Karl Polanyi und der digitale Kapitalismus Masterarbeit - unipub

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Karl Polanyi und der digitale Kapitalismus Masterarbeit - unipub
Bernhard Siegl

                          Karl Polanyi und der
                         digitale Kapitalismus

                                    Masterarbeit

                  zur Erlangung des akademischen Grades
                     eines Master of Science in Economics
    der Studienrichtung Politische und Empirische Ökonomik
                     an der Karl-Franzens-Universität Graz

Betreuer: Univ.-Prof. Dr.phil. Klaus Kraemer
Institut: Institut für Soziologie
                                                             Graz, August 2019
Karl Polanyi und der digitale Kapitalismus Masterarbeit - unipub
Ehrenwörtliche Erklärung

Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Arbeit selbständig und ohne fremde Hilfe verfasst,
andere als die angegebenen Quellen nicht benutzt und die den Quellen wörtlich oder inhaltlich
entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Die Arbeit wurde bisher in gleicher oder
ähnlicher Form keiner anderen inländischen oder ausländischen Prüfungsbehörde vorgelegt und auch
noch nicht veröffentlicht. Die vorliegende Fassung entspricht der eingereichten elektronischen
Version.

Graz, August 2019                                                             .....................................

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Danksagung

Zuallererst möchte ich mich bei meinen Eltern bedanken, die es mir mit all ihrem Vertrauen und all
ihrer Geduld ermöglicht haben zu studieren. Sie haben mich von klein auf ein äußerst kostbares Gut
gelehrt: Interesse.

Dieses veranlasste mich in meinem Studium der Volkswirtschaftslehre zu ernsthaften Zweifeln, die von
Persönlichkeiten wie Richard Sturn zwar nicht beseitigt, aber mit außerordentlich freundlicher
Hilfsbereitschaft ernsthaft adressiert wurden. Ich danke ihm für sein stets offenes Ohr und für den
kritischen Lichtblick, den er in diesem fragwürdigen Studium dargestellt hat. Ich danke auch Margareta
Kreimer, die mich ein Jahr lang am Institut für Volkswirtschaftslehre in ihre Forschung aktiv
miteinbezogen hat und dabei auch stets an inhaltlichen Diskussionen interessiert war. Schließlich
möchte ich Klaus Kraemer danken, der mir in seinen Lehrveranstaltungen und in seinem
Forschungskolloquium gezeigt hat, dass man die Wirtschaft aus einer ganzheitlicheren,
nichtökonomistischen Sicht betrachten kann. Er hat mein Interesse an Wirtschaftssoziologie
nachhaltig geweckt.

Für die jahrelange Motivation und ehrliche Unterstützung möchte ich Mario Matzer ganz besonders
danken. Ohne ihn hätte ich diese Masterarbeit nicht mit solcher Zielstrebigkeit beendet. Für hilfreiche
Kommentare zu dieser Arbeit sowie für stets erhellende Unterhaltungen danke ich David Gulda.
Weiters möchte ich mich bei Christine Klamminger für die immer freundliche Beratung und die
schnelle Bearbeitung bedanken.

Politik ist das Wichtigste auf der Welt, aber Familie ist das Wichtigste im Leben. Daher möchte ich
mich aus ganzem Herzen bei Ana, Luka und einem weiteren kleinen Wesen bedanken. Danke Ana,
dass du in dieser schwierigen Zeit von Anfang an für uns da warst und dass du mir bis zum Schluss
emotional und Text korrigierend beigestanden bist und somit wesentlich zum Abschluss dieser Arbeit
beigetragen hast. Danke Luka, dass du lachend auf mich kletterst und mit mir Tiger spielst. Danke
kleines Wesen, dass du uns bald auf deine ganz eigene Art entzückst. Ihr bereichert mein Leben wie
sonst niemand und beweist mir tagtäglich, dass das Herz dem Verstand den richtigen Weg weist.
Esto se lo dedico

a los que trabajan con un sueldo bajito

   pa darle de comer a sus pollitos.

          Calle 13 – La Perla
Inhaltsverzeichnis

    Einleitung ............................................................................................................................................... 9

TEIL I – THEORETISCHE EINBETTUNG .................................................................................................................................. 3

    1.      Polanyis Konzept der Einbettung .................................................................................................. 3

         1.1.       Integrationsformen: Reziprozität, Redistribution, Markttausch ........................................... 3

         1.2.       Marktwirtschaft ..................................................................................................................... 9

         1.3.       Entbettung und Gegenbewegung ....................................................................................... 11

         1.4.       Polanyis Inspirationsquellen ................................................................................................ 15

    2.      Einbettung in der Wirtschaftssoziologie ..................................................................................... 18

         2.1.       Granovetter und Polanyi ..................................................................................................... 19

         2.2.       Gegenbewegung.................................................................................................................. 25

         2.3.       Determinismus .................................................................................................................... 27

TEIL II – DIGITALE ENTBETTUNG ....................................................................................................................................... 31

    3.      Digitaler Kapitalismus .................................................................................................................. 31

         3.1.       Merkmale und historische Entwicklung .............................................................................. 31

         3.2.       Politische Entbettung: Neoliberalismus .............................................................................. 41

         3.3.       Technologische Entbettung: Digitalisierung ........................................................................ 46

    4.      Digitale Arbeitsmärkte................................................................................................................. 53

         4.1.       Definition und allgemeine Merkmale.................................................................................. 53

         4.2.       Microtasking-Arbeitsmärkte................................................................................................ 65

         4.3.       Gegenbewegungen.............................................................................................................. 71

    Zusammenfassung............................................................................................................................... 77

    Literaturverzeichnis ............................................................................................................................. 79
Einleitung

Was hat Karl Polanyi mit dem 21. Jahrhundert zu tun? Obwohl Polanyis Hauptwerk The Great
Transformation (1944) vor über 70 Jahren veröffentlicht wurde, sind dessen zentrale Thesen für das
Verständnis der heutigen Gesellschaft mehr als geeignet. Denn es ist verblüffend, wie viele historische
Parallelen sich durch das Studium des Industriekapitalismus der letzten zwei Jahrhunderte im
Vergleich zur heutigen Situation auftun. Zwar liegt nicht unmittelbar ein Weltkrieg hinter uns, dafür
aber eine Weltwirtschaftskrise (wie damals 1929) mit dramatischen Konjunktureinbrüchen (wie nach
1929), gefolgt von Austeritätspolitik (wie in den 1930ern). Der weltweit erstarkende, euphemistisch
genannte „Rechtspopulismus“ erscheint zwar im Vergleich zu jenen totalitären Ideologien der 1930er
Jahre als „harmlose Gegenbewegung“, weist aber zweifellos gemeinsame Elemente auf, die bisweilen
vielleicht nur durch die Reste nachkriegszeitlicher, demokratischer Schutzmaßnahmen in Zaum
gehalten werden.

