MIGRATION ATLAS DER - FLUCHT, ARBEIT, ZUKUNFT - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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IMPRESSUM Der ATLAS DER MIGRATION ist ein Projekt der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Projektleitung: Johanna Bussemer, Dorit Riethmüller Redaktion: Christian Jakob (Koordination), Stefanie Kron, Wenke Christoph Projektmanagement: Dietmar Bartz Art-Direktion und Herstellung: Ellen Stockmar Textchefin: Elisabeth Schmidt-Landenberger Dokumentation und Schlussredaktion: Infotext Berlin Mit Originalbeiträgen von Fritz Burschel, Wenke Christoph, Johanna Elle, Sabine Hess, Christian Jakob, Bernd Kasparek, Stefanie Kron, Laura Lambert, Ramona Lenz, Carlos Lopes, Sowmya Maheswaran, Johanna Neuhauser, Mario Neumann, Jochen Oltmer, Maria Oshana, Massimo Perinelli, Maximilian Pichl, Matthias Schmidt-Sembdner, Helen Schwenken, Maurice Stierl, Christian Stock und ein Autor*innenkollektiv Cover: Ellen Stockmar Die Beiträge geben nicht notwendig die Ansicht der Rosa-Luxemburg-Stiftung wieder. V. i. S. d. P.: Alrun Kaune-Nüßlein, Rosa-Luxemburg-Stiftung 1. Auflage, Juni 2019 Druck: Bonifatius GmbH Druck – Buch – Verlag, Paderborn Klimaneutral gedruckt auf 100 % Recyclingpapier Dieses Werk mit Ausnahme des Coverbildes steht unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung –4.0 international“ (CC BY 4.0). Der Text der Lizenz ist unter https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/legalcode abrufbar. Eine Zusammenfassung (kein Ersatz) ist unter https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de nachzulesen. Sie können die einzelnen Infografiken dieses Atlas für eigene Zwecke nutzen, wenn der Urhebernachweis „Bartz/Stockmar, CC BY 4.0“ in der Nähe der Grafik steht, bei Bearbeitungen „Bartz/Stockmar (M), CC BY 4.0“. ATLAS OF MIGRATION Facts and figures about people on the move ADRESSE ZUR KOSTENFREIEN BESTELLUNG UND ZUM DOWNLOAD Rosa-Luxemburg-Stiftung, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin www.rosalux.de/atlasdermigration ESCAPE, Der ATLAS DER MIGRATION erscheint als ATLAS OF MIGRATION auch auf Englisch. WORK, FUTURE www.rosalux.de/atlasofmigration
INHALT 02 IMPRESSUM 18 VISA GRENZEN DER REISEFREIHEIT 06 VORWORT Grenzenloses Reisen ist innerhalb der EU selbstverständlich. Der richtige Pass macht es auch möglich, weltweit frei unterwegs zu sein. Doch wer ihn nicht hat, merkt schnell, dass der Geldbeutel über die Bewegungsfreiheit entscheidet. 08 12 KURZE LEKTIONEN ÜBER DIE WELT DER MIGRATION 20 ARBEITSMIGRATION ZWISCHEN BEDARF UND BARRIERE 10 GESCHICHTE In den Zielländern ist Arbeitsmigration MENSCHHEIT IN BEWEGUNG politisch umstritten. Einerseits besteht in In den letzten Jahrhunderten haben Industrieländern eine große Nachfrage nach Kolonialismus, Unterdrückung und Armut migrantischen Arbeitskräften, sowohl nach dafür gesorgt, dass Millionen Menschen besonders qualifizierten als auch für den ihre Heimat verließen. Das Ende ihrer Niedriglohnsektor. Andererseits ist der riskanten Reise bedeutete für die einen Umgang mit Einwanderung oft rassistisch. ein besseres Leben, für die anderen Sklav*innenarbeit über Generationen. 22 ABWANDERUNG GELD AUS DER FERNE 12 MOBILITÄT Migration und Entwicklung gehören ALTE UND NEUE ZIELE zusammen. Für die Herkunftsländer Arbeit, Selbstbestimmung und Sicherheit überwiegen die wirtschaftlichen Vorteile. gehören zu den Haupttriebkräften der Vor allem die Abwanderung von Fachkräften Migration. Sie wandelt sich, beschleunigt wird überschätzt. Doch viele von durch billige Flugtickets und Smartphones ihnen würden zurückkommen, wenn es für den Kontakt mit der Heimat. Doch auch auch daheim attraktive Arbeitsplätze gäbe. die alten Wanderungskorridore gibt es noch. 24 GENDER 14 MOTIVE DIE WELT MOBILER FRAUEN DRUCK UND REIZ Ob auf der Arbeit oder auf der Flucht – bei Es gibt sehr verschiedene Gründe, weshalb der Suche nach einem besseren Leben ein Mensch sein Land verlassen will. Nicht sind Frauen von Gewalt und Diskriminierung immer sind es schlechte Lebensbedingungen. bedroht. Um sich zu wehren, brauchen Die Wahl des Zieles wird ebenfalls von vielen sie mehr Rechte. Faktoren beeinflusst. 26 EINWANDERUNGSGESETZE 16 FLUCHT DIE NÜTZLICHKEIT DER ANDEREN SCHUTZ BEI DEN NACHBARN Die Migrationspolitik vieler Industrieländer Noch nie waren so viele Menschen auf der stellt die wirtschaftlichen Interessen an Flucht. Die Weltgemeinschaft versagt Einwanderung in den Vordergrund. Die beim Kampf gegen Kriege und Konflikte, Rechte von Migrierenden und Geflüchteten aber oft auch beim Schutz der Opfer. werden diesem Ziel untergeordnet. 4 ATLAS DER MIGRATION
28 KONTROLLE 40 GEWALT DRUCK AUF DIE ARMEN SCHRECKEN DES ALLTAGS Vor allem in Afrika will die EU die Migration Die Entdeckung der Terrorgruppe schon in den Herkunfts- und Transitländern NSU zeigte, wie falsch Ermittlungsbehörden unterbinden. Entwicklungsprogramme und Geheimdienste überall in über viele Milliarden Euro sollen nun auch Deutschland mit rechtsradikalen der Migrationsverhinderung dienen. Gewalttätern*innen umgegangen waren. In einem Klima der Straffreiheit hat sich 30 GRENZEN eine gewalttätige Naziszene etabliert. STREIT HINTER DEN MAUERN DER FESTUNG EUROPA 42 SELBSTORGANISATION Das Asylsystem der EU funktioniert nicht. IM EIGENEN NAMEN Die Ankunftsländer im Süden sind überfordert. Zu den wichtigsten Zielen organisierter Doch viele ihrer Regierungen wollen keine Migrant*innen gehört der Kampf Aufteilung nach Quoten. Stattdessen um das Bleiberecht. Sie wollen Kritik werden die Barrieren nach Afrika und in die an den politischen Verhältnissen Türkei vorverlagert. äußern, sich gegenseitig unterstützen und ihre materielle Lage verbessern. 32 MITTELMEER DIE TÖDLICHSTE GRENZE DER WELT 44 SOLIDARITÄT DER STÄDTE Jahr für Jahr ertrinken Tausende von LÖSUNGEN VOR ORT Migrant*innen im Mittelmeer oder kommen Netzwerke aus Städten und kommunalen schon auf dem Weg zur Küste ums Leben. Initiativen wollen die Lage ihrer Doch die EU-Länder verhindern jede migrantischen Bevölkerung verbessern – effektive Seenotrettung. Auch das Sterben in vom Schutz vor Abschiebungen der Sahara geht weiter. bis zum Alltagsleben unabhängig von der Staatsbürgerschaft. 34 ABSCHIEBUNGEN WENN DIE UHR TICKT 46 ZIVILGESELLSCHAFT Am Ende eines gescheiterten Asylverfahrens NEUE GENERATIONEN DER drohen die Behörden eine Abschiebung SOLIDARITÄT an. Sie kann mit Zwangsmitteln durchgesetzt Die Grenze zwischen politischer werden, für die Betroffenen oft eine Solidarität und humanitärer traumatische Erfahrung. Flüchtlingshilfe verschwimmt. Über die gemeinsamen Ziele, etwa 36 INTEGRATION Abschiebungen zu verhindern, verbinden GUT FÜR ALLE sich unterschiedliche Aktivist*innen. In Deutschland wird viel über Integration, aber wenig über die Rechte von Migrant*innen gesprochen. Der Aufgabe des Zusammen- lebens müssen sich aber alle stellen. 38 RECHTSPOPULISMUS POLITIK MIT DER ANGST Keine Strömung des rechten politischen Spektrums verzichtet darauf, Migration als Bedrohung für die eigene Kultur und Gesellschaft zu dämonisieren. Die Hetze gegen Einwander*innen 48 AUTORINNEN UND AUTOREN, verfängt bei denen am besten, die den QUELLEN VON DATEN, KARTEN wenigsten Kontakt zu ihnen haben. UND GRAFIKEN ATLAS DER MIGRATION 5
