Primärprävention von Krebs-erkrankungen 5
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5 Primärprävention von KERNAUSSAGEN Krebserkrankungen Krebserkrankungen vorzubeugen (primäre Prävention) ist eine be- sondere Herausforderung, da die Entstehung einer Tumorerkrankung Das folgende Kapitel geht zunächst auf die gesellschaft- multifaktoriell bedingt ist und häufig über längere Zeit unerkannt liche Bedeutung und Besonderheiten der Krebsprävention verlaufen kann. ein. Danach wird in die grundlegenden Mechanismen und Zusammenhänge der Krebsentstehung eingeführt. Bedeu- Auf der Basis des aktuellen Wissensstandes über Risiko- und Schutz- tend für die Entwicklung von Präventionsmaßnahmen sind faktoren lassen sich klare Anforderungen an die Krebsprävention die vorliegenden Erkenntnisse über relevante Risiko- und formulieren. Schutzfaktoren der Krebsentstehung. Den Abschluss des einführenden Kapitels bilden allgemeine Grundlagen und Eine erfolgversprechende Strategie zur Vorbeugung von Krebserkran- die aktuellen Rahmenbedingungen von Prävention, die bei kungen erfordert eine Kombination verschiedener Maßnahmen der der Entwicklung von Konzeptionen der Krebsprävention Verhaltens- und Verhältnisprävention und der Gesundheitsförderung. berücksichtigt werden müssen. Krebsprävention sollte auf der Grundlage allgemeiner evidenzba- sierter Erkenntnisse Teil der gesundheitlichen Primärprävention und Gesundheitsförderung sein. 5.1 Allgemeine Einführung 5.1.1 Herausforderungen und Chancen der Ressourcen zu stärken. Damit können diese Maßnahmen Krebsprävention auch Einfluss auf die Verhinderung von Krebserkrankun- Nach Angaben im aktuellen Weltkrebsbericht ist die Zahl gen nehmen. Auch die von den Krankenkassen bei ihren der Krebsneuerkrankungen weltweit von 12,7 Millionen im Leistungen zur Prävention und Gesundheitsförderung zu Jahr 2008 auf 14,1 Millionen in 2012 angestiegen, und dieser berücksichtigenden Gesundheitsziele dienen unmittelbar Trend wird sich weiter fortsetzen [1]. oder mittelbar der Vorbeugung von Krebserkrankungen. In Deutschland erkranken mehr als zwei von fünf Frauen Durch Prävention wird es aber nicht möglich sein, Krebs- (43%) und etwa jeder zweite Mann (51%) im Laufe ihres krankheiten vollständig zu eliminieren, wie es bei bestimm- Lebens an Krebs – so die aktuellen Schätzungen, die auf ten Infektionskrankheiten, etwa bei den Pocken oder der den Erkrankungsraten und der derzeitigen Lebenserwartung Kinderlähmung, in einigen Regionen der Welt gelungen ist. basieren [2]. Gemäß der Todesursachenstatistik ist heute Die komplexen Prozesse der Krebsentstehung sind noch etwa jeder fünfte Todesfall bei Frauen und jeder vierte bei längst nicht alle bekannt und nicht in jedem Fall beeinfluss- Männern auf eine Krebserkrankung zurückzuführen. Krebs bar. Prävention von Krebserkrankungen bedeutet daher, erkrankungen sind damit nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen den Einfluss bekannter Risikofaktoren zu beseitigen oder die zweithäufigste Todesursache in Deutschland [3]. Wie zumindest zu reduzieren, um Krebs zu verhindern und die diese Krebserkrankungen entstehen und verlaufen, wird von Zahl der Neuerkrankungen zu senken [8, 9]. vielen Faktoren beeinflusst (Multifaktorialität) [4]. Dazu ge- Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon hören Alter, Geschlecht, erbliche Veranlagung (genetische aus, dass weltweit mehr als 30% aller Krebstodesfälle auf Disposition), Verhaltens- und Lebensweisen, Unterstützung den Einfluss lebensstilbedingter Risikofaktoren wie Rauchen und Beeinflussung durch das soziale Umfeld, Lebens- und und Alkoholkonsum, Übergewicht und Bewegungsmangel Arbeitsbedingungen, wirtschaftliche, kulturelle und Um- zurückzuführen sind, wobei das Rauchen mit etwa 20% weltbedingungen sowie der Zugang zu Einrichtungen und den größten Anteil hat [1, 10]. In den westlichen Industrie- Dienstleistungen beispielsweise im Gesundheits- oder nationen ist der Anteil mit dem Lebensstil assoziierter Fak- Bildungswesen [5]. Diese Determinanten wirken in allen ge- toren vermutlich noch höher: Der World Cancer Research sellschaftlichen Bereichen, sind fast alle beeinflussbar und Fund (WCRF) schätzte 2009, dass etwa ein Fünftel bis ein beeinflussen sich auch wechselseitig. Viertel aller Krebserkrankungen in Ländern wie den USA Dementsprechend gilt für die Vorbeugung von Krebser- und Großbritannien durch gesundes Ernährungsverhalten krankungen auch das, was für Prävention und Gesundheits- (einschließlich höchstens maßvollen Alkoholkonsum) und förderung heute generell gilt. Beide sind als gesamtgesell- mehr Bewegung vermeidbar wäre, wobei hier der Einfluss schaftliche Aufgaben zu betrachten, zu der Akteure in allen des Tabakrauchens nicht eingerechnet wurde [8]. Auch die Bereichen der Gesellschaft einen Beitrag leisten sollten, Vorbeugung bestimmter chronischer Infektionen unter entsprechend dem Health-in-all-Policies-Ansatz [6]. Die mit anderem mit Hepatitis B-, Hepatitis C- und humanen Pa- dem »Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und pillomviren (HPV) oder mit dem Bakterium Helicobacter der Prävention« (Präventionsgesetz – PrävG) vom 17. Juli pylori kann die Häufigkeit einiger Krebserkrankungen (unter 2015 [7] zu erbringenden verhaltens- und verhältnisbezo- anderem Leber-, Gebärmutterhals- und Magenkrebs) sen- genen primärpräventiven Maßnahmen der verschiedenen ken. Belastungen in der Umwelt und am Arbeitsplatz spielen Sozialversicherungsträger sollen dazu beitragen, den all- demgegenüber in Europa zahlenmäßig wahrscheinlich eine gemeinen Gesundheitszustand zu verbessern und Risiko- vergleichsweise geringere Rolle, aber auch hier sind Präven- faktoren zu vermeiden sowie individuelle gesundheitliche tionsmaßnahmen von hoher Bedeutung [11]. Kapitel 5 Primärprävention von Krebserkrankungen 175
