Gesundheit braucht Politik - Ambulante Versorgung - vdää
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Gesundheit verein demokratischer ärztinnen und Politik ärzte braucht Zeitschrift für eine soziale Medizin Nr. 1/2018 | Solibeitrag: 5 Euro Ambulante Versorgung Zu viele Altlasten im Gepäck?
Bernhard Winter: Editorial3 Inhalt Hartmut Reiners: Organisierte Verantwortungslosigkeit. Bedarfsplanung und Sicherstellung der medizinischen Versorgung4 Thomas Gerst: »… dass wir allen Grund haben, uns zu freuen«. Rückblick des DÄB auf das Kassenarztrecht von 19557 Wolfgang Wodarg: Es ginge auch anders… – Integrierte Regionalbudgets für eine gute pflegerisch-medizinische Grundversorgung9 Nicht nur für die Patient*innen gut... – Interview mit Wolfram Nagel zur MFA-Sprechstunde in seiner Hausarztpraxis in Norddeutschland13 Gerhard Trabert: »Armut ist die schlimmste Form von Gewalt« – ambulante aufsuchende Gesundheitsversorgung sozial benachteiligter Menschen14 Daniel Ketteler: Back to Kotti. Ein Plädoyer für eine sozialere Medizin18 Volker Amelung / Ferdinand Gerlach u.a.: »Patient first!« – Auszüge aus einer Studie über eine patientengerechte sektorenübergreifende Versorgung im deutschen Gesundheitswesen22 Bündnis Krankenhaus statt Fabrik: Bewertung der gesundheitspolitischen Festlegungen im Koalitionsvertrag CDU-CSU/SPD 201824 Wulf Dietrich: Sind Globuli wirklich alles? Leserbrief zum Artikel »Esoterik in Zucker« in GbP 4/17 28 Rina: »Die schon wieder…« – Rollenbilder und Sexismus im Klinikalltag30 Der vdää Redaktion Impressum ist bundesweit organisiert; er setzt sich für die Demokratisierung Thomas Kunkel, Eva Pelz, der Strukturen der ärztlichen Standesvertretung ein und versucht, Nadja Rakowitz, Andrea Schmidt, Einfluss zu nehmen auf die Gesundheitspolitik. Bernhard Winter Sollten Sie von uns informiert werden wollen, so setzen Sie sich bit- te mit unserer Geschäftsstelle in Verbindung. Gerne können Sie Impressum sich auch online über den neuen vdää-Newsletter auf dem Laufen- Gesundheit braucht Politik 1/2018 den halten. Die Zeitschrift »Gesundheit braucht Politik« ist die Ver- ISSN 2194-0258 einszeitung, die viermal jährlich erscheint. Namentlich gekennzeich- Hrsg. vom Verein demokratischer nete Artikel geben nicht unbedingt die Vereinsmeinung wieder. Ärztinnen und Ärzte V.i.S.d.P. Thomas Kunkel / Bernhard Winter »Gesundheit braucht Politik – Zeitschrift für eine soziale Medizin« – im Abonnement Bilder dieser Ausgabe Die Zeitschrift des vdää ist inhaltlich längst mehr als eine pixabay.com reine Vereinszeitschrift. Wir machen vier Themenhefte pro Titelbild: pixabay.com Jahr zu aktuellen gesundheitspolitischen Problemen, die sich hinter anderen gesundheitspolitischen Zeitschriften im Geschäftsstelle: deutschsprachigen Raum nicht verstecken müssen. Vereins- Kantstraße 10, 63477 Maintal mitglieder bekommen die Zeitschrift kostenfrei zugesandt. Telefon 0 61 81 – 43 23 48 Wer nicht Vereinsmitglied ist, hat die Möglichkeit, die »Zeit- Mobil 01 72 – 1 85 80 23 Fax 0 61 81 – 49 19 35 schrift für eine soziale Medizin« zum Preis von 26 Euro oder Email info@vdaeae.de als Studentin oder Student für 10 Euro im Jahr zu abonnie- Internet www.vdaeae.de ren. Ein Probeabo besteht aus zwei Ausgaben und kostet Bankverbindung: Postbank Frankfurt, ebenfalls 10 Euro. IBAN: DE97500100600013747603 Bei Interesse wenden Sie sich bitte an die Geschäftsstelle: BIC: PBNKDEFFXXX info@vdaeae.de Satz/Layout: Birgit Letsch Druck: Druckerei Grube 2 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2018
Editorial Verfolgte man die Mainstream-Medien in den letzten Monaten, darg und beschreibt die systembedingte Hilflosigkeit der konnte man den Eindruck gewinnen, dass die größte Misere Patient*innen und ihrer Angehörigen sowie der Kolleg*innen dieser Republik darin bestand, dass sie bloß von einer ge- in den Pflegeberufen. Er sieht das Gesundheitswesen auf ei- schäftsführenden Regierung verwaltet wurde. Dabei wäre die- nem Weg, der dazu führen wird, dass die gesamte Versorgung ser Zustand doch einmal eine schöne Gelegenheit gewesen, von der ambulanten Medizin, über Akutkrankenhäuser und die Lehre der (früh-) bürgerlichen Philosophie, dass das Par- Rehabilitationseinrichtungen sowie ambulanter und stationä- lament die Regierung kontrolliert und nicht umgekehrt, in die rer Dauerpflege von Konzernen unter Profitgesichtspunkten Praxis umzusetzen und als Parlament demokratisch zu arbei- gemanagt werden wird. Dem stellt Wodarg seine Forderung ten und das ein oder andere fortschrittliche Gesetz zu erlas- nach Rekommunalisierung der Gesundheitsversorgung ent- sen... Mit der erneuten Bildung einer großen Koalition wurde gegen. Leuchtturmprojekte in denen sektor- und professions- bekanntlich die alte Ordnung wieder hergestellt. Fügsam wie übergreifend zusammengearbeitet wird, stellen für ihn die SPD nun einmal ist, hat sie sich nach der Verkündigung Regionalbudgets dar, wie es sie in einigen Landkreisen Nord- der Regierungsbildung geradewegs verabschiedet von einer deutschlands für die psychiatrische Versorgung gibt. Die For- Änderung bzw. Streichung des § 219a StGB, also von einer derungen nach kooperativen Versorgungsstrukturen und in- Aufhebung des Verbots der »Werbung« für Schwangerschafts- tegrierter Bedarfsplanung greift auch Hartmut Reiners in abbrüche, für die es eine parlamentarische Mehrheit gegeben seinem Beitrag auf und entwickelt sie zu konkreten Forderun- hätte. Dies zeigt aber auch, welchen Einfluss die selbster- gen an die politischen Akteure weiter. nannten »Lebensschützer« auf diese Regierung haben. Ein interessantes Positionspapier der Friedrich-Ebert-Stif- Der von CDU/CSU und SPD ausgehandelte Koalitionsver- tung, das wir in kurzen Auszügen abdrucken, fokussiert auf trag befasst sich auch mit zahlreichen gesundheitspolitischen den Abbau der strikten sektoralen Grenzen zwischen ambu- Vorhaben - durchaus auch mit einigen Überraschungen: Mit lanter und stationärer Versorgung und versucht dabei, die der Festlegung von einer Mindestpersonalanforderung für al- Sicht der Patient*innen einzunehmen. le bettenführenden Stationen ist der Protest vieler Beschäf- Diese Problematik sowie andere Themen der ambulanten tigter im Gesundheitswesen der letzten Monate und Jahren Versorgung werden uns im vdää dieses Jahr vermehrt be- in der Bundespolitik angekommen. Thomas Böhm hat sich für schäftigen. Am 9. Juni 2018 werden wir zur Vertiefung der das Bündnis Krankenhaus statt Fabrik die Absprachen der Diskussion mit anderen Gruppen einen Fachtag in Hamburg Koalitionär*innen angesehen und diese einzeln kommentiert. durchführen (Interessent*innen können sich in der Geschäfts- Vieles bleibt im Vagen, alles hängt natürlich von ihrer kon- stelle melden). Das Ziel ist, einen kontinuierlichen Diskus kreten Umsetzung ab. Als Gesundheitsminister wurde der sionszusammenhang zu Problemen der ambulanten Versor- eher ruhig werkelnde Hermann Gröhe von dem lauten, ehr- gung aufzubauen. Auch das gesundheitspolitische Forum im geizigen Jens Spahn abgelöst. Von einem Minister, der ein Rahmen der Jahreshauptversammlung des vdää vom 16.