Gesundheit braucht Politik - Ambulante Versorgung - vdää

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Gesundheit braucht Politik - Ambulante Versorgung - vdää
Gesundheit                                verein
                                          demokratischer
                                          ärztinnen und

    Politik
                                          ärzte

         braucht
Zeitschrift für eine soziale Medizin   Nr. 1/2018 | Solibeitrag: 5 Euro

  Ambulante Versorgung
          Zu viele Altlasten im Gepäck?
Bernhard Winter: Editorial3
Inhalt         Hartmut Reiners: Organisierte Verantwortungslosigkeit.
               Bedarfsplanung und Sicherstellung der medizinischen Versorgung4

               Thomas Gerst: »… dass wir allen Grund haben, uns zu freuen«.
               Rückblick des DÄB auf das Kassenarztrecht von 19557

               Wolfgang Wodarg: Es ginge auch anders… – Integrierte Regionalbudgets für
               eine gute pflegerisch-medizinische Grundversorgung9

               Nicht nur für die Patient*innen gut... – Interview mit Wolfram Nagel zur MFA-Sprechstunde
               in seiner Hausarztpraxis in Norddeutschland13

               Gerhard Trabert: »Armut ist die schlimmste Form von Gewalt« – ambulante aufsuchende
               Gesundheitsversorgung sozial benachteiligter Menschen14

               Daniel Ketteler: Back to Kotti. Ein Plädoyer für eine sozialere Medizin18

               Volker Amelung / Ferdinand Gerlach u.a.: »Patient first!« – Auszüge aus einer Studie über eine
               patientengerechte sektorenübergreifende Versorgung im deutschen Gesundheitswesen22

               Bündnis Krankenhaus statt Fabrik: Bewertung der gesundheitspolitischen Festlegungen
               im Koalitionsvertrag CDU-CSU/SPD 201824

               Wulf Dietrich: Sind Globuli wirklich alles? Leserbrief zum Artikel »Esoterik in Zucker« in GbP 4/17        28

               Rina: »Die schon wieder…« – Rollenbilder und Sexismus im Klinikalltag30

               Der vdää                                                                  Redaktion
Impressum

               ist bundesweit organisiert; er setzt sich für die Demokratisierung        Thomas Kunkel, Eva Pelz,
               der Strukturen der ärztlichen Standesvertretung ein und versucht,         Nadja Rakowitz, Andrea Schmidt,
               Einfluss zu nehmen auf die Gesundheitspolitik.                            Bernhard Winter
               Sollten Sie von uns informiert werden wollen, so setzen Sie sich bit-
               te mit unserer Geschäftsstelle in Verbindung. Gerne können Sie            Impressum
               sich auch online über den neuen vdää-Newsletter auf dem Laufen-
                                                                                         Gesundheit braucht Politik 1/2018
               den halten. Die Zeitschrift »Gesundheit braucht Politik« ist die Ver-
                                                                                         ISSN 2194-0258
               einszeitung, die viermal jährlich erscheint. Namentlich gekennzeich-
                                                                                         Hrsg. vom Verein demokratischer
               nete Artikel geben nicht unbedingt die Vereinsmeinung wieder.
                                                                                         Ärztinnen und Ärzte
                                                                                         V.i.S.d.P. Thomas Kunkel / Bernhard
                                                                                         Winter
                     »Gesundheit braucht Politik – Zeitschrift für eine
                           soziale Medizin« – im Abonnement                              Bilder dieser Ausgabe
                  Die Zeitschrift des vdää ist inhaltlich längst mehr als eine           pixabay.com
                  reine Vereinszeitschrift. Wir machen vier Themenhefte pro              Titelbild: pixabay.com
                  Jahr zu aktuellen gesundheitspolitischen Problemen, die sich
                  hinter anderen gesundheitspolitischen Zeitschriften im
                                                                                         Geschäftsstelle:
                  deutschsprachigen Raum nicht verstecken müssen. Vereins-               Kantstraße 10, 63477 Maintal
                  mitglieder bekommen die Zeitschrift kostenfrei zugesandt.              Telefon 0 61 81 – 43 23 48
                  Wer nicht Vereinsmitglied ist, hat die Möglichkeit, die »Zeit-         Mobil     01 72 – 1 85 80 23
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                                                                                         Internet www.vdaeae.de
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                                                                                         Druck: Druckerei Grube

 2 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2018
Editorial
Verfolgte man die Mainstream-Medien in den letzten Monaten,       darg und beschreibt die systembedingte Hilflosigkeit der
konnte man den Eindruck gewinnen, dass die größte Misere          Patient*innen und ihrer Angehörigen sowie der Kolleg*innen
dieser Republik darin bestand, dass sie bloß von einer ge-        in den Pflegeberufen. Er sieht das Gesundheitswesen auf ei-
schäftsführenden Regierung verwaltet wurde. Dabei wäre die-       nem Weg, der dazu führen wird, dass die gesamte Versorgung
ser Zustand doch einmal eine schöne Gelegenheit gewesen,          von der ambulanten Medizin, über Akutkrankenhäuser und
die Lehre der (früh-) bürgerlichen Philosophie, dass das Par-     Rehabilitationseinrichtungen sowie ambulanter und stationä-
lament die Regierung kontrolliert und nicht umgekehrt, in die     rer Dauerpflege von Konzernen unter Profitgesichtspunkten
Praxis umzusetzen und als Parlament demokratisch zu arbei-        gemanagt werden wird. Dem stellt Wodarg seine Forderung
ten und das ein oder andere fortschrittliche Gesetz zu erlas-     nach Rekommunalisierung der Gesundheitsversorgung ent-
sen... Mit der erneuten Bildung einer großen Koalition wurde      gegen. Leuchtturmprojekte in denen sektor- und professions-
bekanntlich die alte Ordnung wieder hergestellt. Fügsam wie       übergreifend zusammengearbeitet wird, stellen für ihn
die SPD nun einmal ist, hat sie sich nach der Verkündigung        Regionalbudgets dar, wie es sie in einigen Landkreisen Nord-
der Regierungsbildung geradewegs verabschiedet von einer          deutschlands für die psychiatrische Versorgung gibt. Die For-
Änderung bzw. Streichung des § 219a StGB, also von einer          derungen nach kooperativen Versorgungsstrukturen und in-
Aufhebung des Verbots der »Werbung« für Schwangerschafts-         tegrierter Bedarfsplanung greift auch Hartmut Reiners in
abbrüche, für die es eine parlamentarische Mehrheit gegeben       seinem Beitrag auf und entwickelt sie zu konkreten Forderun-
hätte. Dies zeigt aber auch, welchen Einfluss die selbster-       gen an die politischen Akteure weiter.
nannten »Lebensschützer« auf diese Regierung haben.                  Ein interessantes Positionspapier der Friedrich-Ebert-Stif-
   Der von CDU/CSU und SPD ausgehandelte Koalitionsver-           tung, das wir in kurzen Auszügen abdrucken, fokussiert auf
trag befasst sich auch mit zahlreichen gesundheitspolitischen     den Abbau der strikten sektoralen Grenzen zwischen ambu-
Vorhaben - durchaus auch mit einigen Überraschungen: Mit          lanter und stationärer Versorgung und versucht dabei, die
der Festlegung von einer Mindestpersonalanforderung für al-       Sicht der Patient*innen einzunehmen.
le bettenführenden Stationen ist der Protest vieler Beschäf-         Diese Problematik sowie andere Themen der ambulanten
tigter im Gesundheitswesen der letzten Monate und Jahren          Versorgung werden uns im vdää dieses Jahr vermehrt be-
in der Bundespolitik angekommen. Thomas Böhm hat sich für         schäftigen. Am 9. Juni 2018 werden wir zur Vertiefung der
das Bündnis Krankenhaus statt Fabrik die Absprachen der           Diskussion mit anderen Gruppen einen Fachtag in Hamburg
Koalitionär*innen angesehen und diese einzeln kommentiert.        durchführen (Interessent*innen können sich in der Geschäfts-
Vieles bleibt im Vagen, alles hängt natürlich von ihrer kon-      stelle melden). Das Ziel ist, einen kontinuierlichen Diskus­
kreten Umsetzung ab. Als Gesundheitsminister wurde der            sionszusammenhang zu Problemen der ambulanten Versor-
eher ruhig werkelnde Hermann Gröhe von dem lauten, ehr-           gung aufzubauen. Auch das gesundheitspolitische Forum im
geizigen Jens Spahn abgelöst. Von einem Minister, der ein         Rahmen der Jahreshauptversammlung des vdää vom 16.–
Armutsproblem in diesem Land schlicht negiert, sind keine         18.11.2018 in Köln wird sich schwerpunktmäßig mit diesem
solidarischen Lösungen zu erwarten.                               Thema befassen.
   Einen gänzlich anderen Blick auf die medizinische Versor-                                                   Bernhard Winter
gung von Armut Betroffener entwickelt in dieser Ausgabe von
Gesundheit braucht Politik Gerhard Trabert in seinem Beitrag.
Er ist ein eindrückliches Plädoyer dafür, den Blick auf gesell-
schaftliche Ursachen von Krankheiten Armer zu schärfen. Er
analysiert, warum für Teile der Bevölkerung der Zugang zum
Gesundheitswesen eingeschränkt ist und wie dem abgeholfen
werden kann.
   Daniel Ketteler beschreibt aus der Sicht des Klinikers den
                                                                              Neue Homepage des vdää
erschwerten Zugang sozial benachteiligter Gruppen zu einer        Liebe Mitglieder, vielleicht haben Sie es ja schon bemerkt:
adäquaten ambulanten sozialpsychiatrischen Versorgung.            Der vdää hat eine neue Homepage. Sie ist übersichtlicher
Manche seiner Thesen erscheinen dabei diskussionswürdig.          und einfacher in der Benutzung: http://www.vdaeae.de/
Eine Diskussion, die wir aufnehmen wollen.
                                                                  Vor allem aber ist unsere Zeitschrift nun besser zu finden.
   Ebenfalls aufnehmen wollen wir eine Diskussion über Se-        Gesundheit braucht Politik hat jetzt eine eigene Home-
xismus im Krankenhaus. Wenn man den Bericht der jungen            page. Dort finden sich alle Ausgaben seit dem Jahr 2013
Ärztin Rina in dieser Ausgabe liest, hat man den Eindruck,        mit allen Texten. Die neueste Ausgabe wird – wie bisher
dass sich am Sexismus besonders im OP in den letzten Jahr-        – erst nach einem halben Jahr komplett ins Netz gestellt.
zehnten nichts verändert hat. Auch hier ist noch viel zu tun.     Schauen Sie es sich an und geben Sie uns ein Feedback:
   Mit der Ökonomisierung des ambulanten Pflegewesens seit        http://gbp.vdaeae.de/
Einführung der Pflegekassen beschäftigt sich Wolfgang Wo-