5.1.2 Krebsentstehung und Möglichkeiten oder durch äußere Faktoren ausgelöst werden. Zu diesen der Prävention äußeren Einflüssen zählen insbesondere Lebensstilfakto- Das Krankheitsbild Krebs umfasst alle bösartigen ren, Umweltexpositionen oder Infektionen [13-15]. Abbildung Neubildungen einschließlich Lymphome und Leukämien 5.1.a2 zeigt den Einfluss der Ernährung und einem damit (Krebserkrankungen des lymphatischen und blutbildenden möglicherweise verbundenen Übergewicht auf den Prozess Systems) [2]. Mittlerweile weiß man, dass ein Tumor in der Krebsentstehung. Dabei wird deutlich, dass sowohl Ri- mehreren Schritten entsteht (Abbildung 5.1.a1). Im Erbgut, siko- als auch Schutzfaktoren an unterschiedlichen Stellen dem Genom, sind mehrere Veränderungen (Mutationen) der Tumorentwicklung ansetzen. So führt beispielsweise erforderlich, damit die Vermehrung und das Verhalten von eine Insulinresistenz der Körperzellen, hervorgerufen durch Zellen außer Kontrolle gerät und einen bösartigen Tumor Übergewicht, zu einem erhöhten Insulinspiegel im Blut, der hervorbringt. Die Anzahl der Schritte variiert bei den ein- die Vermehrung von Zellen fördert (siehe Kapitel 5.2.3). Mi- zelnen Tumorarten. Für einen Tumor der Netzhaut im Auge neralstoffe wie Selen, das Vitamin Folsäure oder sekundäre (Retinoblastom) genügen beispielsweise zwei Mutationen. Pflanzenstoffe wie Phenole und Flavonoide, unterstützen Demgegenüber sind fünf bis sechs Veränderungen für ein hingegen die Reparatur geschädigter Desoxyribonuklein- Karzinom des Enddarms (Rektumkarzinom) notwendig [12]. säure (DNS, Träger der Erbinformation) oder den program- Auch wenn Krebs immer auf bleibenden, das heißt ir- mierten Zelltod (Apoptose) geschädigter Zellen und können reversiblen Veränderungen im Genom beruht, ist nur ein so einen Beitrag zur Verhinderung von Krebs leisten. Eine geringer Anteil der Krebserkrankungen tatsächlich auf ge- abwechslungsreiche und ausgewogene Ernährung deckt netisch vererbte Defekte zurückzuführen. Veränderungen den Bedarf des Körpers an Mineralstoffen und Vitaminen im Erbmaterial (Mutationen) können spontan auftreten ab, wie viele Studien zeigen [16]. Abbildung 5.1.a1 Mehrschrittmechanismus der Tumorentstehung (Quelle: [12]) Invasives Wachstum Carcinoma in situ 4. Mutation Dysplasie 3. Mutation Hyperplasie 2. Mutation Epithel Bindegewebe 1. Mutation 176 Kapitel 5 Primärprävention von Krebserkrankungen
Abbildung 5.1.a2 Einfluss von Ernährung und Übergewicht auf den Prozess der Krebsentste- hung (modifizierte Abbil- Normale Zeit dung nach [15]) Zelle Krebsfördernde Effekte Krebshemmende Effekte Übergewicht, Adipositas, Reduzierte Metabolisches Syndrom Körperzusammensetzung Energieaufnahme Übergewicht, Östrogen Zellproliferation Flavonoide, Selen, reduzierte Energieaufnahme Polyzyklische aromatische- Kohlenwasserstoffe, Karzinogene, Zink, Vitamine A, C, E, Selen Entzündungen Umweltexposition DNS Mangelernährung Geschädigte DNS Selen, Folsäure Reparatur Fehlgeschlagene Apoptose Apoptose Polyphenoletose Insulin-like-growth Faktor Differenzierung Zelle mit DNS-Schäden und Mutationen Krebspotenzial 5.1.3 Risiko- und Schutzfaktoren der Laufe des Lebens wächst die Wahrscheinlichkeit spontaner Krebsentstehung Mutationen im Erbgut, gleichzeitig nimmt die Wirksamkeit Risikofaktoren können definiert werden als innere oder von Reparatur- und Abwehrmechanismen ab. Entsprechend äußere Einflüsse, die bei der Entstehung und dem Verlauf wächst mit zunehmendem Alter die Wahrscheinlichkeit der einer Erkrankung nachweislich eine Rolle spielen. Können Krebsentstehung. Hinzu kommen viele Risikofaktoren, wel- diese Faktoren beeinflusst oder reduziert werden, lassen sich che eine unkontrollierte Vermehrung der Zellen oder andere Krankheiten verhindern. Risikofaktoren können eingeteilt wer- Mechanismen der Krebsentstehung beeinflussen [18]. den in genetisch-physiologische, verhaltensbezogene, psychi- Für die Primärprävention, das heißt für die Vermeidung sche und ökologische Dispositionen. Auch Schutzfaktoren von Krebserkrankungen, sind jene Risiko- und Schutzfak- lassen sich in vier Gruppen einteilen: soziale und wirtschaft- toren besonders wichtig, die prinzipiell beinflussbar und liche, umwelt-, verhaltensbezogene und psychische Faktoren somit der Prävention potenziell zugänglich sind. Wichtige sowie der Zugang zu gesundheitsrelevanten Leistungen. modifizierbare Risikofaktoren auf der individuellen Ebene Diese Faktoren können die Gesundheit günstig beeinflussen. sind unter anderem Tabak- und Alkoholkonsum, unausge- Ihre Stärkung soll die Gesundheit verbessern und so ebenfalls wogene Ernährung, Bewegungsmangel, Übergewicht und die Entstehung von Krankheiten verhindern [17]. Infektionen. Zu wesentlichen Schutzfaktoren zählen unter Für verschiedene Krebsarten spielen unterschiedliche anderen eine ausgewogene Ernährung mit ausreichendem Risikofaktoren eine Rolle. Wichtigster, aber nicht beeinfluss- Obst- und Gemüsekonsum, körperliche Aktivität und indivi- barer Faktor für fast alle Krebserkrankungen ist das Alter. Im duelle Bewältigungsressourcen. Kapitel 5 Primärprävention von Krebserkrankungen 177
Die Latenzzeit zwischen der Exposition gegenüber einem den Umwelt-, Verbraucher- und Arbeitsschutz. Risikofaktor und einer Krankheitsentstehung macht es oft Neben den direkten Ursachen von Krebs, spielen aber schwer, einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Ri- auch indirekte Faktoren (»causes of the causes«) eine we- siko- und Schutzfaktoren und Krebs herzustellen. Erkennt- sentliche Rolle. Gerade lebensstilbedingte Risikofaktoren nisse darüber stammen zumeist aus epidemiologischen werden durch soziale und ökonomische Umstände sowie (Beobachtungs-)Studien, aber auch aus Tierexperimenten das äußere Lebensumfeld beeinflusst. Modifizierungen die- [18, 19]. Eine der Aufgaben der Internationalen Krebsfor- ser indirekten Faktoren können das Verhalten sowohl auf der INFoBox 8 Klassifikation der Karzinogenität von Agenzien (nach [20]) Gruppe 1: belegt bei Tierexperimenten – Der Risikofaktor/das Agens ist karzinogen – Beispiele: Blei, Nickel, Chloroform, Benzin, bestimmte – Es gibt genügend Evidenz für die Karzinogenität beim hormonelle Verhütungsmittel Menschen – Beispiele: Ionisierende Strahlung, Formaldehyd, Gruppe 3: alkoholische Getränke, Tabak, HPV-Viren (Hochrisi- – Der Risikofaktor/das Agens ist nicht klassifizierbar ko-Typen), Hepatitis B/C Viren, Helicobacter pylori hinsichtlich seiner Karzinogenität beim Menschen – Die Evidenz ist sowohl beim Menschen als auch bei Gruppe 2A: Tierexperimenten inadäquat oder eingeschränkt – Der Risikofaktor/das Agens ist wahrscheinlich Weitere Forschung ist nötig karzinogen – Beispiele: Diazepam, Diesel, Haarfärbeprodukte, Tee, – Die Evidenz für die Karzinogenität beim Menschen ist Hepatitis-D-Virus eingeschränkt, aber ausreichend bei Tierexperimenten – Beispiele: Acrylamid, Glyphosate, Nitrate/Nitrit (unter Gruppe 4: bestimmten Aufnahmebedingungen), rotes Fleisch, – Der Risikofaktor/das Agens ist möglicherweise nicht Schichtarbeit (bei Störung des Tag/Nacht-Rhythmus) karzinogen – Die Evidenz lässt fehlende Karzinogenität bei Mensch Gruppe 2B: und Tier vermuten – Der Risikofaktor/das Agens ist möglicherweise – Caprolactam (bisher einziger in dieser Gruppe einge- karzinogen stufter Stoff/Risikofaktor) – Die Evidenz für die Karzinogenität beim Menschen ist