Gleichzeitig haben wir in den letzten Jahrzehnten eine Politik erlebt, die stark an den „Liberalismus“
der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts erinnert.
Dieser sogenannte „Neoliberalismus“ strebt seit den 1970ern eine weitgehende „Entbettung“ der
Wirtschaft an, wie Polanyi sagen würde. Dabei geht es darum, den Markt als zentrale und nicht
hinterfragbare gesellschaftliche Ordnungsinstanz zu installieren. Die Auswirkungen eines solchen
utopischen Marktfundamentalismus spüren und sehen wir heute allerorts. Aber um das Problem der
„Entbettung“ auch geistig zu erfassen, bietet uns Polanyi sehr hilfreiche Werkzeuge. Denn was wir in
den letzten Jahrzehnten beobachten können, ist eine verstärkte „Kommodifizierung“ von Arbeit, Geld
und Natur. Diese drei „fiktiven Waren“ – darunter versteht Polanyi Waren, die eigentlich nicht
ausdrücklich für den Verkauf auf einem Markt produziert worden sind – wurden durch den
Neoliberalismus zu handelbaren Waren deklariert, die den „Marktgesetzen“ zu unterliegen haben.
Zweifellos haben diese marktliberale Ideologie und die damit verbundenen politischen Maßnahmen
wesentlich zu Prekarisierung, Wirtschaftskrisen und Klimawandel beigetragen. Schon vor über 70
Jahren warnte Polanyi, dass eine vollständige Entbettung der Wirtschaft die „menschliche und
natürliche Substanz der Gesellschaft“ zerstört.

Hinzu kommen zu all dem vollkommen neue technologische Gegebenheiten. Während der
weitreichende Einsatz von Maschinen – diese „Teufelsmühlen des Liberalismus“, wie Polanyi sie
nannte – im 19. Jahrhundert zu katastrophalen gesellschaftlichen Auswirkungen führte, stehen wir
heute vor dem Einsatz weit ausgefeilterer Technologien. Die „Teufelsmühlen des Neoliberalismus“
sind schließlich all die Apps und Algorithmen, denen wir im Alltag immer mehr begleiten. Diese
digitalen Technologien eröffnen ganz neue Möglichkeiten der Entbettung, indem sie traditionelle
Regulierungen umgehen und die Menschen auf Schritt und Tritt in eine neue, digitale
                                                  1
Akkumulationslogik drängen. Während also die analogen Technologien des 19. Jahrhunderts die
Entwicklung der kapitalistischen Marktwirtschaft maßgeblich prägten, sind es nun die digitalen
Technologien des 21. Jahrhunderts, die den Takt angeben. Jene Unternehmen, die sich dieser digitalen
Technologien bedienen und diese besitzen, sind heute die „neuen Herrscher der Welt“: Apple,
Amazon, Alphabet und Co. Die Akkumulationslogik der digitalen KapitalistInnen, die in der
massenhaften Aneignung, Verarbeitung und dem Verkauf von Daten besteht, überträgt sich
mittlerweile auch auf „traditionelle“ Unternehmen. Dies verstärkt insgesamt die profitgetriebene Jagd
nach menschlichen „Verhaltensdaten“, was schließlich einem globalen, digitalen Überwachungsregime
Tür und Tor öffnet. Die Mischung aus neoliberaler Politik und digitaler Technologie hat letztlich eine
neue „fiktive Ware“ im 21. Jahrhundert kreiert: menschliches Verhalten.

Besonders deutlich sichtbar ist die digitale Entbettung auf den digitalen Arbeitsmärkten des 21.
Jahrhunderts. Dies sind Märkte, auf denen äußerst ungleiche Machtverhältnisse vorherrschen. Die
EigentümerInnen von digitalen Arbeitsmärkten wie Uber, Amazon Mechanical Turk oder Deliveroo
„vermitteln“ dabei zwischen den AuftraggeberInnen und den digitalen ArbeiterInnen und sehen sich
trotz Einhebens von Gebühren keinesfalls als „ArbeitgeberInnen“. Grundsätzlich gelten digitale
ArbeiterInnen daher als „selbständige“ UnternehmerInnen – ohne jegliche soziale Absicherung. Vor
allem digitale „MikroarbeiterInnen“ sind von dieser Entbettung der Arbeitsmärkte betroffen, indem
der Marktmechanismus ihnen nur die Verrichtung von Kleinstaufträgen überlässt, die oft nur in
Minuten und Cent gemessen werden. Die Durchschnittseinkommen von digitalen ArbeiterInnen liegen
somit in aller Regel deutlich unter den gesetzlichen Mindestlöhnen. Dazu kommt, dass digitale
ArbeiterInnen ihre eigene Arbeit tendenziell überflüssig machen. Denn auf der Suche nach digitalen
Profiten versuchen die KapitalistInnen des 21. Jahrhunderts sämtliche Datenprozesse zu optimieren,
indem sie die von digitalen ArbeiterInnen verrichteten Aufträge in die „Maschinenintelligenz“ ihrer
digitalen Technologien einspeisen.

Wir wollen in dieser Masterarbeit folgendermaßen vorgehen. In Kapitel 1 stellen wir Polanyis Konzept
der Einbettung vor, indem wir die Rolle von Märkten in früheren Gesellschaften erläutern, die
Entstehung der Marktwirtschaft im 19. Jahrhundert theoretisch einordnen und die Phänomene der
Entbettung und Gegenbewegung erklären. Polanyis Konzept der Einbettung bildet die Voraussetzung
für Kapitel 2, in welchem wir darlegen, wie dieses in der Neuen Wirtschaftssoziologie diskutiert
worden ist. Kapitel 1 und 2 sorgen für die theoretische Einbettung und bilden somit Teil I dieser Arbeit.
In Kapitel 3 führen wir diese Gedanken dann weiter und analysieren den digitalen Kapitalismus auf
Basis einer politisch und technologisch getriebenen Entbettung. In Kapitel 4 diskutieren wir diese
Entbettung schließlich mit dem Fokus auf die fiktive Ware Arbeit, d.h. wir sehen uns die digitalen
Arbeitsmärkte des 21. Jahrhunderts genauer an. Kapitel 3 und 4 spiegeln die sich ereignende digitale
Entbettung wider und bilden somit Teil II dieser Arbeit.

                                                   2
TEIL I – THEORETISCHE EINBETTUNG

1. Polanyis Konzept der Einbettung

Karl Polanyi zufolge war die Wirtschaft jahrtausendelang in das soziale Gefüge der Menschen
eingebettet, sodass der Markt als eigenständige wirtschaftliche Institution keine dominante Rolle
gegenüber anderen wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und religiösen Institutionen spielte. Dies
änderte sich jedoch im 19. Jahrhundert ausgehend von Großbritannien, als die Wirtschaft aus der
Gesellschaft herausgelöst, also entbettet wurde und eine „große Transformation“ hin zu einer
Marktwirtschaft stattfand. Wir wollen in diesem Kapitel Polanyis Konzept der Einbettung erläutern
und dabei folgendermaßen vorgehen. Wir beginnen mit Polanyis Diskussion von Integrationsformen
und deren Zusammenhang zur Rolle von Märkten in früheren Gesellschaften. Dann erläutern wir, was
Polanyi unter einer Marktwirtschaft genau versteht und warum die Schaffung einer Marktwirtschaft
ein historisch einmaliges Ereignis darstellt. Schließlich erklären wir, was Entbettung bedeutet und wie
es zur Gegenbewegung kommt. Zuletzt gehen wir auf ein paar Autoren ein, von denen sich Polanyi bei
der Ausarbeitung seines Konzepts der Einbettung besonders inspirieren hat lassen. Dieses Kapitel
bildet die theoretische Voraussetzung, um den in der Wirtschaftssoziologie verwendeten Begriff der
Einbettung einordnen zu können (Kapitel 2) sowie um die Entbettungstendenzen im digitalen
Kapitalismus zu diskutieren (Kapitel 3 und 4).