VORWORT MIGRATION – EIN der Migration sind die der „Ströme“, UMKÄMPFTES „Wellen“ und „Fluten“. Sie haben allesamt die Tendenz, Migration als MENSCHENRECHT etwas Bedrohliches erscheinen zu lassen und die tatsächlich Migrierenden unsichtbar zu machen. M igration gab es schon immer, W sie ist die „Mutter aller ir wollen das Thema Migration Gesellschaften“. Die Mobilität von einer anderen Seite von Menschen, auch über Landes- zeigen, um eine politische und Seegrenzen und sogar über Veränderung anzustoßen. Durch Kontinente hinweg, ist so alt wie die einen mit vielen Zahlen und Grafiken Menschheit selbst. Wenige Staaten auf unterstützten Blick auf Migration wollen der Welt hätten ihre aktuelle Gestalt wir zu einer Versachlichung der Debatte ohne jahrhundertlange Ein- und innerhalb der europäischen linken Auswanderung. Parteien und Bewegungen – aber vor allem auch darüber hinaus – beitragen. Dennoch erhitzt das Thema Migration In der europäischen Linken reicht rund um den Globus politische Debatten. das Spektrum des Meinungsdiskurses Bürger*innen, Politiker*innen, Parteien vom Paradigma der offenen Grenzen und Bewegungen bilden ihre politische bis zu Haltungen, die Migration Meinung nicht selten entlang der Frage weitgehend ablehnen und oft auf der Migration und der Politiken des der Annahme einer Konkurrenz der Umgangs mit ihr. Entsprechend groß besonders Schwachen in europäischen und wirkmächtig sind die Mythen, Gesellschaften beruhen. Das positive Legenden, Geschichten und Bilder, die Bild einer offenen Gesellschaft mit rund um das soziale Phänomen der genug Ressourcen in allen Bereichen Migration entstanden sind und weiterhin des Lebens für alle und das negative entstehen. Dies zeigt sich in der Art, Bild von Gesellschaften, in denen von wie über Migration gesprochen und wie vielen Seiten und untereinander um sie dargestellt wird: Die bekanntesten diese Ressourcen gekämpft werden sprachlichen und visuellen Bilder muss, stehen sich scheinbar unvereinbar 6 ATLAS DER MIGRATION
gegenüber. Bei den Europawahlen die Rechte von Einwanderer*innen 2019 konnten rechte, rechtspopulistische und Geflüchteten. Gemeinsam mit und rechtsextreme Kräfte von der Nicht-Migrierten sind so in Europa Angst vieler Menschen vor sozialem und der Welt ungezählte Bewegungen Abstieg profitieren und sich vor der Solidarität gegen Abschiebungen, allem durch nationalistische und Xenophobie und Rechtspopulismus migrationskritische Politiken profilieren. sowie für das Recht auf soziale und Mit den Positionen vieler Parteien, kulturelle Teilhabe, würdige Arbeit, die bei den Europawahlen Zugewinne angemessenes Wohnen, Bildung und verzeichnen konnten, werden Gesundheit entstanden. Migrant*innen in Europa soziale Rechte M abgesprochen. igration hat viele Realitäten und Facetten. Dieser Atlas D ieser Atlas will dementsprechend wirbt für einen differenzierten den Blick auf Migration und Umgang und eine Anerkennung von ihre Akteur*innen verändern. Fakten. Im derzeitigen gesellschaftlichen Die Zahlen und Fakten zeigen, dass Klima ist Mut erforderlich, sich diesem Migration, gleichwohl sie in allen Thema unaufgeregt und informiert Teilen der Welt stattfindet, weder zuzuwenden – und anzuerkennen, ein Bedrohungspotenzial für die dass Einwanderung unsere Gesellschaften der Zielländer noch Gesellschaften im demokratischen für jene der Herkunftsländer birgt. Sinne pluralisiert. Denn wir leben Stattdessen profitieren Gesellschaften in postmigrantischen Gesellschaften, weltweit nicht nur von kultureller in denen die Bewegungsfreiheit Vielfalt, sondern auch oft ökonomisch von Menschen und der Schutz von Migration. von Geflüchteten als Menschenrechte gelten sollten. Doch Migrierende sind nicht nur Opfer. Im Gegenteil: Sie nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand. Dies Die Herausgeber*innen Florian Weis, Johanna Bussemer, zeigen die Beiträge zu Kämpfen der Christian Jakob, Wenke Christoph, Stefanie Kron, Migration – gegen Rassismus und für Dorit Riethmüller, Franziska Albrecht ATLAS DER MIGRATION 7
12 KURZE LEKTIONEN ÜBER DIE WELT DER MIGRATION 1 2 Menschen sind schon immer Immer mehr Menschen gehen gewandert. Die GESCHICHTE heute zum Arbeiten und der Menschheit ist auch eine Leben in andere Länder. Meist Geschichte von Migration. Jede ziehen sie in große STÄDTE. Doch moderne GESELLSCHAFT und jeder obwohl es nie mehr Migrant*innen Staat sind heute ein Ergebnis von gab als heute, ist ihr ANTEIL an der MOBILITÄT. Weltbevölkerung SEHR KLEIN. 3 Migrant*innen arbeiten häufig als SELBSTSTÄNDIGE oder nehmen SCHLECHT BEZAHLTE Arbeit an – auch, weil ihnen SOZIALLEISTUNGEN VERWEHRT werden. Sie tragen zur wirtschaftlichen Entwicklung und so zum WOHLSTAND aller bei. 4 5 GUT AUSGEBILDETE Die EU versucht heute schon MENSCHEN gehen aus armen weit VOR IHREN EIGENEN Ländern oft ins Ausland. Dort GRENZEN Migrant*innen zu können sie mehr verdienen. Weil sie stoppen. Dafür nimmt sie schwere meist viel GELD ZURÜCKSCHICKEN Menschenrechtsverletzungen in und teils auch besser qualifiziert Kauf. Vor allem in Afrika können sich ZURÜCKKEHREN, ist Migration auch Menschen deshalb nicht mehr überall für Entwicklungsländer gut. FREI BEWEGEN. 6 Menschen aus dem globalen Norden bekommen leicht VISA. Sie dürfen fast überall UNGEHINDERT reisen und können in viele Länder auswandern. Umgekehrt wird diese Bewegungsfreiheit den meisten anderen Menschen auf der Welt VERWEIGERT. 8 ATLAS DER MIGRATION