eingeschränkt und auch nicht ganz ausreichend schungsagentur (IARC) ist es, die weltweiten Studienergeb- individuellen als auch auf der Bevölkerungsebene verändern nisse über den Einfluss verschiedener Risikofaktoren auf und somit ebenfalls zur Reduzierung des Krebsrisikos bei- einzelne Krebsarten zusammenzutragen und immer wieder tragen [8]. Der sozioökonomische Status ist ein wesentliches neu zu bewerten. Nicht immer kann die Frage nach krebsaus- Element dieser indirekten Faktoren. Bei Personen mit niedri- lösenden Eigenschaften von Stoffen oder anderen Einflüssen gem sozialen Status, in der Regel definiert durch einen gerin- für den Menschen abschließend und mit hoher Sicherheit gen Bildungsgrad und ein niedriges Haushaltseinkommen, beurteilt werden, daher erfolgt eine Einteilung in Evidenzklas- kommen deutlich häufiger lebensstilbedingte Risikofaktoren sen. (siehe Infobox 8) [20]. Tabak- und Alkoholkonsum, aber zum Tragen als bei Personen mit hohem Sozialstatus [21]. auch UV-Strahlung, Radon- und Asbestbelastungen sowie Vor dem Hintergrund der sozial bedingten gesundheitlichen Bewegungsmangel sind beispielsweise in der Evidenzklasse Ungleichheit wird in Public-Health-Strategien den sozialen I eingestuft und gelten damit als ursächlich für verschiedene Determinanten von Gesundheit eine große Bedeutung für Krebsarten. Ein hoher Evidenzgrad sagt jedoch noch nichts Prävention und Gesundheitsförderung beigemessen [22, über die Stärke der Risikoerhöhung bzw. über die Dosis aus, 23]. International wird dies mit der Strategie »Gesundheit in ab der eine relevante Risikoerhöhung zu erwarten ist bzw. die allen Politikfeldern« (»Health-in-all-Policies«) aufgegriffen noch als »unschädlich« betrachtet wird. Auch lässt sich der [6]. Ziel ist es, die multifaktoriellen Ursachen von Gesund- Einfluss nicht aller Stoffe oder sonstigen Faktoren, für die ein heit und Krankheit zu beeinflussen und alle Politikfelder, Zusammenhang mit Krebserkrankungen belegt oder wahr- also auch diejenigen außerhalb des Gesundheitswesens, an scheinlich ist, vollständig vermeiden. Für viele potentiell Prävention und Gesundheitsförderung zu beteiligen (Ge- krebsauslösende Stoffe werden daher auf europäischer und sundheit als Querschnittsthema). nationaler Ebene Grenzwerte festlegt, unterhalb derer ein Risiko als unwahrscheinlich oder zumindest gering angese- 5.1.4 Begriffsklärungen und hen wird. Wo ein Umgang mit krebsverursachenden Subs- Rahmenbedingungen der Krebsprävention tanzen, etwa am Arbeitsplatz, unabdingbar ist, sind best- Die Anforderungen an die Krebsprävention ergeben sich mögliche Schutzmaßnahmen zu entwickeln und zu zum einen aus den oben dargestellten Besonderheiten der etablieren. Krebsprävention ist damit nicht nur ein gesund- Entstehung einer Krebserkrankung und ihrer Verteilung in heitspolitisches Thema, sondern betrifft insbesondere auch der Bevölkerung. Zum anderen beruht Krebsprävention auch 178 Kapitel 5 Primärprävention von Krebserkrankungen
auf den zur Verfügung stehenden bevölkerungsbezogenen zum Beispiel. am Arbeitsplatz oder in der Wohnumgebung, Gesundheitsstrategien (Public-Health-Strategien) der Pri- zu berücksichtigen. Die Angebote setzen vielmehr auf Infor- märprävention und Gesundheitsförderung [24]. Im Folgen- mationsvermittlung, Beratung und Training. den werden deshalb zentrale Ansätze und Rahmenbedingun- Verhältnisprävention hingegen befasst sich mit der gen der allgemeinen Prävention und Gesundheitsförderung biologischen, technischen, organisatorischen und sozialen vorgestellt. Die Präventionskonzepte für spezifische Risiko- Umwelt sowie deren Auswirkungen auf die Entstehung von faktoren werden anschließend im Kapitel 5.2 beschriebenen. Krankheiten. Ziel der verhältnispräventiven Krebsprävention Krebsprävention umfasst alle Aktivitäten, die Risikofaktoren ist es, negative Einflüsse von Umwelt- und Lebensbedin- reduzieren und Bedingungen verändern, um Krebserkrankun- gungen auf die Gesundheit sowie Krankheits- und Unfallur- gen zu vermeiden, zu verzögern oder weniger wahrscheinlich sachen in der Lebens- und Arbeitswelt zu beseitigen oder zu machen. Der Fokus liegt dabei auf der Krankheitsvermei- zumindest zu reduzieren. Verhältnispräventive Maßnahmen dung (pathogenetische Perspektive) durch die Reduktion von sind zum Beispiel Veränderungen der Arbeitsbedingungen in Belastungen bzw. Expositionen. Präventionsmaßnahmen kön- den Betrieben, Nichtraucherschutzgesetze, der Ausbau von nen im Krankheitsverlauf an verschiedenen Stellen ansetzen: Fahrradwegen oder die Reduzierung der Luftverschmutzung. vor Krankheitsbeginn (Primärprävention), im Frühstadium Neben den verschiedenen genannten primärpräven- einer Erkrankung (Sekundärprävention) und nach Ausbildung tiven Ansätzen kommen heute zunehmend Maßnahmen der Krankheit, einschließlich Behandlung, Rehabilitation und zur Gesundheitsförderung zum Einsatz. Gesundheitsför- Nachsorge (Tertiärprävention). Die Primärprävention soll Ge- derung zielt darauf ab, personale, soziale und materielle sundheit erhalten und die Entstehung von Erkrankungen mög- Ressourcen für die Gesunderhaltung zu stärken. Ziel ist, lichst verhindern, beispielsweise Gebärmutterhalskrebs durch gesundheitsrelevante Belastungen zu vermeiden oder zu eine HPV-Impfung. Maßnahmen der Sekundärprävention sind bewältigen (salutogenetische Perspektive) [29]. Der Einzelne gezielte medizinische Untersuchungen zur Früherkennung soll befähigt werden, durch selbstbestimmtes Handeln von Krebserkrankungen bei Erwachsenen (siehe Kapitel 6). Ist seine Gesundheit zu schützen (Empowerment). Leistungen eine Erkrankung bereits ausgebildet, sollen tertiärpräventive der Krankenkassen zur Gesundheitsförderung zielen auch Maßnahmen Komplikationen verhindern oder hinauszögern auf die »Förderung des selbstbestimmten gesundheitsori- bzw. das Wiederauftreten einer Krebserkrankung nach erfolg- entierten Handelns der Versicherten«, siehe §20 Abs. 1 Satz reicher Behandlung unterbinden (siehe Kapitel 3, Kapitel 4, 1 SGB V [7]. Zudem gilt es, die gesellschaftlichen Rahmen- Kapitel 8). bedingungen gesundheitsförderlicher zu gestalten [30]. Die Grundsätzlich können sich Krebspräventionsmaßnahmen Partizipation der Zielgruppen ist ein wesentliches Prinzip entweder an die Gesamtbevölkerung, an besonders gefähr- gesundheitsförderlicher Aktivitäten. Wichtig ist außerdem dete Gruppen oder an Personen, bei denen bereits Krank- eine gesundheitsförderliche Gestaltung der gesundheits- heitsvorstufen entdeckt wurden richten [25, 26]. Besonders relevanten Lebenswelten: Dazu gehören Settings wie Ar- gefährdete Gruppen sind