    1.1.        Integrationsformen: Reziprozität, Redistribution, Markttausch

Polanyis Hauptwerk The Great Transformation (2001 [1944]) bildet eine fundamentale Kritik an der
wirtschaftsliberalen Ideologie der Marktwirtschaft. Ein entscheidender Strang dieser Kritik zielt darauf
ab, die Marktwirtschaft in ihrer vollkommenen Neuartigkeit, Unnatürlichkeit und Radikalität
begreifbar zu machen. Neuartig deshalb, weil die Marktwirtschaft ein äußerst junges Phänomen in der
Menschheitsgeschichte darstellt – Polanyi spricht erst ab 1834, nach der Entstehung des ersten „freien
Arbeitsmarktes“ in Großbritannien und in der Geschichte überhaupt, von einer „market economy
proper“ (Polanyi, 2001 [1944], S. 84); unnatürlich deshalb, weil die aus der Marktwirtschaft
resultierenden Lebensprinzipien und Handlungsmotive nicht – wie es etwa die Klassische Politische
Ökonomie nahelegt – von Geburt an in das Genmaterial der Menschen eingeschrieben sind; und
radikal deshalb, weil die Marktwirtschaft die Menschen vor den Kopf stößt angesichts ihrer plötzlichen
Entstehung, ihrer raschen Verbreitung sowie ihrer tiefgreifenden Auswirkungen. Die Marktwirtschaft
ist laut Polanyi also etwas Neuartiges, Unnatürliches und Radikales, das nicht etwa in der frühen
Menschheitsgeschichte spontan entstanden ist, sondern im 18. und 19. Jahrhundert in Großbritannien

                                                   3
politisch gemacht wurde (vgl. z.B. Johnson, 2010; Vries, 2013). Wichtig ist jedoch zwischen Märkten
und Marktwirtschaft zu unterscheiden. Denn Märkte gab es vermutlich schon in der Steinzeit, aber die
im 19. Jahrhundert in Großbritannien entstehende Marktwirtschaft bildet Polanyi zufolge eine
vollkommen neue, in der Geschichte der Menschheit in dieser Form unbekannte Institution.
Jahrtausendelang war die Wirtschaft der Menschen also ganz anders organisiert – worauf wir nun zu
sprechen kommen.

In Ökonomie und Gesellschaft1 unterscheidet Polanyi (1979, S. 219) im Wesentlichen zwischen drei
Integrationsformen      der    Wirtschaft:    Reziprozität,    Redistribution    und     Markttausch.2     Diese
Integrationsformen „integrieren“ die Wirtschaft, verleihen ihr also „Geschlossenheit und Stabilität“,
und müssen dafür institutionell verankert sein. Die drei Integrationsformen schließen sich nicht
notwendigerweise gegeneinander aus, sodass die Kombination dieser Integrationsformen
schlussendlich darüber entscheidet, auf welche konkrete Art und Weise die Wirtschaft in die
Gesellschaft „integriert“ ist. Die sich für eine konkrete Gesellschaft ergebende spezifische Kombination
dieser Integrationsformen erweckt zwar den Anschein, als hätte jede konkrete Gesellschaft ihre
jeweils eigene und unvergleichliche Organisation der Wirtschaft, doch ist diese Polanyi zufolge stets
auf diese Grundmuster (bzw. Integrationsformen) reduzierbar, was letztendlich den Vergleich
unterschiedlicher Gesellschaften ermöglicht. In früheren Gesellschaften3 habe es zwar durchaus
Markttausch gegeben, doch seien Reziprozität und Redistribution eindeutig die häufigeren und

1
   Ökonomie und Gesellschaft ist eine Sammlung von Aufsätzen in deutscher Übersetzung, die Polanyi
ursprünglich anderswo veröffentlicht hat. Der an dieser Stelle diskutierte Aufsatz Die Wirtschaft als
eingerichteter Prozeß (Polanyi, 1979, S. 219-244) beispielsweise erschien ursprünglich auf Englisch in dem von
Karl Polanyi, Conrad M. Arensberg und Harry W. Pearson herausgegebenen Sammelband Trade and Market in
the Early Empires. Economies in History and Theory (1957). Siehe Polanyi (1979, S. 414) für eine literarische
Übersicht.
2
  In The Great Transformation (2001 [1944], S. 49-58) spricht Polanyi noch von Prinzipien, die das wirtschaftliche
Verhalten der Menschen leiten. Zusätzlich zu Reziprozität und Redistribution (die häufig durch die Prinzipien
Symmetrie resp. Zentrizität unterstützt werden) nennt Polanyi hier noch das Prinzip der Haushaltung. S. C.
Humphreys (1979, S. 47-48) diskutiert in seinem kritischen Vorwort zu Ökonomie und Gesellschaft Polanyis
unterschiedliche Auswahl der Integrationsformen in seinen verschiedenen Werken. Statt von Integrationsformen
oder Prinzipien könnten wir auch von Handlungsmotiven, von „Wirtschaftsformen“ (Polanyi, 1979, S. 225) von
„ökonomischen Institutionen“ (Humphreys, 1979, S. 46) oder von „Mechanismen der Güterverteilung“ (Aspers &
Beckert, 2017, S. 215) sprechen. Um nicht zu verwirren, bleiben wir jedoch bei dem Begriff Integrationsformen.
3
  Polanyi spricht in seinen Werken abwechselnd von frühen, früheren, archaischen, primitiven, vormodernen,
alten, marktlosen Gesellschaften, ohne diese Begriffe voneinander abzugrenzen. Diese begriffliche Unschärfe ist
zwar einerseits verständlich, da sich Polanyis Argument, wonach die menschliche Wirtschaft jahrtausendelang
anders organisiert war als die britische Marktwirtschaft des 19. Jahrhunderts, im Prinzip auf einen Zeitraum von
ungefähr 5000 Jahren bezieht – beginnend beim alten Mesopotamien (wo es laut Graeber (2014) erst ab ca.
3500 v. Chr. die ersten archäologisch gesicherten Aufzeichnungen gibt) über die griechische und römische Antike
bis hin zum europäischen Mittelalter (das spätestens 1492 endet). Hier stets die genaue zeitliche Übersicht zu
behalten ist also nicht immer leicht, aber vielleicht auch nicht notwendig oder vielleicht sogar unnötig genau für
Polanyis allgemeines Argument. Andererseits schweben Polanyis Begrifflichkeiten dadurch ein wenig in der Luft.
Wenn er also von „frühen“, „archaischen“ oder gar „primitiven“ Gesellschaften spricht, wen meint er da genau?
Meint er das Babylonien zur Zeit Hammurabis (ca. 1700 v. Chr.), die Zeit der attischen Demokratie (5.
Jahrhundert v. Chr.), Rom am Höhepunkt seiner Macht (ca. 100 n. Chr.) oder auch die durch die
Völkerwanderung in Europa entstehenden mittelalterlichen Gesellschaften (um 1000 n. Chr.)? Nur selten gibt
Polanyi genau an, für welchen Zeitraum seine Argumente und Begrifflichkeiten gerade gelten.
                                                        4
wichtigeren Integrationsformen gewesen. Auf Polanyis anthropologische Argumentation, die vor allem
in seinen späteren Werken eine wichtige Stellung einnimmt, können wir hier nicht im Detail eingehen,
ebensowenig auf mögliche Fehlschlüsse. Denn Polanyi hat oft „vielleicht ein wenig vorschnell
verallgemeinert“, dafür aber den Blick für institutionelle und funktionale Probleme geschärft
(Humphreys, 1979, S. 23). Für uns bedeutet dies, dass Polanyis Diskussion der von ihm ausgemachten
Integrationsformen vor allem deshalb bedeutend ist, weil er die Rolle des Markttausches in früheren
Gesellschaften gegenüber der herkömmlichen ökonomischen Theorie sehr stark relativiert. Denn
abseits von Märkten gab es früher viele andere die Wirtschaft betreffende Institutionen, und wenn es
Märkte gab, dann waren sie zumeist relativ unbedeutend und funktionierten gänzlich anders als die
moderne Marktwirtschaft.