                                        Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2018 | 3
Organisierte Verantwortungslosigkeit
Hartmut Reiners über Bedarfsplanung und Sicherstellung
der medizinischen Versorgung
Hartmut Reiners beschreibt das Gesundheitswesen in Deutschland, das »System« zu nennen, ein Euphe-
mismus wäre. Es besteht aus einer Ansammlung zum Teil überholter Strukturen, die jeweils eine eigene
organisatorische und auch finanzielle Logik aufweisen. Der systematische Handlungsbedarf ist groß.

D
         ie Segmentierung der medizinischen Versorgung in     „„Der medizinische Fortschritt führt zu einer wachsenden
         ambulante und stationäre Einrichtungen sowie das       Spezialisierung, die eine enge Zusammenarbeit von Allge-
         Behandlungsmonopol von Kassenärztinnen und -ärz-       mein- und Fachmedizin erfordert.
ten in der ambulanten Versorgung sind zentrale Konstruk­      „„Behandlungen, die früher längere Klinikaufenthalte erfor-
tionsfehler unseres Gesundheitswesens. Nur in eng begrenz-      derten, können heute ambulant oder teilstationär durch-
ten Fällen dürfen Krankenhäuser Kassenpatienten ambulant        geführt werden.
behandeln. Es gibt keine umfassende Bedarfsplanung und        „„Die wachsende Zahl älterer und pflegebedürftiger Men-
Sicherstellung für die gesamte medizinische Versorgung. Für     schen erfordert noch mehr die Kooperation von medizini-
die ambulante Versorgung sind die Kassenärztlichen Vereini-     schen und sozialen Einrichtungen bzw. Gesundheitsberu-
gungen (KV) zuständig, für die Krankenhäuser die Länder. Es     fen.
herrscht politische Verantwortungslosigkeit.                  „„In dünn besiedelten Regionen spitzen sich diese Probleme
                                                                zu, weil die gesamte medizinische und pflegerische Be-
Für kooperative Versorgungsformen und eine integrierte          treuung nur mit Versorgungsnetzen unter Einbindung
Bedarfsplanung sprechen medizinische, ökonomische und           nicht-ärztlicher Berufe sichergestellt werden kann.
demographische Gründe:

4 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2018
überholte System der Einzelpraxen in den neuen Ländern zur
                  Kollektivvertrag                                 gesetzlichen Norm und zerschlug damit die medizinisch und
                                                                   ökonomisch sinnvollen integrierten Strukturen des DDR-Ge-
  … auch als Gesamtvertrag bezeichnet, ist die im § 85 SGB
                                                                   sundheitswesens. Eine rückständige ärztliche Standes-
  V vorgeschriebene Einigung der Landesverbände der ge­
                                                                   ideologie setzte sich gegen Sachargumente durch.
  setzlichen Krankenkassen (GKV) mit den Kassenärztlichen
                                                                       Erst das GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) erlaubte den
  Vereinigungen (KV) über die Vergütung aller Leistungen
                                                                   Kassen ab 2004 den Abschluss von Verträgen zu neuen Ver-
  der Vertragsärzt*innen und -psychotherapeut*innen. Der
                                                                   sorgungsformen ohne Einbindung der KV (»Selektiv­
  voraussichtliche insgesamt anfallende Behandlungsbedarf
                                                                   verträge«). Kernstücke dieser Reform waren die hausarzt­
  in Punkten des EBM wird dabei als Basis für die Berech-
                                                                   zentrierte Versorgung und die Zulassung von Medizinischen
  nung der Morbiditätsorientierten Gesamtvergütung (MGV)
  herangezogen. Die KV berechnet im nächsten Schritt nach          Versorgungszentren (MVZ) zur kassenärztlichen Versorgung.
  einem komplexen Schlüssel, dem Honorarverteilungsver-            Außerdem entstanden mit der ambulanten spezialärztlichen
  trag (HVV), die Vergütungsaufteilung für die einzelnen           Versorgung für schwere Erkrankungen neue Vertragsbezie-
  Fachgruppen. Die Einzelnen Leistungserbringer*innen              hungen außerhalb des KV-Systems. Diese bescheidenen Fort-
  bzw. MVZ rechnen ihre Leistungen anhand des Einheitli-           schritte wurden mit einer wachsenden Intransparenz erkauft.
  chen Bewertungsmaßstab (EBM) ab und bekommen da-                 So gibt es für die ambulante Behandlung in Krankenhäusern
  nach ihren Anteil aus dem Fachgruppentopf. Dies ist eine         zehn verschiedene gesetzliche Grundlagen bzw. Vertragsfor-
  der zentralen Aufgaben der KVen. Es gibt also in diesem          men. Außerdem sind Selektivverträge mit komplizierten Ver-
  Vertragssystem keine direkte Vereinbarung zwischen               rechnungen mit den Gesamtvergütungen verbunden, weil es
  einzelne*r Leistungserbringer*in und Krankenkassen.              sonst zu Doppelzahlungen der Krankenkassen kommen könn-
                                           Michael Janßen          te. Kurzum, diese Ansätze zur Flexibilisierung und Integrati-
                                                                   on haben die Abläufe in der medizinischen Versorgung eher
                                                                   komplizierter als einfacher gemacht.
Diesen Anforderungen stehen Akteure mit fest abgesteckten              Hinter der Förderung von Selektivverträgen steht die Vor-
Claims gegenüber. Sie sind weniger auf Kooperation und In-         stellung, daraus werde ein Kassenwettbewerb um patienten-
tegration konditioniert als auf die Verteidigung ihres Terrains.   orientierte Versorgungsverträge entstehen. Der Gesundheits-
Das kann man ihnen persönlichen nicht vorwerfen, denn so           Sachverständigenrat (SVR-G) musste jedoch in seinem
ist das im Moment das System, in dem sie sich bewegen, ge-         Sondergutachten 2012 feststellen, dass nicht die Versor-
strickt. Es gibt keine einheitliche politische Zuständigkeit für   gungsqualität den Kassenwettbewerb bestimmt, sondern die
die Sicherstellung der Versorgung. Die Länder haben zwar im        Höhe der Beitragssätze. Daraus ergibt sich ein grundsätzli-
Rahmen der allgemeinen Daseins­vorsorge die politische Letzt-      ches Dilemma: Der Aufbau integrierter Versorgungsformen
verantwortung für die Gewährleistung einer umfassenden ge-         ist für die Kassen mit Investitionen verbunden, die ihre Früch-
sundheitlichen Versorgung, aber ihnen stehen für diese Auf-        te erst mittel- bis langfristig ernten können. Kurzfristig be­
gabe keine effektiven Instrumente zur Verfügung.                   lasten sie die Kassenhaushalte, was Kassenvorstände scheu-
    Dreh- und Angelpunkt dieser überholten Strukturen ist das
seit über hundert Jahren bestehende Monopol der Kassenärz-
te in der ambulanten Versorgung von Mitgliedern der ge­
setzlichen Krankenversicherung (GKV). Seit dem Ende 1913
                                                                                     Selektivvertrag
zwischen den Ärzten unter Führung des Leipziger Verbands             Direkter Vertrag zwischen Leistungserbringern und
(später Hartmannbund) und den Krankenkassen geschlosse-              Krankenkasse, der ärztliche/psychotherapeutische
nen »Berliner Abkommen« werden Kassenpatienten nur von               Leistungen zu definierten Indikationen oder Versor­
Mitgliedern der Ärzteverbände behandelt, die mit den Kassen          gungsstrukturen beinhaltet. Die Beteiligten (Kranken-
Verträge haben. Daraus entstand 1932 per Notverordnung               haus/Niedergelassene Ärzt*in/Patient*in) müssen sich
des Reichspräsidenten das KV-System mit dem Prinzip der              aktiv als Teilnehmende einschreiben, um die Leistungen
Gesamtvergütung. Das Gesetz über das Kassenarztrecht von             zu erhalten bzw. die Leistungen abrechnen zu können. Im
1955 (Siehe Artikel S. 7 in dieser Ausgabe) verfestigte dieses       Selektivvertrag wird statt oder zusätzlich zu der Regel-
Kollektivvertragssystem und übertrug den KVen den Sicher-            versorgung von den GKV finanziert.
stellungsauftrag und das Behandlungsmonopol in der ambu-                 Die bekanntesten Selektivverträge sind die für Integ-
lanten Versorgung.                                                   rierte Versorgung (§ 140 SGB V) und für die Hausarztzen-
                                                                     trierte Versorgung (§ 73b SGB V); darüber hinaus gibt es
    Schon die im Juli 1987 eingesetzte Enquete-Kommission
                                                                     noch Modellvorhaben (§ 63-65 SGB V) und besondere
zur Strukturreform der GKV stellte fest, dass der von Einzel-
                                                                     ambu­lante ärztliche Versorgung (§ 73c SGB V).
praxen und einer strikten Abgrenzung von ambulanter und
                                                                         Inhalte, Finanzierung, Mengenbegrenzung und
stationärer Versorgung geprägte Rahmen der medi­zinischen
                                                                     Qualitäts­kontrolle werden zwischen den Vertragspartnern
Versorgung den Anforderungen an eine moderne Medizin
                                                                     ohne Einvernehmen der KVen (siehe Kollektivvertrag) ge-
nicht entspricht und einer grundlegenden Reform bedarf. Die-
                                                                     regelt. Im Falle des Ersatzes von Leistungen, die sonst im
ses Postulat stieß auf den entschiedenen Widerstand von Ärz-         Kollektivvertrag erbracht werden, kommt es zu einer Be-
tefunktionären. Sie nutzten mit Unterstützung von Kassen-            reinigung der Morbiditätsorientierten Gesamtvergütung
funktionären die deutsche Einigung zur Zementierung des              MGV.                                     Michael Janßen
Monopols der KVen. Der Einigungsvertrag machte sogar das