– Armutsproblem in diesem Land schlicht negiert, sind keine 18.11.2018 in Köln wird sich schwerpunktmäßig mit diesem solidarischen Lösungen zu erwarten. Thema befassen. Einen gänzlich anderen Blick auf die medizinische Versor- Bernhard Winter gung von Armut Betroffener entwickelt in dieser Ausgabe von Gesundheit braucht Politik Gerhard Trabert in seinem Beitrag. Er ist ein eindrückliches Plädoyer dafür, den Blick auf gesell- schaftliche Ursachen von Krankheiten Armer zu schärfen. Er analysiert, warum für Teile der Bevölkerung der Zugang zum Gesundheitswesen eingeschränkt ist und wie dem abgeholfen werden kann. Daniel Ketteler beschreibt aus der Sicht des Klinikers den Neue Homepage des vdää erschwerten Zugang sozial benachteiligter Gruppen zu einer Liebe Mitglieder, vielleicht haben Sie es ja schon bemerkt: adäquaten ambulanten sozialpsychiatrischen Versorgung. Der vdää hat eine neue Homepage. Sie ist übersichtlicher Manche seiner Thesen erscheinen dabei diskussionswürdig. und einfacher in der Benutzung: http://www.vdaeae.de/ Eine Diskussion, die wir aufnehmen wollen. Vor allem aber ist unsere Zeitschrift nun besser zu finden. Ebenfalls aufnehmen wollen wir eine Diskussion über Se- Gesundheit braucht Politik hat jetzt eine eigene Home- xismus im Krankenhaus. Wenn man den Bericht der jungen page. Dort finden sich alle Ausgaben seit dem Jahr 2013 Ärztin Rina in dieser Ausgabe liest, hat man den Eindruck, mit allen Texten. Die neueste Ausgabe wird – wie bisher dass sich am Sexismus besonders im OP in den letzten Jahr- – erst nach einem halben Jahr komplett ins Netz gestellt. zehnten nichts verändert hat. Auch hier ist noch viel zu tun. Schauen Sie es sich an und geben Sie uns ein Feedback: Mit der Ökonomisierung des ambulanten Pflegewesens seit http://gbp.vdaeae.de/ Einführung der Pflegekassen beschäftigt sich Wolfgang Wo- Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2018 | 3
Organisierte Verantwortungslosigkeit Hartmut Reiners über Bedarfsplanung und Sicherstellung der medizinischen Versorgung Hartmut Reiners beschreibt das Gesundheitswesen in Deutschland, das »System« zu nennen, ein Euphe- mismus wäre. Es besteht aus einer Ansammlung zum Teil überholter Strukturen, die jeweils eine eigene organisatorische und auch finanzielle Logik aufweisen. Der systematische Handlungsbedarf ist groß. D ie Segmentierung der medizinischen Versorgung in Der medizinische Fortschritt führt zu einer wachsenden ambulante und stationäre Einrichtungen sowie das Spezialisierung, die eine enge Zusammenarbeit von Allge- Behandlungsmonopol von Kassenärztinnen und -ärz- mein- und Fachmedizin erfordert. ten in der ambulanten Versorgung sind zentrale Konstruk Behandlungen, die früher längere Klinikaufenthalte erfor- tionsfehler unseres Gesundheitswesens. Nur in eng begrenz- derten, können heute ambulant oder teilstationär durch- ten Fällen dürfen Krankenhäuser Kassenpatienten ambulant geführt werden. behandeln. Es gibt keine umfassende Bedarfsplanung und Die wachsende Zahl älterer und pflegebedürftiger Men- Sicherstellung für die gesamte medizinische Versorgung. Für schen erfordert noch mehr die Kooperation von medizini- die ambulante Versorgung sind die Kassenärztlichen Vereini- schen und sozialen Einrichtungen bzw. Gesundheitsberu- gungen (KV) zuständig, für die Krankenhäuser die Länder. Es fen. herrscht politische Verantwortungslosigkeit. In dünn besiedelten Regionen spitzen sich diese Probleme zu, weil die gesamte medizinische und pflegerische Be- Für kooperative Versorgungsformen und eine integrierte treuung nur mit Versorgungsnetzen unter Einbindung Bedarfsplanung sprechen medizinische, ökonomische und nicht-ärztlicher Berufe sichergestellt werden kann. demographische Gründe: 4 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2018
überholte System der Einzelpraxen in den neuen Ländern zur Kollektivvertrag gesetzlichen Norm und zerschlug damit die medizinisch und ökonomisch sinnvollen integrierten Strukturen des DDR-Ge- … auch als Gesamtvertrag bezeichnet, ist die im § 85 SGB sundheitswesens. Eine rückständige ärztliche Standes- V vorgeschriebene Einigung der Landesverbände der ge ideologie setzte sich gegen Sachargumente durch. setzlichen Krankenkassen (GKV) mit den Kassenärztlichen Erst das GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) erlaubte den Vereinigungen (KV) über die Vergütung aller Leistungen Kassen ab 2004 den Abschluss von Verträgen zu neuen Ver- der Vertragsärzt*innen und -psychotherapeut*innen. Der sorgungsformen ohne Einbindung der KV (»Selektiv voraussichtliche insgesamt anfallende Behandlungsbedarf verträge«). Kernstücke dieser Reform waren die hausarzt in Punkten des EBM wird dabei als Basis für die Berech- zentrierte Versorgung und die Zulassung von Medizinischen nung der Morbiditätsorientierten Gesamtvergütung (MGV) herangezogen. Die KV berechnet im nächsten Schritt nach Versorgungszentren (MVZ) zur kassenärztlichen Versorgung. einem komplexen Schlüssel, dem Honorarverteilungsver- Außerdem entstanden mit der ambulanten spezialärztlichen trag (HVV), die Vergütungsaufteilung für die einzelnen Versorgung für schwere Erkrankungen neue Vertragsbezie- Fachgruppen. Die Einzelnen Leistungserbringer*innen hungen außerhalb des KV-Systems. Diese bescheidenen Fort- bzw. MVZ rechnen ihre Leistungen anhand des Einheitli- schritte wurden mit einer wachsenden Intransparenz erkauft. chen Bewertungsmaßstab (EBM) ab und bekommen da- So gibt es für die ambulante Behandlung in Krankenhäusern nach ihren Anteil aus dem Fachgruppentopf. Dies ist eine zehn verschiedene gesetzliche Grundlagen bzw. Vertragsfor- der zentralen Aufgaben der KVen. Es gibt also in diesem men. Außerdem sind Selektivverträge mit komplizierten Ver- Vertragssystem keine direkte Vereinbarung zwischen rechnungen mit den Gesamtvergütungen verbunden, weil es einzelne*r Leistungserbringer*in und Krankenkassen. sonst zu Doppelzahlungen der Krankenkassen kommen könn- Michael Janßen te. Kurzum, diese Ansätze zur Flexibilisierung und Integrati- on haben die Abläufe in der medizinischen Versorgung eher komplizierter als einfacher gemacht. Diesen Anforderungen stehen Akteure mit fest abgesteckten Hinter der Förderung von Selektivverträgen steht die Vor- Claims gegenüber. Sie sind weniger auf Kooperation und In- stellung, daraus werde ein Kassenwettbewerb um patienten- tegration konditioniert als auf die Verteidigung ihres Terrains. orientierte Versorgungsverträge entstehen. Der Gesundheits- Das kann man ihnen persönlichen nicht vorwerfen, denn so Sachverständigenrat (SVR-G) musste jedoch in seinem ist das im Moment das System, in dem sie sich bewegen, ge- Sondergutachten 2012 feststellen, dass nicht die Versor- strickt. Es gibt keine