Was ist nun Reziprozität? Reziprozität können wir getrost als „Geben und Nehmen“ übersetzen, ohne
dabei schon genau festzulegen, wie sich das Geben und das Nehmen zueinander verhalten.
Reziprozität   dient   somit    als   Überbegriff    für   verschiedene     Formen     des    gegenseitigen,
nichtmarktwirtschaftlichen Austausches und umfasst ein Kontinuum, das vom „Geschenk“ über die
„Gabe“ bis hin zum nichtmarktwirtschaftlichen „Tauschhandel“ reicht.4 Polanyis (2001 [1944], S. 49-
58; 1979, S. 219-244) Definition von Reziprozität sowie die historische Verortung dieser
Integrationsform in verschiedenen Gesellschaften ist jedoch nicht allzu überzeugend, weshalb wir kurz
auf andere Autoren verweisen.5 Während Polanyi Reziprozität zumeist mit dem Geben und Nehmen
von Geschenken gleichsetzt, finden wir bei Bronislaw Malinowski (1932 [1922], S. 176-191) eine viel
umfassendere Beschreibung, die sich in sieben Kategorien unterteilt. Ausgehend von „reinen
Geschenken“ nähern sich Malinowskis Kategorien umso mehr dem „Tauschhandel“, je mehr das
Geben und Nehmen zum „Äquivalenztausch“ wird. Reine Geschenke werden also ohne jegliches
Wertäquivalent vergeben, während im Tauschhandel nur Güter mit dem gleichen Wert unmittelbar
gegeneinander ausgetauscht werden.6

4
  Obwohl wir Polanyis Definition einer Marktwirtschaft im Detail erst weiter unten wiedergeben, möchten wir
hier bereits auf folgende Unterscheidung aufmerksam machen: Das Adjektiv „nichtmarktwirtschaftlich“ bezieht
sich auf die Nichtexistenz einer Marktwirtschaft, also eines zusammenhängenden Systems preisbildender
Märkte, während sich das Adjektiv „marktlos“ auf die Nichtexistenz von Märkten an sich bezieht. Frühe
Gesellschaften waren Polanyi zufolge durchwegs nichtmarktwirtschaftlich, während sie aber nicht
notwendigerweise marktlos waren. Es gab in frühen Gesellschaften also durchaus Märkte, diese waren aber
nicht durch einen systematischen und märkteübergreifenden Preismechanismus verbunden. Siehe Kapitel 1.2.
5
  Für einen generellen Überblick über wichtige Inspirationsquellen für Polanyi siehe Somers (1990, S. 154-155)
sowie Humphreys (1979, S. 15). Genannt werden vor allem Aristoteles, Owen, List, Bücher, Tönnies, Schmoller,
Weber, Sombart, Thurnwald und Malinowski. In der Schilderung der Integrationsformen der Wirtschaft bezieht
sich Polanyi sehr oft auf Thurnwald und Malinowski – von ihnen hat er den Begriff der Redistribution resp. den
der Reziprozität übernommen (Humphreys, 1979, S. 418). Laut Halperin (1988, S. 4-5) bezog sich Polanyi nicht
nur auf Malinowski, Firth und Boa, sondern auch auf Mauss.
6
  „Reziprozität erfordert die Angemessenheit der Gegengabe, nicht aber eine mathematische Gleichwertigkeit.“
(Polanyi, 1979, S. 159) Vergleiche zu diesem Punkt auch Graeber (2014, vor allem S. 162-206).
                                                      5
In der Anthropologie scheint die „Gabe“, wie Marcel Mauss (1968 [1923/24]) sie bezeichnet hat, als
die empirisch häufigste Austauschform zumindest früherer Gesellschaften zu gelten.7 Die Gabe führt,
anders als ein Geschenk, üblicherweise zu einer Gegengabe. Ob nun die Gabe selbst von den
Gebenden als Geschenk und die Gegengabe als Gegengeschenk betrachtet wird, ist dabei nicht
wichtig. Wichtig ist, dass ein Geschenk nicht zu einem Gegengeschenk führen muss, während aber
eine Gabe die Empfängerin aufgrund des sozialen Drucks dazu verpflichtet, früher oder später eine
Gegengabe zu leisten. Mit den Worten von Richard Thurnwald lässt sich zusammenfassend sagen: „To-
day’s giving will be recompensed by to-morrow’s taking. This is the outcome of the principle of
reciprocity which pervades every relation of primitive life. ...“ (Thurnwald, 1932, S. 106, z.n. Polanyi,
2001 [1944], S. 279)

Was ist nun Redistribution? Redistribution können wir getrost als „Umverteilung“ übersetzen. Dies
impliziert jedoch nicht notwendigerweise, dass von oben nach unten, von den Reichen zu den Armen
usw. umverteilt wird. Zwar vermitteln Polanyis Ausführungen aufgrund seiner den Zustand früherer
Gesellschaften mitunter romantisierenden Weltsicht (vgl. Humphreys, 1979, S. 15) oftmals den
Anschein, als seien frühere Gesellschaften äußerst egalitär gewesen8 – dennoch war es üblich, dass ein
Teil des gesellschaftlich produzierten Überschusses an Priester, Feldherren, Beamte, Händler usw.
erging (vgl. Graeber, 2014). Wer schließlich diese Redistribution koordinierte und über Ausmaß,
Ausrichtung und Ausgestaltung der Umverteilung entschied, spiegelte somit die allgemeinen
Machtverhältnisse      innerhalb   der   Gesellschaft   wider   –   in   Form    von    Statushierarchie,
Aufgabenverteilung und materiellem Wohlstand. Es konnte also der Häuptling eines egalitär
eingestellten Stammes in Nordamerika sein, der die von unterschiedlichen Gruppen produzierten
unterschiedlichen Güter einsammelte und dann gleichmäßig unter den Stammesmitgliedern verteilte;
oder es konnte der spirituelle Clanchef eines tropischen Inselvolks sein, der von seinen
rangniedrigeren Mitbewohnern Nahrungsmittel erhielt, die er dann rituell segnete und teilweise selbst
behielt; oder es konnten Palastbeamte im alten Babylonien sein, die von der abhängigen
Landbevölkerung Gerste als Steuern einsammelten, um diese dann für die Versorgung der Soldaten in
den Vorratskammern des Palastes zu lagern (vgl. Graeber, 2014; Malinowski, 1932 [1922]; Polanyi,
2001 [1944]).