                                        Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2018 | 5
Das Grundgesetz gibt eigentlich den Ländern die politische
     Hausarztzentrierte Versorgung                               Verantwortung für die allgemeine Daseinsvorsorge, zu der die
                                                                 Gewährleistung einer umfassenden gesundheitlichen Versor-
       (HzV) nach SGB V § 73 b                                   gung fraglos gehört. Daraus wird jedoch nur die direkte Zu-
  Im Jahr 2007 im GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz ein-            ständigkeit für die stationäre Versorgung abgeleitet. In der
  geführte Verpflichtung der GKV, ihren Versicherten auf         ambulanten Versorgung haben die Länder nur die Rechtsauf-
  Landesebene Primärarztmodelle anzubieten. Vertrags-            sicht über die KVen und die Regionalkassen. Für Kassen mit
  partner ist der jeweils stärkste Verband der Haus­             Versicherten in mehr als drei Ländern ist das Bundesversi-
  ärzt*innen, in allen Bundesländern der Hausärzteverband.       cherungsamt (BVA) zuständig ist. Die Arbeitsteilung zwischen
  Das Modell sieht für die Patient*innen die Entscheidung        dem BVA und den Aufsichtsbehörden der Länder muss neu
  für eine*r Primärärzt*in vor. Arztwechsel und eigenstän-       organisiert werden. Der frühere BVA-Präsident Daubenbüchel
  dige Inanspruchnahme von Gebietsärzt*innen sollen re-
                                                                 hat dazu schon vor 15 Jahre einen sinnvollen Vorschlag ge-
  duziert werden. Die Honorierung erfolgt im Wesentlichen
                                                                 macht: Das BVA soll die Kassenhaushalte kontrollieren, wäh-
  als Kopfpauschalmodell mit einigen Einzelleistungen und
                                                                 rend die Länder für die Versorgungsverträge zuständig sind.
  Qualitätszuschlägen ohne Mengen begrenzende Maßnah-
                                                                 Geschehen ist hier bislang nichts, mit der Folge, dass die
  men.
                                                                 Länder auf das GKV-System schwindenden Einfluss haben.
     Es handelte sich vom Ansatz her auch um ein Gesetz
                                                                    Die Sicherstellung der gesamten medizinischen Versorgung
  zur Schwächung des Vertragsmonopols der KVen (siehe
                                                                 sollte in der politischen Verantwortung der Länder liegen, was
  Kollektivvertrag) unter Rot-Grün (Gesundheitsministerin
  Ulla Schmidt/SPD).                       Michael Janßen       nicht heißt, dass diese allein entscheiden. Das ist im deut-
                                                                 schen Gesundheitswesen mit seiner gewachsenen Aufgaben-
                                                                 teilung zwischen Regierungsbehörden und gemeinsamer
en, sie bleiben lieber beim alten Kollektivvertragssystem. Die   Selbstverwaltung keine realistische Reformoption. Es geht
Vorstellung, der Kassenwettbewerb werde hinreichende An-         vielmehr darum, die Beziehungen zwischen den Landtagen
reize für den Aufbau von integrierten Versorgungsformen und      bzw. Landesregierungen und den Selbstverwaltungsorganen
Vertragsnetzen bieten, war und ist eine Illusion.                neu zu ordnen. Die Bedarfsplanung muss die gesamte Ver-
   Sie klammert zudem ein zentrales ordnungspolitisches Pro-     sorgung betreffen und nicht in ambulante und stationäre
blem aus. Man kann nicht Selektivverträgen den Vorrang vor       Einrichtungen trennen. Die in den Ländern üblichen Regional-
Kollektivverträgen geben, ohne damit den Sicherstellungs-        konferenzen zur Krankenhausplanung sollten zu Gesundheits­
auftrag der KVen zu unterminieren. Der geht bei Selektivver-     konferenzen umgebaut werden, in denen auch die KVen ver-
trägen an die Kassen bzw. ihre Verbände. Die aber sind nur       treten sind. Die von ihnen erarbeiteten Bedarfspläne sollten
für ihre Versicherten verantwortlich, nicht aber für die Re­     von den Landtagen verabschiedet werden. Nur dadurch und
gionen. Es entsteht ein Vakuum in der Zuständigkeit für die      durch eine Neuordnung der GKV-Aufsicht können die Länder
Planung und Sicherstellung der Versorgung.                       ihrer Verantwortung für die gesundheitliche Versorgung ihrer
                                                                 Bürger gerecht werden.

                                                                 Hartmut Reiners ist Ökonom, war bis August 2009 Referatsleiter im
                                                                 Gesundheitsministerium Brandenburg und lebt als Publizist in Berlin.

