Technische Hochschule Ingolstadt - OPUS 4
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Technische Hochschule Ingolstadt Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen Studiengang Wirtschaftsingenieurwesen Bachelorarbeit Thema: Digitaler Zwilling im Mittelstand – Ein Zukunftsmodell für die Produktionsplanung und -steuerung? Vor- und Zuname: Jakob Joseph Lorenz Hartl ausgegeben am: 07.12.2020 abgegeben am: 01.02.2021 Erstprüfer: Prof. Dr. rer. pol. Andreas Jattke Zweitprüfer: Prof. Dr.-Ing Martin Bednarz
Erklärung Ich erkläre hiermit, dass ich die Arbeit selbständig verfasst, noch nicht anderweitig für Prüfungszwecke vorgelegt, keine anderen als die angegebenen Quellen oder Hilfsmittel benützt sowie wörtliche und sinngemäße Zitate als solche gekennzeichnet habe. Ingolstadt, 28.01.2021 Vorname Name
Vorwort und Danksagung Einen besonderen Dank möchte ich an die Firmen DETECON Consulting, DASSAULT Systemes und DB Systel GmbH richten, welche mir ihre Studien zum Bereich digitale Zwillinge zur Verfügung gestellt haben. Ein weiterer Dank gilt meinem betreuenden Professor, Herrn Prof. Dr. rer. pol. Andreas Jattke, der mir absolute Freiheit hinsichtlich Themenwahl und Herangehensweise in Bezug auf mein Abschlussprojektes ließ. III
Inhaltsverzeichnis Vorwort und Danksagung.......................................................................................................... III Abkürzungsverzeichnis .............................................................................................................. VI Abbildungsverzeichnis ............................................................................................................... VI 1. Einleitung ................................................................................................................................ 1 1.1 Motivation ........................................................................................................................ 1 1.2 Ziel .................................................................................................................................... 2 1.3 Struktur der Arbeit ........................................................................................................... 2 2. Theoretische Grundlagen ....................................................................................................... 4 2.1 Definition digitaler Zwilling (DZ) ....................................................................................... 4 2.2 Architektur und Funktion eines DZ .................................................................................. 8 2.3 Voraussetzungen für die Integration eines DZ ............................................................... 11 2.4 Problemstellungen in Bezug auf DZ ............................................................................... 12 2.5 Herausforderung Gesamtsystem ................................................................................... 14 3. Anwendungsszenarien ......................................................................................................... 17 3.1 Einsatzzweck von DZ ...................................................................................................... 17 3.2 Umsetzungsbeispiele...................................................................................................... 17 3.2.1 Anwendung im Engineeringprozess ........................................................................ 17 3.2.2 Maschinenabnahme vor der Fertigstellung ............................................................ 18 3.2.3 Neukonfiguration während des Maschineneinsatzes ............................................. 19 4. Methoden ............................................................................................................................. 20 4.1 Erweiterte SWOT-Analyse .............................................................................................. 20 4.2 Literaturrecherche.......................................................................................................... 20 5. Auswertung und Ergebnisse ................................................................................................. 21 5.1 Erweiterte SWOT-Analyse .............................................................................................. 21 5.2 Einschätzung des Nutzungspotenzials und der Verfügbarkeit von DZ .......................... 24 IV