7
  Vgl. auch Graeber (2014) und, vorgreifend auf die digitale Ökonomie, Schulz-Schaeffer (2017).
8
  Malinowski sah das vermutlich anders. Er widerspricht nämlich allen drei gängigen Grundannahmen über die
Wirtschaftsweise früherer Gesellschaften: Weder habe es den sogenannten „Urkommunismus“ gegeben, in dem
den Menschen jegliches Eigeninteresse sowie die Kategorien „meines“ und „deines“ fremd sind; noch habe es
jene Form von individualistischer und ökonomisch isolierter Autarkie gegeben, in der jeder Mensch nur sich
selbst bzw. seine engste Familie versorgt; noch habe es bloße Subsistenzwirtschaft gegeben, in der die
Menschen stets an der Hungerschwelle leben (Malinowski, 1932 [1922], S. 166-167). Die Natur des Menschen
bleibt also eine umstrittene Kategorie.
                                                    6
Wie im Fall der Reziprozität soll die Integrationsform der Redistribution verdeutlichen, dass die
Wirtschaft in früheren Gesellschaften eine mit dem allgemeinen Leben der Menschen verwobene
Lebenssphäre war, die nicht ausschließlich durch Märkte, Handel und Geld geregelt war, sondern in
sämtlichen politischen, kulturellen und religiösen Institutionen angesiedelt war. Genauer genommen
gab es in frühen Gesellschaften also gar keine Ökonomie, schon gar nicht als alltagssprachlichen
Begriff9, da es in diesen kaum „funktional differenzierten“ Gesellschaften (vgl. Schimank, 2009) keine
sich rein auf die Organisation der Wirtschaft konzentrierende Einrichtungen gab (Polanyi, 1979;
Malinowski, 1932 [1922]). „Unser obsoletes marktwirtschaftliches Denken“ (Polanyi, 1979) verblendet
schließlich unsere Sicht auf die „archaische Ökonomie“, weil es jegliche historische wirtschaftliche
Tätigkeit durch die Brille der gängigen ökonomischen Theorie betrachtet, die in ihrer Ignoranz
Wirtschaft gleichsetzt mit Marktwirtschaft und Marktwirtschaft gleichsetzt mit Geldwirtschaft, Handel
und Preismechanismus (siehe vor allem Polanyi, 1979, S. 186-190 und S. 209-218).

Was ist nun Markttausch? Die Analyse dieser Integrationsform hat Polanyi vermutlich am meisten
Kopfzerbrechen bereitet. Schließlich befand sich Polanyi, wie Humphreys (1979, S. 26) anmerkt, in
einer schwierigen Ausgangslage: Einerseits lehnte er die von Adam Smith propagierte Vorstellung,
wonach die Menschen eine „natürliche Neigung zu handeln und Dinge gegeneinander auszutauschen“
hätten10, strikt ab, während er andererseits anerkennen musste, dass Märkte in früheren
Gesellschaften sehr wohl eine Rolle spielten. Wie oben bereits angedeutet, können wir Polanyis
Argument daher folgendermaßen vereinfacht zusammenfassen: In früheren Gesellschaften gab es
zwar vereinzelte Märkte, aber kein „selbstregelndes System von Märkten“ (Polanyi, 1979, S. 131). Vor
allem in seinem Hauptwerk The Great Transformation äußert sich Polanyi diesbezüglich jedoch nicht
immer ganz klar. So wirft er Aristoteles z.B. vor, dass er

    übersah, daß man die Existenz von Märkten nicht ignorieren konnte in einer Zeit, in der die griechische
    Wirtschaft bereits von Großhandel und Kreditkapital abhängig geworden war. Es war dies das Jahrhundert,
    in dem Delos und Rhodos bereits zu Umschlagplätzen für Frachtversicherung, Schiffahrtskredite und
    Girotransaktionen geworden waren (Polanyi, 1977a, S. 61).

Gleichzeitig sei aber die Tendenz zur Ausbreitung des Marktmechanismus in der griechischen Antike
kaum erkannt worden, da Märkte stark reguliert und hauptsächlich in den Städten gelegen gewesen
seien (Polanyi, 1968, S. 306-334; Humphreys, 1979, S. 28). Nichtsdestotrotz liefert uns Polanyi wichtige

9
   „Der Hauptgrund für das Fehlen jeglichen Ökonomiebegriffs liegt in der Schwierigkeit, den ökonomischen
Prozeß in Verhältnissen zu erkennen, unter denen er in nichtökonomische Institutionen eingebettet ist.“
(Polanyi, 1979, S. 156)
10
    Smith (1812 [1776], S. 26) spricht von “a certain propensity in human nature […] to truck, barter, and
exchange one thing for another.“ Der Versuch einer Übersetzung dieser wichtigen Passage ins Deutsche spiegelt
auf anschauliche Art und Weise die „marktmäßige Denkweise von Übersetzern“ wider, wie sie Polanyi (1979, S.
184) in Bezug auf die falsche Übersetzung zentraler Begriffe von Aristoteles (kapēlikē, metadosis und
chrēmatistikē) kritisiert. Denn die meisten Wörterbücher kennen den Begriff „truck“ entweder gar nicht in dieser
Form, oder setzen ihn mit „barter“ (also „Tauschhandel“) gleich (eine Ausnahme bildet
https://woerterbuch.reverso.net/englisch-definitionen/truck). Die im Haupttext erfolgte Übersetzung von Smith
ist Graeber (2014, S. 36) entnommen, da er eine bessere Übersetzung bietet.
                                                       7
Hinweise in Bezug auf die Rolle von Märkten in früheren Gesellschaften (siehe vor allem Polanyi, 1979,
S. 171-177; 2001 [1944], S. 59-70). Zwar bedauert auch er, dass die Ursprünge von Märkten und
Handel nach wie vor ungelöst sind, dafür pocht er aber umso mehr darauf, diese zwei Institutionen
nicht gleichzusetzen und zusätzlich ihre Vielfältigkeit anzuerkennen.11

Märkte und Handel seien also unabhängig voneinander entstanden, bis sich dann ab dem 5.
Jahrhundert v. Chr. „die Institution des Marktes in den Bereich des Handels auszudehnen begann“
(Polanyi, 1979, S. 172). Davor habe es zwar schon lange Handel gegeben, aber dies hauptsächlich in
der Form von Fernhandel, oder eben in der oben beschriebenen Form von Reziprozität. Selbst im
hochentwickelten Babylonien (ca. 1500 v. Chr.) habe es weder Marktplätze noch ein funktionierendes
Marktsystem irgendeiner Art gegeben (Polanyi, 1979, S. 305). „Einer der ersten städtischen Märkte,
wenn nicht überhaupt der erste“ war schließlich die agora in Athen (Polanyi, 1979, S. 172). Die ersten
Aufzeichnungen über die agora stammen aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. und deuten darauf hin, dass
die agora gleichzeitig mit der Prägung von Geldmünzen entstanden ist.12 Es hat ohnehin den Anschein,
als ob Märkte entgegen der herkömmlichen ökonomischen Theorie nicht „natürlich“ oder „spontan“
entstanden sind, sondern politisch gemacht wurden. Märkte wurden nämlich von den damaligen
Heerführern zur Lösung von logistischen Problemen gezielt eingesetzt. Da sie jedoch außerhalb von
großen Städten kaum existierten, ließen vorausschauende Militärs Märkte in den von den Soldaten zu
durchquerenden Gebieten „vorbereiten“, „einrichten“ und zur „Verfügung stellen“ (Polanyi, 1979, S.
175). Marktknappheit, könnte man sagen, war somit aus Sicht der damaligen Heerführer ein ständiges
Problem. „Im allgemeinen verbreiteten sich die Münzen erheblich schneller als die Märkte. Während

