Primärprävention von Krebs-erkrankungen 5

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Primärprävention von Krebs-erkrankungen 5
Primärprävention    5
von Krebs-
erkrankungen
Primärprävention von Krebs-erkrankungen 5
5 Primärprävention von                                              KERNAUSSAGEN

Krebserkrankungen                                                   Krebserkrankungen vorzubeugen (primäre Prävention) ist eine be-
                                                                    sondere Herausforderung, da die Entstehung einer Tumorerkrankung
    Das folgende Kapitel geht zunächst auf die gesellschaft-        multifaktoriell bedingt ist und häufig über längere Zeit unerkannt
liche Bedeutung und Besonderheiten der Krebsprävention              verlaufen kann.
ein. Danach wird in die grundlegenden Mechanismen und
Zusammenhänge der Krebsentstehung eingeführt. Bedeu-                Auf der Basis des aktuellen Wissensstandes über Risiko- und Schutz-
tend für die Entwicklung von Präventionsmaßnahmen sind              faktoren lassen sich klare Anforderungen an die Krebsprävention
die vorliegenden Erkenntnisse über relevante Risiko- und            formulieren.
Schutzfaktoren der Krebsentstehung. Den Abschluss des
einführenden Kapitels bilden allgemeine Grundlagen und              Eine erfolgversprechende Strategie zur Vorbeugung von Krebserkran-
die aktuellen Rahmenbedingungen von Prävention, die bei             kungen erfordert eine Kombination verschiedener Maßnahmen der
der Entwicklung von Konzeptionen der Krebsprävention                Verhaltens- und Verhältnisprävention und der Gesundheitsförderung.
berücksichtigt werden müssen.
                                                                    Krebsprävention sollte auf der Grundlage allgemeiner evidenzba-
                                                                    sierter Erkenntnisse Teil der gesundheitlichen Primärprävention und
                                                                    Gesundheitsförderung sein.
5.1 Allgemeine Einführung

5.1.1 Herausforderungen und Chancen der                          Ressourcen zu stärken. Damit können diese Maßnahmen
Krebsprävention                                                  auch Einfluss auf die Verhinderung von Krebserkrankun-
    Nach Angaben im aktuellen Weltkrebsbericht ist die Zahl      gen nehmen. Auch die von den Krankenkassen bei ihren
der Krebsneuerkrankungen weltweit von 12,7 Millionen im          Leistungen zur Prävention und Gesundheitsförderung zu
Jahr 2008 auf 14,1 Millionen in 2012 angestiegen, und dieser     berücksichtigenden Gesundheitsziele dienen unmittelbar
Trend wird sich weiter fortsetzen [1].                           oder mittelbar der Vorbeugung von Krebserkrankungen.
    In Deutschland erkranken mehr als zwei von fünf Frauen           Durch Prävention wird es aber nicht möglich sein, Krebs-
(43%) und etwa jeder zweite Mann (51%) im Laufe ihres            krankheiten vollständig zu eliminieren, wie es bei bestimm-
Lebens an Krebs – so die aktuellen Schätzungen, die auf          ten Infektionskrankheiten, etwa bei den Pocken oder der
den Erkrankungsraten und der derzeitigen Lebenserwartung         Kinderlähmung, in einigen Regionen der Welt gelungen ist.
basieren [2]. Gemäß der Todesursachenstatistik ist heute         Die komplexen Prozesse der Krebsentstehung sind noch
etwa jeder fünfte Todesfall bei Frauen und jeder vierte bei      längst nicht alle bekannt und nicht in jedem Fall beeinfluss-
Männern auf eine Krebserkrankung zurückzuführen. Krebs­          bar. Prävention von Krebserkrankungen bedeutet daher,
erkrankungen sind damit nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen         den Einfluss bekannter Risikofaktoren zu beseitigen oder
die zweithäufigste Todesursache in Deutschland [3]. Wie          zumindest zu reduzieren, um Krebs zu verhindern und die
diese Krebserkrankungen entstehen und verlaufen, wird von        Zahl der Neuerkrankungen zu senken [8, 9].
vielen Faktoren beeinflusst (Multifaktorialität) [4]. Dazu ge-       Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon
hören Alter, Geschlecht, erbliche Veranlagung (genetische        aus, dass weltweit mehr als 30% aller Krebstodesfälle auf
Disposition), Verhaltens- und Lebensweisen, Unterstützung        den Einfluss lebensstilbedingter Risikofaktoren wie Rauchen
und Beeinflussung durch das soziale Umfeld, Lebens- und          und Alkoholkonsum, Übergewicht und Bewegungsmangel
Arbeitsbedingungen, wirtschaftliche, kulturelle und Um-          zurückzuführen sind, wobei das Rauchen mit etwa 20%
weltbedingungen sowie der Zugang zu Einrichtungen und            den größten Anteil hat [1, 10]. In den westlichen Industrie-
Dienstleistungen beispielsweise im Gesundheits- oder             nationen ist der Anteil mit dem Lebensstil assoziierter Fak-
Bildungswesen [5]. Diese Determinanten wirken in allen ge-       toren vermutlich noch höher: Der World Cancer Research
sellschaftlichen Bereichen, sind fast alle beeinflussbar und     Fund (WCRF) schätzte 2009, dass etwa ein Fünftel bis ein
beeinflussen sich auch wechselseitig.                            Viertel aller Krebserkrankungen in Ländern wie den USA
    Dementsprechend gilt für die Vorbeugung von Krebser-         und Großbritannien durch gesundes Ernährungsverhalten
krankungen auch das, was für Prävention und Gesundheits-         (einschließlich höchstens maßvollen Alkoholkonsum) und
förderung heute generell gilt. Beide sind als gesamtgesell-      mehr Bewegung vermeidbar wäre, wobei hier der Einfluss
schaftliche Aufgaben zu betrachten, zu der Akteure in allen      des Tabakrauchens nicht eingerechnet wurde [8]. Auch die
Bereichen der Gesellschaft einen Beitrag leisten sollten,        Vorbeugung bestimmter chronischer Infektionen unter
entsprechend dem Health-in-all-Policies-Ansatz [6]. Die mit      anderem mit Hepatitis B-, Hepatitis C- und humanen Pa-
dem »Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und            pillomviren (HPV) oder mit dem Bakterium Helicobacter
der Prävention« (Präventionsgesetz – PrävG) vom 17. Juli         pylori kann die Häufigkeit einiger Krebserkrankungen (unter
2015 [7] zu erbringenden verhaltens- und verhältnisbezo-         anderem Leber-, Gebärmutterhals- und Magenkrebs) sen-
genen primärpräventiven Maßnahmen der verschiedenen              ken. Belastungen in der Umwelt und am Arbeitsplatz spielen
Sozialversicherungsträger sollen dazu beitragen, den all-        demgegenüber in Europa zahlenmäßig wahrscheinlich eine
gemeinen Gesundheitszustand zu verbessern und Risiko-            vergleichsweise geringere Rolle, aber auch hier sind Präven-
faktoren zu vermeiden sowie individuelle gesundheitliche         tionsmaßnahmen von hoher Bedeutung [11].