5.3 Empfehlungen beim Einsatz von DZ ............................................................................... 28 5.3.1 Keine isolierte Technologie ..................................................................................... 28 5.3.2 Realistische Einschätzung des Aufwandes und der benötigten Rechenleistung .... 28 5.3.3 DZ als möglicher Treiber und Alleinstellungsmerkmal ........................................... 29 5.3.4 Langfristige Strategie von KMU in Bezug auf DZ ..................................................... 30 5.4 Chancen und Risiken im Überblick bezüglich DZ ........................................................... 31 5.4.1 Chancen ................................................................................................................... 31 5.4.2 Risiken ..................................................................................................................... 31 5.5 Ausgewählte Anbieter von DZ ........................................................................................ 32 5.5.1 Etablierte Anbieter .................................................................................................. 32 5.5.2 Newcomer ............................................................................................................... 36 6. Ausblick und Fazit ................................................................................................................. 39 6.1 Weiterentwicklung und Aussicht des DZ........................................................................ 39 6.2 Momentaner Industriehype oder Zukunftstechnologie ................................................ 40 Literaturverzeichnis .................................................................................................................. 43 V
Abkürzungsverzeichnis BIM ..............................................................................................Building Information Modeling CPS ......................................................................................................... Cyberphysisches System DT............................................................................................................................... Digital Twin DZ....................................................................................................................... Digitaler Zwilling eCl@ss ......................... Datenstandard für Klassifizierung von Produkten und Dienstleistungen FMI ................................................................................................ Functional Mock-Up Interface FMUs................................................................................................... Functional Mock-Up Units IEC CDD .......................................................................................... IEC Common Data Dictionary IESE ............................................................... Institut für Experimentelles Software Engineering IIoT ................................................................................................... Industrial Internet of Things IoT .....................................................................................................................Internet of Things KI/AI ............................................................................................................ Künstliche Intelligenz KMU ........................................................................................ Kleine und mittlere Unternehmen NASA .................................................................National Aeronautics and Space Administration PaaS ............................................................................................................ Platform as a Service PLM ............................................................................................. Product Lifecycle Management PPS ...................................................................................... Produktionsplanung und -steuerung SaaS ............................................................................................................ Software as a Service USP ............................................................................................................... Unique Selling Point Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Anteile kleine und mittlere Unternehmen 2018 nach Größenklassen in % ......... 2 Abbildung 2: Strukturelle Voraussetzungen eines digitalen Zwillings ....................................... 9 Abbildung 3: Ontologie zur Definition von Eigenschaften ....................................................... 16 Abbildung 4: Einflussfaktoren und Abhängigkeiten des digitalen Zwillings für KMU (in Anlehnung des Trendmikrokosmos der DB Systel GmbH) ....................................................... 21 Abbildung 5: Abschätzung von Geschäftswert und Reifegrad der DZ mit ähnlichen Trends . 25 Abbildung 6: Points of Interest (POI) in NavVis Indoor Viewer................................................ 37 Abbildung 7: Etablierung des digitalen Zwillings in Unternehmen .......................................... 39 Abbildung 8: Entwicklung des digitalen Zwillings in Anlehnung an Willow Inc. ...................... 41 VI
1. Einleitung 1.1 Motivation Der technische und digitale Fortschritt eilt in der heutigen Zeit schnell voran. Beim Lesen von gängigen Fachzeitschriften finden sich immer mehr Artikel zum Thema Industrie 4.0 und Internet of Things (IoT).1 Diese Themen beziehen sich jedoch zumeist auf spezielle Bereiche der einzelnen Industriezweige. So verhält es sich auch mit dem Thema, welches in dieser Arbeit behandelt werden soll. Wer im Jahr 2018 in Google die Suchanfrage für „Digitale Zwillinge“ auswertete, bekam 2,3 Millionen Ergebnisse. Für die Suchanfrage des englischen Pendant „Digital Twins“ waren es immerhin schon 316 Millionen Ergebnisse.2 Wurde diese Suche am Ende des Jahres 2020 wiederholt, so konnte festgestellt werden, dass sich die Ergebnisse im deutschsprachigen Raum fast verfünffacht haben (11,4 Millionen Ergebnisse) und die englischsprachigen Ergebnisse um weitere 165 Millionen gewachsen sind.3 Dieser einfach Vergleich zeigt, dass das Interesse vor allem im deutschsprachigem Raum in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat. Zu bedenken ist dabei die wirtschaftliche Lage in den Jahren 2019 und 2020, in denen einige MDAX- und TecDAX-notierte Unternehmen herbe Rückschläge in Kauf nehmen mussten bedingt durch den Ausstieg von Großbritannien aus der EU, der Schwächung der Handelsbeziehungen mit den USA unter der Präsidentschaft Trumps sowie den globalen Einschränkungen, unter anderem von Handelsgütern durch die Corona-Pandemie.4 5 All diese Ereignisse haben der deutschen Industrie, aber vor allem auch den kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), welche mit 2,6 Millionen Unternehmen (siehe Abb. 1, S. 2) das tragende Fundament der deutschen Wirtschaft sind, gezeigt, wie wichtig und entscheidend eine schnelle und fokussierte Anpassung an verschiedene Situationen ist.6 7 Eine vielversprechende und zukunftsweisende Methode, auch im Hinblick auf die voranschreitende Digitalisierung der weltweiten Wirtschaft, ist die Implementierung eines Digitalen Zwillings (DZ) oder auch Digital Twin (DT) genannt. 1 (Rüsche, 2020) 2 (Köhler, 2018) 3 (Google Scholar, 2020) 4 (finanzen.net, 2015 - 2020) 5 (LYNX, Dividendenkalender, MDAX, TecDAX, 2019 - 2020) 6 (Statistisches Bundesamt, 2020) 7 (von Elm, 2020) 1