einheitliche politische Zuständigkeit für gungsqualität den Kassenwettbewerb bestimmt, sondern die die Sicherstellung der Versorgung. Die Länder haben zwar im Höhe der Beitragssätze. Daraus ergibt sich ein grundsätzli- Rahmen der allgemeinen Daseinsvorsorge die politische Letzt- ches Dilemma: Der Aufbau integrierter Versorgungsformen verantwortung für die Gewährleistung einer umfassenden ge- ist für die Kassen mit Investitionen verbunden, die ihre Früch- sundheitlichen Versorgung, aber ihnen stehen für diese Auf- te erst mittel- bis langfristig ernten können. Kurzfristig be gabe keine effektiven Instrumente zur Verfügung. lasten sie die Kassenhaushalte, was Kassenvorstände scheu- Dreh- und Angelpunkt dieser überholten Strukturen ist das seit über hundert Jahren bestehende Monopol der Kassenärz- te in der ambulanten Versorgung von Mitgliedern der ge setzlichen Krankenversicherung (GKV). Seit dem Ende 1913 Selektivvertrag zwischen den Ärzten unter Führung des Leipziger Verbands Direkter Vertrag zwischen Leistungserbringern und (später Hartmannbund) und den Krankenkassen geschlosse- Krankenkasse, der ärztliche/psychotherapeutische nen »Berliner Abkommen« werden Kassenpatienten nur von Leistungen zu definierten Indikationen oder Versor Mitgliedern der Ärzteverbände behandelt, die mit den Kassen gungsstrukturen beinhaltet. Die Beteiligten (Kranken- Verträge haben. Daraus entstand 1932 per Notverordnung haus/Niedergelassene Ärzt*in/Patient*in) müssen sich des Reichspräsidenten das KV-System mit dem Prinzip der aktiv als Teilnehmende einschreiben, um die Leistungen Gesamtvergütung. Das Gesetz über das Kassenarztrecht von zu erhalten bzw. die Leistungen abrechnen zu können. Im 1955 (Siehe Artikel S. 7 in dieser Ausgabe) verfestigte dieses Selektivvertrag wird statt oder zusätzlich zu der Regel- Kollektivvertragssystem und übertrug den KVen den Sicher- versorgung von den GKV finanziert. stellungsauftrag und das Behandlungsmonopol in der ambu- Die bekanntesten Selektivverträge sind die für Integ- lanten Versorgung. rierte Versorgung (§ 140 SGB V) und für die Hausarztzen- trierte Versorgung (§ 73b SGB V); darüber hinaus gibt es Schon die im Juli 1987 eingesetzte Enquete-Kommission noch Modellvorhaben (§ 63-65 SGB V) und besondere zur Strukturreform der GKV stellte fest, dass der von Einzel- ambulante ärztliche Versorgung (§ 73c SGB V). praxen und einer strikten Abgrenzung von ambulanter und Inhalte, Finanzierung, Mengenbegrenzung und stationärer Versorgung geprägte Rahmen der medizinischen Qualitätskontrolle werden zwischen den Vertragspartnern Versorgung den Anforderungen an eine moderne Medizin ohne Einvernehmen der KVen (siehe Kollektivvertrag) ge- nicht entspricht und einer grundlegenden Reform bedarf. Die- regelt. Im Falle des Ersatzes von Leistungen, die sonst im ses Postulat stieß auf den entschiedenen Widerstand von Ärz- Kollektivvertrag erbracht werden, kommt es zu einer Be- tefunktionären. Sie nutzten mit Unterstützung von Kassen- reinigung der Morbiditätsorientierten Gesamtvergütung funktionären die deutsche Einigung zur Zementierung des MGV. Michael Janßen Monopols der KVen. Der Einigungsvertrag machte sogar das Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2018 | 5
Das Grundgesetz gibt eigentlich den Ländern die politische Hausarztzentrierte Versorgung Verantwortung für die allgemeine Daseinsvorsorge, zu der die Gewährleistung einer umfassenden gesundheitlichen Versor- (HzV) nach SGB V § 73 b gung fraglos gehört. Daraus wird jedoch nur die direkte Zu- Im Jahr 2007 im GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz ein- ständigkeit für die stationäre Versorgung abgeleitet. In der geführte Verpflichtung der GKV, ihren Versicherten auf ambulanten Versorgung haben die Länder nur die Rechtsauf- Landesebene Primärarztmodelle anzubieten. Vertrags- sicht über die KVen und die Regionalkassen. Für Kassen mit partner ist der jeweils stärkste Verband der Haus Versicherten in mehr als drei Ländern ist das Bundesversi- ärzt*innen, in allen Bundesländern der Hausärzteverband. cherungsamt (BVA) zuständig ist. Die Arbeitsteilung zwischen Das Modell sieht für die Patient*innen die Entscheidung dem BVA und den Aufsichtsbehörden der Länder muss neu für eine*r Primärärzt*in vor. Arztwechsel und eigenstän- organisiert werden. Der frühere BVA-Präsident Daubenbüchel dige Inanspruchnahme von Gebietsärzt*innen sollen re- hat dazu schon vor 15 Jahre einen sinnvollen Vorschlag ge- duziert werden. Die Honorierung erfolgt im Wesentlichen macht: Das BVA soll die Kassenhaushalte kontrollieren, wäh- als Kopfpauschalmodell mit einigen Einzelleistungen und rend die Länder für die Versorgungsverträge zuständig sind. Qualitätszuschlägen ohne Mengen begrenzende Maßnah- Geschehen ist hier bislang nichts, mit der Folge, dass die men. Länder auf das GKV-System schwindenden Einfluss haben. Es handelte sich vom Ansatz her auch um ein Gesetz Die Sicherstellung der gesamten medizinischen Versorgung zur Schwächung des Vertragsmonopols der KVen (siehe sollte in der politischen Verantwortung der Länder liegen, was Kollektivvertrag) unter Rot-Grün (Gesundheitsministerin Ulla Schmidt/SPD). Michael Janßen nicht heißt, dass diese allein entscheiden. Das ist im deut- schen Gesundheitswesen mit seiner gewachsenen Aufgaben- teilung zwischen Regierungsbehörden und gemeinsamer en, sie bleiben lieber beim alten Kollektivvertragssystem. Die Selbstverwaltung keine realistische Reformoption. Es geht Vorstellung, der Kassenwettbewerb werde hinreichende An- vielmehr darum, die Beziehungen zwischen den Landtagen reize für den Aufbau von integrierten Versorgungsformen und bzw. Landesregierungen und den Selbstverwaltungsorganen Vertragsnetzen bieten, war und ist eine Illusion. neu zu ordnen. Die Bedarfsplanung muss die gesamte Ver- Sie klammert zudem ein zentrales ordnungspolitisches Pro- sorgung betreffen und nicht in ambulante und stationäre blem aus. Man kann nicht Selektivverträgen den Vorrang vor Einrichtungen trennen. Die in den Ländern üblichen Regional- Kollektivverträgen geben, ohne damit den Sicherstellungs- konferenzen zur Krankenhausplanung sollten zu Gesundheits auftrag der KVen zu unterminieren. Der geht bei Selektivver- konferenzen umgebaut werden, in denen auch die KVen ver- trägen an die Kassen bzw. ihre Verbände. Die aber sind nur treten sind. Die von ihnen erarbeiteten Bedarfspläne sollten für ihre Versicherten verantwortlich, nicht aber für die Re von den Landtagen verabschiedet werden. Nur dadurch und gionen. Es entsteht ein Vakuum in der Zuständigkeit für die durch eine Neuordnung der GKV-Aufsicht können die Länder Planung und Sicherstellung der Versorgung. ihrer Verantwortung für die gesundheitliche Versorgung ihrer Bürger gerecht werden. Hartmut Reiners ist Ökonom, war bis August 2009 Referatsleiter im Gesundheitsministerium Brandenburg und lebt als Publizist in Berlin. Integrierte Versorgung (IV) nach SGB V § 140 a …soll die Sektoren (ambulant-stationär) übergreifende Versorgung fördern. Erstmals im Jahr 2000 eingeführt, aber unter verpflichtender Zustimmung der Kassenärztli- chen Vereinigungen zu den Verträgen kam die IV nicht in Gang. Im GKV-Modernisierungsgesetz 2004 wurde der Zustimmungsvorbehalt gestrichen und eine Anschubfinan- zierung für vier Jahre festgeschrieben. Es handelt sich um Verträge, an denen mindestens zwei Akteure aus den ver- schiedenen Sektoren zusammenarbeiten; die Patient*in- nen müssen sich einschreiben. Es gibt eine Vielzahl von Verträgen; die meisten regeln einzelne, eng begrenzte Indikationen (z.B. Kniegelenkersatz). Die gewünschte in- novative Überwindung der Sektoren hat sich nicht einge- stellt, nur wenige Verträge haben das Potential, in die Regelversorgung übernommen zu werden. Michael Janßen 6 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2018