                                                                   Kapitel 5 Primärprävention von Krebserkrankungen              175
Primärprävention von Krebs-erkrankungen 5
5.1.2 Krebsentstehung und Möglichkeiten                        oder durch äußere Faktoren ausgelöst werden. Zu diesen
                         der Prävention                                                 äußeren Einflüssen zählen insbesondere Lebensstilfakto-
                            Das Krankheitsbild Krebs umfasst alle bösartigen            ren, Umweltexpositionen oder Infektionen [13-15]. Abbildung
                         Neubildungen einschließlich Lymphome und Leukämien             5.1.a2 zeigt den Einfluss der Ernährung und einem damit
                         (Krebserkrankungen des lymphatischen und blutbildenden         möglicherweise verbundenen Übergewicht auf den Prozess
                         Systems) [2]. Mittlerweile weiß man, dass ein Tumor in         der Krebsentstehung. Dabei wird deutlich, dass sowohl Ri-
                         mehreren Schritten entsteht (Abbildung 5.1.a1). Im Erbgut,     siko- als auch Schutzfaktoren an unterschiedlichen Stellen
                         dem Genom, sind mehrere Veränderungen (Mutationen)             der Tumorentwicklung ansetzen. So führt beispielsweise
                         erforderlich, damit die Vermehrung und das Verhalten von       eine Insulinresistenz der Körperzellen, hervorgerufen durch
                         Zellen außer Kontrolle gerät und einen bösartigen Tumor        Übergewicht, zu einem erhöhten Insulinspiegel im Blut, der
                         hervorbringt. Die Anzahl der Schritte variiert bei den ein-    die Vermehrung von Zellen fördert (siehe Kapitel 5.2.3). Mi-
                         zelnen Tumorarten. Für einen Tumor der Netzhaut im Auge        neralstoffe wie Selen, das Vitamin Folsäure oder sekundäre
                         (Retinoblastom) genügen beispielsweise zwei Mutationen.        Pflanzenstoffe wie Phenole und Flavonoide, unterstützen
                         Demgegenüber sind fünf bis sechs Veränderungen für ein         hingegen die Reparatur geschädigter Desoxyribonuklein-
                         Karzinom des Enddarms (Rektumkarzinom) notwendig [12].         säure (DNS, Träger der Erbinformation) oder den program-
                            Auch wenn Krebs immer auf bleibenden, das heißt ir-         mierten Zelltod (Apoptose) geschädigter Zellen und können
                         reversiblen Veränderungen im Genom beruht, ist nur ein         so einen Beitrag zur Verhinderung von Krebs leisten. Eine
                         geringer Anteil der Krebserkrankungen tatsächlich auf ge-      abwechslungsreiche und ausgewogene Ernährung deckt
                         netisch vererbte Defekte zurückzuführen. Veränderungen         den Bedarf des Körpers an Mineralstoffen und Vitaminen
                         im Erbmaterial (Mutationen) können spontan auftreten           ab, wie viele Studien zeigen [16].

Abbildung 5.1.a1
Mehrschrittmechanismus
der Tumorentstehung
(Quelle: [12])

                                                                                               Invasives Wachstum

                                                                                               Carcinoma in situ
                                                                                 4. Mutation

                                                                                               Dysplasie
                                                                                  3. Mutation

                                                                                               Hyperplasie
                                                                                  2. Mutation

                                                                                               Epithel

                                                                                               Bindegewebe
                                                                                  1. Mutation

                176        Kapitel 5 Primärprävention von Krebserkrankungen
Primärprävention von Krebs-erkrankungen 5
Abbildung 5.1.a2
                                                                                                                              Einfluss von Ernährung
                                                                                                                              und Übergewicht auf den
                                                                                                                              Prozess der Krebsentste-
                                                                                                                              hung (modifizierte Abbil-
                                                         Normale
       Zeit

                                                                                                                              dung nach [15])
                                                          Zelle
               Krebsfördernde Effekte                                              Krebshemmende Effekte

              Übergewicht, Adipositas,                                                    Reduzierte
              Metabolisches Syndrom            Körperzusammensetzung                   Energieaufnahme

               Übergewicht, Östrogen                 Zellproliferation               Flavonoide, Selen,
                                                                                 reduzierte Energieaufnahme

              Polyzyklische aromatische-
                 Kohlenwasserstoffe,                 Karzinogene,
                                                                                 Zink, Vitamine A, C, E, Selen
                    Entzündungen                    Umweltexposition

                                                                                    DNS
                  Mangelernährung                   Geschädigte DNS                              Selen, Folsäure
                                                                                  Reparatur

                                                     Fehlgeschlagene
                                                        Apoptose                  Apoptose       Polyphenoletose

              Insulin-like-growth Faktor             Differenzierung

                                                        Zelle mit
                                                      DNS-Schäden
                                                     und Mutationen
                                                   Krebspotenzial

5.1.3 Risiko- und Schutzfaktoren der                             Laufe des Lebens wächst die Wahrscheinlichkeit spontaner
Krebsentstehung                                                  Mutationen im Erbgut, gleichzeitig nimmt die Wirksamkeit
    Risikofaktoren können definiert werden als innere oder       von Reparatur- und Abwehrmechanismen ab. Entsprechend
äußere Einflüsse, die bei der Entstehung und dem Verlauf         wächst mit zunehmendem Alter die Wahrscheinlichkeit der
einer Erkrankung nachweislich eine Rolle spielen. Können         Krebsentstehung. Hinzu kommen viele Risikofaktoren, wel-
diese Faktoren beeinflusst oder reduziert werden, lassen sich    che eine unkontrollierte Vermehrung der Zellen oder andere
Krankheiten verhindern. Risikofaktoren können eingeteilt wer-    Mechanismen der Krebsentstehung beeinflussen [18].
den in genetisch-physiologische, verhaltensbezogene, psychi-        Für die Primärprävention, das heißt für die Vermeidung
sche und ökologische Dispositionen. Auch Schutzfaktoren          von Krebserkrankungen, sind jene Risiko- und Schutzfak-
lassen sich in vier Gruppen einteilen: soziale und wirtschaft-   toren besonders wichtig, die prinzipiell beinflussbar und
liche, umwelt-, verhaltensbezogene und psychische Faktoren       somit der Prävention potenziell zugänglich sind. Wichtige
sowie der Zugang zu gesundheitsrelevanten Leistungen.            modifizierbare Risikofaktoren auf der individuellen Ebene
Diese Faktoren können die Gesundheit günstig beeinflussen.       sind unter anderem Tabak- und Alkoholkonsum, unausge-
Ihre Stärkung soll die Gesundheit verbessern und so ebenfalls    wogene Ernährung, Bewegungsmangel, Übergewicht und
die Entstehung von Krankheiten verhindern [17].                  Infektionen. Zu wesentlichen Schutzfaktoren zählen unter
    Für verschiedene Krebsarten spielen unterschiedliche         anderen eine ausgewogene Ernährung mit ausreichendem
Risikofaktoren eine Rolle. Wichtigster, aber nicht beeinfluss-   Obst- und Gemüsekonsum, körperliche Aktivität und indivi-
barer Faktor für fast alle Krebserkrankungen ist das Alter. Im   duelle Bewältigungsressourcen.

                                                                   Kapitel 5 Primärprävention von Krebserkrankungen           177
Primärprävention von Krebs-erkrankungen 5
Die Latenzzeit zwischen der Exposition gegenüber einem         den Umwelt-, Verbraucher- und Arbeitsschutz.
             Risikofaktor und einer Krankheitsentstehung macht es oft              Neben den direkten Ursachen von Krebs, spielen aber
             schwer, einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Ri-               auch indirekte Faktoren (»causes of the causes«) eine we-
             siko- und Schutzfaktoren und Krebs herzustellen. Erkennt-          sentliche Rolle. Gerade lebensstilbedingte Risikofaktoren
             nisse darüber stammen zumeist aus epidemiologischen                werden durch soziale und ökonomische Umstände sowie
             (Beobachtungs-)Studien, aber auch aus Tierexperimenten             das äußere Lebensumfeld beeinflusst. Modifizierungen die-
             [18, 19]. Eine der Aufgaben der Internationalen Krebsfor-          ser indirekten Faktoren können das Verhalten sowohl auf der

INFoBox 8    Klassifikation der Karzinogenität von Agenzien (nach [20])

             Gruppe 1:                                                            belegt bei Tierexperimenten
             – Der Risikofaktor/das Agens ist karzinogen                        – Beispiele: Blei, Nickel, Chloroform, Benzin, bestimmte
             – Es gibt genügend Evidenz für die Karzinogenität beim               hormonelle Verhütungsmittel
               Menschen
             – Beispiele: Ionisierende Strahlung, Formaldehyd,                  Gruppe 3:
               alkoholische Getränke, Tabak, HPV-Viren (Hochrisi-               – Der Risikofaktor/das Agens ist nicht klassifizierbar
               ko-Typen), Hepatitis B/C Viren, Helicobacter pylori                hinsichtlich seiner Karzinogenität beim Menschen
                                                                                – Die Evidenz ist sowohl beim Menschen als auch bei
             Gruppe 2A:                                                           Tierexperimenten inadäquat oder eingeschränkt
             – Der Risikofaktor/das Agens ist wahrscheinlich                      Weitere Forschung ist nötig
               karzinogen                                                       – Beispiele: Diazepam, Diesel, Haarfärbeprodukte, Tee,
             – Die Evidenz für die Karzinogenität beim Menschen ist               Hepatitis-D-Virus
               eingeschränkt, aber ausreichend bei Tierexperimenten
             – Beispiele: Acrylamid, Glyphosate, Nitrate/Nitrit (unter          Gruppe 4:
               bestimmten Aufnahmebedingungen), rotes Fleisch,                  – Der Risikofaktor/das Agens ist möglicherweise nicht
               Schichtarbeit (bei Störung des Tag/Nacht-Rhythmus)                 karzinogen
                                                                                – Die Evidenz lässt fehlende Karzinogenität bei Mensch
             Gruppe 2B:                                                           und Tier vermuten
             – Der Risikofaktor/das Agens ist möglicherweise                    – Caprolactam (bisher einziger in dieser Gruppe einge-
               karzinogen                                                         stufter Stoff/Risikofaktor)
             – Die Evidenz für die Karzinogenität beim Menschen
               ist eingeschränkt und auch nicht ganz ausreichend