Abbildung 1: Anteile kleine und mittlere Unternehmen 2018 nach Größenklassen in % 8 1.2 Ziel Diese Arbeit soll die primären Merkmale und die dazugehörigen Entwicklungsmöglichkeiten aufzeigen, welche eine Integration eines digitalen Zwillings in die Produktion, Produktionsplanung sowie -steuerung von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) mit sich bringt. Ein besonderer Fokus wird dabei auf die Fachbereiche Anlagen- und Maschinenbau gelegt. Ferner soll diese Arbeit als Anhaltspunkt und Entscheidungsgrundlage dienen und die KMU dabei unterstützen, sich mit dem Themengebiet „digitale Zwillinge“ und deren Interaktion mit der Industrie 4.0 auseinanderzusetzen. So können neue Geschäftsmodelle wahrgenommen und innovative Aufgabenfelder sowie optimierte Produktionsprozesse für zukünftige Projekte oder Handlungsentscheidungen entwickelt werden. 1.3 Struktur der Arbeit In dem nachfolgenden Kapitel „Theoretische Grundlagen“ wird zunächst erläutert, was der Begriff „digitaler Zwilling“ bedeutet und auf welchem strukturellen Aufbau er sich bewegt. Außerdem wird auf Funktionsweise und Anforderungen für die Integration in ein 8 (Statistisches Bundesamt, 2020) 2
bestehendes System eingegangen, genauso wie auf mögliche Problemstellungen und die nicht zu unterschätzende Herausforderung, mehrere digitale Zwillinge so einzusetzen, dass sie ein Teil des bereits vorhandenen Gesamtsystems werden. In Kapitel 3 werden mögliche Anwendungsszenarien z.B. Einsatzzweck und verschiedene Umsetzungsbeispiele aufgezeigt. Ab dem Kapitel 4 werden die angewendeten Methoden kurz erläutert und anschließend die hervorgebrachten Erkenntnisse aufgeschlüsselt und wiedergegeben. Des Weiteren werden in Kapitel 5 Empfehlungen sowie ausgewählte Anbieter von digitalen Zwillingen behandelt. Zum Schluss sind mögliche Ausblicke bezüglich Weiterentwicklung des digitalen Zwillings und das Fazit dieser Arbeit zu lesen. 3
2. Theoretische Grundlagen 2.1 Definition digitaler Zwilling (DZ) Diese Arbeit kann mit einer Besonderheit begonnen werden, denn bis jetzt gibt es noch keine einheitliche Definition des Begriffs „digitaler Zwilling“. Anwender und Experten sind sich nur in dem Punkt einig, dass der digitale Zwilling oder auch digital Twin genannt das Abbild eines Produktes oder auch eines Prozesses der realen Abbildung ist, wobei beides noch nicht einmal existieren muss.9 Eine der ersten Definitionen und Grundanwendungen eines digitalen Zwillings tauchte im Programmbericht der National Aeronautics and Space Administration (NASA) auf. Im Jahr 2012 veröffentlichte die NASA mit dem Titel „Technology Area 11 – Modeling, Simulation, Information – Technology & Processing Roadmap“ eine Möglichkeit, zukünftige Projekte im Vorfeld digital zu simulieren und weitere Parameter einfließen zu lassen. Somit verband die NASA eine bestimmte Aufgabenstellung mit einer möglichen Herangehensweise und setzte damit einen wichtigen Grundstein des zukünftigen digitalen Zwillings.10 Nach Meinung von Herrn Dr. Thomas Kuhn, der Division Manager Embedded Systems im Fraunhofer IESE (Institut für Experimentelles Software Engineering) ist, ist ein digitaler Zwilling, im Gegensatz zu früheren Revolutionen von einzelnen neuen Technologien, ein viel bahnbrechenderer Wandel, da alle Fertigungsprozesse durchgehend digitalisiert werden können. In Zukunft sollen die digitalen Zwillinge alle relevanten Produkte, Werkstücke und Geräte einer Industrie 4.0-Produktion beschreiben.11 Prof. Dr.-Ing. Rainer Stark vom Frauenhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (IPK) geht davon aus, dass in Zukunft jede Fabrik zweimal existieren wird. Durch das zweite digitale Abbild könnten Produktionsplaner, Produktenwickler und noch andere beteiligte Schnittstellen ein genaues Bild der Produktionslinie erstellen und somit bevorstehende Probleme frühzeitig erkennen und gegebenenfalls lösen. Des Weiteren wird zum ersten Mal ein „digitaler Schatten“ der einzelnen Produkte erwähnt, welcher durch Betriebs-, Zugangs- und Prozessdaten erzeugt wird. Durch eine intelligente Verbindung, die aus einem Simulationsmodell, verschiedenen Algorithmen, einer Wechselbeziehung der einzelnen Komponenten und weiteren 9 (Klostermeier, Haag, & Benlian, 2018) 10 (Shafto, et al., 2012) 11 (Dr. Kuhn & Schnicke, Digitale Transformation: Aufbau der Industrie 4.0-IT-Infrastruktur, 2020) 4