7 Für arme Menschen und eine Rekordzahl von Flüchtlingen gibt es KEINE LEGALEN WEGE der Migration. Oft müssen sie Schlepper*innen Geld bezahlen, um über Grenzen zu gelangen. Auf diesen sehr GEFÄHRLICHEN Routen STERBEN viele Menschen. 8 9 Wo Migrant*innen ankommen, RASSISMUS ist keine werden sie oft DISKRIMINIERT. Folge von Migration. Ob Sie bekommen dann weniger eingewanderte Minder- Lohn, schlechtere Wohnungen heiten angefeindet oder verfolgt oder schlechtere Bildungschancen. werden, hängt vor allem Das hält oft VIELE JAHRE an. davon ab, ob Migration als etwas Auch ihre Kinder und Enkel*innen NORMALES akzeptiert oder gelten teils noch als „FREMD“. als BEDROHUNG gesehen wird. 10 Immer mehr FRAUEN UND MÄDCHEN migrieren heute allein – weil sie vor Gefahren fliehen, mehr verdienen, ihr LEBEN FREIER gestalten oder ihren Familien helfen wollen. Auf ihrem Weg brauchen sie besonderen SCHUTZ. 11 12 Die ARBEITSLEISTUNG Eine Gesellschaft, von Migrant*innen wird in der Einheimische in Anspruch genommen, und Zugewanderte aber um ihre RECHTE müssen sie miteinander leben, ist oft kämpfen. Von diesen Kämpfen der NORMALFALL, nicht die können auch andere profitieren – Ausnahme. Die Grundlage etwa einheimische Arbeiter*innen, dafür ist SOLIDARITÄT – die wenn sich alle gemeinsam gegen Bereitschaft zu teilen. Ausbeutung wehren. ATLAS DER MIGRATION 9
GESCHICHTE MENSCHHEIT IN BEWEGUNG In den letzten Jahrhunderten haben In Europa wuchs im 19. Jahrhundert die Zahl der Men- Kolonialismus, Unterdrückung und Armut schen rapide an, die dem Kontinent den Rücken kehrten. dafür gesorgt, dass Millionen Menschen Der kleinere Teil dieser Wandernden zwischen den Konti- ihre Heimat verließen. Das Ende ihrer nenten ging über Land und siedelte sich vornehmlich in den asiatischen Gebieten des Russischen Reiches an. Der riskanten Reise bedeutete für die einen weit größere Teil überwand die maritimen Grenzen Euro- ein besseres Leben, für die anderen pas: Von den 55 bis 60 Millionen Menschen, die zwischen Sklav*innenarbeit über Generationen. 1815 und 1930 nach Übersee zogen, gingen mehr als zwei Drittel nach Nordamerika. Rund ein Fünftel wanderte M enschheitsgeschichte ist Migrationsgeschichte. nach Südamerika ab. Etwa sieben Prozent erreichten Aus- Menschen sind keineswegs erst in der Moderne tralien und Neuseeland. In ihren Siedlungsgebieten ver- mobil geworden. Sie überwanden bereits weite änderte sich die Zusammensetzung der Bevölkerung – es Distanzen, bevor es die heutigen Massenverkehrsmit- entstanden „Neu-Europas“. tel gab. Ein Mythos ist auch die Vorstellung, in der Ver- Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, auf gangenheit sei Migration immer von Dauer gewesen. dem Höhepunkt der Auswanderung, begann zugleich die Tatsächlich kennzeichnen Rückwanderung, saisonale Geschichte Europas als Einwanderungskontinent, zu dem Bewegung und Fluktuation die lokalen, regionalen und er sich dann nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig wan- globalen Wanderungsverhältnisse in Vergangenheit wie delte. Viele Menschen kamen aus den ehemaligen Koloni- Gegenwart. en vor allem in Städte wie London, Paris oder Brüssel. Der Von globaler Migration, also von Mobilität über die Wirtschaftsaufschwung in Westeuropa nach dem Zweiten Grenzen der Kontinente hinweg, kann erst seit Beginn Weltkrieg führte dazu, dass die dortigen Regierungen so- des Kolonialismus gesprochen werden. Ein wichtiger genannte Gastarbeiter*innen in Südeuropa anwarben, die Faktor war dabei der Sklav*innenhandel. Zehn bis zwölf später ihre Familien nachholten. Bis zur Öffnung des Ei- Millionen Menschen wurden vom 16. Jahrhundert an aus sernen Vorhangs 1989 flohen oder übersiedelten auch vie- Afrika nach Europa und Amerika verschleppt. In Ostafri- le Menschen aus den Ländern des damaligen Ostblocks in ka gerieten ab dem 18. Jahrhundert etwa sechs Millionen den Westen. Nach 1989 stieg ihre Zahl noch erheblich an. Menschen in Gefangenschaft. Diese Sklav*innen wurden In den USA setzte ab 1965 eine „zweite Welle“ der vor allem an die Herrscher*innen auf der Arabischen Migration ein. Damals liberalisierten die USA ihr Ein- Halbinsel verkauft. wanderungsrecht. Bis 2016 stieg daraufhin die Zahl der Migrant*innen in den USA auf 41 Millionen, davon etwa ein Viertel aus Mexiko. Weder heute noch früher gingen Migrierende in eine MILLIONEN SUCHEN IHRE NEUE HEIMAT Historische Migration in drei Weltregionen, völlig unbekannte Fremde. Die Bewegung innerhalb von Fünfjahreszeiträume, in Millionen Netzwerken war immer schon ein tragendes Element der Mobilität. Migration war nie Selbstzweck oder gar Ziel – 18 der dauerhafte oder zeitweilige Aufenthalt an anderen Or- 16 ten sollte den Migrierenden die Möglichkeit geben, ihr Le- über den Atlantik 14 ben selbstbestimmter zu gestalten. Das gilt für die Suche nach Südostasien 12 nach Nordasien* nach Erwerbs- oder Bildungschancen ebenso wie für das 10 Streben nach Autonomie, zum Beispiel um arrangierten Ehen zu entfliehen oder einfach besondere Wünsche bei 8 der Berufswahl zu verwirklichen. 6 Seit jeher kann Migration aber auch eine Folge der ATLAS DER MIGRATION / McKEOWN 4 Androhung oder Anwendung von Gewalt sein. Menschen 2 reagieren auf bewaffnete Konflikte, indem sie diese Orte 0 1846– 1856– 1866– 1876– 1886– 1896– 1906– 1916– 1926– 1936– 1850 1860 1870 1880 1890 1900 1910 1920 1930 1940 Mit Industrialisierung, Verstädterung und neuen * mit Mandschurei, Japan, Zentralasien Verkehrsmitteln nahm die Mobilität zu. Viele Indigene litten unter den neuen Siedler*innen 10 ATLAS DER MIGRATION
ATLAS DER MIGRATION / PHILIP’S, SLAVE VOYAGES, LUEBKE AUF DEM LAND UND ÜBER WASSER Herkunfts- und Zielregionen der jüngeren Migrationsgeschichte, 1500 bis 1914, Auswahl, in Millionen Menschen 10 1880–1914 Europa Russland 2,2 32 1880–1914 Japan Nordamerika 1620–1914 1850–1914 1,5 8 7,4 1850–1914 China 1530–1914 Mittelamerika Indien 1820–1914 22 1 1,4 1880–1914 Afrika 3 4,3 1850–1914 12 Südostasien 1500–1800 1530–1860 Südamerika Australien 3 1790–1914 Neuseeland Vom Kolonialismus bis ins Industriezeitalter verlassen. Nicht erst in der Gegenwart ist die Vorstellung nahmen mehr als 100 Millionen Menschen an großen verbreitet, durch die Nötigung zur Migration ließe sich und weiten Wanderungen teil oder wurden verkauft Herrschaft stabilisieren oder könnten politische Interes- sen durchgesetzt werden. Fluchtbewegungen, Vertreibun- gen oder Deportationen treten auf, wenn – vornehmlich Zeiträume gibt es keine Daten, und zudem wird der Be- staatliche – Akteure Lebens- und Überlebensmöglichkei- griff Migration sehr unterschiedlich definiert. Festzustel- ten sowie körperliche Unversehrtheit, Rechte und Frei- len ist, dass die Zahl jener, die sich als Binnenwandernde heiten, politische Partizipationschancen, ferner die Sou- innerhalb von Territorien bewegten, schon immer hoch veränität und Sicherheit von Einzelnen oder Kollektiven war – etwa durch den folgenreichen und langen Pro- so weit beschränken, dass Menschen sich zum Verlassen zess der Verstädterung. Die Wanderung vom Land