             schungsagentur (IARC) ist es, die weltweiten Studienergeb-         individuellen als auch auf der Bevölkerungsebene verändern
             nisse über den Einfluss verschiedener Risikofaktoren auf           und somit ebenfalls zur Reduzierung des Krebsrisikos bei-
             einzelne Krebsarten zusammenzutragen und immer wieder              tragen [8]. Der sozioökonomische Status ist ein wesentliches
             neu zu bewerten. Nicht immer kann die Frage nach krebsaus-         Element dieser indirekten Faktoren. Bei Personen mit niedri-
             lösenden Eigenschaften von Stoffen oder anderen Einflüssen         gem sozialen Status, in der Regel definiert durch einen gerin-
             für den Menschen abschließend und mit hoher Sicherheit             gen Bildungsgrad und ein niedriges Haushaltseinkommen,
             beurteilt werden, daher erfolgt eine Einteilung in Evidenzklas-    kommen deutlich häufiger lebensstilbedingte Risikofaktoren
             sen. (siehe Infobox 8) [20]. Tabak- und Alkoholkonsum, aber        zum Tragen als bei Personen mit hohem Sozialstatus [21].
             auch UV-Strahlung, Radon- und Asbestbelastungen sowie              Vor dem Hintergrund der sozial bedingten gesundheitlichen
             Bewegungsmangel sind beispielsweise in der Evidenzklasse           Ungleichheit wird in Public-Health-Strategien den sozialen
             I eingestuft und gelten damit als ursächlich für verschiedene      Determinanten von Gesundheit eine große Bedeutung für
             Krebsarten. Ein hoher Evidenzgrad sagt jedoch noch nichts          Prävention und Gesundheitsförderung beigemessen [22,
             über die Stärke der Risikoerhöhung bzw. über die Dosis aus,        23]. International wird dies mit der Strategie »Gesundheit in
             ab der eine relevante Risikoerhöhung zu erwarten ist bzw. die      allen Politikfeldern« (»Health-in-all-Policies«) aufgegriffen
             noch als »unschädlich« betrachtet wird. Auch lässt sich der        [6]. Ziel ist es, die multifaktoriellen Ursachen von Gesund-
             Einfluss nicht aller Stoffe oder sonstigen Faktoren, für die ein   heit und Krankheit zu beeinflussen und alle Politikfelder,
             Zusammenhang mit Krebserkrankungen belegt oder wahr-               also auch diejenigen außerhalb des Gesundheitswesens, an
             scheinlich ist, vollständig vermeiden. Für viele potentiell        Prävention und Gesundheitsförderung zu beteiligen (Ge-
             krebsauslösende Stoffe werden daher auf europäischer und           sundheit als Querschnittsthema).
             nationaler Ebene Grenzwerte festlegt, unterhalb derer ein
             Risiko als unwahrscheinlich oder zumindest gering angese-          5.1.4 Begriffsklärungen und
             hen wird. Wo ein Umgang mit krebsverursachenden Subs-              Rahmenbedingungen der Krebsprävention
             tanzen, etwa am Arbeitsplatz, unabdingbar ist, sind best-             Die Anforderungen an die Krebsprävention ergeben sich
             mögliche Schutzmaßnahmen zu entwickeln und zu                      zum einen aus den oben dargestellten Besonderheiten der
             etablieren. Krebsprävention ist damit nicht nur ein gesund-        Entstehung einer Krebserkrankung und ihrer Verteilung in
             heitspolitisches Thema, sondern betrifft insbesondere auch         der Bevölkerung. Zum anderen beruht Krebsprävention auch

       178     Kapitel 5 Primärprävention von Krebserkrankungen
auf den zur Verfügung stehenden bevölkerungsbezogenen              zum Beispiel. am Arbeitsplatz oder in der Wohnumgebung,
Gesundheitsstrategien (Public-Health-Strategien) der Pri-          zu berücksichtigen. Die Angebote setzen vielmehr auf Infor-
märprävention und Gesundheitsförderung [24]. Im Folgen-            mationsvermittlung, Beratung und Training.
den werden deshalb zentrale Ansätze und Rahmenbedingun-                Verhältnisprävention hingegen befasst sich mit der
gen der allgemeinen Prävention und Gesundheitsförderung            biologischen, technischen, organisatorischen und sozialen
vorgestellt. Die Präventionskonzepte für spezifische Risiko-       Umwelt sowie deren Auswirkungen auf die Entstehung von
faktoren werden anschließend im Kapitel 5.2 beschriebenen.         Krankheiten. Ziel der verhältnispräventiven Krebsprävention
    Krebsprävention umfasst alle Aktivitäten, die Risikofaktoren   ist es, negative Einflüsse von Umwelt- und Lebensbedin-
reduzieren und Bedingungen verändern, um Krebserkrankun-           gungen auf die Gesundheit sowie Krankheits- und Unfallur-
gen zu vermeiden, zu verzögern oder weniger wahrscheinlich         sachen in der Lebens- und Arbeitswelt zu beseitigen oder
zu machen. Der Fokus liegt dabei auf der Krankheitsvermei-         zumindest zu reduzieren. Verhältnispräventive Maßnahmen
dung (pathogenetische Perspektive) durch die Reduktion von         sind zum Beispiel Veränderungen der Arbeitsbedingungen in
Belastungen bzw. Expositionen. Präventionsmaßnahmen kön-           den Betrieben, Nichtraucherschutzgesetze, der Ausbau von
nen im Krankheitsverlauf an verschiedenen Stellen ansetzen:        Fahrradwegen oder die Reduzierung der Luftverschmutzung.
vor Krankheitsbeginn (Primärprävention), im Frühstadium                Neben den verschiedenen genannten primärpräven-
einer Erkrankung (Sekundärprävention) und nach Ausbildung          tiven Ansätzen kommen heute zunehmend Maßnahmen
der Krankheit, einschließlich Behandlung, Rehabilitation und       zur Gesundheitsförderung zum Einsatz. Gesundheitsför-
Nachsorge (Tertiärprävention). Die Primärprävention soll Ge-       derung zielt darauf ab, personale, soziale und materielle
sundheit erhalten und die Entstehung von Erkrankungen mög-         Ressourcen für die Gesunderhaltung zu stärken. Ziel ist,
lichst verhindern, beispielsweise Gebärmutterhalskrebs durch       gesundheitsrelevante Belastungen zu vermeiden oder zu
eine HPV-Impfung. Maßnahmen der Sekundärprävention sind            bewältigen (salutogenetische Perspektive) [29]. Der Einzelne
gezielte medizinische Untersuchungen zur Früherkennung             soll befähigt werden, durch selbstbestimmtes Handeln
von Krebserkrankungen bei Erwachsenen (siehe Kapitel 6). Ist       seine Gesundheit zu schützen (Empowerment). Leistungen
eine Erkrankung bereits ausgebildet, sollen tertiärpräventive      der Krankenkassen zur Gesundheitsförderung zielen auch
Maßnahmen Komplikationen verhindern oder hinauszögern              auf die »Förderung des selbstbestimmten gesundheitsori-
bzw. das Wiederauftreten einer Krebserkrankung nach erfolg-        entierten Handelns der Versicherten«, siehe §20 Abs. 1 Satz
reicher Behandlung unterbinden (siehe Kapitel 3, Kapitel 4,        1 SGB V [7]. Zudem gilt es, die gesellschaftlichen Rahmen-
Kapitel 8).                                                        bedingungen gesundheitsförderlicher zu gestalten [30]. Die
    Grundsätzlich können sich Krebspräventionsmaßnahmen            Partizipation der Zielgruppen ist ein wesentliches Prinzip
entweder an die Gesamtbevölkerung, an besonders gefähr-            gesundheitsförderlicher Aktivitäten. Wichtig ist außerdem
dete Gruppen oder an Personen, bei denen bereits Krank-            eine gesundheitsförderliche Gestaltung der gesundheits-
heitsvorstufen entdeckt wurden richten [25, 26]. Besonders         relevanten Lebenswelten: Dazu gehören Settings wie Ar-
gefährdete Gruppen sind die mit erhöhten »Erkrankungs-, Be-        beitsplatz, Schule, Kindergarten, Krankenhaus, Pflegeheim,
hinderungs- oder Sterbewahrscheinlichkeiten«, die häufig mit       Hochschule, Gemeinde oder Wohnquartier. Durch die
einem niedrigen Sozialstatus kombiniert oder in geschlechts-       aktive Einbindung von Zielgruppen vor Ort ist es möglich,
spezifischen Unterschieden begründet sind. Die größten Ef-         auch diejenigen anzusprechen, die bislang für »Gesund-
fekte auf Bevölkerungsebene verspricht in der Regel die so ge-     heitsthemen« am wenigsten erreicht werden konnten. Ge-
nannte Bevölkerungsstrategie. Sie ist krankheitsübergreifend       sundheitsfördernde Aktivitäten im Setting mit Angeboten
angelegt und zielt auf die Reduktion von Hauptrisikofaktoren       für verschiedene Bevölkerungsgruppen gelten deshalb als
der entsprechenden Bevölkerung, beispielsweise Tabak- und          geeignet, gesundheitliche Ungleichheit zu verringern und
Alkoholkonsum, Bewegungsmangel und unausgewogene                   damit Gesundheitschancen in der gesamten Bevölkerung
Ernährung. Diese Faktoren liegen großen Volkskrankheiten           zu erhöhen. Dieses Verständnis von Gesundheit und Ge-
- etwa Krebs, Herz-Kreislauferkrankungen und Diabetes - häu-       sundheitsförderung geht auf die 1986 verabschiedete Ot-
fig gemeinsam zugrunde. Die Bevölkerungsstrategie richtet          tawa-Charta zurück. Diese definiert Gesundheitsförderung
sich an die Bevölkerung insgesamt, um damit große Gruppen          als einen Prozess, der »allen Menschen ein höheres Maß an
für Präventionsmaßnahmen erreichen zu können. Demge-               Selbstbestimmung über ihre Gesundheit ermöglicht und sie
genüber orientiert sich eine Hochrisiko-Strategie an Personen      damit zur Stärkung ihrer Gesundheit befähigt.« [31].
mit hohem Erkrankungsrisiko und ist für diese potenziell mit           Die verschiedenen präventiven und gesundheitsför-
einem hohen individuellen Nutzen verbunden [27].                   derlichen Maßnahmen sollten für eine bevölkerungsweite
    Krebsprävention kann sowohl die Veränderung des Ver-           Wirkung so weit wie möglich aufeinander abgestimmt sein
haltens von Individuen und Gruppen (Verhaltenspräven-              und auf vielen Ebenen ansetzen. So lassen sich beispiels-
tion) zum Ziel haben als auch Veränderungen der Umwelt in          weise Beratungs- und Informationsangebote kombinieren
allen Lebensbereichen (Verhältnisprävention) [28]. Mittels         mit politisch-strukturellen Maßnahmen und Vernetzungs-
verhaltenspräventiver Maßnahmen sollen gesundheitsrele-            angeboten vor Ort (Mehrebenen-Interventionen) [32]. Diese
vante Verhaltensweisen so eingeübt werden, dass sie als            allgemeine Forderung gilt auch für eine bevölkerungsweit
Routine in den Alltag übernommen werden und sich damit             wirksame Vorbeugung von Krebserkrankungen. Dem steht
langfristig positiv auf die Gesundheit auswirken. Diese Maß-       die praktische Umsetzung und Organisation von Prävention
nahmen konzentrieren sich auf das individuelle Gesund-             und Gesundheitsförderung in Deutschland bisher teilweise
heitsverhalten, beispielsweise auf die körperliche Aktivität,      noch entgegen, die durch eine vielfältige Trägerstruktur
ohne jedoch die konkreten Bedingungen in der Lebenswelt            (Trägerpluralität) gekennzeichnet ist. Verschiedene staatli-
der Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Maßnahme,                 che Institutionen, öffentlich-rechtliche Körperschaften wie