Bestandteilen besteht, wird diese intelligente Verbindung zu12 „[…] einer einzigartigen Instanz eines universalen digitalen Vorlagemodells und dessen individuellem digitalem Schatten.“13 Um die Bedeutungen dieser Definitionen eines digitalen Zwillings mit dessen digitalen Schatten zu verdeutlichen, nahm Prof. Dr. Frank T. Piller ein Beispiel aus dem Alltag. Wer eine Geschäftsreise plant und herausfinden möchte, wo der Zielort liegt und wie lange die Reise dorthin dauert, nimmt wohl kaum noch eine Landkarte oder einen Stadtplan heraus. Nein, er gibt in Google Maps den Namen ein und lässt sich die Route anzeigen. Das digitale Abbild der Karte in Google Maps ist sozusagen der digitale Zwilling (die simulierte Karte). Das ist schon seit einigen Jahren Standard sowohl im Unternehmensbereich als auch im privaten Bereich. Der Unterschied ist aber, in Google Maps werden in der Suchanfrage Echtzeitdaten einkalkuliert, sprich die momentane Verkehrslage zu einer bestimmten Uhrzeit, Baustellen, alternative Routen usw., was in diesem Beispiel der digitale Schatten ist. Und genau dieser Schatten, diese reale Verknüpfung mit Bewegdaten des digitalen Abbilds (in diesem Fall die Landkarte) führt zur Bereicherung der Anwender.14 Es spielt letztendlich keine Rolle, ob ein digitaler Zwilling für personenbezogene oder maschinelle Einsatzzwecke Anwendung findet, in beiden Fällen steht das Ziel einer effizienteren Gestaltung einer bestimmten Situation. Gerade im Anlagen- oder Maschinenbau sind effiziente Arbeitsschritte notwendig, da die einzelnen Bereiche beginnend von der Konstruktion bis hin über die Planung einzelner Schaltvorgänge oder der Steuerungsentwicklung jeweils zeitlich getaktet sind und Hand in Hand ineinandergreifen müssen. Jedes Unternehmen, das z.B. ein neues Produkt in die bestehende Fertigungsline aufnehmen möchte, muss im Vorfeld wissen, wie kompatibel dieses Produkt in der Linie fährt und mit welchen einzelnen Zeiten (Durchlaufzeit des Produktes oder auch Taktzeiten) in den verschiedenen Stationen zu rechnen ist. Auch ein nicht zu unterschätzendes Thema in der Produktionsplanung und -steuerung (PPS) ist die Einplanung der Instandhaltung einzelner Anlagen oder Maschinen. Eine Instandhaltung sollte einen Fertigungsprozess so wenig wie möglich aufhalten oder sogar blockieren. Doch zu oft fallen vor allem in KMU Anlagenteile oder Maschinen unerwartet und nicht kalkuliert aus. Dies führt dann zu 12 (Prof. Dr.-Ing. Stark, 2017) 13 (Prof. Dr.-Ing. Stark, 2017) 14 (Prof. Dr. Piller, 2020) 5
zeitlichen Engpässen des Auftrages und im schlimmsten Fall zu Strafzahlungen des Unternehmens. Die Instandhaltungsplanung konfrontiert auch hier das Fachpersonal immer wieder mit neuen Herausforderungen. Des Weiteren hat die schnellstmögliche Inbetriebnahme von Fertigungslinien eine hohe Bedeutung nicht nur für den Maschinenbau, sondern auch für den Anlagenbauer. So möchte jeder Anlagenbauer, dass seine Anlage schnellstmöglich und fehlerfrei in Betrieb genommen wird. In all diesen Fällen kann ein digitaler Zwilling unterstützen und ein wertvoller Begleiter in der Planung und Planungsdurchführung sein. Der digitale Zwilling ermöglicht es, die verschiedenen Bereiche und deren verbundene Ziele, wie z.B. Terminierung, Kapazitätsauslegung oder mengenbezogene Auslegung miteinander zu vernetzen und so eine ineinandergreifende Planung zu gewährleisten. Prof. Dr. Rainer Stark vom Frauenhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik brachte es in einem Interview zum Thema: „Die DNA des digitalen Zwillings“ auf den Punkt und sagte: „Bislang fand die Wertschöpfung ausschließlich in der realen Welt statt. Der digitale Zwilling legt nun den Grundstein dafür, dass Unternehmen Informationen aus dem wahren Produktleben zurückgespiegelt bekommen und diese weiterverarbeiten können. Damit erhalten Modelle, die bislang lediglich am Beginn der Entwicklungskette standen, einen neuen Wertschöpfungsanteil und begleiten ein Produkt über den gesamten Lebenszyklus hinweg.