die mit erhöhten »Erkrankungs-, Be- beitsplatz, Schule, Kindergarten, Krankenhaus, Pflegeheim, hinderungs- oder Sterbewahrscheinlichkeiten«, die häufig mit Hochschule, Gemeinde oder Wohnquartier. Durch die einem niedrigen Sozialstatus kombiniert oder in geschlechts- aktive Einbindung von Zielgruppen vor Ort ist es möglich, spezifischen Unterschieden begründet sind. Die größten Ef- auch diejenigen anzusprechen, die bislang für »Gesund- fekte auf Bevölkerungsebene verspricht in der Regel die so ge- heitsthemen« am wenigsten erreicht werden konnten. Ge- nannte Bevölkerungsstrategie. Sie ist krankheitsübergreifend sundheitsfördernde Aktivitäten im Setting mit Angeboten angelegt und zielt auf die Reduktion von Hauptrisikofaktoren für verschiedene Bevölkerungsgruppen gelten deshalb als der entsprechenden Bevölkerung, beispielsweise Tabak- und geeignet, gesundheitliche Ungleichheit zu verringern und Alkoholkonsum, Bewegungsmangel und unausgewogene damit Gesundheitschancen in der gesamten Bevölkerung Ernährung. Diese Faktoren liegen großen Volkskrankheiten zu erhöhen. Dieses Verständnis von Gesundheit und Ge- - etwa Krebs, Herz-Kreislauferkrankungen und Diabetes - häu- sundheitsförderung geht auf die 1986 verabschiedete Ot- fig gemeinsam zugrunde. Die Bevölkerungsstrategie richtet tawa-Charta zurück. Diese definiert Gesundheitsförderung sich an die Bevölkerung insgesamt, um damit große Gruppen als einen Prozess, der »allen Menschen ein höheres Maß an für Präventionsmaßnahmen erreichen zu können. Demge- Selbstbestimmung über ihre Gesundheit ermöglicht und sie genüber orientiert sich eine Hochrisiko-Strategie an Personen damit zur Stärkung ihrer Gesundheit befähigt.« [31]. mit hohem Erkrankungsrisiko und ist für diese potenziell mit Die verschiedenen präventiven und gesundheitsför- einem hohen individuellen Nutzen verbunden [27]. derlichen Maßnahmen sollten für eine bevölkerungsweite Krebsprävention kann sowohl die Veränderung des Ver- Wirkung so weit wie möglich aufeinander abgestimmt sein haltens von Individuen und Gruppen (Verhaltenspräven- und auf vielen Ebenen ansetzen. So lassen sich beispiels- tion) zum Ziel haben als auch Veränderungen der Umwelt in weise Beratungs- und Informationsangebote kombinieren allen Lebensbereichen (Verhältnisprävention) [28]. Mittels mit politisch-strukturellen Maßnahmen und Vernetzungs- verhaltenspräventiver Maßnahmen sollen gesundheitsrele- angeboten vor Ort (Mehrebenen-Interventionen) [32]. Diese vante Verhaltensweisen so eingeübt werden, dass sie als allgemeine Forderung gilt auch für eine bevölkerungsweit Routine in den Alltag übernommen werden und sich damit wirksame Vorbeugung von Krebserkrankungen. Dem steht langfristig positiv auf die Gesundheit auswirken. Diese Maß- die praktische Umsetzung und Organisation von Prävention nahmen konzentrieren sich auf das individuelle Gesund- und Gesundheitsförderung in Deutschland bisher teilweise heitsverhalten, beispielsweise auf die körperliche Aktivität, noch entgegen, die durch eine vielfältige Trägerstruktur ohne jedoch die konkreten Bedingungen in der Lebenswelt (Trägerpluralität) gekennzeichnet ist. Verschiedene staatli- der Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Maßnahme, che Institutionen, öffentlich-rechtliche Körperschaften wie Kapitel 5 Primärprävention von Krebserkrankungen 179
die gesetzlichen Krankenkassen, freie Träger und private Millionen Euro für Gesundheitsförderung und Prävention Organisationen auf Bundes-, Landes- und kommunaler zur Verfügung zu stellen [7]. Diese Mittel sollen auch die Ebene des Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesens als Vorbeugung von Krebserkrankungen stärken. auch des Arbeits- und Freizeitbereiches haben Prävention Neben einer abgestimmten Präventionsstrategie und und Gesundheitsförderung als Ziel beziehungsweise als einer ausreichenden Finanzierung werden Qualitätssiche- einen Teil ihrer Aufgaben definiert [28, 33]. Bei der Fülle rung und Wirksamkeitsnachweise der Primärprävention, von Anbietern im Bereich der Primärprävention und Ge- auch in der Krebsprävention, immer wichtiger. Da Primär- sundheitsförderung ist eine Koordination der Maßnahmen prävention auf gesunde Personen abzielt, darf sie durch un- sinnvoll. Dennoch wurden diese in Deutschland bislang erwünschte Nebenwirkungen nicht zu Schäden führen. Die kaum aufeinander abgestimmt [34]. Ein Resultat dieser The- wissenschaftliche Bewertung der Maßnahmen (Evidenzba- menpluralität war, dass viele Maßnahmen häufig nur als sierung) soll die notwendige Sicherheit geben. Evidenzba- kurzfristige Einzelprojekte umgesetzt werden, die nur ein- sierung im Bereich von Prävention und Gesundheitsförde- zelne verhaltensbezogene Risikofaktoren beeinflussen [35]. rung bedeutet, nur solche Maßnahmen umzusetzen, für die Durch die nun mit dem Präventionsgesetz etablierte Na- aus Bevölkerungsdaten ein Bedarf abgeleitet werden kann tionale Präventionskonferenz soll sich die Abstimmung der und die sich in systematischen Untersuchungen als wirksam verschiedenen Sozialversicherungsträger untereinander und erwiesen haben [39]. Ein solches Vorgehen setzt zunächst mit weiteren zentralen Akteuren im Bereich der Prävention eine Bedarfsermittlung für einzelne konkrete Maßnahmen und Gesundheitsförderung, insbesondere in den Ländern und eine Prüfung der Umsetzbarkeit vor Ort voraus. Dazu und Kommunen sowie mit den Unternehmen der privaten gehören Erkenntnisse über lokale gesundheitliche Problem- Krankenversicherung verbessern [7]. Einen wichtigen Schritt lagen sowie über bereits durchgeführte beziehungsweise dazu hat die Nationale Präventionskonferenz im Februar 2016 laufende Maßnahmen. Eine entsprechende Berichterstat- mit der Verabschiedung der ersten bundeseinheitlichen und tung ist in Deutschland bislang jedoch nur eingeschränkt trägerübergreifenden Rahmenempfehlungen zu Prävention verfügbar [40]. Auch sind bisher nur wenige Maßnahmen und Gesundheitsförderung in Lebenswelten getan [36]. Auf der Primärprävention und Gesundheitsförderung systema- dieser Grundlage sollen nun in den Ländern entsprechende tisch evaluiert worden, so dass auch nur für wenige Ansätze Landesrahmenvereinbarungen geschlossen werden. ein entsprechender Nachweis vorliegt [41]. Für eine bessere thematische Abstimmung und Schwer- Da zwischen der Exposition gegenüber einem Risikofaktor punktsetzung werden seit dem Jahr 2000 Gesundheitsziele und der Entstehung einer Krebs- oder anderen Erkrankung auf Bundes- und Landesebene erarbeitet. In diesem Prozess ein mehr oder weniger langer Zeitraum liegen kann, ist eine entwickelte der Kooperationsverbund