                                                                     Kapitel 5 Primärprävention von Krebserkrankungen             179
die gesetzlichen Krankenkassen, freie Träger und private        Millionen Euro für Gesundheitsförderung und Prävention
      Organisationen auf Bundes-, Landes- und kommunaler              zur Verfügung zu stellen [7]. Diese Mittel sollen auch die
      Ebene des Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesens als          Vorbeugung von Krebserkrankungen stärken.
      auch des Arbeits- und Freizeitbereiches haben Prävention            Neben einer abgestimmten Präventionsstrategie und
      und Gesundheitsförderung als Ziel beziehungsweise als           einer ausreichenden Finanzierung werden Qualitätssiche-
      einen Teil ihrer Aufgaben definiert [28, 33]. Bei der Fülle     rung und Wirksamkeitsnachweise der Primärprävention,
      von Anbietern im Bereich der Primärprävention und Ge-           auch in der Krebsprävention, immer wichtiger. Da Primär-
      sundheitsförderung ist eine Koordination der Maßnahmen          prävention auf gesunde Personen abzielt, darf sie durch un-
      sinnvoll. Dennoch wurden diese in Deutschland bislang           erwünschte Nebenwirkungen nicht zu Schäden führen. Die
      kaum aufeinander abgestimmt [34]. Ein Resultat dieser The-      wissenschaftliche Bewertung der Maßnahmen (Evidenzba-
      menpluralität war, dass viele Maßnahmen häufig nur als          sierung) soll die notwendige Sicherheit geben. Evidenzba-
      kurzfristige Einzelprojekte umgesetzt werden, die nur ein-      sierung im Bereich von Prävention und Gesundheitsförde-
      zelne verhaltensbezogene Risikofaktoren beeinflussen [35].      rung bedeutet, nur solche Maßnahmen umzusetzen, für die
          Durch die nun mit dem Präventionsgesetz etablierte Na-      aus Bevölkerungsdaten ein Bedarf abgeleitet werden kann
      tionale Präventionskonferenz soll sich die Abstimmung der       und die sich in systematischen Untersuchungen als wirksam
      verschiedenen Sozialversicherungsträger untereinander und       erwiesen haben [39]. Ein solches Vorgehen setzt zunächst
      mit weiteren zentralen Akteuren im Bereich der Prävention       eine Bedarfsermittlung für einzelne konkrete Maßnahmen
      und Gesundheitsförderung, insbesondere in den Ländern           und eine Prüfung der Umsetzbarkeit vor Ort voraus. Dazu
      und Kommunen sowie mit den Unternehmen der privaten             gehören Erkenntnisse über lokale gesundheitliche Problem-
      Krankenversicherung verbessern [7]. Einen wichtigen Schritt     lagen sowie über bereits durchgeführte beziehungsweise
      dazu hat die Nationale Präventionskonferenz im Februar 2016     laufende Maßnahmen. Eine entsprechende Berichterstat-
      mit der Verabschiedung der ersten bundeseinheitlichen und       tung ist in Deutschland bislang jedoch nur eingeschränkt
      trägerübergreifenden Rahmenempfehlungen zu Prävention           verfügbar [40]. Auch sind bisher nur wenige Maßnahmen
      und Gesundheitsförderung in Lebenswelten getan [36]. Auf        der Primärprävention und Gesundheitsförderung systema-
      dieser Grundlage sollen nun in den Ländern entsprechende        tisch evaluiert worden, so dass auch nur für wenige Ansätze
      Landesrahmenvereinbarungen geschlossen werden.                  ein entsprechender Nachweis vorliegt [41].
          Für eine bessere thematische Abstimmung und Schwer-             Da zwischen der Exposition gegenüber einem Risikofaktor
      punktsetzung werden seit dem Jahr 2000 Gesundheitsziele         und der Entstehung einer Krebs- oder anderen Erkrankung
      auf Bundes- und Landesebene erarbeitet. In diesem Prozess       ein mehr oder weniger langer Zeitraum liegen kann, ist eine
      entwickelte der Kooperationsverbund gesundheitsziele.de         direkte Messung der Wirkung von präventiven Maßnahmen
      aus Public-Health-Sicht übergeordnete und abgestimmte           auf die Gesundheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer oft
      prioritäre nationale Gesundheitsziele für die Prävention und    nicht zu verwirklichen. Personen, die an einer Maßnahme
      Gesundheitsförderung [37]. Für die Krebsprävention sind die     teilnehmen, müssten dazu über Jahre oder Jahrzehnte hin-
      Gesundheitsziele »Gesund aufwachsen: Lebenskompetenz,           weg beobachtet und untersucht werden, um entsprechende
      Bewegung, Ernährung«, »Gesund älter werden«, »Brust-            Effekte nachweisen zu können. Auch sind randomisierte klini-
      krebs: Mortalität vermindern, Lebensqualität erhöhen«, »Ta-     sche Studien (Studien mit Zufallsverteilung von Patientinnen
      bakkonsum reduzieren«, und »Alkoholkonsum reduzieren«           und Patienten in Behandlungs- und Kontrollgruppen), wie
      von Bedeutung. Die Stärkung der Gesundheitsziele ist durch      sie zum Wirkungsnachweis in der klinischen Medizin gefor-
      ihre Aufnahme in das Präventionsgesetz realisiert worden [7].   dert werden, aus ethischen, methodischen und finanziellen
          Das meiste Geld für Prävention und Gesundheitsförde-        Gründen im Bereich der Prävention nur schwer anwendbar
      rung hat die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) aufge-       [18, 19]. Einfacher ist es zu untersuchen, wie Maßnahmen
      wendet. So haben die Krankenkassen zum Beispiel im Jahr         das Vorhandensein bzw. die Häufigkeit von Risiko- und
      2014 für den Bereich »Prävention und Gesundheitsschutz«         Schutzfaktoren selbst beeinflussen. Solche Studien zeigen,
      nach der Gesundheitsausgabenrechnung des Statistischen          ob Verhaltensweisen oder auch bestimmte Verhältnisse in
      Bundesamtes (GAR) insgesamt 5,3 Milliarden Euro aus-            gewünschter Richtung beeinflusst wurden. Sie geben etwa
      gegeben [38]. Die GAR umfasst hier ganz verschiedene            Antwort auf die Frage, ob es gelungen ist, mit bestimmten
      Leistungen wie Informations- und Aufklärungsmaßnahmen           Maßnahmen den Tabak- und Alkoholkonsum zu reduzie-
      im Rahmen der Mutterschaftsvorsorge, der zahnprophylak-         ren oder dafür zu sorgen, dass sich die Menschen mehr
      tischen Leistungen, Impfungen, Selbsthilfegruppen etc.          bewegen. Gerade für Faktoren, bei denen ein ursächlicher
      Die gesetzliche Verpflichtung der GKV zur Prävention und        Zusammenhang mit bestimmten Erkrankungen wissen-
      Gesundheitsförderung nach §20 Sozialgesetzbuch Fünftes          schaftlich bereits gut belegt ist, kann ein solcher indirekter
      Buch (SGB V) schlug sich in den Ausgaben indes bislang          Nachweis als ausreichend für den Beleg der Wirksamkeit
      nur zu einem geringen Teil nieder. Weniger als ein Prozent      einer Maßnahme angesehen werden. Die Evaluierung des
      aller Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen entfielen         Gesundheitsziels »Tabakkonsum reduzieren« ergab bei-
      2014 auf Gesundheitsförderung, einschließlich Primärprä-        spielsweise, dass viele Interventionen zum Einsatz kamen
      vention [38]. Das Präventionsgesetz sieht nun eine deutliche    und Teilziele erreicht wurden. So gelang es, die Prävalenz von
      Erhöhung des Richtwerts der Ausgaben der gesetzlichen           Raucherinnen und Rauchern bei Jugendlichen zu senken.
      Krankenkassen für Prävention und Gesundheitsförderung           Dennoch besteht weiterhin großer Handlungsbedarf in der
      nach §20 SGB V auf sieben Euro je Versichertem und Jahr         Tabakprävention (siehe Kapitel 5.2.1). Diese Erkenntnisse der
      vor. Ab dem Jahr 2016 sind dementsprechend die gesetz-          Evaluierung waren Grundlage für die Aktualisierung des oben
      lichen Kranken- und Pflegekassen verpflichtet, etwa 500         genannten. Gesundheitsziels [42, 43].