                                                                         Integrierte Versorgung (IV)
                                                                             nach SGB V § 140 a
                                                                   …soll die Sektoren (ambulant-stationär) übergreifende
                                                                   Versorgung fördern. Erstmals im Jahr 2000 eingeführt,
                                                                   aber unter verpflichtender Zustimmung der Kassenärztli-
                                                                   chen Vereinigungen zu den Verträgen kam die IV nicht in
                                                                   Gang. Im GKV-Modernisierungsgesetz 2004 wurde der
                                                                   Zustimmungsvorbehalt gestrichen und eine Anschubfinan-
                                                                   zierung für vier Jahre festgeschrieben. Es handelt sich um
                                                                   Verträge, an denen mindestens zwei Akteure aus den ver-
                                                                   schiedenen Sektoren zusammenarbeiten; die Patient*in-
                                                                   nen müssen sich einschreiben. Es gibt eine Vielzahl von
                                                                   Verträgen; die meisten regeln einzelne, eng begrenzte
                                                                   Indikationen (z.B. Kniegelenkersatz). Die gewünschte in-
                                                                   novative Überwindung der Sektoren hat sich nicht einge-
                                                                   stellt, nur wenige Verträge haben das Potential, in die
                                                                   Regelversorgung übernommen zu werden.
                                                                                                             Michael Janßen

6 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2018
»… dass wir allen Grund haben,
uns zu freuen«
Rückblick des DÄB auf das Kassenarztrecht von 1955
Im Juli 1955 stimmten Bundestag und Bundesrat dem Gesetz über das Kassenarztrecht zu. Das
Ergebnis bestimmte über Jahrzehnte hinweg die Strukturen der ambulanten medizinischen Ver-
sorgung. Im Jahr 2005 feierte das Deutsche Ärzteblatt den 50. Geburtstag mit einem Artikel von
Thomas Gerst. Wir dokumentieren Ausschnitte daraus.

»... Ehe die Krankenkassenverbände             der Westdeutschen Ärztekammern im          te Sievers zu seinem Bedauern fest-
dessen gewahr wurden, hatte die Ar-            September 1950. In einer Reihe von         stellen, ›dass die Krankenkassen be-
beitsgemeinschaft der KV-Landesstel-           Besprechungen im Arbeitsministerium        merkt haben, dass wir viel im Bun-
len (seit 1953 unter dem Namen Kas-            unter Ausschluss der Krankenkassen         desarbeitsministerium sind, und daraus
senärztliche Bundesvereinigung) für            hatte man die Vorstellungen der Ärz­       ihre Konsequenzen ziehen, was uns
eine ihr geeignet erscheinende Fassung         teschaft bei der Formulierung des Ge-      nicht gerade förderlich ist‹.
eines Gesetzentwurfs zum Kassenarzt-           setzestextes einbringen können. Die           Sievers betonte dagegen die Vortei-
recht gesorgt.                                 Einschätzung des Justiziars der KV-        le des Gesetzentwurfs für die Kassen-
   Die Kassenärztlichen Vereinigungen          Arbeitsgemeinschaft, Arnold Hess,          ärzte. Die ambulante ärztliche Behand-
waren also, wenn sie eine Änderung             ›dass nichts an dem Gesetzentwurf ge-      lung würde in vollem Umfang den
der geltenden, sich für sie nachteilig         schieht, ohne dass wir vorher gehört       niedergelassenen Ärzten übertragen,
entwickelnden Honorarvereinbarungen            werden und dann immer die Gelegen-         Krankenhausambulanzen und Eigen-
erreichen wollten, auf freiwillige Zuge-       heit haben, die Sache abzubiegen‹,         einrichtungen der Krankenkassen als
ständnisse der Krankenkassen ange-             zeigt deutlich die Einflussmöglichkeiten   Konkurrenz ausgeschaltet. Dass man
wiesen. Deshalb arbeiteten Ludwig Sie-         bereits im Vorfeld der Beratungen im       im Gegenzug auf das Streikrecht ver-
vers und Karl Haedenkamp1, die beiden          Bundestag. (…)                             zichtete und Schiedsinstanzen in An-
Protagonisten ärztlicher Standespolitik           Erst Anfang des Jahres 1952 muss-       spruch nehmen musste, erschien ihm
im ersten Nachkriegsjahrzehnt, seit
1948 zielstrebig darauf hin, eine eigen-
ständige kassenärztliche Organisation
auf interzonaler Ebene herbeizuführen,
die vor allem eine gesetzliche Neure-
gelung anstreben sollte.
   Der von Sievers formulierte … Ge-
setzentwurf zielte vor allem darauf ab,
… die Errichtung einer kassenärztlichen
Vertretungskörperschaft auf dem Ge-
setzeswege herbeizuführen und diese
als alleinige Trägerin der ambulanten
kassenärztlichen Versorgung zu be-
stimmen. (…)
   Die Kassenärzte (konnten) im
Herbst 1950 mit den bisherigen Ver-
handlungsergebnissen durchaus zufrie-
den sein, war es ihnen doch gelungen,
im Rahmen der vertraulichen Beratun-
gen ›für die Ärzteschaft wesentlich
günstigere Bestimmungen einzuarbei-
ten, als ursprünglich vorgesehen wa-
ren‹ – so Haedenkamp bei einer Vor-
standssitzung der Arbeitsgemeinschaft

                                           Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2018 | 7
als durchaus angemessene Gegenleis-       bestand darin, dass bei der Festset-      bewirken, das den Kassenärzten das
tung für die Vielzahl an Zugeständnis-    zung der Gesamtvergütung nunmehr          Monopol bei der ambulanten medizini-
sen. Die ärztliche Standesvertretung      in erster Linie – bei Berücksichtigung    schen Versorgung garantierte und auf-
habe erreicht, ›was keiner Gewerk-        der wirtschaftlichen Lage der Kranken-    grund seiner Honorarbestimmungen
schaft gelungen ist … – dieses Verhält-   kassen und der Veränderung der            die Voraussetzungen für den in der Fol-
nis so zu regeln, dass der ursprüng­      Grundlohnsumme – die in einem zu          ge zu verzeichnenden überdurch-
liche Arbeitgeber auf sein Recht          vereinbarenden Zeitraum ausgeführten      schnittlichen Einkommenszuwachs der
verzichtet hat, … den Arzt als Arbeit-    ärztlichen Leistungen zugrunde zu le-     niedergelassenen Ärzte schuf. Mit der
nehmer anzustellen‹. (…)                  gen waren. Das hieß, in der Folge wür-    strikten Trennung von ambulantem und
   Insbesondere die Ortskrankenkas-       de das von den Kassenärzten erbrach-      stationärem Bereich gab das Kassen-
sen wandten sich nun dagegen, dass        te Leistungsvolumen mittelbar die         arztrecht Strukturen vor, die sich über
durch den Sicherstellungsauftrag die      Höhe des Gesamthonorars bestimmen.        Jahrzehnte hinweg weitgehend unver-
Kassenärztlichen Vereinigungen, ihrer     Selbst bei Beibehaltung der pauscha-      ändert erhalten haben. Das Kassen-
Ansicht nach rein berufliche Interes-     lierten Vergütung würde somit die Aus-    arztrecht von 1955 war nicht das Re-
senvertretungen, per Gesetz zum öf-       weitung der kassenärztlichen Tätigkeit    sultat einer öffentlich geführten Aus-
fentlich rechtlichen Träger der kassen-   zulasten der Krankenkassen gehen. Als     einandersetzung, sondern das Ergebnis
ärztlichen Versorgung und der Bezie-      Erfolg für die Ärzteschaft musste auch    einer geschickten Verhandlungs- und
hungen zwischen Ärzten und Kranken-       gewertet werden, dass der in den          Lobby-Strategie der ärztlichen Stan-
kassen erhoben werden. Hier würden        Bundestagsausschüssen vereinbarte         desvertreter mit deutlichen Vorteilen
Verpflichtungen der Krankenkassen auf     Gesetzestext die Möglichkeit für die      gegenüber den Krankenkassen.
eine Standesorganisation übertragen       Vertragspartner vorsah, bei der Be-
und die Krankenkassen selbst zu reinen    rechnung der Gesamtvergütung anstel-      (Quelle: Thomas Gerst: »50 Jahre Kassen-
Zahlstellen degradiert. (…)               le der Kopfpauschale eine Berechnung      arztrecht: ›… dass wir allen Grund haben,
                                                                                    uns zu freuen‹«, in: Deutsches Ärzteblatt,
   Mit dem von den Regierungsfraktio-     nach Fallpauschalen oder nach Einzel-
                                                                                    Jg. 102, Heft 26, 1. Juli 2005)
nen am 19. Mai 1954 eingereichten         leistungen zu vereinbaren (…)
Gesetzentwurf kamen die Beratungen            Auch bei den Beratungen über die
über den Gesetzentwurf zum Kassen-        Verhältniszahl hatten sich die Bundes-    1 Anm. der Red: Dass Haedenkamp be-
arztrecht in die abschließende Phase,     tagsausschüsse weniger von den Be-          reits 1933 als Antisemit und Gegner der
                                                                                      Gesetzlichen Krankenkassen in der Wei-
die noch einmal im Wesentlichen von       denken der Krankenkassen gegen eine
                                                                                      marer Republik bekannt war und von
der Durchsetzung kassenärztlicher In-     damit verbundene Ausdehnung der             Reichsärzteführer Dr. Gerhard Wagner
teressen geprägt war. (…)                 kassenärztlichen Leistungen, sondern        zur Ausschaltung jüdischer, sozialdemo-
   Die Ärzte unter den Bundestagsab-      von dem Bestreben, für eine größere         kratischer und kommunistischer Kolle-
geordneten sorgten mit vereinten Kräf-    Zahl von Ärzten gesicherte Arbeitsfel-      gen und damit zur Gleichschaltung des
                                                                                      Gesundheitswesens ins Reichsarbeitsmi-
ten dafür, dass in den Beratungen der     der zu schaffen, leiten lassen.
                                                                                      nisterium berufen worden war, erfährt
Bundestagsausschüsse nicht nur Ver-           Das Gesetz über das Kassenarzt-         man in dem Jubiläumsartikel des DÄB
änderungen des Gesetzentwurfs zuun-       recht stellt ein Paradebeispiel für das     nicht. Siehe Ursula Ebell: »Freudigst be-
gunsten der Kassenärzte unterblieben,     politische Durchsetzungsvermögen der        grüßt... Entrechtung, Ausschaltung und
sondern noch neue Bestimmungen ein-       ärztlichen Standesorganisationen in         Vertreibung der jüdischen und staats-
gebaut wurden, die einen wertvollen       der Aufbauphase der Bundesrepublik          feindlichen Ärztinnen und Ärzte im Na-
                                                                                      tionalsozialismus«, in: GbP 4/2015
Zugewinn für die kassenärztliche Seite    Deutschland dar. Gegen vielfachen
bedeuteten. Die wichtigste Neuerung       Widerstand gelang es, ein Gesetz zu