gesundheitsziele.de direkte Messung der Wirkung von präventiven Maßnahmen aus Public-Health-Sicht übergeordnete und abgestimmte auf die Gesundheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer oft prioritäre nationale Gesundheitsziele für die Prävention und nicht zu verwirklichen. Personen, die an einer Maßnahme Gesundheitsförderung [37]. Für die Krebsprävention sind die teilnehmen, müssten dazu über Jahre oder Jahrzehnte hin- Gesundheitsziele »Gesund aufwachsen: Lebenskompetenz, weg beobachtet und untersucht werden, um entsprechende Bewegung, Ernährung«, »Gesund älter werden«, »Brust- Effekte nachweisen zu können. Auch sind randomisierte klini- krebs: Mortalität vermindern, Lebensqualität erhöhen«, »Ta- sche Studien (Studien mit Zufallsverteilung von Patientinnen bakkonsum reduzieren«, und »Alkoholkonsum reduzieren« und Patienten in Behandlungs- und Kontrollgruppen), wie von Bedeutung. Die Stärkung der Gesundheitsziele ist durch sie zum Wirkungsnachweis in der klinischen Medizin gefor- ihre Aufnahme in das Präventionsgesetz realisiert worden [7]. dert werden, aus ethischen, methodischen und finanziellen Das meiste Geld für Prävention und Gesundheitsförde- Gründen im Bereich der Prävention nur schwer anwendbar rung hat die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) aufge- [18, 19]. Einfacher ist es zu untersuchen, wie Maßnahmen wendet. So haben die Krankenkassen zum Beispiel im Jahr das Vorhandensein bzw. die Häufigkeit von Risiko- und 2014 für den Bereich »Prävention und Gesundheitsschutz« Schutzfaktoren selbst beeinflussen. Solche Studien zeigen, nach der Gesundheitsausgabenrechnung des Statistischen ob Verhaltensweisen oder auch bestimmte Verhältnisse in Bundesamtes (GAR) insgesamt 5,3 Milliarden Euro aus- gewünschter Richtung beeinflusst wurden. Sie geben etwa gegeben [38]. Die GAR umfasst hier ganz verschiedene Antwort auf die Frage, ob es gelungen ist, mit bestimmten Leistungen wie Informations- und Aufklärungsmaßnahmen Maßnahmen den Tabak- und Alkoholkonsum zu reduzie- im Rahmen der Mutterschaftsvorsorge, der zahnprophylak- ren oder dafür zu sorgen, dass sich die Menschen mehr tischen Leistungen, Impfungen, Selbsthilfegruppen etc. bewegen. Gerade für Faktoren, bei denen ein ursächlicher Die gesetzliche Verpflichtung der GKV zur Prävention und Zusammenhang mit bestimmten Erkrankungen wissen- Gesundheitsförderung nach §20 Sozialgesetzbuch Fünftes schaftlich bereits gut belegt ist, kann ein solcher indirekter Buch (SGB V) schlug sich in den Ausgaben indes bislang Nachweis als ausreichend für den Beleg der Wirksamkeit nur zu einem geringen Teil nieder. Weniger als ein Prozent einer Maßnahme angesehen werden. Die Evaluierung des aller Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen entfielen Gesundheitsziels »Tabakkonsum reduzieren« ergab bei- 2014 auf Gesundheitsförderung, einschließlich Primärprä- spielsweise, dass viele Interventionen zum Einsatz kamen vention [38]. Das Präventionsgesetz sieht nun eine deutliche und Teilziele erreicht wurden. So gelang es, die Prävalenz von Erhöhung des Richtwerts der Ausgaben der gesetzlichen Raucherinnen und Rauchern bei Jugendlichen zu senken. Krankenkassen für Prävention und Gesundheitsförderung Dennoch besteht weiterhin großer Handlungsbedarf in der nach §20 SGB V auf sieben Euro je Versichertem und Jahr Tabakprävention (siehe Kapitel 5.2.1). Diese Erkenntnisse der vor. Ab dem Jahr 2016 sind dementsprechend die gesetz- Evaluierung waren Grundlage für die Aktualisierung des oben lichen Kranken- und Pflegekassen verpflichtet, etwa 500 genannten. Gesundheitsziels [42, 43]. 180 Kapitel 5 Primärprävention von Krebserkrankungen
5.2 Prävention von Krebserkrankungen bei ausgewählten Risikofaktoren Das Kapitel behandelt zunächst die wichtigsten lebens- Erwachsenen. Nach Ergebnissen der RKI-Studie »Gesund- stilbedingten Risikofaktoren, die nach Einschätzungen der heit in Deutschland aktuell 2012« (GEDA 12) rauchen in Weltgesundheitsorganisation (WHO), des World Cancer Deutschland dennoch 27,6% der Erwachsenen täglich oder Research Funds (WCRF) sowie der Internationalen Krebs- gelegentlich. Der Anteil rauchender Frauen (Alter 18+) ist forschungsagentur (IARC) als ursächlich für die Entstehung mit 23,9% etwas geringer als jener der Männer (Alter 18+) von Krebs gelten [10, 44, 45] (siehe Kapitel 5.1.3). Sie sind mit 31,4%. Etwa die Hälfte der Frauen und ein Drittel der im Gegensatz zu den Faktoren wie Alter oder genetische Männer in Deutschland geben an, nie geraucht zu haben. Disposition beeinflussbar und somit der primären Präven- Am stärksten ist das Rauchen bei beiden Geschlechtern tion prinzipiell zugänglich. Einige dieser Faktoren sind in im jungen und mittleren Erwachsenenalter verbreitet [53]. der deutschen Bevölkerung weit verbreitet, so dass sie auf Während der Anteil der Raucher bereits mindestens seit Bevölkerungsebene ein erhebliches Präventionspotenzial Anfang der 1990er Jahre rückläufig ist, stieg der Anteil der bieten. Tabakkonsum gilt dabei als wichtigster beeinfluss- Raucherinnen noch bis 2003 sukzessive an und geht erst barer Risikofaktor. Hinzu kommen unausgewogene Ernäh- in den letzten Jahren leicht zurück [54]. Deutlich stärker rung, Alkoholkonsum, Übergewicht und Bewegungsmangel. zurückgegangen ist der Raucheranteil bei den Jugendlichen Auch Umweltexpositionen wie UV-Strahlung oder Feinstaub zwischen 12 und 17 Jahren, der sich nach Erhebungen der gehören zu den modifizierbaren Krebsrisikofaktoren. BZgA zwischen 2001 und 2015 mehr als halbiert hat und Infektionsbedingte Krebserkrankungen wie Gebärmutter- seitdem für beide Geschlechter konstant bei etwas unter hals- oder Leberkrebs bieten ein besonderes Präventions- 8% liegt [55]. Der deutliche Rückgang kann anhand der Er- potenzial, da sie zum Teil durch Impfungen oder andere gebnisse der RKI-Studie zur Gesundheit von Kindern und Maßnahmen vermeidbar sind. Besondere Bedeutung in der Jugendlichen (KiGGS) in Deutschland bestätigt werden [56]. primären Krebsprävention kommt auch den Expositionen Neben der Aufklärung über seine schädlichen Wirkun- am Arbeitsplatz zu. gen, kann der Tabakkonsum vor allem auf zwei Wegen redu- ziert werden. Zum einen können Steuererhöhungen, Werbe- 5.2.1 Rauchen/Tabakkonsum verbote, Produktregulationen oder individuelle/schulische Tabakkonsum gilt als der wichtigste Risikofaktor für Krebs Suchtpräventionsprogramme die Nachfrage senken. Zum erkrankungen und als das größte vermeidbare Gesundheits- anderen sollen Abgabeverbote, Schmuggelbekämpfung und risiko in Deutschland. Hier sterben jährlich 110.000 Men- der Abbau von Subventionen