180     Kapitel 5 Primärprävention von Krebserkrankungen
5.2 Prävention von Krebserkrankungen bei ausgewählten
Risikofaktoren
    Das Kapitel behandelt zunächst die wichtigsten lebens-        Erwachsenen. Nach Ergebnissen der RKI-Studie »Gesund-
stilbedingten Risikofaktoren, die nach Einschätzungen der         heit in Deutschland aktuell 2012« (GEDA 12) rauchen in
Weltgesundheitsorganisation (WHO), des World Cancer               Deutschland dennoch 27,6% der Erwachsenen täglich oder
Research Funds (WCRF) sowie der Internationalen Krebs-            gelegentlich. Der Anteil rauchender Frauen (Alter 18+) ist
forschungsagentur (IARC) als ursächlich für die Entstehung        mit 23,9% etwas geringer als jener der Männer (Alter 18+)
von Krebs gelten [10, 44, 45] (siehe Kapitel 5.1.3). Sie sind     mit 31,4%. Etwa die Hälfte der Frauen und ein Drittel der
im Gegensatz zu den Faktoren wie Alter oder genetische            Männer in Deutschland geben an, nie geraucht zu haben.
Disposition beeinflussbar und somit der primären Präven-          Am stärksten ist das Rauchen bei beiden Geschlechtern
tion prinzipiell zugänglich. Einige dieser Faktoren sind in       im jungen und mittleren Erwachsenenalter verbreitet [53].
der deutschen Bevölkerung weit verbreitet, so dass sie auf        Während der Anteil der Raucher bereits mindestens seit
Bevölkerungsebene ein erhebliches Präventionspotenzial            Anfang der 1990er Jahre rückläufig ist, stieg der Anteil der
bieten. Tabakkonsum gilt dabei als wichtigster beeinfluss-        Raucherinnen noch bis 2003 sukzessive an und geht erst
barer Risikofaktor. Hinzu kommen unausgewogene Ernäh-             in den letzten Jahren leicht zurück [54]. Deutlich stärker
rung, Alkoholkonsum, Übergewicht und Bewegungsmangel.             zurückgegangen ist der Raucheranteil bei den Jugendlichen
Auch Umweltexpositionen wie UV-Strahlung oder Feinstaub           zwischen 12 und 17 Jahren, der sich nach Erhebungen der
gehören zu den modifizierbaren Krebsrisikofaktoren.               BZgA zwischen 2001 und 2015 mehr als halbiert hat und
Infek­tionsbedingte Krebserkrankungen wie Gebärmutter-            seitdem für beide Geschlechter konstant bei etwas unter
hals- oder Leberkrebs bieten ein besonderes Präventions-          8% liegt [55]. Der deutliche Rückgang kann anhand der Er-
potenzial, da sie zum Teil durch Impfungen oder andere            gebnisse der RKI-Studie zur Gesundheit von Kindern und
Maßnahmen vermeidbar sind. Besondere Bedeutung in der             Jugendlichen (KiGGS) in Deutschland bestätigt werden [56].
primären Krebsprävention kommt auch den Expositionen                 Neben der Aufklärung über seine schädlichen Wirkun-
am Arbeitsplatz zu.                                               gen, kann der Tabakkonsum vor allem auf zwei Wegen redu-
                                                                  ziert werden. Zum einen können Steuererhöhungen, Werbe-
5.2.1 Rauchen/Tabakkonsum                                         verbote, Produktregulationen oder individuelle/schulische
    Tabakkonsum gilt als der wichtigste Risikofaktor für Krebs­   Suchtpräventionsprogramme die Nachfrage senken. Zum
erkrankungen und als das größte vermeidbare Gesundheits-          anderen sollen Abgabeverbote, Schmuggelbekämpfung und
risiko in Deutschland. Hier sterben jährlich 110.000 Men-         der Abbau von Subventionen das Angebot an Tabakproduk-
schen an den Folgen des Tabakkonsums [46]. Bestandteile           ten reduzieren.
im Tabakrauch – wie zum Beispiel polyzyklische aromatische
Kohlenwasserstoffe – schädigen die Erbsubstanz und kön-              KERNAUSSAGEN
nen so Mutationen erzeugen. Untersuchungen zeigen, dass
Karzinogene im Zigarettenrauch beispielsweise Mutationen             Der Tabakkonsum gilt als wichtigster beeinflussbarer Risikofaktor und
des Gens TP53 verursachen, die bei der Entstehung von                ist mit einer Vielzahl von Krebserkrankungen assoziiert.
Lungentumoren eine Rolle spielen [47]. Nach Einschätzung
der IARC bestehen unter anderem für Krebserkrankungen                Knapp 30% der Erwachsenen und knapp 8% der 12- bis 17-Jährigen in
der Lunge, der oberen Atemwege, der Speiseröhre und der              Deutschland rauchen täglich oder gelegentlich.
Harnwege hinreichende Belege dafür, dass Tabakkonsum
das Erkrankungsrisiko erhöht. Durch die schädigende Wir-             Wesentliche Maßnahmen zur Tabakprävention sind verhältnisori-
kung auf die Blutgefäße und Atemwege ist Tabakkonsum                 entierte Maßnahmen, die durch eine Veränderung bestimmter Rah-
unter anderem auch für einen großen Anteil von Herz-Kreis-           menbedingungen das Konsumverhalten beeinflussen. Hierzu zählen
lauf-Erkrankungen und chronischen Lungenerkrankungen                 ­Steuererhöhungen, Nichtraucherschutzgesetze, Abgabebeschränkungen
verantwortlich [48, 49]. Für Deutschland wird geschätzt,              oder auch Werbeverbote.
dass die direkten gesundheitsbezogenen Folgekosten (2015
etwa 25,4 Milliarden Euro) durch Tabakkonsum die Einnah-             Eine Erweiterung dieser Maßnahmen im Rahmen einer umfassenden
men aus der Tabaksteuer (2015 etwa 14,9 Milliarden Euro)             Tabakkontrollpolitik sollte angestrebt werden.
deutlich übersteigen [50].
    Die Reduzierung des Tabakkonsums ist damit ein we-
sentliches Public-Health-Ziel mit einem erheblichen Prä-             Eine wesentliche Maßnahme zur Senkung der Nachfrage
ventionspotenzial. Etwa 72.000 Krebsfälle pro Jahr – 16%          nach Tabakprodukten ist die staatliche Preisregulierung
aller Neuerkrankungen – in Deutschland lassen sich auf            mittels Steuererhöhungen. Insbesondere Kinder und Ju-
das aktive Rauchen zurückführen und wären somit poten-            gendliche reagieren in ihrem Konsumverhalten stark auf
ziell vermeidbar [51]. Hinzu kommen jährlich knapp 300            Preisänderungen und könnten somit durch hohe Preise für
Neuerkrankungen an Lungenkrebs bei Nichtraucherinnen              Tabakwaren vom Rauchen abgehalten werden. Der oben
und -rauchern aufgrund von Passivrauchbelastung [52]. In          beschriebene Rückgang bei den 12- bis 17-Jährigen wird auch
den letzten zehn Jahren ist der Anteil der Raucherinnen und       auf die deutlichen Steuererhöhungen der Jahre 2002 bis
Raucher leicht zurückgegangen, insbesondere bei jungen            2005 in Deutschland zurückgeführt (Abbildung 5.2.a1) [57].