in die ihrer Herkunftsorte gezwungen sehen. Stadt, die Urbanisierung, war Voraussetzung und Ergeb- Schon die heiligen Schriften des Judentums, des Chris- nis der Industrialisierung. Doch nur der geringste Teil tentums und des Islam sind durchsetzt mit Berichten über der Menschen hat in den vergangenen Jahrhunderten Be- Schutzsuchende und deren Aufnahme oder Abweisung. wegungen über größere Distanzen, über staatliche oder Rom, so lautete die Botschaft antiker Autoren, sei deshalb gar kontinentale Grenzen unternommen. Die UN zählt so mächtig geworden, weil es immer und in großer Zahl aktuell weltweit 258 Millionen Migrant*innen, die Staats- Verfolgte aufgenommen habe. In den folgenden Jahrhun- grenzen überschritten haben. Doch 97 von 100 Menschen derten gab es bereits Regelungen zum Asyl. Differenzier- auf der Welt leben in den Staaten, in denen sie geboren te, national und international gültige Normen aber, die wurden. verfolgte und vor Gewalt fliehende Menschen schützen Migration, vor allem über große Distanzen, ist ein sehr sollten, entstanden erst viel später, seit dem Ersten Welt- voraussetzungsvoller sozialer Prozess. Dennoch bleibt er krieg. Als Wegmarke im überstaatlich vereinbarten Recht eine Konstante der menschlichen Entwicklung. Keine gilt die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951. moderne Gesellschaft, kein heute existierender National- Die häufig gestellte Frage, ob es heute mehr Migration staat und auch keine große Stadt würde ohne Migration als früher gebe, lässt sich nicht beantworten. Für viele existieren. ATLAS DER MIGRATION 11
MOBILITÄT ALTE UND NEUE ZIELE Arbeit, Selbstbestimmung und Sicherheit Lange waren Europa und Nordamerika die wichtigs- gehören zu den Haupttriebkräften der ten Zielregionen. Mittlerweile verlagert sich der Schwer- Migration. Sie wandelt sich, beschleunigt punkt allmählich nach Asien. Seit der Jahrtausendwende durch billige Flugtickets und Smartphones ist Asien zum Ziel von mehr als 30 Millionen internatio- nalen Migrant*innen geworden, stärker als jede andere für den Kontakt mit der Heimat. Doch auch die Weltregion in diesem Zeitraum. Zudem stammen mehr alten Wanderungskorridore gibt es noch. als 40 Prozent von ihnen aus Asien. Zwischen den Golf- staaten mit ihrem großen Bedarf an Arbeitskräften und I n den Medien entsteht oft der Eindruck, Menschen den Staaten Süd- und Südostasiens haben sich breite würden heute vor allem versuchen, nach Europa oder Migrationskorridore herausgebildet. Bau- und Hausar- in die USA zu gelangen. Aber dies macht nur einen ge- beiter*innen machen bereits die Mehrheit der Bevölke- ringen Teil der weltweiten Wanderungsbewegungen aus. rung in der Region aus. In den Vereinigten Arabischen Jedes Land kennt grenzüberschreitende Zu- und Abwan- Emiraten etwa haben 88 Prozent der Bevölkerung eine derungen – also internationale Migration – oder Wande- ausländische Staatsbürgerschaft. Allein 3,3 Millionen In- rungen im Landesinneren – die Binnenmigration. Migra- der*innen leben heute dort. tion ist ein globales Phänomen. Die Wanderungskorridore zeigen, dass trotz aller Fort- Nach Schätzungen der Vereinten Nationen (UN) leb- schritte bei Verkehr und Telekommunikation die Geo- ten 2017 etwa 258 Millionen Menschen zeitweise oder dau- grafie eine wichtige Rolle spielt. Die meisten Menschen erhaft in anderen Ländern. Diese Zahl hat sich innerhalb migrieren innerhalb ihrer Region. Weil neue Staatsgren- einer Generation verdreifacht: 1970 gab es weltweit nur zen wie die in der ehemaligen Sowjetunion entstanden 84 Millionen Migrant*innen, 1990 waren es 153 Millionen sind, gehören dazu auch Nachbarländer – entlang fami- und seit der Jahrtausendwende sind 85 Millionen hinzu- liärer, ethnischer und historischer Bindungen. Der welt- gekommen. Ihr Anteil an der Weltbevölkerung allerdings weit größte Migrationskorridor ist jedoch jener zwischen veränderte sich kaum: 1970 lag er bei 2,3 Prozent, 2017 bei Mexiko und den USA. Ins nördliche Nachbarland zogen rund 3,4 Prozent. 98 Prozent aller im Ausland lebenden Mexikaner*innen, Deutlich höher ist die Zahl der Menschen, die ihren bis 2017 etwa 12,7 Millionen Menschen. Auch die Flucht Geburtsort verlassen, aber im selben Land bleiben. Die vor Konflikten oder Katastrophen spielt sich meist inner- UN schätzte die Zahl dieser Binnenmigrant*innen schon halb von Regionen ab. Während die türkische Grenzpoli- 2005 auf 763 Millionen. Allein in China sollen es 2017 etwa zei im Jahr 2000 nur 1.400 irreguläre Grenzübertritte aus 244 Millionen gewesen sein. Aber auch in Indien, den USA dem Nachbarland Syrien registrierte, ließ der Krieg die und selbst in Deutschland mit seinem Ost-West-Unter- Zahl der syrischen Flüchtlinge in der Türkei auf 3,6 Millio- schied kommen große interne Wanderungsbewegungen nen Menschen Anfang 2019 ansteigen. vor, oft vom Land in die Städte oder von wirtschaftlich Migration hat viele Facetten, nicht nur die dauer- abgehängten in die Wachstumsregionen. hafte Aus- oder Einwanderung. Viele Menschen kehren Die globalen Wanderungsbewegungen nehmen zu, nach einem Auslandsstudium oder einer temporären die Gründe dafür sind vielfältig. Da zwingen Konflikte Arbeit im Ausland zurück. Dazu gehören auch die „Ex- und Kriege die Menschen zur Flucht. Da lässt die Globali- pats“, kurz für „Expatriates“, die oft für eine bestimm- sierung der Wirtschaft eine wachsende Anzahl von Men- te Zeit in Dienstleistungs- oder Managementfunktionen schen migrieren. Auch alte Wanderungskorridore spielen entsendet werden. Andere ziehen weiter, wieder andere noch eine Rolle. Sie entstanden zwischen benachbarten bewegen sich immer wieder zwischen Herkunfts- und Ländern (zum Beispiel von Italien in die Schweiz), durch Zielländern hin und her. Von den Medien beachtet, aber die koloniale Geschichte (etwa aus Indien nach Großbri- zahlenmäßig unerheblich ist die neue Gruppe der „di- tannien) oder durch weit zurückreichende Handelsbezie- gitalen Nomaden“, die mit dem Internet arbeiten, meist hungen (wie zwischen China und Ostafrika). aus wohlhabenden Ländern stammen und gerne kosten- Heute leben in den wirtschaftlich entwickelten Län- günstig in ärmeren Gegenden leben. dern knapp zwei Drittel aller internationalen Migrant*in- nen. Doch auch in arme Entwicklungsländer sind im- merhin elf Millionen Menschen gewandert. Fast die Im globalen Maßstab sind sie nicht viele: Der Hälfte aller internationalen Migrant*innen stammt aus Anteil der internationalen Migrant*innen an der nur zwanzig Herkunftsländern. Weltbevölkerung pendelt um die drei Prozent. 12 ATLAS DER MIGRATION