8 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2018
Es ginge auch anders…
Wolfgang Wodarg über integrierte Regionalbudgets für eine gute
pflegerisch-medizinische Grundversorgung
Gegen die zunehmende Kommerzialisierung und Privatisierung des Gesundheitswesens ein-
schließlich der Pflegeeinrichtungen setzt Wolfgang Wodarg seine Perspektive von guter pflege-
risch-medizinischer Versorgung und stellt einige Modellprojekte vor.

„„Sozialstaatsgebot                                               würden und die deshalb besser zentralisiert für alle Gemein-
                                                                  schaften vorgehalten werden. Die übergeordnete Ebene hat
Als Bevölkerung eines sozialen Bundesstaates sind wir von         dabei das Bestreben, sich so schnell es geht wieder überflüs-
der Verfassung aufgerufen, die Aufgaben gemeinsam zu tra-         sig zu machen.
gen, die sich dann ergeben, wenn wir krank, arm, behindert,          Hilfsbedürftigkeit bleibt aber selbst für eine insgesamt leis-
arbeitslos oder pflegebedürftig sind. Wir versprechen uns ge-     tungsfähige Gesellschaft eine schwierige Aufgabe und soll mit
genseitig, dass wir uns teilhaben lassen an dieser Gesellschaft   möglichst wenig Aufwand gut bewältigt werden.
und haben uns von der Politik Regeln machen lassen, die uns
gesetzlich verpflichten, Steuern und Beiträge zu zahlen, damit    „„Perspektivwechsel durch Deregulierung
solche Hilfe in guter Qualität sichergestellt werden kann. Wir
leben mit über 80 Millionen Menschen nach diesen Regeln.          Doch Gesundheit und Pflege, Arbeit und Wohnung sind in un-
Soweit die staatlichen Gemeinsamkeiten. Doch wer ist »Wir«?       serer durchökonomisierten Welt Bereiche, die auch aus wirt-
                                                                  schaftlicher Perspektive interessant geworden sind. Sie wer-
„„Starke regionale Unterschiede                                   den deshalb meistens mit der Endsilbe -markt versehen.
                                                                     Seit Einführung der Pflegeversicherung hat in Deutschland
Man denke beispielsweise an die arme Uckermark im Nord-           ein gewinnorientierter Pflegemarkt die kommunalen Pflege-
osten Deutschlands und an den von Migranten geprägten             und Sorgestrukturen zunehmend verdrängt. Pflegebedürftige
Stadtteil Neukölln in Berlin oder andererseits an die wohlha-     und ihre Angehörigen stehen dem weitgehend hilflos und mit
bende Gemeinde Gmund am Tegernsee oder das noble Quar-            begründetem Misstrauen gegenüber. Die Kommerzialisierung
tier Uhlenhorst an der Hamburger Alster. Bundesweit gelten-       der Anbieterseite, die Angst und das Misstrauen der Betrof-
de Regelungen oder Verträge sind weder geeignet noch              fenen prägen die Diskussion um Pflege und medizinische Ver-
ausreichend, um überall angemessene Hilfe in guter Qualität       sorgung der letzten Jahre.
bedarfsgerecht sicherzustellen. Für bedarfsgerechte Hilfe be-        Wenn in einer Gemeinde die Pflegedienste mit ihren Klein-
darf es vor allem Zeit, Erfahrung, Wissen und Empathie von        wagen voller Werbung um die Wette nach Parkplätzen suchen
Menschen mit guter Kenntnis der regionalen Angebote und           und Billigkräfte durch die Treppenhäuser und Vorgärten eilen,
Möglichkeiten. Bekanntheit und Vertrauen sind die besten          um möglichst ohne schlechtes Gewissen die Pflegeminuten
Voraussetzungen für eine menschenwürdige Hilfe.                   für ihre Unternehmen zu erbringen, dann wundert man sich,
                                                                  weshalb die Solidargemeinschaft der altruistischen Beitrags-
„„Subsidiarität als Grundlage für                                 zahler das schon so lange mitmacht.
  berechtigtes Vertrauen
                                                                  „„Kompetenzverlust vor Ort
Gesellschaft organisiert sich dort, wo man miteinander redet,
wo man sich kennt und wo man sich deshalb zu Recht ver-           Von den Hilfebedürftigen selbst ist naturgemäß wenig Wider-
trauen kann. Als ein solcher Sozialraum ist die Bundesrepu-       stand zu erwarten und von der Gemeindevertretung kam bis-
blik Deutschland viel zu groß. Selbst unsere 16 Länder sind       her meistens ein ratloses Achselzucken. Dafür sei man schon
für gute soziale Hilfestrukturen auf eine funktionierende kom-    lange nicht mehr zuständig. Gemeindeschwestern gebe es
munale Ebene angewiesen.                                          nicht mehr und die ehemals defizitären Heime seien zum
    In der katholischen Soziallehre wurde das Prinzip der Sub-    Glück längst alle privatisiert. Auch die Ärzteschaft und ande-
sidiarität entwickelt, welches vorschlägt, Probleme möglichst     re selbständige Profis laufen jahrelang schon im Wettbewerb
gleich dort zu lösen, wo sie sichtbar werden. Jeweils überge-     den Karotten hinterher, die ihnen vom Gesundheitsmarkt vor
ordneten Träger sollen sicherstellen, dass an der Basis Selbst-   das Maul gehängt werden (Jameda und die Ärzte- und Apo-
hilfe möglich ist. Sie greifen nur bei solchen Leistungen er-     thekerbank lassen grüßen!).
gänzend ein, welche die Gemeinschaft vor Ort überfordern