11
    Polanyi (1979, S. 233-236) unterscheidet beispielsweise zwischen „drei Haupttypen des Handels“:
Geschenkhandel, verwalteter Handel und Markthandel. Geschenkhandel beruht hauptsächlich auf Reziprozität
und findet vor allem zwischen Königen im Rahmen von Zeremonien statt – er findet selten statt und impliziert
somit nur schwache Kontakte. Verwalteter Handel ist formell, sachbezogen und amtlich geregelt – hier
überwiegen Festpreise, die in Verträgen festgelegt werden. Markthandel beruht auf dem Marktmechanismus,
also dem Mechanismus von Angebot, Nachfrage und Preis – dieser Mechanismus ist äußerst anpassungsfähig,
sodass im Prinzip alles zum handelsfähigen Gut, also zur Ware, werden kann. In The Great Transformation
unterscheidet Polanyi (2001 [1944], S. 59-70) im Wesentlichen zwischen lokalen, externen und
internen/nationalen Märkten. In Ökonomie und Gesellschaft spricht Polanyi (1979, S. 241) von unterschiedlichen
„Marktelementen“: Anbietergruppen, Nachfragergruppen, Tauschrate bzw. Äquivalenz, Wettbewerb und
„funktionelle Elemente“ (physischer Ort, Güter, Brauch und Gesetz).
12
   David Graeber (2014, S. 282-318) beschäftigt sich detailliert mit dem Aufkommen der ersten Geldmünzen.
Zwischen 600 und 500 v. Chr. sei im Mittelmeerraum, in Indien und in China unabhängig voneinander die
Münzprägung erfunden worden. Der Grund dafür war, dass die Herrscher in dieser äußerst kriegerischen Zeit
erkannten, dass man eine große Armee mittels Geldmünzen viel besser versorgen konnte. Die Soldaten, die
ihren Sold in Form von geprägten Geldmünzen erhielten, mussten sich nun im Vergleich zu früher selbst um ihre
Versorgung kümmern. Sie gingen zur Landbevölkerung, die im Austausch für Lebensmittel die Geldmünzen der
Soldaten allzu gerne entgegennahm, da sie diese dem Herrscher als Steuern zu entrichten hatten. Dieser
„Münzgeld-Militär-Kreislauf“ führte schließlich zur Entstehung von Märkten. Es ist überdies verblüffend, dass
Pythagoras (570-495 v. Chr.), Buddha (563-483 v. Chr.) und Konfuzius (551-479 v. Chr.) mehr oder weniger zur
gleichen Zeit lebten und sich unabhängig voneinander relativ ähnliche Fragen bezüglich der Natur des Menschen
(und des Geldes) stellten. Erstmals tauchen in dieser Zeit außerdem Begriffe wie „Gewinn“ oder „Profit“ auf.
                                                      8
der Handel blühte und Geld als Wertmesser allgemein verwendet wurde, gab es nur wenige
vereinzelte Märkte.“ (Polanyi, 1979, S. 173)

Zurück zu Aristoteles. Aristoteles, der im 4. Jahrhundert v. Chr. (384-322 v. Chr.) lebte, ist deswegen
für Polanyi so interessant, weil er in gewisser Weise in einer Übergangszeit zwischen dem 5. und dem
3. vorchristlichen Jahrhundert lebte. Im 5. Jahrhundert v. Chr. war die agora zwar „bereits fest
etabliert, wenn auch noch umstritten“ (Polanyi, 1979, S. 172). Zu dieser Zeit habe es auf der agora
aber noch keinen Marktmechanismus gegeben (Polanyi, 1979, S. 177). Im 4. Jahrhundert v. Chr. (zur
Zeit Aristoteles‘) wurde die agora dann zum „kommerziellen“ Markt (Polanyi, 1979, S. 173), wodurch
bis dahin als unehrenhaft geltendes Verhalten, also das Erzielen von Profit durch Kauf und Verkauf,
immer häufiger auftrat (Polanyi, 1979, S. 171). Abgesehen von der agora bzw. außerhalb der Städte
gab es zu Aristoteles‘ Zeiten jedoch kaum örtliche Märkte (Polanyi, 1979, S. 175). „Aristoteles konnte
daher nicht die Funktionsweise eines ausgebildeten Marktmechanismus beschrieben und dessen
Auswirkungen auf die Ethik des Handels besprochen haben.“ (Polanyi, 1979, S. 182) Der Mechanismus
von Angebot, Nachfrage und Preis war Aristoteles also unbekannt (Polanyi, 1979, S. 175), denn diesen
gab es frühestens erst ab dem 3. Jahrhundert v. Chr. im internationalen Handel „in bezug auf Getreide
und später auf Sklaven im Freihafen von Delos“ (Polanyi, 1979, S. 177).13

     1.2.        Marktwirtschaft

Der Markt, also „One Big Market“ (Polanyi, 2001 [1944], S. 75), ist etwas ganz anderes als ein einzelner
örtlicher Markt der griechischen Antike. Der Markt meint eigentlich ein die ganze Ökonomie
umfassendes System von zusammenhängenden Märkten, die sich durch den Mechanismus von
Angebot, Nachfrage und Preis gegenseitig beeinflussen.14 Dieses System von preisbildenden Märkten
ist nichts anderes als eine Marktwirtschaft. Was versteht Polanyi darunter? Eine Marktwirtschaft kann
laut Polanyi (2001 [1944], S. 60; 1979, S. 219-245) nur in einer Marktgesellschaft bestehen, in einer
Gesellschaft also, in der der Markt als ökonomische Institution alle anderen gesellschaftlichen

13
   ÖkonomInnen blicken üblicherweise mit Geringschätzung auf Aristoteles, da er ihnen nicht jene Art von
Preistheorie liefert, die sie von ihm angesichts der Existenz von Märkten zu seiner Zeit erwarten. Solch eine
„marktmäßige Denkweise“ kritisiert Polanyi (1979, S. 184) jedoch, denn Aristoteles habe den Keim einer
Entwicklung gesehen, die sich gerade erst in ihrem Anfangsstadium befand: „Zweifellos hat das scharfe Auge des
Theoretikers die Zusammenhänge zwischen den schäbigen Tricks auf der agora und den neuartigen Formen der
Handelsprofite erkannt“ (Polanyi, 1979, S. 176). Mit gutem Grund hat sich Polanyi (1979, S. 149-185) daher in
einem eigenem Aufsatz (Aristoteles entdeckt die Volkswirtschaft) mit Aristoteles auseinandergesetzt, denn
dieser blickte mit einem ganzheitlichen Auge auf die Wirtschaft: „Im Effekt stellte er umfassend die Frage nach
dem Stellenwert der Ökonomie in der Gesellschaft.“ (Polanyi, 1979, S. 150)
14
   Antonio Gramsci (2013, S. 47) spricht in diesem Zusammenhang vom „bestimmten Markt“, also von einem
„bestimmten gesellschaftlichen Kräfteverhältnis in einer bestimmten Struktur des Produktionsapparats,
garantiert durch eine bestimmte juristische Superstruktur.“ Gramsci enttarnt damit den von der
„Wirtschaftswissenschaft“ beschriebenen Markt als den ideologischen Ausdruck einer historisch gewachsenen
Form von Machtverhältnissen, die nun einen scheinbaren „Automatismus“ bilden.
                                                      9
Institutionen bzw. die Integrationsform Markttausch alle anderen Integrationsformen verdrängt hat.15
In anderen Worten spielt die ökonomische Sphäre in einer Marktgesellschaft folglich die wichtigste
Rolle, während alle anderen Lebensbereiche des Menschen ihr untergeordnet sind.

Eine Marktwirtschaft ist nun Polanyi (2001 [1944], S. 71-72) zufolge genauer genommen eine
selbstregulierende Marktwirtschaft, wobei die Selbstregulierung ausschließlich mittels Marktpreisen
erfolgt. Die Preise kontrollieren, regulieren und dirigieren also das gesamte Wirtschaftssystem einer
Marktgesellschaft, indem sie die Produktion und Verteilung von Gütern bestimmen. In der Produktion
bestimmen die Preise über den Profit der ProduzentInnen, während die Verteilung über die
Einkommen geregelt wird, die mittels der Preise generiert werden. Selbstregulierung bedeutet
schließlich, dass alles, was produziert wird (inklusive Dienstleistungen), auf dem Markt für Geld
verkauft wird und somit alle Einkommen der Gesellschaft generiert. Das Verkaufsmotiv liegt hier im
ökonomischen Prinzip des profitträchtigen Markttausches, welches alle anderen Prinzipien wie
Reziprozität usw. verdrängt. Schließlich bedeutet Selbstregulierung, dass der Staat in keiner Weise
eingreifen darf: um die Bildung von Märkten zu verhindern, um Einkommen anders als durch Märkte
entstehen zu lassen, um Anpassung von Marktpreisen an veränderte Umstände zu beeinflussen, um
Angebot oder Nachfrage oder Preise zu fixieren oder regulieren. Nur solche Maßnahmen sind in einer
Marktgesellschaft also erlaubt, die gewährleisten, dass der Markt die einzige Institution ist, die die
Sphäre der Ökonomie (und damit der Gesellschaft) organisiert (Polanyi, 2001 [1944], S. 71-72).