GLOBALE WEGE Internationale Migration im Überblick Lateinamerika und Karibik Wanderungsbewegungen zwischen und 26 Europa 41 innerhalb von sechs 8 Nordamerika Kontinenten bzw. Teilkontinenten, in Millionen, 2017 Ozeanien 20 unbekannt 17 9 7 19 Afrika 63 Asien Anzahl in Millionen und Verteilung Anzahl in Millionen und Verteilung nach Geschlechtern, in Prozent, 2017 nach Geschlechtern 300 258 alle Migrierten 258 Männer 248 234 ab 15 Jahre alt 250 Frauen 220 191 164 erwerbstätig 200 173 152 161 150 48 % 46 % 41 % 59 % 54 % 52 % 100 Männer 50 Frauen 0 1990 1995 2000 2005 2010 2015 2017 Verteilung der Migration auf elf Zielregionen, in Prozent, 2017 Nord-, Süd-, Westeuropa 23,9 Nordamerika 23,0 Lateinamerika und Karibik 2,7 Nordafrika 0,7 Osteuropa 8,1 Subsahara-Afrika 7,2 Ostasien 3,6 ATLAS DER MIGRATION / ILO, UN arabische Länder 13,9 Südostasien und Pazifik 7,1 Südasien 4,5 West- und Zentralasien 5,2 Differenzen durch Rundung ATLAS DER MIGRATION 13
MOTIVE DRUCK UND REIZ Es gibt sehr verschiedene Gründe, weshalb Ein solcher Auslandsaufenthalt galt lange Zeit als wichti- ein Mensch sein Land verlassen will. Nicht ger Schritt hin zum Erwachsensein, der es ermöglichte, immer sind es schlechte Lebensbedingungen. nach einiger Zeit mit etwas Vermögen zurückzukommen Die Wahl des Zieles wird ebenfalls von vielen und eine Familie zu gründen. Bereits zu vorkolonialen Zeiten sorgten mobile Kaufleute dafür, dass der Goldhan- Faktoren beeinflusst. del in Schwung kam und der Fernhandel funktionierte. In den 1960er- und 1970er-Jahren gingen zahlreiche D er damals 20-jährige Mody Boubou Coulibaly aus frankophone Westafrikaner*innen zum Arbeiten nach Mali arbeitete als Bauarbeiter in Nouakchott, der Frankreich, ganz legal und mit Visum. Das ist heute kaum Hauptstadt des Nachbarlandes Mauretanien. Am noch möglich. Weil die Reise nach Europa für viele Men- 9. Mai 2016 sprang er auf einer Baustelle aus dem drit- schen inzwischen mit großen Risiken verbunden ist, ma- ten Stock und starb wenig später an den Folgen dieses chen sich eher junge Leute auf den Weg. Motive „irregulä- Sprungs. Veranlasst zu dieser Verzweiflungstat hatte ihn rer“ Migrant*innen sind nicht nur die Aussicht auf Arbeit die Verfolgung durch einen Polizisten. Coulibalys Verge- und Einkommen. Sie wollen sich weiterbilden, Erfahrun- hen war, dass er sich illegal in Mauretanien aufhielt. Er gen sammeln, einen bestimmten Lebensstil verwirklichen konnte sich die umgerechnet 85 Euro teure Aufenthalts- oder sie suchen die Nähe zu Familien, die bereits im Ziel- genehmigung nicht leisten. land leben. Seit 2017 ist Mauretanien assoziiertes Mitglied der Im Sommer 2018 befragte die Internationale Organi- Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (Ecowas), sation für Migration (IOM) der UN in Westafrika mehr als der auch Mali angehört. Bei deren Gründung 1975 ging es 5.400 reisende Migrant*innen an Verkehrsknotenpunk- nicht zuletzt darum, die Grenzziehungen der Kolonialzeit ten wie etwa Busterminals. 83 Prozent waren Männer, zu überwinden und den Bewohner*innen Westafrikas 17 Prozent Frauen. Vier von fünf Befragten gaben an, Freizügigkeit innerhalb der Region zu garantieren. Denn aus ökonomischen Gründen unterwegs zu sein. Ähnlich Mobilität ist hier nicht nur lebensnotwendig, sondern sieht es in Lateinamerika aus, wo das Washingtoner For- auch kulturell tief verankert. schungsinstitut Center for Immigration Studies ebenfalls Innerhalb Westafrikas waren immer viele Menschen 2018 Menschen in Honduras nach den Gründen für eine mobil und zogen für eine gewisse Zeit in ein anderes Land. Migration in die USA befragte. 82,9 Prozent der Befragten nannten Arbeitslosigkeit und Einkommensmöglichkei- ten, 11,3 Prozent Gewalt und Unsicherheit. Die Annahme, dass Migration vor allem eine Reak- DIE GANZ GROSSEN WANDERUNGEN Gesamtmigration von über 2 Millionen Personen zwischen tion auf besonders schlechte Lebensbedingungen ist, einzelnen Ländern, offiziell Registrierte, bis 2017, ist ein Irrtum. Den Ärmsten fehlt es meist an Mitteln für in Millionen die Migration. Es ist deswegen ein Irrglaube, dass erfolg- von nach reiche Entwicklungshilfe und Investitionen zu weniger Mexiko 11,6 Migration führen. Tatsächlich fördert sozioökonomische USA Entwicklung Migration eher, als sie zu reduzieren. Die 2,1 2,4 schon in den 1990er-Jahren geprägte These vom „migra- China 2,3 Hongkong tion hump“ („Migrationsbuckel“) besagt, dass erst, wenn 2,3 Saudi-Arabien ein bestimmtes Niveau bei den Einkommen erreicht ist, Indien 3,3 VAE* die Zahlen bei den Auswanderungen wieder sinken. Die Afghanistan 2,3 Iran enge Korrelation zwischen der Höhe des Einkommens und Bangladesch 3,1 Indien der Neigung auszuwandern, die dieses Modell behaup- Syrien 3,3 Türkei tet, vernachlässigt allerdings andere Faktoren: etwa den demografischen Wandel in Herkunfts- und Zielländern, ATLAS DER MIGRATION / KNOMAD 3,3 Ukraine Russland 2,4 Kasachstan Nachahmungseffekte, Wanderungshürden wie Visa- und Kasachstan 2,6 Russland Ukraine 3,3 Flucht vor Krieg und Terror, die Hoffnung auf * Vereinigte Arabische Emirate Wohlstand, Traditionen und neue Grenzen erklären die Herkunfts- und Zielländer 14 ATLAS DER MIGRATION
ATLAS DER MIGRATION / AKUF, UNDP, ROG, UNEP FLUCHT UND MIGRATION HABEN VIELE GRÜNDE Auslöser von Wanderungsbewegungen, Auswahl Kriege und bewaffnete Konflikte – Jahresbilanz Unfairer Zugang zu Einkommen, Gesundheit der Hamburger Arbeitsgemeinschaft und Bildung – Ungleichheitsbereinigter Index Kriegsursachenforschung, Stand Ende 2018 der menschlichen Entwicklung (IHDI), Stand 2017 24 Kriege landesweit 0,7 und höher 0,5 bis unter 0,6 unter 0,4 4 bewaffnete Konflikte regional 0,6 bis unter 0,7 0,4 bis unter 0,5 keine Angaben je niedriger der Wert, desto unfairer der Zugang Verstöße gegen Menschenrechte – am Beispiel des Klimakrise, steigender Meeresspiegel, gefährdete Civicus-Index für zivilgesellschaftliche Offenheit und Agrarsysteme – am Beispiel der Bodenverschlechterung, Freiheit, Stand 2019 UN-Umweltprogramm, ohne Stichjahr offen unterdrückt stabil vegetationslos, eingeschränkt geschlossen degradiert keine Daten behindert keine Angaben stark degradiert Wo das Leben perspektivlos ist, folgen Flucht und Einreisebestimmungen und nicht zuletzt globale ökono- Auswanderung. Oft bleibt die Bereitschaft zur Rückkehr, mische und ökologische Entwicklungen. wenn sich die Bedingungen deutlich verbessern Auch verschärft die Lebens- und Produktionsweise des globalen Nordens den Klimawandel und zerstört die Lebensgrundlage vieler Menschen im globalen Süden. „Irreguläre“ Migration entsteht