                                                                    Kapitel 5 Primärprävention von Krebserkrankungen             181
Gleichzeitig mit dem Rückgang des Tabakkonsums ist eine                                                              Einem unlängst auf den Weg gebrachten Gesetzesentwurf
                            zunehmende Verbreitung des Wasserpfeifenkonsums, das                                                                 der Bundesregierung zufolge ist eine Ausweitung des Wer-
                            sogenannte Shisha-Rauchen, unter Jugendlichen und jun-                                                               beverbots auf Außenflächen (Ausnahme Fachgeschäfte und
                            gen Erwachsenen zu verzeichnen. Obwohl dieser Konsum                                                                 Verkaufsstellen) und auf Kinofilme mit Altersfreigabe unter
                            als ebenso gesundheitsgefährdend gilt, schätzen die Konsu-                                                           18 Jahren zwar geplant, eine Umsetzung allerdings erst ab
                            mentinnen und Konsumenten das Shisha-Rauchen – im                                                                    2020 vorgesehen [65]. In der aktuellen EU-Richtlinie für Ta-
                            Vergleich zur Zigarette – als weniger schädlich ein und                                                              bakerzeugnisse (2014/40/EU) werden weitergehende Vor-
                            geben daher in Befragungen teilweise an, Nichtraucherin-                                                             schriften bezüglich Herstellung, Aufmachung und Verkauf
                            nen und Nichtraucher zu sein [58, 59].                                                                               von Tabakerzeugnissen gemacht. So müssen gesundheits-
                                Staatliche Rauchverbote im öffentlichen Raum regulieren                                                          relevante Warnhinweise (Text und Bild) 65% der Vorder- und
                            ebenfalls das Konsumverhalten. Sie schränken die Möglich-                                                            Rückseite von Tabakproduktverpackungen bedecken und es
                            keit des Tabakkonsums ein und tragen indirekt dazu bei,                                                              wird ein Mindestmaß für Warnhinweise festgelegt [66]. Die
                            dass das Rauchen in bestimmten Bevölkerungsgruppen                                                                   Umsetzung ist seit Mai 2016 in nationales Recht erfolgt
                            weniger gesellschaftsfähig erscheint. Seit dem Jahr 2002                                                             (siehe Kapitel 7.7). Bereits produzierte oder in den Verkehr
                            [62] wurden in Deutschland in mehreren Schritten Ge-                                                                 gebrachte Schachteln ohne bildliche Warnhinweise dürfen
                            setzesänderungen zum Nichtraucherschutz umgesetzt.                                                                   jedoch noch bis Mai 2017 weiter verkauft werden. Im Zuge
                            Eine neue Arbeitsstättenverordnung, die das Rauchen am                                                               dieser Gesetzesänderungen wurden die bestehenden Wer-
                            Arbeitsplatz untersagt, machte den Anfang. 2007 trat das                                                             beverbote auch auf elektronische Inhalationsprodukte, zum
                            Bundesnichtraucherschutzgesetz in Kraft. Es verbietet das                                                            Beispiel E-Zigaretten, ausgeweitet.
                            Rauchen in öffentlichen Einrichtungen des Bundes, öffent-                                                                Eine wesentliche Maßnahme zur Senkung des Ange-
                            lichen Verkehrsmitteln und Bahnhöfen zum Schutz vor                                                                  botes an Tabakprodukten ist das Abgabeverbot von Tabak
                            Passivrauchen [63]. Die Bundesländer folgten mit Landes-                                                             an Jugendliche unter 18 Jahren. Diese Altersgrenze wurde
                            nichtraucherschutzgesetzen, die zusätzlich das Rauchen                                                               2007, zeitgleich mit der Einführung der Nichtraucherschutz-
                            in Sportstätten, medizinischen Einrichtungen und in der                                                              gesetze, von 16 auf 18 Jahre angehoben. Jugendlichen soll
                            Gastronomie prinzipiell verbieten. Allerdings gibt es einige,                                                        somit der Zugang zu Tabakprodukten verwehrt werden, um
                            je nach Bundesland unterschiedlich weitgehende Ausnah-                                                               den Rauchbeginn zu verhindern oder zumindest hinauszu-
                            meregelungen [64].                                                                                                   zögern. Seit dem 1. April 2016 fallen auch E-Zigaretten und
                                Weitere gesetzliche Maßnahmen zur Reduzierung des                                                                E-Shishas unter das Abgabe- und Konsumverbot nach dem
                            Tabakkonsums sind Einschränkungen der Tabakwerbung                                                                   Jugendschutzgesetz [67].
                            sowie textliche und bildliche Warnhinweise auf Tabak­                                                                    Im Bereich der verhaltenspräventiven Maßnahmen
                            verpackungen. Diese sollen Bürgerinnen und Bürger davon                                                              werden in Deutschland vor allem Schulprogramme
                            abhalten, mit dem Rauchen zu beginnen beziehungsweise                                                                zur Tabakprävention wie »Be smart – Don´t start!« und
                            zum Rauchstopp motivieren. Im Jahr 2002 wurde in                                                                     »Klasse2000« oder Suchtpräventionsprogramme der
                            Deutschland das Tabakwerbeverbot in Printmedien und                                                                  gesetzlichen Krankenkassen eingesetzt. Die Teilnahme an
                            dem Internet eingeführt. Die Plakataußenwerbung, Tabak-                                                              diesen Programmen ist jedoch freiwillig, es entscheiden
                            werbung am Verkaufsort sowie Kinowerbespots in Vorstel-                                                              jeweils die Schule und deren Lehrkräfte. Dementsprechend
                            lungen nach 18 Uhr sind allerdings weiterhin erlaubt [42].                                                           haben die beiden schulischen Tabakpräventionsprogramme

                                                                                30                                                                                                                              18

                                                                                                                                                                                                                     Steuer von Fabrikzigaretten in ct/St.
                            Anteil jugendlicher Raucherinnen und Raucher in %