                                        Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2018 | 9
„„Not als Wachstumsgrundlage                                     den Alten und Kranken schlecht ginge. Man ist stolz, diese
                                                                 »Last« gut zu tragen. In Deutschland sind die Gemeinden
Die Marktperspektive hat sich in den letzten 30 Jahren im        weitgehend raus. Alte und Kranke sind primär zu einer Ver-
deutschen Gesundheitswesen überall durchgesetzt. Selbst ka-      dienstquelle geworden und es wird im Markt um Patienten als
tholische und evangelische Wohlfahrtsverbände sind zu harten     Kunden geworben und gestritten. Wir schämen uns nicht
ökonomischen Konkurrenten im Gesundheits- und Pflege-            mehr, weil wir uns mit Hilfe des Marktes »entsorgt« haben.
markt mutiert.                                                      Bei uns versuchen Gesundheitsunternehmen, durch poli-
   Wie in anderen Wirtschaftszweigen sehen wir jetzt auch im     tische Einflussnahme die Versorgung jetzt so zu lenken, dass
Gesundheitswesen und in der Pflege die typischen Merkmale        von der Arztpraxis zum Akutkrankenhaus, über Rehaklinik
ökonomischer Primärinteressen: Monopolisierung, Dumping-         und Hilfsmittel bis hin zum Pflegeheim oder zum ambulanten
Wettbewerb, Geschäftsgeheimnisse, Personaleinsparungen,          Pflegedienst mithilfe von Case-Managern keine Einnahme-
Konzentration auf lukrative Marktsegmente, Bonuszah­lungen       quelle der Konkurrenz überlassen wird. Große Anbieter ge-
für Umsatzsteigerung und Schaffung von Knappheit und Be-         winnen auch hier an Einfluss. Vor dieser profitgeleiteten
darf. Hilfebedürftigkeit und Krankheit sind aus der Sicht des    Integration muss gewarnt werden. Trotz immer neuer Pro-
Marktes eben keine Last, sondern eine Wachstumschance.           dukte wird es in Deutschland solange keine Qualitätsverbes-
   Man sieht das besonders in »Marktsegmenten« der letzten       serung für die Betroffenen in der gesundheitlichen Versorgung
Lebensphase: Je größer Angst und Not, um so höher der Preis      oder in der Pflege geben, wie wir die Verantwortung hierfür
und die Rendite. Hilflosigkeit wird vom Markt gesucht und        nicht konsequent subsidiär umgestalten und dabei darauf
genutzt.                                                         achten, dass Gestaltungs- und Budgetverantwortung in einer
                                                                 Hand sind – und zwar in öffentlicher!
„„Unsere Kassen: Institutionelle Korruption
                                                                 „„Es geht auch in Deutschland – bisher nur
Selbst unsere Solidarkassen, die gesetzlichen Krankenkassen        psychiatrisch
und Pflegekassen gehorchen diesem wirtschaftlichen Primat.
Sie wurden von der Politik in einen perversen Wettbewerb         Es gibt zum Glück auch bei uns bereits einige Ausnahmen.
geschickt und versuchen, marktkonform ihre Ausgaben zu           Zum Beispiel im Kreis Herzogtum Lauenburg, wo eine Klinik
minimieren und ihre Einnahmen zu maximieren. Wer wenig           damit verdient, dass die Menschen im Einzugsbereich mög-
bringt und teuer ist, den würden sie am liebsten der Konkur-     lichst nicht eingewiesen werden müssen. Leider gibt es so
renz rüberschieben. Körperschaften öffentlichen Rechts be-       etwas bisher nur in der Psychiatrie und nur in einigen Kreisen.
stechen aktiv Ärzte und geben ihnen mehr Geld, wenn diese        In Geesthacht, zwischen Lauenburg und Hamburg wurden die
ihre Diagnosen so verändern, dass die Kasse mehr aus dem         Klinikbetten weitgehend reduziert und das Personal macht
Gesundheitsfonds erhält. Solidarität und Sozialstaatsgebot       Homecare.1
geraten angesichts des harten Wettbewerbs unter den Kassen           Hier werden mit einem psychiatrischen Regionalbudget seit
auch hier in Vergessenheit.                                      Jahren 180.000 Einwohner mit ambulanter Psychiatrie und
    Und im Übrigen ist auch keine Kasse zuständig, wenn es       durch multidisziplinäre Teams gut versorgt. Es können teure
irgendwo Unter-, Über- oder Fehlversorgung gibt, denn jede       Klinikeinweisungen weitgehend vermieden und viel Elend und
Kasse ist ja nur gegenüber den eigenen Versicherten verant-      Geld gespart werden. Alle Kassen in Schleswig-Holstein ma-
wortlich. Tausende von Verträgen werden möglichst heimlich       chen mit und partizipieren so an den Vorteilen dieser vernünf-
und jeweils selektiv im Wettbewerb geschlossen. Auch Qua-        tigen und kostengünstigen Versorgungsform. Das Land ist
litätszertifikate kann man kaufen.                               klein, nicht weit entfernt von Skandinavien und man kennt
    Wenn durch Ökonomisierung das primäre Interesse, näm-        sich. Die Wettbewerber des Marktes werden unter die öffent-
lich die eigentlich von der Gesellschaft anvertraute Funktion,   lich verantwortete regionale/übersichtliche Gestaltungs- und
ins Hintertreffen gerät und geschwächt wird, dann spricht        Budgetverantwortung gestellt. Die Systemgröße soll dem
man von systemischer oder institutioneller Korruption. Diese     Prinzip der Subsidiarität folgen.2
wächst solange, bis wir das durchschauen und politisch be-           Das Projekt wurde von engagierten Psychiatern und über-
enden.                                                           zeugten Managern vor Ort gestartet. Mit Unterstützung der
                                                                 Politik gelang es, nicht etwa nur einige Selektivverträge ab-
„„Was ist anders in Tondern als in Husum?                        zuschließen, sondern alle Kassen flächendeckend zu beteili-
                                                                 gen. Hier arbeiten alle Gesundheitsberufe Hand in Hand, wie
Menschen wollen in ihrem sozialen Umfeld bleiben und – wenn      im Krankenhaus ohnehin üblich. Aber Mauern und Betten wer-
es denn sein muss – auch dort sterben dürfen. Hierzu gibt es     den weitgehend eingespart.
genügend Umfrageergebnisse und es steht viel darüber in              In einem Dutzend der etwa 400 Kreise und kreisfreien
Parteiprogrammen. Doch weshalb klappt so etwas in Sonder-        Städte Deutschlands werden inzwischen solche oder ähnliche
burg oder Tondern und 40 km weiter in Flensburg oder Husum       Alternativmodelle zur Krankenhauspsychiatrie praktiziert. Der
schon nicht mehr?                                                neugewählte Präsident der größten Fachgesellschaft für Psy-
   In Deutschland gibt es eben keinen kommunalen Gesund-         chiater in Deutschland (DGPPN), Prof. Dr. Arno Deister, Chef-
heitsdienst sondern einen diversifizierten Gesundheits- und      arzt in Itzehoe, hatte als erster mit Unterstützung seines
Pflegemarkt. In Dänemark sind Patienten zwar auch eine Be-       klugen Landrates ein Regionalbudget3 mit den Kassen aus-
lastung, aber die Gemeinde würde sich schämen, wenn es           gehandelt und konzipiert.

10 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2018
Umfassendes Modell einer regional vernetzten Versorgung im ländlichen Raum

                             Datengestützte           Mögliche Datenquellen:
                             Versorgungsplanung/      Land/Landkreis/Kommune              Kranken- und Pflegekassen
                             Versorgungsmonitoring    Öffentl. Gesundheitsdienst          Kassenärztliche Vereinigung

                             Organisations-/           Gemeinsames Landesgremium (nach § 90a SGB V)
              Evaluation

                             Kooperationsstruktur      Regionale /kommunale Gesundheits- und Pflegekonferenz

                                       Verbesserter    Mobile Praxen/            Bürgerbus/Hol-            Telemedizin/
                                       Zugang          Mobile Dienste           und Bringdienste            Telenursing
                                                                                                           Regionale
                                                      Lokale Gesundheitszentren                            Arztnetze,
                             Koordinierte                                                               Gesundheitsnetze
                                                      für Primär- und Langzeitversorgung
                             Versorgung                                                                     (z.B. Geriatrie,
                                                      Typ A: Praxisgestützt, primär ambulant              Palliativversorung,
                                                      Typ B: Stationär gestützt, sektorenübergreifend       Langzeitplfege,
                                                                                                        Psychiatrie, Prävention)

                               Angebote für Ältere/      Ländliche                  Häusliche                  Case
                               chronisch Kranke       Quartierskonzepte            Versorgung               Management