“15 Noch zu erwähnen ist das „Mittelstand 4.0-Kompetenzzentrum Hannover“, das unter anderem vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) gefördert wird und ein Teil der Förderinitiative „Mittelstand 4.0 – Digitale Produktions- und Arbeitsprozesse“ mit dem Schwerpunkt „Mittelstand-Digital – Strategien zur digitalen Transformation der Unternehmensprozesse“ ist. Das Zentrum Mittelstand 4.0 hat sich darauf spezialisiert, digitale Zwillinge für die Produktionsplanung in KMU umzusetzen und betont die Vorteile. So lassen sich im Vorfeld Optimierungspotenziale für die Produktion einschätzen, ebenso die zusätzlichen Anwendungsmöglichkeiten der Materialflussanalyse auf Investitions- und 15 (Koesling & Pfeiffer, 2018) 6
Kapazitätsplanung.16 Eine weitere zu erwähnende Initiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung ist das Programm „InnoSentriS – Ein Innovationsforum Mittelstand“, welches das Potenzial der digitalen Zwillinge für KMU erkennt. Ferner ist die Förderinitiative ein zentrales Element des Zehn-Punkte-Programms „Vorfahrt für den Mittelstand“, in dem die Innovationsdynamik im deutschen Mittelstand weiter gestärkt werden soll. Weiter heißt es in der Publikation: „Der Digitale Zwilling revolutioniert die Entwicklung, die Fertigung und den Betrieb von Produkten und Anlagen. Insbesondere die fertigende Industrie in Deutschland (Wertschöpfungsanteil 2018: 25,8 Prozent) muss diese Entwicklung anführen, um ihre weltweiten Spitzenpositionen zu verteidigen. Das Innovationsforum InnoSentriS stellt eine branchenübergreifende und nachhaltige Plattform für die verschiedenen Spezialisten aus Wirtschaft und Wissenschaft zur Verfügung .“17 Ein Hauptziel dieser Plattform ist es, dass sich KMU mit dem Thema „digitaler Zwilling“ auseinandersetzen und sich zugleich mit anderen Firmen vernetzen, um so einen zukunftsträchtigen Innovationsverbund für KMU zu bilden.18 Der Schluss dieses Kapitels soll sich mit den ersten Zahlen und den ersten Prognosen befassen. So spiegeln einige große Technologiekonzerne, z.B. Siemens die Ergebnisse des IT- Analyse- und Marktforschungsinstitut Gartner wieder, welches behauptet, „dass bereits 2021 die Hälfte der größeren Industrieunternehmen den digitalen Zwilling einsetzen und ihre Effektivität so um zehn Prozent steigern können.“19 Auch eine Umfrage von McKinsey ergab, dass die befragten Unternehmen mit der Implementierung von künstlichen Intelligenzen (KI) explizit in der Umfrage für die Bereiche des Supply-Chain-Management und der Fertigung von Kosteneinsparungen von über 25 Prozent ausgehen.20 16 (Mittelstand 4.0-Kompetenzzentrum Hannover, 2020) 17 (Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), 2019) 18 (Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), 2019) 19 (Siemens, 2018) 20 (McKinsey & Company, 2019) 7
2.2 Architektur und Funktion eines DZ Ein weiterer Grund, weshalb die Einführung eines digitalen Zwillings für KMU immer interessanter wird, ist, dass ein digitaler Zwilling mit einfacher und auch preiswerter Sensorik erzeugt werden kann. So braucht es z.B. für die virtuelle Darstellung eines Prozessflusses nur eine Stereokamera, eine Handykamera mit Tiefensensor oder einen Laserscanner, um ein 3D-Punktwolkenmodell darzustellen.21 Sonstiges ist für die virtuelle Wiedergabe eines Produktes in diesem Beispiel nicht nötig. Eine weitere und nicht zu unterschätzende Komponente des digitalen Zwillings sind die virtuellen Sensoren. Ein virtueller Sensor ermöglicht es, Daten zu erfassen, die ein realer Sensor in einem Modell nur kostenintensiv oder gar nicht bekommen würde. Schon