Alles, was auf „marktwirtschaftlichen“ Märkten angeboten wird, sind Waren, also Güter, die eigens für
den Verkauf auf dem Markt produziert werden. Diese an und für sich harmlose Beschreibung von
Märkten wird äußerst problematisch, wenn wir nicht mehr nur materielle Güter (Brot, Bier, Bleistifte)
betrachten. Was ist mit Land, Geld und Arbeit? Wir kennen den Geldmarkt und den Arbeitsmarkt nur
zu gut, da diese beiden Märkte eine zentrale Rolle in unserer heutigen Gesellschaft spielen, weil sie in
der kapitalistischen Warenproduktion unersetzbar sind. Der „Landmarkt“ hört sich zwar etwas fremd
an, aber wir wissen, dass Land (also Grund und Boden) ge- und verkauft werden kann. Wenn es nun
aber einen Bodenmarkt und einen Geldmarkt und einen Arbeitsmarkt gibt, so müssen laut Definition
Land, Geld und Arbeit Waren sein, also „Güter“, die eigens für den Verkauf auf dem Markt produziert
werden. Dies stimmt jedoch nicht. Geld wird nicht produziert um auf dem Markt Profit abzuwerfen,
sondern Geld wird von Staaten bzw. deren Zentralbanken als offizielles Zahlungsmittel verwaltet, um
Markttransaktionen sämtlicher Art zu erleichtern und zu beschleunigen. Land ist nichts anderes als die
natürliche Umgebung des Menschen bzw. die Natur. Und Arbeit ist schließlich nur eine andere
Bezeichnung für die Verausgabung der menschlichen Arbeitskraft, eine menschliche Aktivität also, die

15
  „Soll der [Marktaustausch] als Integrationsform dienen, dann erfordert dies als Grundlage ein System von
preisbildenden Märkten. […] Selbst preisbildende Märkte wirken nur dann integrierend, wenn sie in ein System
zusammengefasst sind, das dazu tendiert, den Preiseffekt auch auf andere Märkte als die direkt betroffenen
auszudehnen.“ (Polanyi, 1979, S. 224-225) Dazu kritisch Humphreys (1979, S. 29).
                                                    10
mit dem menschlichen Leben einhergeht. Polanyi nennt Land, Geld und Arbeit daher fiktive Waren, da
sie nicht – wie „normale“ Waren – für den Verkauf produziert werden (Polanyi, 2001 [1944], S. 75-76;
1979, S. 131-132).16

     1.3.        Entbettung und Gegenbewegung

Wenn Polanyi nun – ausgehend von Großbritannien im 19. Jahrhundert – von einer „großen
Transformation“ hin zu einer Marktwirtschaft spricht, dann meint er damit vor allem, dass Land und
Arbeit kommodifiziert, also zu Waren wurden. Dies stellte eine vollkommen neuartige Situation in der
Geschichte der Menschheit dar, denn: „In allen den Anthropologen und Historikern bekannten
Gesellschaften waren Märkte auf Waren im engeren Sinne des Wortes beschränkt.“ (Polanyi, 1979, S.
132) Vor dem Jahr 1834, in dem in Großbritannien der erste „freie Arbeitsmarkt“ geschaffen wurde,
sei es also jahrtausendelang nicht ohne Weiteres möglich gewesen, die in den Menschen steckende
Arbeit wie eine Ware zu kaufen und zu verkaufen.17 Selbiges gilt für Land (also Grund und Boden),
dessen Verteilung in „primitiven“ Gesellschaften durch Verwandtschaftsbeziehungen, in den antiken
Hochkulturen durch den Palast oder den Tempel und in der Feudalgesellschaft durch „die Bande der
Lehenstreue“ geregelt war (Polanyi, 1979, S. 225-226). In anderen Worten gibt die in einer
Gesellschaft vorherrschende Integrationsform an, in welchem Ausmaß diese Form Arbeit und Land
umfasst, also auf welche Art und Weise Arbeit und Land in die Wirtschaft integriert sind. Die
Integrationsform Markttausch (bzw. die „Wirtschaftsform“ Marktwirtschaft) erfordert schließlich –
sofern sie vorherrschend ist – dass Arbeit und Land (sowie alle anderen denkbaren Waren und
Dienstleistungen) über ein System von preisbildenden Märkten verteilt werden.

16
   Hier noch eine Anmerkung zum Arbeitsbegriff, der für den Rest dieser Arbeit von Relevanz ist. Obwohl der
Marxsche Begriff „Arbeitskraft“ eine deutlich genauere Trennschärfe bietet, um zwischen dem, was getan wird,
und dem, was gekauft wird, zu unterscheiden, verwenden wir in dieser Masterarbeit hauptsächlich den Begriff
„Arbeit“, wenn wir uns auf jene Ware beziehen, die auf dem Arbeitsmarkt gehandelt wird. Dies liegt schlicht und
einfach daran, dass Polanyi diese Begriffe kaum voneinander unterscheidet und durchwegs von der „fiktiven
Ware Arbeit“ spricht. Korrekterweise müssten wir eigentlich von der „fiktiven Ware Arbeitskraft“ sprechen.
Unsere LeserInnen mögen uns diese Vorgangsweise verzeihen und diese wichtige Unterscheidung dennoch im
Kopf behalten.
17
   Hier exemplarisch ein paar Zitate, die Polanyi (2001 [1944], S. 277) wiedergibt: „Gain, as is often the stimulus
for work in more civilised communities, never acts as an impulse to work under the original native conditions.“
(Malinowski, 1932 [1922], S. 156) „Nowhere in uninfluenced primitive society do we find labour associated with
the idea of payment" (Lowie, „Social Organization“, in Encyclopedia of the Social Sciences, Vol. XIV, p.14).
„Nowhere is labour being leased or sold" (Thurnwald, Die menschliche Gesellschaft, Book III, 1932, p. 169). „The
treatment of labour as an obligation, not requiring indemnification ... " is general (Firth, Primitive Economics of
the New Zealand Maori, 1929). „Even in the Middle Ages payment for work for strangers is something unheard
of.“ „The stranger has no personal tie of duty, and, therefore, he should work for honour and recognition.“
Minstrels, while being strangers, "accepted payment, and were consequently despised" (Lowie, op. cit.).
Außerdem: „To put one’s labour at the command of another is a social service, not merely an economic service.“
(Firth, 1939, S. 303, z.n. Polanyi, 2001 [1944]), S. 278)
                                                        11
Die Integrationsform Markttausch wurde schließlich im 19. Jahrhundert, ausgehend von
Großbritannien, vorherrschend. Dies war keine natürliche oder spontane Entwicklung, sondern sie
wurde politisch gemacht, wie Polanyi in The Great Transformation regelmäßig betont.18 Die Menschen
mussten also an den Markttausch gewöhnt bzw. dazu gezwungen werden. Dies war nur möglich,
indem Reziprozität und Redistribution als Integrationsformen der Wirtschaft abgeschafft wurden, was
laut Polanyi jedoch einen radikalen Bruch in der Geschichte der Menschheit darstellte.
Jahrtausendelang gewährleisteten nämlich Reziprozität und Redistribution, dass die Wirtschaft in das
soziale Gefüge der Gesellschaft eingebettet war, dass die Ökonomie also immer nur ein Teilaspekt des
menschlichen Lebens war. Durch die Vorherrschaft von Reziprozität und Redistribution war somit die
Wirtschaft der Menschen als nichteigenständige Lebenssphäre der Menschen organisiert. Soziale,
politische, kulturelle, religiöse und wirtschaftliche Institutionen koexistierten also, während keine
Institution die anderen dominierte. So wurden Umverteilungen beispielsweise im Rahmen von
religiösen Ritualen durchgeführt oder Fernhandel mit gastfreundlichen Festivitäten gleichgesetzt (vgl.
Polanyi, 2001 [1944], S. 45-58). In anderen Worten herrschten in früheren Gesellschaften keine „rein
ökonomischen“ Prinzipien (bzw. Integrationsformen) vor, sondern gesamtgesellschaftliche Prinzipien –
Prinzipien also, die sämtliche Lebensbereiche berührten. Wenn jedoch Reziprozität und Redistribution
als   Integrationsformen      keine    Rolle   mehr       spielen,   dann   entspricht     dies   auf    der
gesamtgesellschaftlichen, institutionellen Ebene einer Entbettung (bzw. „Herauslösung“) der
Wirtschaft, wie es Polanyi nannte. Wird der Markttausch also zur vorherrschenden Integrationsform
der Wirtschaft, dann erfordert dies gleichzeitig die Entstehung einer eigenständigen, spezifisch
wirtschaftlichen Institution, die alleine über Produktion und Verteilung der Güter und Dienstleistungen
bestimmt. Dies ist der Markt bzw. die Marktwirtschaft.