daher auch, weil Ka- Nach Zahlen des Internal Displacement Monitoring Centre pital und Güter weltweit ohne Rücksicht auf Umwelt und (IDMC), einer Einrichtung des Norwegischen Flüchtlings- Menschenrechte mobil sein können, während den Men- rates, wurden zwischen 2008 und 2017 insgesamt 246,4 schen legale Flucht- und Migrationswege verweigert wer- Millionen Menschen weltweit durch Naturkatastrophen den. Viele Menschen verlassen ihr Land aus zwingenden vertrieben. Allein 2017 waren es 18,8 Millionen Menschen. Gründen wie bewaffnete Konflikte oder wegen politischer Naturkatastrophen gab es freilich schon immer, aber oder religiöser Verfolgung. Sie prägen das Bild des glo- die klimabedingte Migration nimmt zu. Hierfür haben balen Wanderungsgeschehens, machen davon aber nur sich die Begriffe „Umweltmigrant*innen“, „Umweltver- einen kleineren Teil aus: Etwa 71 Millionen Flüchtlin- triebene“ oder „Klimaflüchtlinge“ etabliert. Doch auch, gen und Binnenvertriebenen stehen etwa 258 Millionen wenn etwa die UN mittlerweile einige Umweltfaktoren als Migrant*innen gegenüber. Grund für die Flucht definiert, haben die Menschen bis- Häufig sind Menschen aus einer Vielzahl gleichzeitig her keine rechtlichen Ansprüche auf Schutz. Menschen, wirksamer Gründe auf der Flucht oder in der Migration. die in ihrer Heimat keine Überlebenschancen mehr ha- Diese Gründe können sich mit der Zeit auch ändern. We- ben, gelten in Europa nicht als reguläre Flüchtlinge, son- der Entwicklungshilfezahlungen noch Rückführungen, dern als „irreguläre“ Migrant*innen oder „Wirtschafts- Grenzschließungen oder Kriminalisierung werden dies flüchtlinge“. ändern. ATLAS DER MIGRATION 15
FLUCHT SCHUTZ BEI DEN NACHBARN Noch nie waren so viele Menschen auf Hauptursachen dabei sind Dauerkonflikte wie jener in der der Flucht. Die Weltgemeinschaft versagt Demokratischen Republik Kongo, der Krieg im Südsudan beim Kampf gegen Kriege und Konflikte, oder die brutale Vertreibung von Rohingya aus Myanmar aber oft auch beim Schutz der Opfer. nach Bangladesch. Über zwei Drittel der Flüchtlinge auf der Welt kamen 2017 aus nur fünf Ländern. An erster Stelle steht Syrien. A lljährlich zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni ver- Nirgends wurden mehr Menschen vertrieben als dort: Seit öffentlichen die UN die neuen Flüchtlingszahlen. Beginn des Krieges 2011 flohen 6,2 der einst rund 20 Mil- In sechs der vergangenen sieben Jahre gab es da- lionen Einwohner*innen innerhalb des Landes. Weitere bei neue „Rekorde“. Die Statistik sei ein „Fieberthermo- 5,7 Millionen flüchteten ins Ausland. Damit kommt heu- meter des Weltgeschehens“, merkte das Flüchtlingswerk te jede*r dritte internationale Geflüchtete aus Syrien. Aus UNHCR dazu an. Afghanistan flohen bis Ende 2017 mehr als 2,6 Millionen Die Zahl der Menschen, die nach Europa fliehen, ist Menschen – das ist der zweithöchste Wert für ein einzelnes durch die Abschottung der EU-Außengrenzen zuletzt Land. Es folgen Südsudan mit 2,4 Millionen und Myanmar, stark zurückgegangen. Doch weltweit verläuft die Ent- wo 1,2 Millionen Angehörige der muslimischen Minderheit wicklung genau umgekehrt: 71,4 Millionen Menschen, der Rohingya das Land verlassen mussten. schätzt das UNHCR, galten Ende 2017 als schutzbedürftig. Die meisten Geflüchteten kommen nicht weit, sie Das sind etwa 50 Millionen mehr als im Jahr 2000 – und bleiben im eigenen Land. Rund 39 Millionen der 71,4 mehr als je zuvor. Statistisch gesehen war damit fast jeder Millionen sind sogenannte Binnenvertriebene, Internal- hundertste Mensch der Welt entweder im eigenen Land ly Displaced Persons genannt. Anders als die überhitzte vertrieben, suchte Asyl, war als Flüchtling anerkannt oder Debatte in Europa und den USA nahelegt, gelangt nur ein staatenlos. Allein 2016 mussten mehr als 16,2 Millionen Bruchteil der Fliehenden in den Globalen Norden. 85 Pro- Menschen fliehen, im Schnitt 44.000 Menschen täglich. zent der internationalen Flüchtlinge werden von Ländern Über die Hälfte der vom UNHCR registrierten Flüchtlinge, des Südens aufgenommen. 52 Prozent, sind Kinder. Bei den Aufnahmeländern liegt die Türkei seit einiger Diese Zahlen belegen vor allem eines: das Scheitern Zeit an der Spitze. 3,7 Millionen Menschen fanden hier der Weltgemeinschaft, wenn es darum geht, Konflikte bei- Zuflucht, die meisten davon aus Syrien. Es folgt Pakistan zulegen. Denn die meisten dieser Menschen fliehen der- (1,4 Millionen Aufgenommene), auch wenn die Regierung zeit vor Kriegen oder bewaffneten Auseinandersetzungen. begonnen hat, afghanische Geflüchtete des Landes zu verweisen. Nach Uganda kamen rund 1,1 Millionen Men- schen aus der benachbarten Demokratischen Republik Kongo und dem gleichfalls angrenzenden Südsudan. Der ANSTIEG OHNE UNTERBRECHUNG Zahl der Schutzbedürftigen in Millionen Bürgerkrieg im eigentlich fruchtbaren Südsudan hatte und Zusammensetzung nach Status eine drastische Nahrungsmittelkrise zur Folge, was ein- 80 mal mehr zeigt, wie eng Krieg und Armut als Fluchtursa- Geflüchtete 71,4 chen miteinander verzahnt sind. Asylbewerber*innen 70 Binnenvertriebene Deutschland lag Ende 2017 mit 970.000 Aufgenom- Rückkehrer*innen menen weltweit auf Platz sechs. Der UNHCR zählt dabei 60 unter Schutz diejenigen nicht hinzu, deren Asylverfahren noch laufen Staatenlose 50 andere oder die nur geduldet sind. Diese eingerechnet, käme Deutschland auf etwa 1,3 Millionen und würde an Iran 40 33,9 und Libanon vorbei auf Platz vier ziehen. 30 Im Verhältnis zur Bevölkerungszahl sieht es für Deutschland anders aus. Mit 11,6 Aufgenommenen je ATLAS DER MIGRATION / UNHCR 20 tausend Einwohner*innen ist das Land im weltweiten 10 0 Die Zahl der Geflüchteten, die vom UN- 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 Flüchtlingshilfswerk erfasst werden, hat sich in acht Jahren mehr als verdoppelt 16 ATLAS DER MIGRATION