das Angebot an Tabakproduk- schen an den Folgen des Tabakkonsums [46]. Bestandteile ten reduzieren. im Tabakrauch – wie zum Beispiel polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe – schädigen die Erbsubstanz und kön- KERNAUSSAGEN nen so Mutationen erzeugen. Untersuchungen zeigen, dass Karzinogene im Zigarettenrauch beispielsweise Mutationen Der Tabakkonsum gilt als wichtigster beeinflussbarer Risikofaktor und des Gens TP53 verursachen, die bei der Entstehung von ist mit einer Vielzahl von Krebserkrankungen assoziiert. Lungentumoren eine Rolle spielen [47]. Nach Einschätzung der IARC bestehen unter anderem für Krebserkrankungen Knapp 30% der Erwachsenen und knapp 8% der 12- bis 17-Jährigen in der Lunge, der oberen Atemwege, der Speiseröhre und der Deutschland rauchen täglich oder gelegentlich. Harnwege hinreichende Belege dafür, dass Tabakkonsum das Erkrankungsrisiko erhöht. Durch die schädigende Wir- Wesentliche Maßnahmen zur Tabakprävention sind verhältnisori- kung auf die Blutgefäße und Atemwege ist Tabakkonsum entierte Maßnahmen, die durch eine Veränderung bestimmter Rah- unter anderem auch für einen großen Anteil von Herz-Kreis- menbedingungen das Konsumverhalten beeinflussen. Hierzu zählen lauf-Erkrankungen und chronischen Lungenerkrankungen Steuererhöhungen, Nichtraucherschutzgesetze, Abgabebeschränkungen verantwortlich [48, 49]. Für Deutschland wird geschätzt, oder auch Werbeverbote. dass die direkten gesundheitsbezogenen Folgekosten (2015 etwa 25,4 Milliarden Euro) durch Tabakkonsum die Einnah- Eine Erweiterung dieser Maßnahmen im Rahmen einer umfassenden men aus der Tabaksteuer (2015 etwa 14,9 Milliarden Euro) Tabakkontrollpolitik sollte angestrebt werden. deutlich übersteigen [50]. Die Reduzierung des Tabakkonsums ist damit ein we- sentliches Public-Health-Ziel mit einem erheblichen Prä- Eine wesentliche Maßnahme zur Senkung der Nachfrage ventionspotenzial. Etwa 72.000 Krebsfälle pro Jahr – 16% nach Tabakprodukten ist die staatliche Preisregulierung aller Neuerkrankungen – in Deutschland lassen sich auf mittels Steuererhöhungen. Insbesondere Kinder und Ju- das aktive Rauchen zurückführen und wären somit poten- gendliche reagieren in ihrem Konsumverhalten stark auf ziell vermeidbar [51]. Hinzu kommen jährlich knapp 300 Preisänderungen und könnten somit durch hohe Preise für Neuerkrankungen an Lungenkrebs bei Nichtraucherinnen Tabakwaren vom Rauchen abgehalten werden. Der oben und -rauchern aufgrund von Passivrauchbelastung [52]. In beschriebene Rückgang bei den 12- bis 17-Jährigen wird auch den letzten zehn Jahren ist der Anteil der Raucherinnen und auf die deutlichen Steuererhöhungen der Jahre 2002 bis Raucher leicht zurückgegangen, insbesondere bei jungen 2005 in Deutschland zurückgeführt (Abbildung 5.2.a1) [57]. Kapitel 5 Primärprävention von Krebserkrankungen 181
Gleichzeitig mit dem Rückgang des Tabakkonsums ist eine Einem unlängst auf den Weg gebrachten Gesetzesentwurf zunehmende Verbreitung des Wasserpfeifenkonsums, das der Bundesregierung zufolge ist eine Ausweitung des Wer- sogenannte Shisha-Rauchen, unter Jugendlichen und jun- beverbots auf Außenflächen (Ausnahme Fachgeschäfte und gen Erwachsenen zu verzeichnen. Obwohl dieser Konsum Verkaufsstellen) und auf Kinofilme mit Altersfreigabe unter als ebenso gesundheitsgefährdend gilt, schätzen die Konsu- 18 Jahren zwar geplant, eine Umsetzung allerdings erst ab mentinnen und Konsumenten das Shisha-Rauchen – im 2020 vorgesehen [65]. In der aktuellen EU-Richtlinie für Ta- Vergleich zur Zigarette – als weniger schädlich ein und bakerzeugnisse (2014/40/EU) werden weitergehende Vor- geben daher in Befragungen teilweise an, Nichtraucherin- schriften bezüglich Herstellung, Aufmachung und Verkauf nen und Nichtraucher zu sein [58, 59]. von Tabakerzeugnissen gemacht. So müssen gesundheits- Staatliche Rauchverbote im öffentlichen Raum regulieren relevante Warnhinweise (Text und Bild) 65% der Vorder- und ebenfalls das Konsumverhalten. Sie schränken die Möglich- Rückseite von Tabakproduktverpackungen bedecken und es keit des Tabakkonsums ein und tragen indirekt dazu bei, wird ein Mindestmaß für Warnhinweise festgelegt [66]. Die dass das Rauchen in bestimmten Bevölkerungsgruppen Umsetzung ist seit Mai 2016 in nationales Recht erfolgt weniger gesellschaftsfähig erscheint. Seit dem Jahr 2002 (siehe Kapitel 7.7). Bereits produzierte oder in den Verkehr [62] wurden in Deutschland in mehreren Schritten Ge- gebrachte Schachteln ohne bildliche Warnhinweise dürfen setzesänderungen zum Nichtraucherschutz umgesetzt. jedoch noch bis Mai 2017 weiter verkauft werden. Im Zuge Eine neue Arbeitsstättenverordnung, die das Rauchen am dieser Gesetzesänderungen wurden die bestehenden Wer- Arbeitsplatz untersagt, machte den Anfang. 2007 trat das beverbote auch auf elektronische Inhalationsprodukte, zum Bundesnichtraucherschutzgesetz in Kraft. Es verbietet das Beispiel E-Zigaretten, ausgeweitet. Rauchen in öffentlichen Einrichtungen des Bundes, öffent- Eine wesentliche Maßnahme zur Senkung des Ange- lichen Verkehrsmitteln und Bahnhöfen zum Schutz vor botes an Tabakprodukten ist das Abgabeverbot von Tabak Passivrauchen [63]. Die Bundesländer folgten mit Landes- an Jugendliche unter 18 Jahren. Diese Altersgrenze wurde nichtraucherschutzgesetzen, die zusätzlich das Rauchen 2007, zeitgleich mit der Einführung der Nichtraucherschutz- in Sportstätten, medizinischen Einrichtungen und in der gesetze, von 16 auf 18 Jahre angehoben. Jugendlichen soll Gastronomie prinzipiell verbieten. Allerdings gibt es einige, somit der Zugang zu Tabakprodukten verwehrt werden, um je nach Bundesland unterschiedlich weitgehende Ausnah- den Rauchbeginn zu verhindern oder zumindest hinauszu- meregelungen [64]. zögern. Seit dem 1. April 2016 fallen auch E-Zigaretten und Weitere gesetzliche Maßnahmen zur Reduzierung des E-Shishas unter das Abgabe- und Konsumverbot nach dem Tabakkonsums sind Einschränkungen der Tabakwerbung Jugendschutzgesetz [67]. sowie textliche und bildliche Warnhinweise auf Tabak Im Bereich der verhaltenspräventiven Maßnahmen verpackungen. Diese sollen Bürgerinnen und Bürger davon werden in Deutschland vor allem Schulprogramme abhalten, mit dem Rauchen zu beginnen beziehungsweise zur Tabakprävention wie »Be smart – Don´t start!« und zum Rauchstopp motivieren. Im Jahr 2002 wurde in »Klasse2000« oder Suchtpräventionsprogramme der Deutschland das Tabakwerbeverbot in Printmedien und gesetzlichen Krankenkassen eingesetzt. Die Teilnahme an dem Internet eingeführt. Die Plakataußenwerbung, Tabak- diesen Programmen ist jedoch freiwillig, es entscheiden werbung am Verkaufsort sowie Kinowerbespots in Vorstel- jeweils die Schule und deren Lehrkräfte. Dementsprechend lungen nach 18 Uhr sind allerdings weiterhin erlaubt [42]. haben die beiden schulischen Tabakpräventionsprogramme 30 18 Steuer von Fabrikzigaretten in ct/St. Anteil jugendlicher Raucherinnen und Raucher in % Abbildung 5.2.a1 Anteil von Raucherinnen und Rauchern unter 12 28,1 16 27,5 bis 17-jährigen Jugendli- 25 chen in Deutschland und 15,2 15,5 14,9 14 durchschnittliche Tabak- 14,2 14,5 23,5 13,8 13,9 13,9 14,0 steuer (Datenbasis [60, 22,5 13,5 20 12 61]) 20,0 11,3 10 17,7 15 10,0 9,1 15,4 8 7,7 7,8 8,0 12,9 7,4 7,6 10 11,7 12,0 6 9,7 4 5 2 0 0 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 Jugendliche Raucherinnen und Raucher Durchschnittliche Steuer Jahr 182 Kapitel 5 Primärprävention von Krebserkrankungen