»… dass wir allen Grund haben, uns zu freuen« Rückblick des DÄB auf das Kassenarztrecht von 1955 Im Juli 1955 stimmten Bundestag und Bundesrat dem Gesetz über das Kassenarztrecht zu. Das Ergebnis bestimmte über Jahrzehnte hinweg die Strukturen der ambulanten medizinischen Ver- sorgung. Im Jahr 2005 feierte das Deutsche Ärzteblatt den 50. Geburtstag mit einem Artikel von Thomas Gerst. Wir dokumentieren Ausschnitte daraus. »... Ehe die Krankenkassenverbände der Westdeutschen Ärztekammern im te Sievers zu seinem Bedauern fest- dessen gewahr wurden, hatte die Ar- September 1950. In einer Reihe von stellen, ›dass die Krankenkassen be- beitsgemeinschaft der KV-Landesstel- Besprechungen im Arbeitsministerium merkt haben, dass wir viel im Bun- len (seit 1953 unter dem Namen Kas- unter Ausschluss der Krankenkassen desarbeitsministerium sind, und daraus senärztliche Bundesvereinigung) für hatte man die Vorstellungen der Ärz ihre Konsequenzen ziehen, was uns eine ihr geeignet erscheinende Fassung teschaft bei der Formulierung des Ge- nicht gerade förderlich ist‹. eines Gesetzentwurfs zum Kassenarzt- setzestextes einbringen können. Die Sievers betonte dagegen die Vortei- recht gesorgt. Einschätzung des Justiziars der KV- le des Gesetzentwurfs für die Kassen- Die Kassenärztlichen Vereinigungen Arbeitsgemeinschaft, Arnold Hess, ärzte. Die ambulante ärztliche Behand- waren also, wenn sie eine Änderung ›dass nichts an dem Gesetzentwurf ge- lung würde in vollem Umfang den der geltenden, sich für sie nachteilig schieht, ohne dass wir vorher gehört niedergelassenen Ärzten übertragen, entwickelnden Honorarvereinbarungen werden und dann immer die Gelegen- Krankenhausambulanzen und Eigen- erreichen wollten, auf freiwillige Zuge- heit haben, die Sache abzubiegen‹, einrichtungen der Krankenkassen als ständnisse der Krankenkassen ange- zeigt deutlich die Einflussmöglichkeiten Konkurrenz ausgeschaltet. Dass man wiesen. Deshalb arbeiteten Ludwig Sie- bereits im Vorfeld der Beratungen im im Gegenzug auf das Streikrecht ver- vers und Karl Haedenkamp1, die beiden Bundestag. (…) zichtete und Schiedsinstanzen in An- Protagonisten ärztlicher Standespolitik Erst Anfang des Jahres 1952 muss- spruch nehmen musste, erschien ihm im ersten Nachkriegsjahrzehnt, seit 1948 zielstrebig darauf hin, eine eigen- ständige kassenärztliche Organisation auf interzonaler Ebene herbeizuführen, die vor allem eine gesetzliche Neure- gelung anstreben sollte. Der von Sievers formulierte … Ge- setzentwurf zielte vor allem darauf ab, … die Errichtung einer kassenärztlichen Vertretungskörperschaft auf dem Ge- setzeswege herbeizuführen und diese als alleinige Trägerin der ambulanten kassenärztlichen Versorgung zu be- stimmen. (…) Die Kassenärzte (konnten) im Herbst 1950 mit den bisherigen Ver- handlungsergebnissen durchaus zufrie- den sein, war es ihnen doch gelungen, im Rahmen der vertraulichen Beratun- gen ›für die Ärzteschaft wesentlich günstigere Bestimmungen einzuarbei- ten, als ursprünglich vorgesehen wa- ren‹ – so Haedenkamp bei einer Vor- standssitzung der Arbeitsgemeinschaft Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2018 | 7
als durchaus angemessene Gegenleis- bestand darin, dass bei der Festset- bewirken, das den Kassenärzten das tung für die Vielzahl an Zugeständnis- zung der Gesamtvergütung nunmehr Monopol bei der ambulanten medizini- sen. Die ärztliche Standesvertretung in erster Linie – bei Berücksichtigung schen Versorgung garantierte und auf- habe erreicht, ›was keiner Gewerk- der wirtschaftlichen Lage der Kranken- grund seiner Honorarbestimmungen schaft gelungen ist … – dieses Verhält- kassen und der Veränderung der die Voraussetzungen für den in der Fol- nis so zu regeln, dass der ursprüng Grundlohnsumme – die in einem zu ge zu verzeichnenden überdurch- liche Arbeitgeber auf sein Recht vereinbarenden Zeitraum ausgeführten schnittlichen Einkommenszuwachs der verzichtet hat, … den Arzt als Arbeit- ärztlichen Leistungen zugrunde zu le- niedergelassenen Ärzte schuf. Mit der nehmer anzustellen‹. (…) gen waren. Das hieß, in der Folge wür- strikten Trennung von ambulantem und Insbesondere die Ortskrankenkas- de das von den Kassenärzten erbrach- stationärem Bereich gab das Kassen- sen wandten sich nun dagegen, dass te Leistungsvolumen mittelbar die arztrecht Strukturen vor, die sich über durch den Sicherstellungsauftrag die Höhe des Gesamthonorars bestimmen. Jahrzehnte hinweg weitgehend unver- Kassenärztlichen Vereinigungen, ihrer Selbst bei Beibehaltung der pauscha- ändert erhalten haben. Das Kassen- Ansicht nach rein berufliche Interes- lierten Vergütung würde somit die Aus- arztrecht von 1955 war nicht das Re- senvertretungen, per Gesetz zum öf- weitung der kassenärztlichen Tätigkeit sultat einer öffentlich geführten Aus- fentlich rechtlichen Träger der kassen- zulasten der Krankenkassen gehen. Als einandersetzung, sondern das Ergebnis ärztlichen Versorgung und der Bezie- Erfolg für die Ärzteschaft musste auch einer geschickten Verhandlungs- und hungen zwischen Ärzten und Kranken- gewertet werden, dass der in den Lobby-Strategie der ärztlichen Stan- kassen erhoben werden. Hier würden Bundestagsausschüssen vereinbarte desvertreter mit deutlichen Vorteilen Verpflichtungen der Krankenkassen auf Gesetzestext die Möglichkeit für die gegenüber den Krankenkassen. eine Standesorganisation übertragen Vertragspartner vorsah, bei der Be- und die Krankenkassen selbst zu reinen rechnung der Gesamtvergütung anstel- (Quelle: Thomas Gerst: »50 Jahre Kassen- Zahlstellen degradiert. (…) le der Kopfpauschale eine Berechnung arztrecht: ›… dass wir allen Grund haben, uns zu freuen‹«, in: Deutsches Ärzteblatt, Mit dem von den Regierungsfraktio- nach Fallpauschalen oder nach Einzel- Jg. 102, Heft 26, 1. Juli 2005) nen am 19. Mai 1954 eingereichten leistungen zu vereinbaren (…) Gesetzentwurf kamen die Beratungen Auch bei den Beratungen über die über den Gesetzentwurf zum Kassen- Verhältniszahl hatten sich die Bundes- 1 Anm. der Red: Dass Haedenkamp