FLUCHT, VERTREIBUNG UND RECHTLOSIGKEIT IN ALLER WELT Länder mit über 500.000 registrierten Schutzbedürftigen, nach Status, 1.000 Personen, 2018 7.187 3.923 994 752 617 Türkei Libanon Jordanien Aserbaidschan Syrien 1.430 Deutschland 1.845 Geflüchtete Ukraine 957 2.537 Asylbewerber*innen USA Binnenvertriebene 979 Afghanistan Staatenlose andere Iran 2.159 2.927 1.580 862 619 2.964 Myanmar Südsudan Tschad Sudan 2.405 Pakistan 943 Irak 7.872 695 Bangladesch Jemen Elfenbeinküste 583 Kolumbien Thailand 2.191 2.941 590 2.128 Nigeria Kamerun ATLAS DER MIGRATION / UNHCR Äthiopien Somalia 782 1.334 508 Zentralafr. Rep. 5.238 Uganda Tansania DR Kongo Die meisten Geflüchteten und Vertriebenen Vergleich keineswegs von großer Aufnahmebereitschaft leben in oder am Rande von Kriegsgebieten und geprägt. Ein wesentlich weniger wohlhabendes Land wie Zonen mit bewaffneten Konflikten Libanon nahm 164 Menschen je tausend Einwohner*in- nen auf, der weltweit höchste Wert. In Jordanien sind es 71, in der Türkei 43. In Europa ist Schweden das Land, das auf der Liste der Prioritäten stehen die Langzeitflüchtlin- relativ gesehen die meisten Menschen aufnimmt: knapp ge, die oft schon länger als ein Jahrzehnt in Lagern leben 24 Menschen je tausend Einwohner*innen. müssen. Dazu gehören etwa jene Menschen, die vor der An der Wirtschaftsleistung gemessen, leben die meis- Gewalt islamistischer Milizen aus Somalia nach Kenia flo- ten Flüchtlinge in Südsudan, Uganda, Tschad und Niger. hen und dort kaum eine Perspektive haben. Schon mit we- Solche Länder können die Geflüchteten nicht ausrei- nig Mitteln ließe sich die Situation deutlich verbessern – chend versorgen. Sie sind darauf angewiesen, dass die wenn nur der politische Wille vorhanden wäre. internationale Gemeinschaft sie unterstützt. Doch diese versagt nicht nur dabei, Krisen beizulegen, sondern auch dabei, ihre Folgen zu bewältigen. Beispielsweise geht ATLAS DER MIGRATION / UNHCR RELATIVE AUFNAHMEBEREITSCHAFT die immense Zahl der Geflüchteten aus Syrien ab 2014 Zahl aufgenommener Geflüchteter im Verhältnis auch darauf zurück, dass die Lebensmittelhilfen für das zur Gesamtbevölkerung, 2018 UN-Welternährungsprogramm (WFP) gekürzt wurden; es hängt maßgeblich von freiwilligen Zuwendungen der Re- gierungen ab. Staaten der EU waren erheblich daran be- Libanon 1 : 6 Jordanien 1 : 13 teiligt, dass die Hilfen nicht mehr gewährt wurden. Alle humanitären Hilfswerke klagen heute darüber, Türkei 1 : 21 dass die Nothilfe für Geflüchtete stark unterfinanziert ist. Die ohnehin schon belastende Fluchterfahrung wird da- durch für viele Menschen lebensbedrohlich. Ganz unten Im Vergleich zur Zahl der Einwohner*innen Deutschland 1 : 58 haben die Nachbarländer Syriens ein Vielfaches mehr an Geflüchteten aufgenommen als Deutschland ATLAS DER MIGRATION 17
VISA GRENZEN DER REISEFREIHEIT Grenzenloses Reisen ist innerhalb der EU gehörige dürfen nur in fünf andere Länder ohne ein Vi- selbstverständlich. Der richtige Pass sum einreisen. In weiteren 25 können sie ein Visum bei macht es auch möglich, weltweit frei Einreise erhalten, aber für 168 Länder müssen sie eines unterwegs zu sein. Doch wer ihn nicht hat, beantragen. Das „Global Passport Power Ranking“ 2019, das die merkt schnell, dass der Geldbeutel Bedeutung der Staatsangehörigkeit für die Bewegungs- über die Bewegungsfreiheit entscheidet. freiheit misst, sieht Deutschland mit Dänemark und Italien auf Rang vier von 199 Ländern und Gebieten. D ie Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ge- Deutsche genießen also weltweit die beinahe größte währt jedem Menschen das Recht, sich innerhalb Freiheit bei der Mobilität. Umgekehrt ist die Einreise eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufent- nach Deutschland ohne Visum nur für Angehörige der haltsort frei zu wählen. Auch steht es jedem Menschen anderen 27 EU-Länder, der 5 EU-Beitrittskandidaten und frei, jedes Land einschließlich des eigenen zu verlassen von 67 weiteren Staaten möglich, vor allem aus Amerika und in sein Land zurückzukehren. Es gibt also ein glo- oder wichtigen politischen und Wirtschaftspartnern wie bal anerkanntes Menschenrecht, sich frei innerhalb des Japan oder die USA. Doch Bürger*innen von insgesamt eigenen Landes zu bewegen, niederzulassen und auszu- 105 Staaten müssen ein meist sehr aufwendiges und vor wandern. Eingehalten wird es nicht überall – China oder allem kostspieliges Visaverfahren durchlaufen, selbst Tunesien etwa beschränken dieses Recht. dann, wenn sie nur einen kurzen Besuch in Deutschland Was es jedoch nicht gibt, ist das unbeschränkte Recht machen wollen. auf Einreise in ein anderes Land. Nationalstaaten kontrol- Dabei müssen die Antragsteller*innen ihr Privatleben lieren vielmehr den Zugang zu ihrem Territorium, indem offenlegen, Informationen über Dritte preisgeben und sie Visa erteilen oder ablehnen, also mit Einreiseerlaub- Fragen beantworten: Wie viel Geld ist auf Ihrem Konto? nissen. Daraus ergeben sich enorme globale Ungleichhei- Was wollen Sie in Deutschland? Wer ist hier Ihr Arbeitge- ten. Wer einen deutschen Pass vorweisen kann, darf in 127 Länder ohne Visum einreisen, in weiteren 40 Ländern wird ein Visum bei Einreise ausgestellt, und nur für 31 „Goldene Visa“ in der EU, eigentlich zur Staaten muss vor der Reise ein Visum beantragt werden. Wirtschaftsförderung gedacht, dienen Wohlhabenden Am Ende der Skala liegt Afghanistan. Dessen Staatsan- zur beschleunigten Einwanderung EINGANG FÜR REICHE EU-Länder, die „Goldene Visa“ gegen Investitionen, den Kauf von Staatsanleihen und Grundstücken ausgeben, sowie das dafür ins jeweilige Land geflossene Kapital im Jahresdurchschnitt 2012–2017*, Zahl der erteilten Staatsbürgerschaften oder Niederlassungsgenehmigungen sowie die beiden jeweils wichtigsten Herkunftsländer Kapitalzufluss durch die Visa- erteilte Staatsbürgerschaften aus China Russland 43 verkäufe pro Jahr, in Millionen Euro und Niederlassungsgenehmigungen USA Brasilien 303 312 1.290 24.755 25 43 Österreich Bulgarien Irland 19.838 17.521 17.342 10.445 7.565 914 3.336 976 ATLAS DER MIGRATION / TI, GW 2.027 205 250 498 670 434 180 Malta Zypern Griechenland Großbritannien Lettland Portugal Ungarn Spanien * Einige Werte seit 2010 und/oder bis 2018. Frankreich, Luxemburg, Niederlande: keine Angaben. Österreich: Angaben unvollständig. Zahlen enthalten teilweise Familienangehörige. Zypern, Malta: keine Angaben über Herkunftsländer 18 ATLAS DER MIGRATION