Abbildung 5.2.a1
Anteil von Raucherinnen
und Rauchern unter 12                                                                28,1                                                                                                                       16
                                                                                                              27,5
bis 17-jährigen Jugendli-                                                       25
chen in Deutschland und                                                                                                                                                                           15,2   15,5
                                                                                                                                                                                           14,9                 14
durchschnittliche Tabak-                                                                                                                                                     14,2   14,5
                                                                                                                                   23,5          13,8   13,9 13,9     14,0
steuer (Datenbasis [60,                                                                                                    22,5           13,5
                                                                                20                                                                                                                              12
61])
                                                                                                                                          20,0
                                                                                                                                   11,3
                                                                                                                                                                                                                10
                                                                                                                                                        17,7
                                                                                15                                         10,0
                                                                                                                     9,1                                       15,4                                             8
                                                                                                  7,7   7,8   8,0                                                            12,9
                                                                                     7,4    7,6
                                                                                10                                                                                                  11,7   12,0                 6
                                                                                                                                                                                                         9,7
                                                                                                                                                                                                                4
                                                                                 5
                                                                                                                                                                                                                2

                                                                                0                                                                                                                               0
                                                                                     1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014

                                                                                            Jugendliche Raucherinnen und Raucher             Durchschnittliche Steuer

                                                                                                                                             Jahr

                   182                                           Kapitel 5 Primärprävention von Krebserkrankungen
zwar relativ betrachtet eine große Reichweite, erreichen        5.2.2 Alkohol
aber bevölkerungsweit nur einen geringen Anteil der Kinder         Der Genuss von Alkohol (chemisch: Ethanol) ist neben
und Jugendlichen. Im Schuljahr 2011/2012 erreichte »Be          dem Tabakkonsum ein wesentlicher Risikofaktor für Krebser-
smart – Don´t start!« maximal 9% der 11- bis 14-jährigen        krankungen. Sein Konsum steht im Zusammenhang mit
Schülerinnen und Schüler pro Jahrgang (Klassenstufe 5-8).       einem erhöhten Risiko für verschiedene Krebsarten wie
Das Programm »Klasse2000« hatte eine Reichweite von             postmenopausalem Brustkrebs, Darm- und Leberkrebs
durchschnittlich 15% pro Jahrgang (Klassenstufe 1-4) [57].      sowie Krebserkrankungen der Organe des oberen Atem-
    Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung setzt     und Verdauungstraktes [20]. Alkohol führt über verschie-
sich mit verschiedenen, auf unterschiedliche Altersgruppen      dene Mechanismen, die zum Teil noch ungeklärt sind, zu
ausgerichteten Kampagnen wie »rauch-frei« für die Tabak-        Veränderungen von Geweben, DNS-Schädigungen oder im
prävention ein. Diese informieren über die Risiken und          Hormonhaushalt. Dabei scheint Ethanol selbst nicht muta-
gesundheitlichen Folgeschäden des Rauchens und sollen           gen zu sein. Allerdings hat Acetaldehyd, das beim Abbau von
den Einstieg in das Rauchen verhindern, vor Passivrauch         Alkohol entsteht, mutagene Eigenschaften und verursacht
schützen und Raucherinnen und Raucher beim Aufhören             DNS-Schäden vor allem im Mund-Rachenraum, in der Spei-
unterstützen. Derartigen medialen Kampagnen wird auf-           seröhre und in der Leber [71, 72]. Der Konsum von Alkohol
grund der geringen Reichweite und ihres begrenzten Poten-       und Tabak in Kombination birgt ein noch größeres Risiko:
zials, Verhaltensweisen direkt beeinflussen zu können, eine     Alkohol scheint als »Lösungsmittel« für andere karzi­nogene
bevölkerungsweite Wirksamkeit nur im Zusammenwirken             Substanzen zu fungieren etwa für Bestandteile des Tabak-
mit anderen Maßnahmen, wie beispielsweise gesetzlichen          rauches, und kann deren karzinogene Wirkung vor allem im
Regelungen, zugeschrieben [57].                                 Mund- und Rachenraum verstärken [71].
    Die in Deutschland bisher umgesetzten Maßnahmen
zur Tabakkontrolle können im europäischen Vergleich noch
                                                                     KERNAUSSAGEN
nicht als ausreichend betrachtet werden. Dies verdeutlicht
auch ein EU-weiter Vergleich der Tabakkontrollpolitiken im
                                                                     Der Alkoholkonsum gilt neben dem Rauchen als wesentlicher
Jahr 2013: Hier steht Deutschland vor Österreich auf dem
                                                                     Krebsrisikofaktor. Der Konsum von Alkohol und Tabak in Kombina-
vorletzten Platz [68]. Ein anderes Bild ergibt sich dagegen,
                                                                     tion birgt ein noch größeres Risiko für Krebs der oberen Atem- und
wenn man die aktuellen Raucherprävalenzen in der Euro-
                                                                     Verdauungsorgane.
päischen Union betrachtet: Hier liegt Deutschland sowohl
bei Jugendlichen als auch bei Erwachsenen im Mittelfeld.
                                                                     Nach Angaben der Verbrauchsteuerstatistik zählt Deutschland mit
Insgesamt ist ein vorderer Platz im Tabakkontroll-Ranking
                                                                     einem Pro-Kopf-Verbrauch der über 14-jährigen Bevölkerung von
mit einem eher niedrigen Raucheranteil in der Bevölkerung
                                                                     jährlich fast zwölf Litern Reinalkohol zu den Ländern mit überdurch-
verknüpft, auch wenn dies, wie das deutsche Beispiel zeigt,
                                                                     schnittlich hohem Alkoholkonsum.
nicht für alle Länder gilt. In den meisten europäischen Staa-
ten ist seit 2002, ähnlich wie in Deutschland, ein spürbarer
                                                                     Die Einflussnahme auf das Konsumverhalten über die Preisgestaltung
Rückgang des Tabakkonsums zu beobachten, insgesamt
                                                                     und Verfügbarkeit sind gut wirksame und wenig aufwendige Präven-
ging der Raucheranteil im Durchschnitt um 12% zurück [69].
                                                                     tionsmaßnahmen. Die Möglichkeiten verhaltenssteuernder Präven-
    Die Umsetzung kombinierter, aufeinander abgestimmter
                                                                     tivmaßnahmen auf der Basis gesetzlicher Regelungen werden aber
Maßnahmen (Policy Mix) auf Bevölkerungs- und individuel-
                                                                     bisher nur unzureichend ausgeschöpft.
ler Ebene trägt somit maßgeblich zu einer wirksamen Tabak-
prävention bei. Die einzelnen Maßnahmen sind häufig dann
besonders effektiv, wenn sie zeitgleich mit anderen wirksa-         Der Genuss alkoholischer Getränke ist in Deutschland
men Maßnahmen umgesetzt werden. Das Gesundheitsziel             seit dem Jahr 1991 (14,5 Liter Reinalkohol pro Kopf der über
»Tabakkonsum reduzieren« setzt an dieser Stelle an, in dem      14-jährigen Bevölkerung) kontinuierlich zurückgegangen,
im Konsens mit allen relevanten Akteuren in Zielen und Teil-    liegt allerdings immer noch auf einem hohen Niveau. 2014
zielen Maßnahmen zur Veränderung von Verhaltensweisen           wurden 11,6 Liter Reinalkohol pro Kopf der über 14-jährigen
und zur Veränderung struktureller Rahmenbedingungen             Bevölkerung in Deutschland konsumiert [73]. Im internatio-
erarbeitet wurden [42]. Eine erste Evaluation des Gesund-       nalen Vergleich gehört Deutschland somit zu den Ländern
heitsziels führte zur Aktualisierung und Präzisierung der       mit überdurchschnittlich hohem Pro-Kopf-Konsum von Al-
einzelnen Ziele [43]. Nicht zuletzt bedarf es einer breiten     kohol [69]. Etwa 77% der Erwachsenen trinken regelmäßig
gesellschaftlichen Akzeptanz des Nichtrauchens, um den          Alkohol, wobei 16% einen riskanten Konsum aufweisen.
Tabakkonsum nachhaltig zu senken [70] und damit auch            Nur 8% der Männer und 12% der Frauen verzichten völlig
tabakassoziierte Krebserkrankungen zu reduzieren bezie-         auf Alkohol [74]. Alkoholkonsum wird im Allgemeinen als
hungsweise zu verhindern.                                       gesundheitlich riskant angesehen. Für einen risikoarmen
    Die genannten Maßnahmen sind nicht primär auf die           Alkoholgenuss werden von der BZgA folgende Grenzwerte
Prävention tabakassoziierter Krebserkrankungen ausgelegt,       empfohlen: «Frauen sollten nicht mehr als 12 Gramm reinen
haben jedoch das Ziel, den Tabakkonsum in der deutschen         Alkohol oder – anders gesagt – ein Standardglas (beispiels-
Bevölkerung zu reduzieren und Jugendliche vor riskantem         weise 0,25 Liter Bier) pro Tag konsumieren. Für Männer gilt:
Konsum zu bewahren. Damit üben die zahlreichen Maß-             nicht mehr als 24 Gramm reinen Alkohol pro Tag. Das sind
nahmen indirekt einen Einfluss auf die Entstehung tabakbe-      maximal zwei Standardgläser. Beide – Männer wie Frauen
dingter Krebserkrankungen aus und können somit zu deren         – sollten an mindestens zwei Tagen pro Woche ganz auf
Senkung beitragen.                                              Alkohol verzichten.« [75].