„„Regionalbudgets und regionale                                            Als ein erster Schritt wäre es auch möglich, dass einzelne
  Verantwortung – das Geheimrezept im Norden                            Bundesländer durch den Gesetzgeber ermächtigt werden, hier
                                                                        voranzugehen und geeignete regionale Voraussetzungen zu
In Schweden oder Dänemark geht so etwas schon lange auch                schaffen. Eine entsprechende Bundesratsinitiative halte ich
mit vielen anderen chronischen Krankheiten nach einem ähn-              für sinnvoll, möglich und unterstützenswert. Soweit zur re­
lichen Prinzip: Die Region erhält ein einwohnerbezogenes und            gional verantworteten und integrierten Pflege.
risikogewichtetes Budget und versucht damit effizient, das
heißt also möglichst präventiv und rehabilitativ die Bevölke-           „„Die gesamte pflegerisch-medizinische
rung zu versorgen. Pflegekräfte und Ärzte arbeiten ambulant               Grundversorgung vor Ort integrieren
eng zusammen, so wie es bei uns nur hinter Klinikmauern
üblich ist. Durch die Vermeidung eines teuren sektorbezoge-             Weshalb sollten wir aber nicht gleich die ärztliche Grundver-
nen Nebeneinanders und durch eine integrierte Budgetver-                sorgung in das das genannte Regionalmodell einbeziehen –
antwortung ergibt sich eine wirklich integrierte Versorgung             wie schon in der Psychiatrie im Kreis Herzogtum Lauenburg?
automatisch.                                                            Es bedarf noch nicht einmal einer Gesetzesänderung, um ei-
                                                                        ne integrierte medizinisch-pflegerische Grundversorgung mit
„„Integrierte Budgets erleichtern integrierte                           sektorübergreifendem Budget zu formulieren5 und zum Bei-
  Versorgung                                                            spiel durch gemeinnützige GmbHs oder Genossenschaften auf
                                                                        kommunaler Ebene zu verwirklichen. In Büsum hat man aus
Die Bertelsmann Stiftung hat 2014 eine sehr interessante                der Not des Ärztemangels bereits ein Ärztliches Zentrum un-
Arbeit zu integrierten kommunalen Pflegebudgets herausge-               ter kommunaler Trägerschaft6 konzipiert. So etwas ließe sich
geben4 und dabei sehr detailliert auch die Machbarkeit unter            gut mit der pflegerischen Komponente kombinieren. Dafür
den heutigen gesetzlichen und finanziellen Rahmenbedingun-              gibt es zwar noch keine explizite gesetliche Möglichkeit, aber
gen untersuchen lassen. Das Ergebnis dieser Studie ist sehr             wenn ein Land das will, lässt sich eine Lösung auch jetzt
ermutigend.                                                             schon »basteln«. Besser wäre natürlich eine ausdrückliche
    Auch der Sozialverband-Schleswig Holstein setzt sich für            gesetzliche Möglichkeit. Bei den Verhandlungen um die Höhe
eine Bündelung der Budget- und Gestaltungsverantwortung für             des Budgets könnte man dabei – wie in der Psychiatrie in It-
alle Pflegeleistungen auf kommunaler Ebene ein. Die Kommu-              zehoe oder Lauenburg – von den regional bisher insgesamt
nen sollen planen, Verträge abschließen, die professionelle Hil-        aufgewandten Kosten ausgehen.
fe vor Ort mit der Laienhilfe verzahnen und mithilfe des von
allen Kostenträgern vor Ort gebündelten Budgets für eine ef-            „„Pflegerisch-ärztliche Kooperation wie in der
fiziente Pflege sorgen. Auch wenn die Gemeinde sich das nicht             Klinik – nur ohne Mauern
zutraut und diese Arbeit teilweise vergibt, soll sie in der Letzt-
verantwortung vor den Einwohnern bleiben. Land und Bund                 Wenn die ohne Klinikmauern kooperierenden interdisziplinä-
geben den Gemeinden bei Bedarf subsidiäre Hilfestellungen.              ren Profi-Teams teure Klinikeinweisungen vermeiden und er-
Alle Kostenträger sollen durch den Gesetzgeber verpflichtet             folgreiche Prävention ganz nebenbei einbeziehen, kann der
werden, ihre Budgetanteile vor Ort zusammenzuführen.                    erwirtschaftete Gewinn – zumindest zum größten Teil – in der

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Region zur Verbesserung der Versorgung eingesetzt werden.         Bisher kümmern sich nur wenige Kommunen um diese
Die kommunalen Teams können einen sehr viel flexibleren        traditionell kommunale Arbeit. Pflege und Sorge, Betreuung,
Personaleinsatz organisieren und ärztliche oder pflegerische   soziale Beratung und medizinische Grundversorgung sind we-
Teilzeit-Jobs erleichtern. Auch die Einbindung von anderen     sentliche Elemente der Lebensqualität in den Kommunen.
sozialen Leistungen oder von Ehrenamtskräften könnte vor       Wenn Kommunen sie zu ihrer Sache machen, bekommt Da-
Ort integriert werden. (In Lauenburg gibt es sogar »Immobi-    seinsvorsorge wieder ein dankbares Gesicht.
lientherapie« und eine enge Zusammenarbeit mit der örtli-
                                                               Dr. med. Wolfgang Wodarg ist Internist, Pneumologe, Sozialmedizi-
chen Arbeitswelt).
                                                               ner, Arzt für Hygiene und Umweltmedizin und war langjähriger Lei-
                                                               ter eines Gesundheitsamtes, von 1994 bis 2009 war er Abgeordne-
„„Regionalisierte gesundheitlich-pflegerische                  ter für die SPD im Bundestag, er war auch stellvertretender Frak-
  Gesamtverantwortung bringt allen Gewinn                      tionsvorsitzender in der Parlamentarischen Versammlung des Euro-
                                                               parates und Vorsitzender des dortigen Unterausschuss für Gesund-
Alterskrankheiten, chronische Schmerz- oder Stoffwechsel­      heit; heute arbeitet er als Hochschullehrer in Berlin und Flensburg
                                                               sowie ehrenamtlich bei Transparency International Deutschland.
erkrankungen o.ä. führen beim bisherigen professionellen Ne-
beneinander immer wieder zu »Notfallaufnahmen«. In der
Klinik und im Wohnumfeld der chronisch Kranken verursachen     1 https://correctiv.org/recherchen/stories/2015/09/26/der-psych-
auch DRG-bedingte Frühentlassungen oft Unsicherheit und          iatrie-skandal/ (abgerufen am: 10.03.2018)
teure Fehl- oder Unterversorgung.                              2 Siehe auch: Gutachten des Sachverständigenrats zur Begutach-
    Das ist ethisch problematisch und medizinisch nicht not-     tung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR GA) 2009, BT
                                                                 DS 16/13770
wendig. Ein gut eingespieltes, interdisziplinäres Team kann
                                                               3 https://www.klinikum-itzehoe.de/kliniken/zentrum-fuer-psycho
unnötige Klinikaufenthalte vermeiden und das selbstverständ-     soziale-medizin/regional-budget.html
liche Langzeit-Patientenmanagement ohne zusätzlichen Auf-      4 http://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikati
wand gleich mitübernehmen. Der Sachverständigenrates zur         on/did/pflege-vor-ort-gestalten-und-verantworten/ (abgerufen
Begutachtung                                                     am: 10.03.2018)
                                                               5 Regelungen dazu finden sich z.B. im §8 SGB XI und §18 SGB XI
    der Entwicklung im Gesundheitswesen hat in seinem Son-
                                                                 in Verbindung mit §105 SGB V, siehe auch: SVR GA 2009
dergutachten 2009 ähnliche integrierte Versorgungsformen       6 https://www.aerztezeitung.de/politik_gesellschaft/gp_specials/
vorgeschlagen und diese im Gutachten 2014 weiter konkre-         aerzte_fuer_deutschland/article/893417/aerztehaus-buesum-
tisiert. (Siehe Grafik, S. 11)                                   vorzeigeobjekt-nordseestrand.html

12 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2018
Nicht nur für die Patient*innen gut...
Interview zur MFA-Sprechstunde einer Hausarztpraxis in Norddeutschland
Eine Hausarztpraxis in einer norddeutschen Kleinstadt bietet seit einigen Jahren eine »MFA-
Sprechstunde« an, also eine Sprechstunde der früher (und bisweilen von Patient*innen auch
heute noch) so genannten »Arzthelferinnen«. Wir haben einen der Praxisinhaber dazu gefragt,
wie das zustande gekommen ist, wie es angenommen wird und welche Vorteile das hat.