ber? Wer hat Sie eingeladen? Wo werden Sie wohnen? Wer GLOBALE MOBILITÄT – ODER AUCH NICHT trägt die Kosten des Aufenthaltes? Und vor allem: Werden Reisefreiheit dank Nationalität und Reisepass, 2019 Sie nach Ablauf des Visums das Land wieder verlassen? Wenn die Behörde nicht an die „Rückkehrbereitschaft“ glaubt, wird der Antrag abgelehnt. Die Visaabteilung hat In wie viele Länder* kann ein*e Bürger*in dieses Landes hier freie Hand. Weder gelten verbindliche Kriterien noch ohne Visaantrag einreisen? gibt es eine Möglichkeit zu widersprechen. In diesem Ver- 30–70 71–100 101–140 141–172 fahren bleibt viel Raum für willkürliche Diskriminierung und Korruption. So wurden in deutschen Botschaften in Afrika, Südamerika und Osteuropa zwischen 2008 und 2010 Visa gegen Bestechungsgelder ausgestellt. Und 2018 wurde bekannt, dass Botschaftsmitarbeiter*innen im Li- banon wegen extremer Wartezeiten für die Visaantragstel- lung kurzfristige Termine verkauft hatten. Insgesamt stellten die deutschen Botschaften im Jahr 2017 rund 2,2 Millionen Visa aus. Etwa 205.000 Anträge wurden abgelehnt. Diese negativen Bescheide waren sehr ungleich verteilt. 2016 lag ihre Quote in den USA bei knapp * Kleinstaaten nicht markiert 1,3 Prozent, in der Türkei bei 7 Prozent. In Nigeria hatten 41 Prozent aller Anträge auf ein Visum keinen Erfolg. Für viele Menschen stellen schon die Kosten eine un- In welche Länder dürfen Deutsche unter welchen überwindliche Hürde dar. Wer in Deutschland studieren Bedingungen einreisen? möchte und deshalb einen Antrag stellt, muss derzeit in frei, keine Visumpflicht der Regel einen Betrag von 8.800 Euro auf ein Sperrkonto Visum bei Einreise einzahlen, von dem erst in Deutschland etwas abgehoben Onlinedokument* vorab werden kann. Das soll den Lebensunterhalt für mindes- Vorabvisum im Pass tens ein Jahr garantieren. Angesichts der Löhne in Län- dern Afrikas oder des Nahen Ostens ist eine solche Sum- me für viele kaum aufzubringen. Die Möglichkeit, den Aufenthalt mit Arbeit in Deutschland zu finanzieren, wird ihnen durch diese Regelung genommen. Das wohl drastischste Beispiel dafür, dass der Geld- beutel maßgeblich über den Grad der Bewegungsfreiheit entscheidet, sind die sogenannten Goldenen Visa. Sie ge- hen an Ausländer*innen, die im Zielland Geld in einer be- stimmten Höhe investiert haben. Nach einer Zählung der Anti-Korruptions-NGO Transparency International von * u. a. eVisa, ESTA, eTA 2018 haben weltweit über 20 Länder solche Programme; die 14 europäischen liegen allesamt in der EU. Griechen- land beispielsweise vergibt Visa für den Erwerb von Im- mobilien im Wert von mindestens 250.000 Euro. Aus welchen Ländern darf eine Person ohne Visaantrag Deutschland kennt eine ähnliche Regelung, die aller- in Deutschland einreisen? Von wo herrscht Visapflicht? dings nicht als Goldene Visa eingestuft wird. Seit 2004 ohne Visum mit Visum kann ein Investorenvisum erhalten, wer eine größere Summe in ein eigenes Unternehmen in Deutschland in- vestiert, das „sicher finanziert“ und „tragfähig“ ist. An- fangs galt ein Betrag ab 250.000 Euro, heute wird ein ATLAS DER MIGRATION / PASSPORTINDEX.ORG substanzieller Vorteil für den Wirtschaftsstandort erwar- tet. Verläuft das Projekt erfolgreich und sichert es den Lebensunterhalt, lockt nach drei Jahren eine unbefristete Niederlassungserlaubnis. Bei den vielen Einschränkungen der Reisefreiheit ist nur ein Prinzip zu erkennen: Je ärmer das Ausreiseland, desto restriktiver das Einreiseland ATLAS DER MIGRATION 19
ARBEITSMIGRATION ZWISCHEN BEDARF UND BARRIERE In den Zielländern ist Arbeitsmigration mische Zusammenschlüsse, etwa die EU oder die west- politisch umstritten. Einerseits besteht in afrikanische ECOWAS zumeist auch die Freizügigkeit für Industrieländern eine große Nachfrage Erwerbstätige. nach migrantischen Arbeitskräften, sowohl Die Branchen und Sektoren, in denen Arbeits- migrant*innen tätig sind, verändern sich ständig. Seit nach besonders qualifizierten als auch für den 1970er-Jahren haben Jobs in der Industrie Westeu- den Niedriglohnsektor. Andererseits ist der ropas stark an Bedeutung verloren. Der Strukturwandel Umgang mit Einwanderung oft rassistisch. hat zu Dienstleistungsgesellschaften geführt. Das wirkte sich auf den Bedarf an migrantischen Arbeitskräften aus. A rbeitsmigration entsteht auf unterschiedliche In den 1960er-Jahren hatte die verarbeitende Industrie Art und Weise. Häufig bildet sie sich zwischen – etwa in der Bundesrepublik – noch einen großen Bedarf ehemaligen Kolonial- und denen von ihnen ko- an ungelernten Arbeitskräften. Daher warben Unterneh- lonisierten Staaten heraus, etwa zwischen den USA und men zahlreiche Menschen aus Italien, Portugal und vor den Philippinen oder zwischen Frankreich und dem Se- allem der Türkei an. Dass solche Strategien auch heute negal. Auch globale Produktionsketten generieren Ar- noch politisch gefördert werden, zeigen etwa die Arrange- beitsmigration. So arbeiten viele Bolivianer*innen in der ments für die Saisonarbeit und die Werkverträge im Bau- Textilproduktion in São Paulo im Nachbarland Brasilien. sektor, in der Landwirtschaft und in den Schlachthöfen. Die Bildungsmigration führt dazu, dass junge Leute nach Die Zuwanderung junger und qualifizierter Arbeits- einem Auslandsstudium beruflich international Fuß fas- migrant*innen gilt heute als Mittel, dem Fachkräfte- sen. Zudem ermöglichen regionale politische und ökono- mangel und dem Alterungsprozess in Westeuropa ent- gegenzuwirken. Dennoch verhindern Regulierungen der Berufsstände und der Politik in vielen Fällen, dass aus- ländische Hochschul- und Berufsabschlüsse anerkannt ABSTIEG IM AUSLAND Hochqualifizierte Frauen (z. B. mit abgeschlossenem werden. Viele Betroffene sehen sich gezwungen, eine Be- Studium) in Berufen mit mittlerer oder niedriger schäftigung aufzunehmen, die unter ihrer Qualifizierung Qualifikation, 15- bis 64-Jährige, Länderauswahl, 2017, liegt. „Deskilling“ heißt dieser Prozess. Daher sind etwa in Prozent mittelost- und osteuropäische Lehrerinnen oder Ärztin- im Ausland Geborene nen häufig in der Haushaltsarbeit oder Pflege anzutreffen. Saudi-Arabien 11,8 18,9 im Inland Geborene Weltweit arbeiten überwiegend Frauen in diesen Bran- chen, weil angenommen wird, dass sie qua Geschlecht Frankreich 32,3 22,7 über sogenannte Care-Kompetenzen verfügen. Im Fall von Geflüchteten ist die Aufnahme einer Ar- Australien 32,4 22,5 beit mit vielfältigen rechtlichen und sozialen Hindernis- sen verbunden. Die Genfer Flüchtlingskonvention besagt Türkei 33,6 28,5 zwar, dass Flüchtlinge, die sich legal in einem Staat auf- halten, ein Recht auf abhängige oder selbstständige Be- schäftigung haben. Doch nach dem „Global Refugee Work Mexiko 33,7 31,9 Rights Report“ sind Geflüchtete in 7 der untersuchten 15 Hauptaufnahmeländer von der legalen Arbeitsaufnahme Deutschland 35,0 16,9 ausgeschlossen. In manchen Staaten gibt es zudem wei- tere Hürden: hohe Gebühren und komplizierte bürokra- USA 37,4 32,6 tische Prozesse auf dem Weg zur Arbeitsgenehmigung, Sprachbarrieren, die Auflage, in einem Lager zu wohnen, Italien 53,4 20,1 und nicht zuletzt auch rassistische Diskriminierung bei ATLAS DER MIGRATION / OECD der Arbeitssuche. Griechenland 61,8 29,5 Südkorea 64,7 53,0 Bei Migrantinnen ist die berufliche Diskriminierung und die Beschäftigung unterhalb der Qualifikation noch viel höher als bei im Inland geborenen Frauen 20 ATLAS DER MIGRATION
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