be- arztrecht in die abschließende Phase, tagsausschüsse weniger von den Be- reits 1933 als Antisemit und Gegner der Gesetzlichen Krankenkassen in der Wei- die noch einmal im Wesentlichen von denken der Krankenkassen gegen eine marer Republik bekannt war und von der Durchsetzung kassenärztlicher In- damit verbundene Ausdehnung der Reichsärzteführer Dr. Gerhard Wagner teressen geprägt war. (…) kassenärztlichen Leistungen, sondern zur Ausschaltung jüdischer, sozialdemo- Die Ärzte unter den Bundestagsab- von dem Bestreben, für eine größere kratischer und kommunistischer Kolle- geordneten sorgten mit vereinten Kräf- Zahl von Ärzten gesicherte Arbeitsfel- gen und damit zur Gleichschaltung des Gesundheitswesens ins Reichsarbeitsmi- ten dafür, dass in den Beratungen der der zu schaffen, leiten lassen. nisterium berufen worden war, erfährt Bundestagsausschüsse nicht nur Ver- Das Gesetz über das Kassenarzt- man in dem Jubiläumsartikel des DÄB änderungen des Gesetzentwurfs zuun- recht stellt ein Paradebeispiel für das nicht. Siehe Ursula Ebell: »Freudigst be- gunsten der Kassenärzte unterblieben, politische Durchsetzungsvermögen der grüßt... Entrechtung, Ausschaltung und sondern noch neue Bestimmungen ein- ärztlichen Standesorganisationen in Vertreibung der jüdischen und staats- gebaut wurden, die einen wertvollen der Aufbauphase der Bundesrepublik feindlichen Ärztinnen und Ärzte im Na- tionalsozialismus«, in: GbP 4/2015 Zugewinn für die kassenärztliche Seite Deutschland dar. Gegen vielfachen bedeuteten. Die wichtigste Neuerung Widerstand gelang es, ein Gesetz zu 8 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2018
Es ginge auch anders… Wolfgang Wodarg über integrierte Regionalbudgets für eine gute pflegerisch-medizinische Grundversorgung Gegen die zunehmende Kommerzialisierung und Privatisierung des Gesundheitswesens ein- schließlich der Pflegeeinrichtungen setzt Wolfgang Wodarg seine Perspektive von guter pflege- risch-medizinischer Versorgung und stellt einige Modellprojekte vor. Sozialstaatsgebot würden und die deshalb besser zentralisiert für alle Gemein- schaften vorgehalten werden. Die übergeordnete Ebene hat Als Bevölkerung eines sozialen Bundesstaates sind wir von dabei das Bestreben, sich so schnell es geht wieder überflüs- der Verfassung aufgerufen, die Aufgaben gemeinsam zu tra- sig zu machen. gen, die sich dann ergeben, wenn wir krank, arm, behindert, Hilfsbedürftigkeit bleibt aber selbst für eine insgesamt leis- arbeitslos oder pflegebedürftig sind. Wir versprechen uns ge- tungsfähige Gesellschaft eine schwierige Aufgabe und soll mit genseitig, dass wir uns teilhaben lassen an dieser Gesellschaft möglichst wenig Aufwand gut bewältigt werden. und haben uns von der Politik Regeln machen lassen, die uns gesetzlich verpflichten, Steuern und Beiträge zu zahlen, damit Perspektivwechsel durch Deregulierung solche Hilfe in guter Qualität sichergestellt werden kann. Wir leben mit über 80 Millionen Menschen nach diesen Regeln. Doch Gesundheit und Pflege, Arbeit und Wohnung sind in un- Soweit die staatlichen Gemeinsamkeiten. Doch wer ist »Wir«? serer durchökonomisierten Welt Bereiche, die auch aus wirt- schaftlicher Perspektive interessant geworden sind. Sie wer- Starke regionale Unterschiede den deshalb meistens mit der Endsilbe -markt versehen. Seit Einführung der Pflegeversicherung hat in Deutschland Man denke beispielsweise an die arme Uckermark im Nord- ein gewinnorientierter Pflegemarkt die kommunalen Pflege- osten Deutschlands und an den von Migranten geprägten und Sorgestrukturen zunehmend verdrängt. Pflegebedürftige Stadtteil Neukölln in Berlin oder andererseits an die wohlha- und ihre Angehörigen stehen dem weitgehend hilflos und mit bende Gemeinde Gmund am Tegernsee oder das noble Quar- begründetem Misstrauen gegenüber. Die Kommerzialisierung tier Uhlenhorst an der Hamburger Alster. Bundesweit gelten- der Anbieterseite, die Angst und das Misstrauen der Betrof- de Regelungen oder Verträge sind weder geeignet noch fenen prägen die Diskussion um Pflege und medizinische Ver- ausreichend, um überall angemessene Hilfe in guter Qualität sorgung der letzten Jahre. bedarfsgerecht sicherzustellen. Für bedarfsgerechte Hilfe be- Wenn in einer Gemeinde die Pflegedienste mit ihren Klein- darf es vor allem Zeit, Erfahrung, Wissen und Empathie von wagen voller Werbung um die Wette nach Parkplätzen suchen Menschen mit guter Kenntnis der regionalen Angebote und und Billigkräfte durch die Treppenhäuser und Vorgärten eilen, Möglichkeiten. Bekanntheit und Vertrauen sind die besten um möglichst ohne schlechtes Gewissen die Pflegeminuten Voraussetzungen für eine menschenwürdige Hilfe. für ihre Unternehmen zu erbringen, dann wundert man sich, weshalb die Solidargemeinschaft der altruistischen Beitrags- Subsidiarität als Grundlage für zahler das schon so lange mitmacht. berechtigtes Vertrauen Kompetenzverlust vor Ort Gesellschaft organisiert sich dort, wo man miteinander redet, wo man sich kennt und wo man sich deshalb zu Recht ver- Von den Hilfebedürftigen selbst ist naturgemäß wenig Wider- trauen kann. Als ein solcher Sozialraum ist die Bundesrepu- stand zu erwarten und von der Gemeindevertretung kam bis- blik Deutschland viel zu groß. Selbst unsere 16 Länder sind her meistens ein ratloses Achselzucken. Dafür sei man schon für gute soziale Hilfestrukturen auf eine funktionierende kom- lange nicht mehr zuständig. Gemeindeschwestern gebe es munale Ebene angewiesen. nicht mehr und die ehemals defizitären Heime seien zum In der katholischen Soziallehre wurde das Prinzip der Sub- Glück längst alle privatisiert. Auch die Ärzteschaft und ande- sidiarität entwickelt, welches vorschlägt, Probleme möglichst re selbständige Profis laufen jahrelang schon im Wettbewerb gleich dort zu lösen, wo sie sichtbar werden. Jeweils überge- den Karotten hinterher, die ihnen vom Gesundheitsmarkt vor ordneten Träger sollen sicherstellen, dass an der Basis Selbst- das Maul gehängt werden (Jameda und die Ärzte- und Apo- hilfe möglich ist. Sie greifen nur bei solchen Leistungen er- thekerbank lassen grüßen!). gänzend ein, welche die Gemeinschaft vor Ort überfordern Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2018 | 9