zwar relativ betrachtet eine große Reichweite, erreichen 5.2.2 Alkohol aber bevölkerungsweit nur einen geringen Anteil der Kinder Der Genuss von Alkohol (chemisch: Ethanol) ist neben und Jugendlichen. Im Schuljahr 2011/2012 erreichte »Be dem Tabakkonsum ein wesentlicher Risikofaktor für Krebser- smart – Don´t start!« maximal 9% der 11- bis 14-jährigen krankungen. Sein Konsum steht im Zusammenhang mit Schülerinnen und Schüler pro Jahrgang (Klassenstufe 5-8). einem erhöhten Risiko für verschiedene Krebsarten wie Das Programm »Klasse2000« hatte eine Reichweite von postmenopausalem Brustkrebs, Darm- und Leberkrebs durchschnittlich 15% pro Jahrgang (Klassenstufe 1-4) [57]. sowie Krebserkrankungen der Organe des oberen Atem- Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung setzt und Verdauungstraktes [20]. Alkohol führt über verschie- sich mit verschiedenen, auf unterschiedliche Altersgruppen dene Mechanismen, die zum Teil noch ungeklärt sind, zu ausgerichteten Kampagnen wie »rauch-frei« für die Tabak- Veränderungen von Geweben, DNS-Schädigungen oder im prävention ein. Diese informieren über die Risiken und Hormonhaushalt. Dabei scheint Ethanol selbst nicht muta- gesundheitlichen Folgeschäden des Rauchens und sollen gen zu sein. Allerdings hat Acetaldehyd, das beim Abbau von den Einstieg in das Rauchen verhindern, vor Passivrauch Alkohol entsteht, mutagene Eigenschaften und verursacht schützen und Raucherinnen und Raucher beim Aufhören DNS-Schäden vor allem im Mund-Rachenraum, in der Spei- unterstützen. Derartigen medialen Kampagnen wird auf- seröhre und in der Leber [71, 72]. Der Konsum von Alkohol grund der geringen Reichweite und ihres begrenzten Poten- und Tabak in Kombination birgt ein noch größeres Risiko: zials, Verhaltensweisen direkt beeinflussen zu können, eine Alkohol scheint als »Lösungsmittel« für andere karzinogene bevölkerungsweite Wirksamkeit nur im Zusammenwirken Substanzen zu fungieren etwa für Bestandteile des Tabak- mit anderen Maßnahmen, wie beispielsweise gesetzlichen rauches, und kann deren karzinogene Wirkung vor allem im Regelungen, zugeschrieben [57]. Mund- und Rachenraum verstärken [71]. Die in Deutschland bisher umgesetzten Maßnahmen zur Tabakkontrolle können im europäischen Vergleich noch KERNAUSSAGEN nicht als ausreichend betrachtet werden. Dies verdeutlicht auch ein EU-weiter Vergleich der Tabakkontrollpolitiken im Der Alkoholkonsum gilt neben dem Rauchen als wesentlicher Jahr 2013: Hier steht Deutschland vor Österreich auf dem Krebsrisikofaktor. Der Konsum von Alkohol und Tabak in Kombina- vorletzten Platz [68]. Ein anderes Bild ergibt sich dagegen, tion birgt ein noch größeres Risiko für Krebs der oberen Atem- und wenn man die aktuellen Raucherprävalenzen in der Euro- Verdauungsorgane. päischen Union betrachtet: Hier liegt Deutschland sowohl bei Jugendlichen als auch bei Erwachsenen im Mittelfeld. Nach Angaben der Verbrauchsteuerstatistik zählt Deutschland mit Insgesamt ist ein vorderer Platz im Tabakkontroll-Ranking einem Pro-Kopf-Verbrauch der über 14-jährigen Bevölkerung von mit einem eher niedrigen Raucheranteil in der Bevölkerung jährlich fast zwölf Litern Reinalkohol zu den Ländern mit überdurch- verknüpft, auch wenn dies, wie das deutsche Beispiel zeigt, schnittlich hohem Alkoholkonsum. nicht für alle Länder gilt. In den meisten europäischen Staa- ten ist seit 2002, ähnlich wie in Deutschland, ein spürbarer Die Einflussnahme auf das Konsumverhalten über die Preisgestaltung Rückgang des Tabakkonsums zu beobachten, insgesamt und Verfügbarkeit sind gut wirksame und wenig aufwendige Präven- ging der Raucheranteil im Durchschnitt um 12% zurück [69]. tionsmaßnahmen. Die Möglichkeiten verhaltenssteuernder Präven- Die Umsetzung kombinierter, aufeinander abgestimmter tivmaßnahmen auf der Basis gesetzlicher Regelungen werden aber Maßnahmen (Policy Mix) auf Bevölkerungs- und individuel- bisher nur unzureichend ausgeschöpft. ler Ebene trägt somit maßgeblich zu einer wirksamen Tabak- prävention bei. Die einzelnen Maßnahmen sind häufig dann besonders effektiv, wenn sie zeitgleich mit anderen wirksa- Der Genuss alkoholischer Getränke ist in Deutschland men Maßnahmen umgesetzt werden. Das Gesundheitsziel seit dem Jahr 1991 (14,5 Liter Reinalkohol pro Kopf der über »Tabakkonsum reduzieren« setzt an dieser Stelle an, in dem 14-jährigen Bevölkerung) kontinuierlich zurückgegangen, im Konsens mit allen relevanten Akteuren in Zielen und Teil- liegt allerdings immer noch auf einem hohen Niveau. 2014 zielen Maßnahmen zur Veränderung von Verhaltensweisen wurden 11,6 Liter Reinalkohol pro Kopf der über 14-jährigen und zur Veränderung struktureller Rahmenbedingungen Bevölkerung in Deutschland konsumiert [73]. Im internatio- erarbeitet wurden [42]. Eine erste Evaluation des Gesund- nalen Vergleich gehört Deutschland somit zu den Ländern heitsziels führte zur Aktualisierung und Präzisierung der mit überdurchschnittlich hohem Pro-Kopf-Konsum von Al- einzelnen Ziele [43]. Nicht zuletzt bedarf es einer breiten kohol [69]. Etwa 77% der Erwachsenen trinken regelmäßig gesellschaftlichen Akzeptanz des Nichtrauchens, um den Alkohol, wobei 16% einen riskanten Konsum aufweisen. Tabakkonsum nachhaltig zu senken [70] und damit auch Nur 8% der Männer und 12% der Frauen verzichten völlig tabakassoziierte Krebserkrankungen zu reduzieren bezie- auf Alkohol [74]. Alkoholkonsum wird im Allgemeinen als hungsweise zu verhindern. gesundheitlich riskant angesehen. Für einen risikoarmen Die genannten Maßnahmen sind nicht primär auf die Alkoholgenuss werden von der BZgA folgende Grenzwerte Prävention tabakassoziierter Krebserkrankungen ausgelegt, empfohlen: «Frauen sollten nicht mehr als 12 Gramm reinen haben jedoch das Ziel, den Tabakkonsum in der deutschen Alkohol oder – anders gesagt – ein Standardglas (beispiels- Bevölkerung zu reduzieren und Jugendliche vor riskantem weise 0,25 Liter Bier) pro Tag konsumieren. Für Männer gilt: Konsum zu bewahren. Damit üben die zahlreichen Maß- nicht mehr als 24 Gramm reinen Alkohol pro Tag. Das sind nahmen indirekt einen Einfluss auf die Entstehung tabakbe- maximal zwei Standardgläser. Beide – Männer wie Frauen dingter Krebserkrankungen aus und können somit zu deren – sollten an mindestens zwei Tagen pro Woche ganz auf Senkung beitragen. Alkohol verzichten.« [75]. Kapitel 5 Primärprävention von Krebserkrankungen 183
Im Europäischen Vergleich liegt der durchschnittliche Getränk (sogenannter »Apfelsaft-Paragraph«) [91], damit pro-Kopf-Alkoholverbrauch bei Erwachsenen in Deutsch- Jugendliche nicht aus Kostengründen eher zum Alkohol land um etwa 10% höher als in der EU insgesamt [69]. greifen. Seit der Föderalismusreform von 2006 haben al- Für Jugendliche im Alter von 15 Jahren entspricht sowohl lerdings neun Bundesländer eigene Landesgesetze für das der mittlere Konsum als auch der Anteil derjenigen mit Gaststättenrecht erlassen. Rauscherfahrung dem EU-Gesamtwert. Bei den 11- bis Im Bereich der Verhaltensprävention von Alkoholkonsum 13-jährigen Kindern gehört Deutschland zu den Ländern ist in Deutschland vor allem die Bundeszentrale für gesund- mit dem niedrigsten Konsum [76]. heitliche Aufklärung (BZgA) aktiv. Sie unterhält Kampagnen, Die direkten gesundheitsbezogenen Kosten eines schäd- wie zum Beispiel »Alkohol? Kenn dein Limit!«, bei der das lichen Alkoholkonsums belaufen sich auf jährlich 9,2 Milli- Bewusstsein über die negativen Effekte übermäßigen Alko- arden Euro (die indirekten Kosten betragen 30,2 Milliarden holkonsums in der Bevölkerung erhöht und die Entwicklung Euro) [50]. Dem stehen Einnahmen von 3,2 Milliarden Euro riskanter Trinkgewohnheiten verhindert werden sollen, aus der Alkoholsteuer gegenüber [77, 78]. Je nach Daten- insbesondere unter Jugendlichen [75]. Solche Kampagnen grundlage und Berechnungsmethode wird der Anteil der in dienen eher als flankierende und nicht als alleinige Maßnah- Deutschland durch Alkoholkonsum bedingten und damit men zur Verhaltensänderung. Bundesweit verbreitet ist das grundsätzlich vermeidbaren Krebserkrankungen auf 2% bis Alkoholpräventionsprojekt »HaLT« (Hart am Limit). An über 3% bei Frauen und 3% bis 9% bei Männern geschätzt. Dies 150 Standorten im Bundesgebiet werden dabei Maßnah- entspricht jährlich zwischen 14.000 und 29.000 Neuerkran- men auf individueller und kommunaler Ebene kombiniert. kungen an Krebs [79, 80]. »HaLT« richtet sich vorrangig an Jugendliche, die mit einer Wie bei der Tabakprävention gelten auch bei der Alko- Alkoholvergiftung im Krankenhaus aufgenommen wurden. holprävention insbesondere verhältnispräventive Maß- Darüber hinaus sollen auf kommunaler Ebene primärprä- nahmen als effektiv [81-84]. Die Einflussnahme über die ventive Strategien umgesetzt werden, um Alkoholexzesse gesetzlich regulierbare Verfügbarkeit und Preisgestaltung und schädlichen Alkoholkonsum zu verhindern. Einbezogen stellt damit eine wesentliche Präventionsmaßnahme dar. werden Eltern, Lehrkräfte, Angestellte in Kliniken, Gastro- Steuern auf alkoholische Getränke sollen durch die damit nomie und Einzelhandel sowie weitere Personen vor Ort verbundenen erhöhten Preise vor allem Jugendliche davon [92].«Alkoholkonsum reduzieren« wurde zudem als neues abhalten, zu trinken beziehungsweise zu viel zu trinken, da nationales Gesundheitsziel 2015 veröffentlicht. Eines der ein niedriger Preis für alkoholische Getränke häufig zu einem Ziele ist ein gesteigertes Problembewusstsein hinsichtlich höheren (riskanten) Konsumverhalten führt [85]. Seit 2004 der negativen sozialen, gesundheitlichen und wirtschaftli- wird mit dem Alkopopsteuergesetz eine Sondersteuer auf chen Folgen übermäßigen Alkoholkonsums in Politik und alkoholische Mixgetränke aus Spirituosen und Limonade Gesellschaft zu erreichen [93]. (Alkopops) erhoben, um so dem Anfang der 2000er Jahre Einstellungen gegenüber Alkohol, Konsummustern und stark steigenden Konsum dieser Getränke entgegenzuwir- Trinkmotiven bilden sich im Jugendalter aus und können ken [86]. Die Sondersteuer führte zu einem substanziellen bis in das Erwachsenenalter Bestand haben. Umso wich- Rückgang des Verbrauchs dieser Getränke. Stattdessen tiger erscheint eine Alkoholprävention, die im Kindes- und konsumieren Jugendliche allerdings vermehrt nun Mixge- Jugendalter ansetzt. Aus Sicht vieler Experteninnen und tränke auf Wein- oder Bierbasis, die jugendorientiert von der Experten ist es dabei am effektivsten, wenn eine Kombi- Alkoholindustrie vermarktet werden [81]. Im europäischen nation verschiedener verhaltens- und verhältnispräventiver Vergleich sind die Steuersätze für alkoholische Getränke Maßnahmen (Policy Mix) sich gegenseitig ergänzen und in Deutschland deutlich niedriger als im Durchschnitt der verstärken [81-83, 94]. EU28-Staaten [87]. Die genannten Maßnahmen sind nicht primär auf die Neben der Preisgestaltung spielt auch die Verfügbarkeit Prävention alkoholassoziierter Krebserkrankungen aus- eine wesentliche Rolle. Je leichter und uneingeschränkter gelegt, haben jedoch das Ziel, den Alkoholkonsum in der Alkohol verfügbar ist, desto eher treten riskante Verhaltens- deutschen Bevölkerung zu reduzieren und Jugendliche vor weisen bei Jugendlichen auf [82, 88]. Die Beschränkung des riskantem Konsum zu bewahren. Damit üben sie indirekt Zugangs zu alkoholischen Getränken ist somit ebenfalls eine einen Einfluss auf die Entstehung alkoholbedingter Kreb- wichtige Maßnahme, um den Alkoholkonsum zu reduzieren serkrankungen aus und können somit zu deren Senkung oder zu vermeiden. Im Rahmen des Jugendschutzgesetzes beitragen. ist der Verkauf von alkoholischen Getränken in Gaststätten und Verkaufsstellen an Jugendliche geregelt. Branntwein (Spirituosen und deren Mischungen mit >15 Vol.-% Alkohol), branntweinhaltige Getränke und Lebensmittel sowie Alko- pops dürfen nicht an Jugendliche unter 18 Jahren, andere alkoholische Getränke (Wein, Bier) nicht an Jugendliche unter 16 Jahren verkauft werden [89]. Von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) wird inzwischen gefor- dert, keinen Alkohol an unter 18-Jährige abzugeben [90]. Wenn Alkoholausschank gestattet ist, müssen gleichzeitig auch alkoholfreie Getränke verfügbar sein, von denen nach dem Gaststättengesetz mindestens ein alkoholfreies Ge- tränk nicht teurer sein darf als das günstigste alkoholische 184 Kapitel 5 Primärprävention von Krebserkrankungen
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