheit
               ist nur ein Prinzip zu erkennen: Je ärmer das
          Ausreiseland, desto restriktiver das Einreiseland

                                                                                                                   ATLAS DER MIGRATION                                       19
ARBEITSMIGRATION

     ZWISCHEN BEDARF UND BARRIERE
     In den Zielländern ist Arbeitsmigration                                                   mische Zusammenschlüsse, etwa die EU oder die west-
     politisch umstritten. Einerseits besteht in                                               afrikanische ECOWAS zumeist auch die Freizügigkeit für
     Industrieländern eine große Nachfrage                                                     Erwerbstätige.
     nach migrantischen Arbeitskräften, sowohl                                                     Die Branchen und Sektoren, in denen Arbeits-
                                                                                               migrant*innen tätig sind, verändern sich ständig. Seit
     nach besonders qualifizierten als auch für
                                                                                               den 1970er-Jahren haben Jobs in der Industrie Westeu-
     den Niedriglohnsektor. Andererseits ist der
                                                                                               ropas stark an Bedeutung verloren. Der Strukturwandel
     Umgang mit Einwanderung oft rassistisch.                                                  hat zu Dienstleistungsgesellschaften geführt. Das wirkte
                                                                                               sich auf den Bedarf an migrantischen Arbeitskräften aus.

     A
             rbeitsmigration entsteht auf unterschiedliche                                     In den 1960er-Jahren hatte die verarbeitende Industrie
             Art und Weise. Häufig bildet sie sich zwischen                                    – etwa in der Bundesrepublik – noch einen großen Bedarf
             ehemaligen Kolonial- und denen von ihnen ko-                                      an ungelernten Arbeitskräften. Daher warben Unterneh-
     lonisierten Staaten heraus, etwa zwischen den USA und                                     men zahlreiche Menschen aus Italien, Portugal und vor
     den Philippinen oder zwischen Frankreich und dem Se-                                      allem der Türkei an. Dass solche Strategien auch heute
     negal. Auch globale Produktionsketten generieren Ar-                                      noch politisch gefördert werden, zeigen etwa die Arrange-
     beitsmigration. So arbeiten viele Bolivianer*innen in der                                 ments für die Saisonarbeit und die Werkverträge im Bau-
     Textilproduktion in São Paulo im Nachbarland Brasilien.                                   sektor, in der Landwirtschaft und in den Schlachthöfen.
     Die Bildungsmigration führt dazu, dass junge Leute nach                                       Die Zuwanderung junger und qualifizierter Arbeits-
     einem Auslandsstudium beruflich international Fuß fas-                                    migrant*innen gilt heute als Mittel, dem Fachkräfte-
     sen. Zudem ermöglichen regionale politische und ökono-                                    mangel und dem Alterungsprozess in Westeuropa ent-
                                                                                               gegenzuwirken. Dennoch verhindern Regulierungen der
                                                                                               Berufsstände und der Politik in vielen Fällen, dass aus-
                                                                                               ländische Hochschul- und Berufsabschlüsse anerkannt
        ABSTIEG IM AUSLAND
        Hochqualifizierte Frauen (z. B. mit abgeschlossenem
                                                                                               werden. Viele Betroffene sehen sich gezwungen, eine Be-
        Studium) in Berufen mit mittlerer oder niedriger                                       schäftigung aufzunehmen, die unter ihrer Qualifizierung
        Qualifikation, 15- bis 64-Jährige, Länderauswahl, 2017,                                liegt. „Deskilling“ heißt dieser Prozess. Daher sind etwa
        in Prozent                                                                             mittelost- und osteuropäische Lehrerinnen oder Ärztin-
                                           im Ausland Geborene                                 nen häufig in der Haushaltsarbeit oder Pflege anzutreffen.
          Saudi-Arabien    11,8 18,9       im Inland Geborene                                  Weltweit arbeiten überwiegend Frauen in diesen Bran-
                                                                                               chen, weil angenommen wird, dass sie qua Geschlecht
          Frankreich                   32,3 22,7                                               über sogenannte Care-Kompetenzen verfügen.
                                                                                                   Im Fall von Geflüchteten ist die Aufnahme einer Ar-
          Australien                   32,4 22,5                                               beit mit vielfältigen rechtlichen und sozialen Hindernis-
                                                                                               sen verbunden. Die Genfer Flüchtlingskonvention besagt
          Türkei                       33,6 28,5                                               zwar, dass Flüchtlinge, die sich legal in einem Staat auf-
                                                                                               halten, ein Recht auf abhängige oder selbstständige Be-
                                                                                               schäftigung haben. Doch nach dem „Global Refugee Work
          Mexiko                        33,7 31,9
                                                                                               Rights Report“ sind Geflüchtete in 7 der untersuchten 15
                                                                                               Hauptaufnahmeländer von der legalen Arbeitsaufnahme
          Deutschland                   35,0 16,9
                                                                                               ausgeschlossen. In manchen Staaten gibt es zudem wei-
                                                                                               tere Hürden: hohe Gebühren und komplizierte bürokra-
          USA                             37,4 32,6
                                                                                               tische Prozesse auf dem Weg zur Arbeitsgenehmigung,
                                                                                               Sprachbarrieren, die Auflage, in einem Lager zu wohnen,
          Italien                          53,4 20,1                                           und nicht zuletzt auch rassistische Diskriminierung bei
                                                                  ATLAS DER MIGRATION / OECD

                                                                                               der Arbeitssuche.
          Griechenland                              61,8 29,5

          Südkorea                         64,7 53,0                                           Bei Migrantinnen ist die berufliche Diskriminierung
                                                                                               und die Beschäftigung unterhalb der Qualifikation
                                                                                               noch viel höher als bei im Inland geborenen Frauen

20   ATLAS DER MIGRATION
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