Not als Wachstumsgrundlage den Alten und Kranken schlecht ginge. Man ist stolz, diese »Last« gut zu tragen. In Deutschland sind die Gemeinden Die Marktperspektive hat sich in den letzten 30 Jahren im weitgehend raus. Alte und Kranke sind primär zu einer Ver- deutschen Gesundheitswesen überall durchgesetzt. Selbst ka- dienstquelle geworden und es wird im Markt um Patienten als tholische und evangelische Wohlfahrtsverbände sind zu harten Kunden geworben und gestritten. Wir schämen uns nicht ökonomischen Konkurrenten im Gesundheits- und Pflege- mehr, weil wir uns mit Hilfe des Marktes »entsorgt« haben. markt mutiert. Bei uns versuchen Gesundheitsunternehmen, durch poli- Wie in anderen Wirtschaftszweigen sehen wir jetzt auch im tische Einflussnahme die Versorgung jetzt so zu lenken, dass Gesundheitswesen und in der Pflege die typischen Merkmale von der Arztpraxis zum Akutkrankenhaus, über Rehaklinik ökonomischer Primärinteressen: Monopolisierung, Dumping- und Hilfsmittel bis hin zum Pflegeheim oder zum ambulanten Wettbewerb, Geschäftsgeheimnisse, Personaleinsparungen, Pflegedienst mithilfe von Case-Managern keine Einnahme- Konzentration auf lukrative Marktsegmente, Bonuszahlungen quelle der Konkurrenz überlassen wird. Große Anbieter ge- für Umsatzsteigerung und Schaffung von Knappheit und Be- winnen auch hier an Einfluss. Vor dieser profitgeleiteten darf. Hilfebedürftigkeit und Krankheit sind aus der Sicht des Integration muss gewarnt werden. Trotz immer neuer Pro- Marktes eben keine Last, sondern eine Wachstumschance. dukte wird es in Deutschland solange keine Qualitätsverbes- Man sieht das besonders in »Marktsegmenten« der letzten serung für die Betroffenen in der gesundheitlichen Versorgung Lebensphase: Je größer Angst und Not, um so höher der Preis oder in der Pflege geben, wie wir die Verantwortung hierfür und die Rendite. Hilflosigkeit wird vom Markt gesucht und nicht konsequent subsidiär umgestalten und dabei darauf genutzt. achten, dass Gestaltungs- und Budgetverantwortung in einer Hand sind – und zwar in öffentlicher! Unsere Kassen: Institutionelle Korruption Es geht auch in Deutschland – bisher nur Selbst unsere Solidarkassen, die gesetzlichen Krankenkassen psychiatrisch und Pflegekassen gehorchen diesem wirtschaftlichen Primat. Sie wurden von der Politik in einen perversen Wettbewerb Es gibt zum Glück auch bei uns bereits einige Ausnahmen. geschickt und versuchen, marktkonform ihre Ausgaben zu Zum Beispiel im Kreis Herzogtum Lauenburg, wo eine Klinik minimieren und ihre Einnahmen zu maximieren. Wer wenig damit verdient, dass die Menschen im Einzugsbereich mög- bringt und teuer ist, den würden sie am liebsten der Konkur- lichst nicht eingewiesen werden müssen. Leider gibt es so renz rüberschieben. Körperschaften öffentlichen Rechts be- etwas bisher nur in der Psychiatrie und nur in einigen Kreisen. stechen aktiv Ärzte und geben ihnen mehr Geld, wenn diese In Geesthacht, zwischen Lauenburg und Hamburg wurden die ihre Diagnosen so verändern, dass die Kasse mehr aus dem Klinikbetten weitgehend reduziert und das Personal macht Gesundheitsfonds erhält. Solidarität und Sozialstaatsgebot Homecare.1 geraten angesichts des harten Wettbewerbs unter den Kassen Hier werden mit einem psychiatrischen Regionalbudget seit auch hier in Vergessenheit. Jahren 180.000 Einwohner mit ambulanter Psychiatrie und Und im Übrigen ist auch keine Kasse zuständig, wenn es durch multidisziplinäre Teams gut versorgt. Es können teure irgendwo Unter-, Über- oder Fehlversorgung gibt, denn jede Klinikeinweisungen weitgehend vermieden und viel Elend und Kasse ist ja nur gegenüber den eigenen Versicherten verant- Geld gespart werden. Alle Kassen in Schleswig-Holstein ma- wortlich. Tausende von Verträgen werden möglichst heimlich chen mit und partizipieren so an den Vorteilen dieser vernünf- und jeweils selektiv im Wettbewerb geschlossen. Auch Qua- tigen und kostengünstigen Versorgungsform. Das Land ist litätszertifikate kann man kaufen. klein, nicht weit entfernt von Skandinavien und man kennt Wenn durch Ökonomisierung das primäre Interesse, näm- sich. Die Wettbewerber des Marktes werden unter die öffent- lich die eigentlich von der Gesellschaft anvertraute Funktion, lich verantwortete regionale/übersichtliche Gestaltungs- und ins Hintertreffen gerät und geschwächt wird, dann spricht Budgetverantwortung gestellt. Die Systemgröße soll dem man von systemischer oder institutioneller Korruption. Diese Prinzip der Subsidiarität folgen.2 wächst solange, bis wir das durchschauen und politisch be- Das Projekt wurde von engagierten Psychiatern und über- enden. zeugten Managern vor Ort gestartet. Mit Unterstützung der Politik gelang es, nicht etwa nur einige Selektivverträge ab- Was ist anders in Tondern als in Husum? zuschließen, sondern alle Kassen flächendeckend zu beteili- gen. Hier arbeiten alle Gesundheitsberufe Hand in Hand, wie Menschen wollen in ihrem sozialen Umfeld bleiben und – wenn im Krankenhaus ohnehin üblich. Aber Mauern und Betten wer- es denn sein muss – auch dort sterben dürfen. Hierzu gibt es den weitgehend eingespart. genügend Umfrageergebnisse und es steht viel darüber in In einem Dutzend der etwa 400 Kreise und kreisfreien Parteiprogrammen. Doch weshalb klappt so etwas in Sonder- Städte Deutschlands werden inzwischen solche oder ähnliche burg oder Tondern und 40 km weiter in Flensburg oder Husum Alternativmodelle zur Krankenhauspsychiatrie praktiziert. Der schon nicht mehr? neugewählte Präsident der größten Fachgesellschaft für Psy- In Deutschland gibt es eben keinen kommunalen Gesund- chiater in Deutschland (DGPPN), Prof. Dr. Arno Deister, Chef- heitsdienst sondern einen diversifizierten Gesundheits- und arzt in Itzehoe, hatte als erster mit Unterstützung seines Pflegemarkt. In Dänemark sind Patienten zwar auch eine Be- klugen Landrates ein Regionalbudget3 mit den Kassen aus- lastung, aber die Gemeinde würde sich schämen, wenn es gehandelt und konzipiert. 10 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2018
Umfassendes Modell einer regional vernetzten Versorgung im ländlichen Raum Datengestützte Mögliche Datenquellen: Versorgungsplanung/ Land/Landkreis/Kommune Kranken- und Pflegekassen Versorgungsmonitoring Öffentl. Gesundheitsdienst Kassenärztliche Vereinigung Organisations-/ Gemeinsames Landesgremium (nach § 90a SGB V) Evaluation Kooperationsstruktur Regionale /kommunale Gesundheits- und Pflegekonferenz Verbesserter Mobile Praxen/ Bürgerbus/Hol- Telemedizin/ Zugang Mobile Dienste und Bringdienste Telenursing Regionale Lokale Gesundheitszentren Arztnetze, Koordinierte Gesundheitsnetze für Primär- und Langzeitversorgung Versorgung (z.B. Geriatrie, Typ A: Praxisgestützt, primär ambulant Palliativversorung, Typ B: Stationär gestützt, sektorenübergreifend Langzeitplfege, Psychiatrie, Prävention) Angebote für Ältere/ Ländliche Häusliche Case chronisch Kranke Quartierskonzepte Versorgung Management Regionalbudgets und regionale Als ein erster Schritt wäre es auch möglich, dass einzelne Verantwortung – das Geheimrezept im Norden Bundesländer durch den Gesetzgeber ermächtigt werden, hier voranzugehen und geeignete regionale Voraussetzungen zu In Schweden oder Dänemark geht so etwas schon lange auch schaffen. Eine entsprechende Bundesratsinitiative halte ich mit vielen anderen chronischen Krankheiten nach einem ähn- für sinnvoll, möglich und unterstützenswert. Soweit zur re lichen Prinzip: Die Region erhält ein einwohnerbezogenes und gional verantworteten und integrierten Pflege. risikogewichtetes Budget und versucht damit effizient, das heißt also möglichst präventiv und rehabilitativ die Bevölke- Die gesamte pflegerisch-medizinische rung zu versorgen. Pflegekräfte und Ärzte arbeiten ambulant Grundversorgung vor Ort integrieren eng zusammen, so wie es bei uns nur hinter Klinikmauern üblich ist. Durch die Vermeidung eines teuren sektorbezoge- Weshalb sollten wir aber nicht gleich die ärztliche Grundver- nen Nebeneinanders und durch eine integrierte Budgetver- sorgung in das das genannte Regionalmodell einbeziehen – antwortung ergibt sich eine wirklich integrierte Versorgung wie schon in der Psychiatrie im Kreis Herzogtum Lauenburg? automatisch. Es bedarf noch nicht einmal einer Gesetzesänderung, um ei- ne integrierte medizinisch-pflegerische Grundversorgung mit Integrierte Budgets erleichtern integrierte sektorübergreifendem Budget zu formulieren5 und zum Bei- Versorgung spiel durch gemeinnützige GmbHs oder Genossenschaften auf kommunaler Ebene zu verwirklichen. In Büsum hat man aus Die Bertelsmann Stiftung hat 2014 eine sehr interessante der Not des Ärztemangels bereits ein Ärztliches Zentrum un- Arbeit zu integrierten kommunalen Pflegebudgets herausge- ter kommunaler Trägerschaft6 konzipiert. So etwas ließe sich geben4 und dabei sehr detailliert auch die Machbarkeit unter gut mit der pflegerischen Komponente kombinieren. Dafür den heutigen gesetzlichen und finanziellen Rahmenbedingun- gibt es zwar noch keine explizite gesetliche Möglichkeit, aber gen untersuchen lassen. Das Ergebnis dieser Studie ist sehr wenn ein Land das will, lässt sich eine Lösung auch jetzt ermutigend. schon »basteln«. Besser wäre natürlich eine ausdrückliche Auch der Sozialverband-Schleswig Holstein setzt sich für gesetzliche Möglichkeit. Bei den Verhandlungen um die Höhe eine Bündelung der Budget- und Gestaltungsverantwortung für des Budgets könnte man dabei – wie in der Psychiatrie in It- alle Pflegeleistungen auf kommunaler Ebene ein. Die Kommu- zehoe oder Lauenburg – von den regional bisher insgesamt nen sollen planen, Verträge abschließen, die professionelle Hil- aufgewandten Kosten ausgehen. fe vor Ort mit der Laienhilfe verzahnen und mithilfe des von allen Kostenträgern vor Ort gebündelten Budgets für eine ef- Pflegerisch-ärztliche Kooperation wie in der fiziente Pflege sorgen. Auch wenn die Gemeinde sich das nicht Klinik – nur ohne Mauern zutraut und diese Arbeit teilweise vergibt, soll sie in der Letzt- verantwortung vor den Einwohnern bleiben. Land und Bund Wenn die ohne Klinikmauern kooperierenden interdisziplinä- geben den Gemeinden bei Bedarf subsidiäre Hilfestellungen. ren Profi-Teams teure Klinikeinweisungen vermeiden und er- Alle Kostenträger sollen durch den Gesetzgeber verpflichtet folgreiche Prävention ganz nebenbei einbeziehen, kann der werden, ihre Budgetanteile vor Ort zusammenzuführen. erwirtschaftete Gewinn – zumindest zum größten Teil – in der Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2018 | 11
Region zur Verbesserung der Versorgung eingesetzt werden. Bisher kümmern sich nur wenige Kommunen um diese Die kommunalen Teams können einen sehr viel flexibleren traditionell kommunale Arbeit. Pflege und Sorge, Betreuung, Personaleinsatz organisieren und ärztliche oder pflegerische soziale Beratung und medizinische Grundversorgung sind we- Teilzeit-Jobs erleichtern. Auch die Einbindung von anderen sentliche Elemente der Lebensqualität in den Kommunen. sozialen Leistungen oder von Ehrenamtskräften könnte vor Wenn Kommunen sie zu ihrer Sache machen, bekommt Da- Ort integriert werden. (In Lauenburg gibt es sogar »Immobi- seinsvorsorge wieder ein dankbares Gesicht. lientherapie« und eine enge Zusammenarbeit mit der örtli- Dr. med. Wolfgang Wodarg ist Internist, Pneumologe, Sozialmedizi- chen Arbeitswelt). ner, Arzt für Hygiene und Umweltmedizin und war langjähriger Lei- ter eines Gesundheitsamtes, von 1994 bis 2009 war er Abgeordne- Regionalisierte gesundheitlich-pflegerische ter für die SPD im Bundestag, er war auch stellvertretender Frak- Gesamtverantwortung bringt allen Gewinn tionsvorsitzender in der Parlamentarischen Versammlung des Euro- parates und Vorsitzender des dortigen Unterausschuss für Gesund- Alterskrankheiten, chronische Schmerz- oder Stoffwechsel heit; heute arbeitet er als Hochschullehrer in Berlin und Flensburg sowie ehrenamtlich bei Transparency International Deutschland. erkrankungen o.ä. führen beim bisherigen professionellen Ne- beneinander immer wieder zu »Notfallaufnahmen«. In der Klinik und im Wohnumfeld der chronisch Kranken verursachen 1 https://correctiv.org/recherchen/stories/2015/09/26/der-psych- auch DRG-bedingte Frühentlassungen oft Unsicherheit und iatrie-skandal/ (abgerufen am: 10.03.2018) teure Fehl- oder Unterversorgung. 2 Siehe auch: Gutachten des Sachverständigenrats zur Begutach- Das ist ethisch problematisch und medizinisch nicht not- tung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR GA) 2009, BT DS 16/13770 wendig. Ein gut eingespieltes, interdisziplinäres Team kann 3 https://www.klinikum-itzehoe.de/kliniken/zentrum-fuer-psycho unnötige Klinikaufenthalte vermeiden und das selbstverständ- soziale-medizin/regional-budget.html liche Langzeit-Patientenmanagement ohne zusätzlichen Auf- 4 http://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikati wand gleich mitübernehmen. Der Sachverständigenrates zur on/did/pflege-vor-ort-gestalten-und-verantworten/ (abgerufen Begutachtung am: 10.03.2018) 5 Regelungen dazu finden sich z.B. im §8 SGB XI und §18 SGB XI der Entwicklung im Gesundheitswesen hat in seinem Son- in Verbindung mit §105 SGB V, siehe auch: SVR GA 2009 dergutachten 2009 ähnliche integrierte Versorgungsformen 6 https://www.aerztezeitung.de/politik_gesellschaft/gp_specials/ vorgeschlagen und diese im Gutachten 2014 weiter konkre- aerzte_fuer_deutschland/article/893417/aerztehaus-buesum- tisiert. (Siehe Grafik, S. 11) vorzeigeobjekt-nordseestrand.html 12 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2018