Gesundheit braucht Politik: Zunächst ein paar Fragen zu             Wie werden die MFA-Sprechstunde und andere Leistungen,
Ihrer Praxis: Wie groß ist die Praxis und wie viele MFAs ar-        die die MFA ohne Arzt machen, von den Patient*innen ange-
beiten bei Ihnen? Wo ist die Praxis? Wie setzt sich Ihr             nommen?
Patient*innen-Klientel zusammen (alt / jung, Migrationshin-
tergund / kein Migrationshintergrund, viele privat Versicher-       Die Patienten lieben diese Form der Versorgung. Anfangs
te…)                                                                scheint es manchen Patienten ungewohnt zu sein. Je vielfäl-
                                                                    tiger und selbstverständlicher aber diese delegierbaren Leis-
Wolfram Nagel: Wir haben eine große Gemeinschaftspraxis             tungen von qualifizierten Mitarbeitern übernommen werden,
mit drei Partnern und angestellten Weiterbildungsassistenten        je mehr können die Patienten dieses Angebot schätzen.
sowie 14 Medizinischen Fachangestellten (MFA). Unser Stand-
ort befindet sich in einer Kleinstadt (7.500 Ein­woh­ne­r*in­nen)   Gibt es bei Ihnen auch die Erfahrung, dass manche
mit ländlichem Einzugsgebiet. Unser Patientenklientel ist gut       Patient*innen der MFA bestimmte Dinge lieber erzählen als
durchmischt, gerne auch Kinder, drei Pflegeheime, einige Mi-        dem Arzt? Wie wird das dann wieder mit dem Arzt rückge-
grantenfamilien, wenig Privat Versicherte.                          koppelt? Gibt es regelmäßige Praxis-Gespräche darüber? Wie
                                                                    ist das organisiert?
Sie bieten eine MFA-Sprechstunde in Ihrer Praxis an. Seit
wann machen Sie das und warum?                                      In der Tat sind die MFA-Sprechstunden manchmal von ande-
                                                                    ren Themen geprägt, sodass wir klar Zusatzinformationen
Eigentlich gibt es ja schon immer und vermutlich in allen Pra-      aber auch zusätzliche Interventionsmöglichkeiten erkennen.
xen Arbeitsbereiche, in denen MFAs sehr selbstständig am            Dies ist sowohl diagnostisch gewinnbringend, als auch thera-
Patienten arbeiten. Dazu gehört natürlich das Labor und auch        peutisch nutzbar, weil Mitarbeiter manchmal einen anderen
manche technische Untersuchung. Seit einigen Jahren, spä-           Zugang zu den Patienten haben.
testens seit Einführung der VERAHs, delegieren wir zuneh-              Handelt es sich um relevante Informationen, sprechen die
mend Leistungen an qualifizierte und entsprechend fortgebil-        MFA direkt den behandelnden Arzt an oder legen ihm einen
dete MFAs.

Was machen die MFAs? Machen sie es selbständig, wird es
delegiert?

Für MFA-Sprechstunden eignen sich vor allem Tätigkeiten, die
gut strukturiert werden können und in der Regel auch klare
Grenzwerte und / oder Kennzahlen hervorbringen. Diese wer-
den so definiert, dass sich aus den Messergebissen und Be-
funden für die MFA klare Konsequenzen ableiten. Entspre-
chend gibt es klare Grenzwerte, die dann eine Vorstellung des
Patienten in der ärztlichen Sprechstunde nach sich ziehen.
Insofern gibt es immer eine Rückkopplung in die ärztliche
Sprechstunde.
    Außer Labor und Medizintechnik incl. Doppler haben un-
sere Mitarbeiter eigene Terminspalten für DMP, Geriatrisches
Basisassessment, Schulungen, Raucherentwöhnung, Entspan-
nungstraining, Demenzteste, Impfsprechstunden und natür-
lich Hausbesuchstouren für Blutentnahmen, Anlage von L-
EKG, L-RR, Verbandswechsel u.v.m.

                                        Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2018 | 13
Laufzettel mit Hinweis auf die neuen Fakten zur weiteren Ver-     Darf ich zum Schluss noch eine letzte Frage stellen: In einem
anlassung hin.                                                    Artikel in der Zeitschrift Der Hausarzt von 2014 sprechen Sie
                                                                  von der »Helferinnen-Sprechstunde« etc. Ist es nicht ein Wi-
Wie wirkt sich die MFA-Sprechstunde, also die mehr selbstän-      derspruch, den Mitarbeiterinnen einerseits mehr Selbständig-
dige Tätigkeit der MFA auf das Praxisklima aus (das Verhält-      keit zuzugestehen und sie andererseits immer noch Helferin-
nis zwischen Ihnen als Arzt zu den MFA und das Verhältnis         nen zu nennen (es gab ja eine lange Diskussion darüber und
zu den Patient*innen)?                                            gute Gründe, dass man diese Berufsgruppe nicht mehr »Arzt-
                                                                  helferinnen« nennt…)?
Die Mitarbeiter empfinden die MFA-Sprechstunde als Aufwer-
tung ihrer Arbeit. Die erlebte Wertschätzung ihrer Arbeit         Da haben Sie völlig Recht. Auf meinen Artikel, den ich vor ei-
durch unser ärztliches Vertrauen wirkt sich positiv auf Ar-       nigen Jahren zu diesem Thema schrieb, meldete sich auch
beitsatmosphäre und Motivation aus. Für die Mitarbeiter ist       prompt der Verband medizinischer Fachberufe mit diesem be-
ihr Zutun zum Praxiserfolg – sowohl wirtschaftlich, aber vor      rechtigten Anliegen. Zur kraftlosen Entschuldigung kann ich
allem auch hinsichtlich der konkreten Patientenversorgung –       nur anmerken, dass tatsächlich in unserer Region noch selbst-
direkter erkennbar. Es gibt Situationen, in denen die Patienten   verständlich von der »Helferin« gesprochen wird und der Be-
für bestimmte Fragestellungen ausdrücklich die Mitarbeiter        griff der »MFA« auch unseren Patienten völlig fremd ist (an-
sprechen wollen und nicht den Arzt/die Ärztin.                    ders als bei der MTA). Unsere gerade geschilderte Praxis mag
                                                                  ein Hinweis sein, dass die Begrifflichkeit uns allerdings keines-
Gab es und gibt es Konflikte deshalb und welche sind das?         wegs an der Wertschätzung für unsere Mitarbeiter hinderte.

Mittlerweile achten wir darauf, dass eine Mitarbeiterin nicht     Dr. med. Wolfram Nagel ist Facharzt für Allgemeinmedizin und
monatelang in einer Sprechstundenart bleibt und vielleicht        Lehrbeauftragter für Allgemeinmedizin an der Europ. Med. School
ein Jahr lang nur DMPs macht.                                     Oldenburg-Groningen (EMS)

»Armut ist die
schlimmste Form von Gewalt«
Gerhard Trabert über ambulante aufsuchende Gesundheitsversorgung
sozial benachteiligter Menschen

A
        rmut und deren Beziehung, deren Auswirkungen auf
                                                                    1. Armutsgefährdet ist, wer 60 Prozent oder weni-
        die Gesundheit, auf die Entstehung von Krankheit ist
                                                                       ger des durchschnittlichen monatlichen Haus-
        im Kontext der Armutsdebatte immer noch ein unter-
                                                                       haltseinkommens eines Landes besitzt; (Em­
schätztes und vernachlässigtes Teilgebiet. Obwohl gerade an
                                                                       pfehlung der Europäischen Union) entspricht in
diesen engen Korrelationen deutlich wird, dass Armut in ei-
                                                                       Deutschland im Jahre 2017: ca. 930 Euro, da das
nem der reichsten Länder der Erde nicht lediglich ein Verzicht
                                                                       Durchschnittseinkommen bei ca. 1.630 Euro lag)
auf Konsumgüter, auf Annehmlichkeiten, auf gesellschaftliche
                                                                    2. Strenge Armut ist, wenn man 40 Prozent oder
Teilhabe bedeutet, sondern häufig mit physischem und psy-
                                                                       weniger des durchschnittlichen monatlichen
chischem Leid, mit höheren Erkrankungsraten, bis zu einer
                                                                       Haushaltseinkommens besitzt (2017 entspricht
signifikant geringeren Lebenserwartung einhergeht.
                                                                       dies einem Betrag von ca. 680 Euro)

„„Wie wird Armut definiert?                                         Äquivalenzeinkommen: dient zur Berechnung des Ein-
                                                                    kommens der sonstigen Haushaltsmitglieder: Hauptver-
Es wird zwischen absoluter Armut, die physische Existenz
                                                                    diener Faktor 1,0; alle übrigen Mitglieder ab dem 14.
bedrohend, und relativer Armut differenziert. Definitionsver-
                                                                    Lebensjahr erhalten den Faktor 0,5 und Kinder unter 14
suche relativer Armut orientieren sich schwerpunktmäßig an
                                                                    Jahren den Faktor 0,3.
der finanziellen Ausstattung. Es wird daher von Einkommens-
                                                                       Sozialgeld bzw. Arbeitslosengeld 2 (sogenanntes
armut gesprochen. Folgende Definitionen werden diesbezüg-
                                                                    »Hartz IV«) nach der Zusammenlegung von Sozialhilfe
lich angewandt:
                                                                    und Arbeitslosenhilfe im Jahre 2004 (2018 = 416 Euro;
                                                                    davon 15,80 Euro für Gesundheitspflege)

14 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2018
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