Vor dem 19. Jahrhundert gab es laut Polanyi jedoch nirgendwo eine Marktwirtschaft (von leichten
Tendenzen wie z.B. im spätantiken Griechenland einmal abgesehen). Denn Märkte – vor allem die
fiktiven Waren umfassenden Märkte – spielten im überwiegenden Teil der Menschheitsgeschichte
entweder nur eine untergeordnete, nichtsystematische Rolle oder sie waren sehr stark politisch
reguliert: „[N]ever before our own time were markets more than accessories of economic life. As a
rule, the economic system was absorbed in the social system [...] The self-regulating market was
unknown [...]“ (Polanyi, 2001 [1944], S. 71) Außerdem betont Polanyi (2001 [1944], S. 71): „Regulation
and markets, in effect, grew up together.“ Dies galt vor allem für die Zeit des Merkantilismus im 17.
und 18. Jahrhundert, als ein zentralistischer Staat die Entstehung von Märkten im Vergleich zu früher
ganz besonders förderte, aber eben auch sehr stark kontrollierte (Polanyi, 2001 [1944], S. 71). Denn
selbst im Merkantilismus waren Arbeit, Land und Geld nicht den „Gesetzen des Marktes“ unterworfen

18
  Wir können hier nicht im Detail auf diesen wichtigen Punkt eingehen. Wie in Großbritannien Märkte politisch
gemacht wurden und welche Rolle dabei Gewalt und Krieg spielten, thematisieren z.B.: Banerjee, 2008; Braudel,
1979; Chang, 2002; Conert, 1998; Findlay & O'Rourke, 2007; Hobsbawm, 1969; Johnson, 2010; Vries, 2013.
                                                     12
(vgl. Polanyi, 1979, S. 132). Durch zahlreiche auf Regulierung und Paternalismus beruhende gesetzliche
Bestimmungen wurden sie von der „Gefahrenzone des Marktes“ ferngehalten (vgl. Polanyi, 2001
[1944], S. 73). Wir wollen diese Schutzmaßnahmen kurz diskutieren.

Das Statute of Artificers (1563 erlassen) schrieb beispielsweise folgende Maßnahmen für die
arbeitsfähige Bevölkerung vor: Arbeitszwang, eine siebenjährige Lehrzeit und Lohnbestimmung durch
die lokale Gesetzgebung. Das Statute of Artificers galt sowohl für LandarbeiterInnen als auch für
HandwerkerInnen, sowohl auf dem Land als auch in den Städten. Im Jahr 1662 kam der Act of
Settlement hinzu, der die Mobilität von ArbeiterInnen massiv einschränkte: Von nun an durften sich
ArbeiterInnen nur in jenen Gemeinden niederlassen, in denen sie geboren wurden oder in denen sie
heirateten, in denen sie eine siebenjährige Lehre ableisteten oder wenn sie £10 Steuern pro Jahr
zahlten (eine finanzielle Hürde, die die Mehrzahl der ArbeiterInnen ausschloss). Die Poor Laws
(zwischen 1536 und 1601 erlassen) wiederum betrafen die arbeitsunfähige bzw. arbeitslose
Bevölkerung. Die Poor Laws standen unter lokaler Aufsicht und sahen vor, dass jede Gemeinde ihre
arbeitsfähigen Armen mit Arbeit versorgt, damit sie sich ihren eigenen Lebensunterhalt verdienen
können. Wenn keine Arbeit vorhanden war, musste die Gemeinde die Armen finanziell unterstützen,
was durch lokale Steuern finanziert wurde (Polanyi, 2001 [1944], S. 90-91).

So wie Arbeit war vor dem 19. Jahrhundert schließlich auch Land vor Kommodifizierung geschützt:

     Land, the pivotal element in the feudal order, was the basis of the military, judicial, administrative, and
     political system; its status and function were determined by legal and customary rules. Whether its
     possession was transferable or not, and if so, to whom and under what restrictions; what the rights of
     property entailed; to what uses some types of land might be put-all these questions were removed from the
     organization of buying and selling, and subjected to an entirely different set of institutional regulations.
     (Polanyi, 2001 [1944], S. 72-73, Herv. d. Verf.)

Bis 1789 blieb Land in Frankreich und England schließlich extra commercium und selbst danach war
das englische Common Law noch äußerst mittelalterlich (Polanyi, 2001 [1944], S. 73). Vor dem Ende
des 18. Jahrhunderts war die Idee eines selbstregulierenden Marktes überdies gänzlich unbekannt und
die Errichtung eines „freien Arbeitsmarktes“ nicht einmal diskutiert worden, da dies eine
vollkommene Umkehr bisheriger Entwicklungen bedeutete (Polanyi, 2001 [1944], S. 74). Als dann
schließlich 1832 die „Mittelklasse“ die Macht im britischen Parlament übernahm (Polanyi, 2001
[1944], S. 82), machte sie sich sogleich daran, die alten paternalistischen Arbeitsgesetze zu
reformieren bzw. abzuschaffen, um der von der Politischen Ökonomie propagierten Idee eines
selbstregulierenden Marktes gerecht zu werden. Der Poor Law Reform Act aus dem Jahr 1834
ermöglichte schließlich die erstmalige Entstehung eines kompetitiven Arbeitsmarktes, also die
vollständige Kommodifizierung der fiktiven Ware Arbeit.19

19
  Die Zeit von 1795, als die sogenannten Speenhamland-Armengesetze in alter paternalistischer Manier zum
Schutz vor der Kommodifizierung der Arbeit erlassen wurden, bis 1834 bezeichnet Polanyi (2001 [1944], S. 130)
                                                         13
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