Nicht nur für die Patient*innen gut... Interview zur MFA-Sprechstunde einer Hausarztpraxis in Norddeutschland Eine Hausarztpraxis in einer norddeutschen Kleinstadt bietet seit einigen Jahren eine »MFA- Sprechstunde« an, also eine Sprechstunde der früher (und bisweilen von Patient*innen auch heute noch) so genannten »Arzthelferinnen«. Wir haben einen der Praxisinhaber dazu gefragt, wie das zustande gekommen ist, wie es angenommen wird und welche Vorteile das hat. Gesundheit braucht Politik: Zunächst ein paar Fragen zu Wie werden die MFA-Sprechstunde und andere Leistungen, Ihrer Praxis: Wie groß ist die Praxis und wie viele MFAs ar- die die MFA ohne Arzt machen, von den Patient*innen ange- beiten bei Ihnen? Wo ist die Praxis? Wie setzt sich Ihr nommen? Patient*innen-Klientel zusammen (alt / jung, Migrationshin- tergund / kein Migrationshintergrund, viele privat Versicher- Die Patienten lieben diese Form der Versorgung. Anfangs te…) scheint es manchen Patienten ungewohnt zu sein. Je vielfäl- tiger und selbstverständlicher aber diese delegierbaren Leis- Wolfram Nagel: Wir haben eine große Gemeinschaftspraxis tungen von qualifizierten Mitarbeitern übernommen werden, mit drei Partnern und angestellten Weiterbildungsassistenten je mehr können die Patienten dieses Angebot schätzen. sowie 14 Medizinischen Fachangestellten (MFA). Unser Stand- ort befindet sich in einer Kleinstadt (7.500 Einwohner*innen) Gibt es bei Ihnen auch die Erfahrung, dass manche mit ländlichem Einzugsgebiet. Unser Patientenklientel ist gut Patient*innen der MFA bestimmte Dinge lieber erzählen als durchmischt, gerne auch Kinder, drei Pflegeheime, einige Mi- dem Arzt? Wie wird das dann wieder mit dem Arzt rückge- grantenfamilien, wenig Privat Versicherte. koppelt? Gibt es regelmäßige Praxis-Gespräche darüber? Wie ist das organisiert? Sie bieten eine MFA-Sprechstunde in Ihrer Praxis an. Seit wann machen Sie das und warum? In der Tat sind die MFA-Sprechstunden manchmal von ande- ren Themen geprägt, sodass wir klar Zusatzinformationen Eigentlich gibt es ja schon immer und vermutlich in allen Pra- aber auch zusätzliche Interventionsmöglichkeiten erkennen. xen Arbeitsbereiche, in denen MFAs sehr selbstständig am Dies ist sowohl diagnostisch gewinnbringend, als auch thera- Patienten arbeiten. Dazu gehört natürlich das Labor und auch peutisch nutzbar, weil Mitarbeiter manchmal einen anderen manche technische Untersuchung. Seit einigen Jahren, spä- Zugang zu den Patienten haben. testens seit Einführung der VERAHs, delegieren wir zuneh- Handelt es sich um relevante Informationen, sprechen die mend Leistungen an qualifizierte und entsprechend fortgebil- MFA direkt den behandelnden Arzt an oder legen ihm einen dete MFAs. Was machen die MFAs? Machen sie es selbständig, wird es delegiert? Für MFA-Sprechstunden eignen sich vor allem Tätigkeiten, die gut strukturiert werden können und in der Regel auch klare Grenzwerte und / oder Kennzahlen hervorbringen. Diese wer- den so definiert, dass sich aus den Messergebissen und Be- funden für die MFA klare Konsequenzen ableiten. Entspre- chend gibt es klare Grenzwerte, die dann eine Vorstellung des Patienten in der ärztlichen Sprechstunde nach sich ziehen. Insofern gibt es immer eine Rückkopplung in die ärztliche Sprechstunde. Außer Labor und Medizintechnik incl. Doppler haben un- sere Mitarbeiter eigene Terminspalten für DMP, Geriatrisches Basisassessment, Schulungen, Raucherentwöhnung, Entspan- nungstraining, Demenzteste, Impfsprechstunden und natür- lich Hausbesuchstouren für Blutentnahmen, Anlage von L- EKG, L-RR, Verbandswechsel u.v.m. Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2018 | 13
Laufzettel mit Hinweis auf die neuen Fakten zur weiteren Ver- Darf ich zum Schluss noch eine letzte Frage stellen: In einem anlassung hin. Artikel in der Zeitschrift Der Hausarzt von 2014 sprechen Sie von der »Helferinnen-Sprechstunde« etc. Ist es nicht ein Wi- Wie wirkt sich die MFA-Sprechstunde, also die mehr selbstän- derspruch, den Mitarbeiterinnen einerseits mehr Selbständig- dige Tätigkeit der MFA auf das Praxisklima aus (das Verhält- keit zuzugestehen und sie andererseits immer noch Helferin- nis zwischen Ihnen als Arzt zu den MFA und das Verhältnis nen zu nennen (es gab ja eine lange Diskussion darüber und zu den Patient*innen)? gute Gründe, dass man diese Berufsgruppe nicht mehr »Arzt- helferinnen« nennt…)? Die Mitarbeiter empfinden die MFA-Sprechstunde als Aufwer- tung ihrer Arbeit. Die erlebte Wertschätzung ihrer Arbeit Da haben Sie völlig Recht. Auf meinen Artikel, den ich vor ei- durch unser ärztliches Vertrauen wirkt sich positiv auf Ar- nigen Jahren zu diesem Thema schrieb, meldete sich auch beitsatmosphäre und Motivation aus. Für die Mitarbeiter ist prompt der Verband medizinischer Fachberufe mit diesem be- ihr Zutun zum Praxiserfolg – sowohl wirtschaftlich, aber vor rechtigten Anliegen. Zur kraftlosen Entschuldigung kann ich allem auch hinsichtlich der konkreten Patientenversorgung – nur anmerken, dass tatsächlich in unserer Region noch selbst- direkter erkennbar. Es gibt Situationen, in denen die Patienten verständlich von der »Helferin« gesprochen wird und der Be- für bestimmte Fragestellungen ausdrücklich die Mitarbeiter griff der »MFA« auch unseren Patienten völlig fremd ist (an- sprechen wollen und nicht den Arzt/die Ärztin. ders als bei der MTA). Unsere gerade geschilderte Praxis mag ein Hinweis sein, dass die Begrifflichkeit uns allerdings keines- Gab es und gibt es Konflikte deshalb und welche sind das? wegs an der Wertschätzung für unsere Mitarbeiter hinderte. Mittlerweile achten wir darauf, dass eine Mitarbeiterin nicht Dr. med. Wolfram Nagel ist Facharzt für Allgemeinmedizin und monatelang in einer Sprechstundenart bleibt und vielleicht Lehrbeauftragter für Allgemeinmedizin an der Europ. Med. School ein Jahr lang nur DMPs macht. Oldenburg-Groningen (EMS) »Armut ist die schlimmste Form von Gewalt« Gerhard Trabert über ambulante aufsuchende Gesundheitsversorgung sozial benachteiligter Menschen A rmut und deren Beziehung, deren Auswirkungen auf 1. Armutsgefährdet ist, wer 60 Prozent oder weni- die Gesundheit, auf die Entstehung von Krankheit ist ger des durchschnittlichen monatlichen Haus- im Kontext der Armutsdebatte immer noch ein unter- haltseinkommens eines Landes besitzt; (Em schätztes und vernachlässigtes Teilgebiet. Obwohl gerade an pfehlung der Europäischen Union) entspricht in diesen engen Korrelationen deutlich wird, dass Armut in ei- Deutschland im Jahre 2017: ca. 930 Euro, da das nem der reichsten Länder der Erde nicht lediglich ein Verzicht Durchschnittseinkommen bei ca. 1.630 Euro lag) auf Konsumgüter, auf Annehmlichkeiten, auf gesellschaftliche 2. Strenge Armut ist, wenn man 40 Prozent oder Teilhabe bedeutet, sondern häufig mit physischem und psy- weniger des durchschnittlichen monatlichen chischem Leid, mit höheren Erkrankungsraten, bis zu einer Haushaltseinkommens besitzt (2017 entspricht signifikant geringeren Lebenserwartung einhergeht. dies einem Betrag von ca. 680 Euro) Wie wird Armut definiert? Äquivalenzeinkommen: dient zur Berechnung des Ein- kommens der sonstigen Haushaltsmitglieder: Hauptver- Es wird zwischen absoluter Armut, die physische Existenz diener Faktor 1,0; alle übrigen Mitglieder ab dem 14. bedrohend, und relativer Armut differenziert. Definitionsver- Lebensjahr erhalten den Faktor 0,5 und Kinder unter 14 suche relativer Armut orientieren sich schwerpunktmäßig an Jahren den Faktor 0,3. der finanziellen Ausstattung. Es wird daher von Einkommens- Sozialgeld bzw. Arbeitslosengeld 2 (sogenanntes armut gesprochen. Folgende Definitionen werden diesbezüg- »Hartz IV«) nach der Zusammenlegung von Sozialhilfe lich angewandt: und Arbeitslosenhilfe im Jahre 2004 (2018 = 416 Euro; davon 15,80 Euro für Gesundheitspflege) 14 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin | 1/2018
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