                                                                  Kapitel 5 Primärprävention von Krebserkrankungen             183
Im Europäischen Vergleich liegt der durchschnittliche       Getränk (sogenannter »Apfelsaft-Paragraph«) [91], damit
      pro-Kopf-Alkoholverbrauch bei Erwachsenen in Deutsch-            Jugendliche nicht aus Kostengründen eher zum Alkohol
      land um etwa 10% höher als in der EU insgesamt [69].             greifen. Seit der Föderalismusreform von 2006 haben al-
      Für Jugendliche im Alter von 15 Jahren entspricht sowohl         lerdings neun Bundesländer eigene Landesgesetze für das
      der mittlere Konsum als auch der Anteil derjenigen mit           Gaststättenrecht erlassen.
      ­Rauscherfahrung dem EU-Gesamtwert. Bei den 11- bis                  Im Bereich der Verhaltensprävention von Alkoholkonsum
       13-jährigen Kindern gehört Deutschland zu den Ländern           ist in Deutschland vor allem die Bundeszentrale für gesund-
       mit dem niedrigsten Konsum [76].                                heitliche Aufklärung (BZgA) aktiv. Sie unterhält Kampagnen,
           Die direkten gesundheitsbezogenen Kosten eines schäd-       wie zum Beispiel »Alkohol? Kenn dein Limit!«, bei der das
       lichen Alkoholkonsums belaufen sich auf jährlich 9,2 Milli-     Bewusstsein über die negativen Effekte übermäßigen Alko-
       arden Euro (die indirekten Kosten betragen 30,2 Milliarden      holkonsums in der Bevölkerung erhöht und die Entwicklung
       Euro) [50]. Dem stehen Einnahmen von 3,2 Milliarden Euro        riskanter Trinkgewohnheiten verhindert werden sollen,
       aus der Alkoholsteuer gegenüber [77, 78]. Je nach Daten-        insbesondere unter Jugendlichen [75]. Solche Kampagnen
       grundlage und Berechnungsmethode wird der Anteil der in         dienen eher als flankierende und nicht als alleinige Maßnah-
       Deutschland durch Alkoholkonsum bedingten und damit             men zur Verhaltensänderung. Bundesweit verbreitet ist das
       grundsätzlich vermeidbaren Krebserkrankungen auf 2% bis         Alkoholpräventionsprojekt »HaLT« (Hart am Limit). An über
       3% bei Frauen und 3% bis 9% bei Männern geschätzt. Dies         150 Standorten im Bundesgebiet werden dabei Maßnah-
       entspricht jährlich zwischen 14.000 und 29.000 Neuerkran-       men auf individueller und kommunaler Ebene kombiniert.
       kungen an Krebs [79, 80].                                       »HaLT« richtet sich vorrangig an Jugendliche, die mit einer
           Wie bei der Tabakprävention gelten auch bei der Alko-       Alkoholvergiftung im Krankenhaus aufgenommen wurden.
       holprävention insbesondere verhältnispräventive Maß-            Darüber hinaus sollen auf kommunaler Ebene primärprä-
       nahmen als effektiv [81-84]. Die Einflussnahme über die         ventive Strategien umgesetzt werden, um Alkoholexzesse
       gesetzlich regulierbare Verfügbarkeit und Preisgestaltung       und schädlichen Alkoholkonsum zu verhindern. Einbezogen
       stellt damit eine wesentliche Präventionsmaßnahme dar.          werden Eltern, Lehrkräfte, Angestellte in Kliniken, Gastro-
       Steuern auf alkoholische Getränke sollen durch die damit        nomie und Einzelhandel sowie weitere Personen vor Ort
       verbundenen erhöhten Preise vor allem Jugendliche davon         [92].«Alkoholkonsum reduzieren« wurde zudem als neues
       abhalten, zu trinken beziehungsweise zu viel zu trinken, da     nationales Gesundheitsziel 2015 veröffentlicht. Eines der
       ein niedriger Preis für alkoholische Getränke häufig zu einem   Ziele ist ein gesteigertes Problembewusstsein hinsichtlich
       höheren (riskanten) Konsumverhalten führt [85]. Seit 2004       der negativen sozialen, gesundheitlichen und wirtschaftli-
       wird mit dem Alkopopsteuergesetz eine Sondersteuer auf          chen Folgen übermäßigen Alkoholkonsums in Politik und
       alkoholische Mixgetränke aus Spirituosen und Limonade           Gesellschaft zu erreichen [93].
       (Alkopops) erhoben, um so dem Anfang der 2000er Jahre               Einstellungen gegenüber Alkohol, Konsummustern und
       stark steigenden Konsum dieser Getränke entgegenzuwir-          Trinkmotiven bilden sich im Jugendalter aus und können
       ken [86]. Die Sondersteuer führte zu einem substanziellen       bis in das Erwachsenenalter Bestand haben. Umso wich-
       Rückgang des Verbrauchs dieser Getränke. Stattdessen            tiger erscheint eine Alkoholprävention, die im Kindes- und
       konsumieren Jugendliche allerdings vermehrt nun Mixge-          Jugendalter ansetzt. Aus Sicht vieler Experteninnen und
       tränke auf Wein- oder Bierbasis, die jugendorientiert von der   Experten ist es dabei am effektivsten, wenn eine Kombi-
       Alkoholindustrie vermarktet werden [81]. Im europäischen        nation verschiedener verhaltens- und verhältnispräventiver
       Vergleich sind die Steuersätze für alkoholische Getränke        Maßnahmen (Policy Mix) sich gegenseitig ergänzen und
       in Deutschland deutlich niedriger als im Durchschnitt der       verstärken [81-83, 94].
       EU28-Staaten [87].                                                  Die genannten Maßnahmen sind nicht primär auf die
           Neben der Preisgestaltung spielt auch die Verfügbarkeit     Prävention alkoholassoziierter Krebserkrankungen aus-
       eine wesentliche Rolle. Je leichter und uneingeschränkter       gelegt, haben jedoch das Ziel, den Alkoholkonsum in der
       Alkohol verfügbar ist, desto eher treten riskante Verhaltens-   deutschen Bevölkerung zu reduzieren und Jugendliche vor
       weisen bei Jugendlichen auf [82, 88]. Die Beschränkung des      riskantem Konsum zu bewahren. Damit üben sie indirekt
       Zugangs zu alkoholischen Getränken ist somit ebenfalls eine     einen Einfluss auf die Entstehung alkoholbedingter Kreb-
       wichtige Maßnahme, um den Alkoholkonsum zu reduzieren           serkrankungen aus und können somit zu deren Senkung
       oder zu vermeiden. Im Rahmen des Jugendschutzgesetzes           beitragen.
       ist der Verkauf von alkoholischen Getränken in Gaststätten
       und Verkaufsstellen an Jugendliche geregelt. Branntwein
       (Spirituosen und deren Mischungen mit >15 Vol.-% Alkohol),
       branntweinhaltige Getränke und Lebensmittel sowie Alko-
       pops dürfen nicht an Jugendliche unter 18 Jahren, andere
       alkoholische Getränke (Wein, Bier) nicht an Jugendliche
       unter 16 Jahren verkauft werden [89]. Von der Deutschen
      Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) wird inzwischen gefor-
      dert, keinen Alkohol an unter 18-Jährige abzugeben [90].
      Wenn Alkoholausschank gestattet ist, müssen gleichzeitig
      auch alkoholfreie Getränke verfügbar sein, von denen nach
      dem Gaststättengesetz mindestens ein alkoholfreies Ge-
      tränk nicht teurer sein darf als das günstigste alkoholische

184     Kapitel 5 Primärprävention von Krebserkrankungen
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