allein diese Komponente erzeugt eine beobachtbare Effizienzsteigerung. Dies wird ermöglicht durch die modellhafte Abbildung des digitalen Zwillings und dessen Umgebung. Durch z.B. das oben genannte 3D-Punktwolkenmodell kann der virtuelle Sensor mit realen Informationen aus seiner Umwelt versorgt werden. Ein reales Beispiel ist der digitale Zwilling einer Schmierstoffpumpe einer CNC-Fräse. Wenn Informationen von Flüssigkeitsdichte und Geschwindigkeit gegeben sind, lassen sich die Reaktionen innerhalb der Pumpe simulieren und geben den Systemzustand sowie das Verhalten der Pumpe an einer bestimmten Position wieder. Dadurch lassen sich eine Darstellung und eine Analyse an einem bestimmten Punkt wiedergeben, was mit realen Sensoren nicht möglich wäre. Somit kann der digitale Zwilling eine verbesserte Kontrolle des Pumpenverhaltens der realen Pumpe ermöglichen und z.B. die richtige Schmierstoffmenge zu der gewünschten Bearbeitungsmethode fördern, damit das zu bearbeitende Werkstück optimal gekühlt wird, ohne unnötige Ressourcen zu verschwenden (ähnlich verhält es sich z.B. bei dem Mischen von flüssigen oder halbflüssigen Medien unter Berücksichtigung der Menge bzw. des Gewichtes).22 Kurz gesagt, ein digitaler Zwilling besteht aus Daten und Algorithmen, die wiederum durch Sensoren aus der realen Welt gefüttert werden. Durch die Vernetzung des physischen Objekts mit dem digital erzeugten Objekt können beide gleichförmig weiterentwickelt werden. All das basiert auf dem Grundgedanken des Internet of Things, Big Data und maschinellem Lernen. Der weitere Einsatz einer künstlichen Intelligenz (KI) hilft, um z.B. Datenmengen zu sortieren und diese miteinander in Verbindung 21 (Prof. Dr.-Ing. Denkena, Storawa, Sommer, Dr. Stjepandic, & von Soden, 2020) 22 (Klostermeier, Haag, & Benlian, 2018) 8
zu stellen und gegebenenfalls auszuwerten (siehe unten, Abb. 2).23 Abbildung 2: Strukturelle Voraussetzungen eines digitalen Zwillings24 Im Anlagenbau oder speziell bei komplexen Produktionsanlagen gibt es die Möglichkeit, digitale Zwillinge als modulare Konzepte zu verwenden. Hierbei besteht ein digitaler Zwilling aus mehreren einzelnen digitalen Zwillingen. Im Fall einer Produktionsanlage und deren Planung können drei grundlegende Zwillinge unterteilen werden: • Digitaler Produktzwilling (als CAD- oder 3D-Modell) • Digitaler Produktionszwilling (Maschine, Werkzeug und Programme) • Digitaler Leistungs- oder Ausführungszwilling (Produktions- bzw. Qualitätskennzahlen, Lieferzeiten und Produktionszeiten) Nicht in jedem Fall macht es Sinn, mehrere digitale Zwillinge speziell in KMU einzuführen, da vor allem berücksichtigt werden muss, dass bei komplexen Modellen einzelner digitaler Zwillinge auch große Datenmengen benötigt werden. Dementsprechend müssen Datenbanken (aus dem Big-Data-Umfeld) zum Einsatz kommen, welche wiederum mit zusätzlichen Serviceleistungen verbunden sind. In KMU kann es durchaus hilfreich sein, wenn „nur“ einzelne Anlagenbereiche oder -teile mit einem digitalen Zwilling digital geschaffen werden.25 23 (Heil, 2019) 24 (Klostermeier, Haag, & Benlian, 2018) 25 (Dipl.-Ing. (FH) Luber & Litzel, 2018) 9
Die Ausgabe der Informationen eines digitalen Zwillings kann im klassischen Sinn geschehen durch die Wiedergabe einfacher Listen oder die selektive Darstellung von Kennzahlen durch ein Cockpit. Bei Anlagen mit externen Schnittstellen kann auch der Einsatz von Panels bzw. Tablets hilfreich sein, um bildhafte Darstellungen für externes oder internes Wartungspersonal zu generieren und so den notwendigen Zeitaufwand zu reduzieren. Ferner kann das externe Wartungspersonal die benötigten Informationen im Vorfeld abrufen oder sich zusenden lassen, wodurch unnötige Verzögerungen z.B. durch Ersatzteilbeschaffung minimiert werden. Eine weitere Möglichkeit der Visualisierung des digitalen Zwillings kann mit Hilfe einer Augmented Reality Umgebung erfolgen. Durch den Einsatz spezieller 3D-Brillen oder ganzer 3D-Räume/Umgebung wird die Anlage, ein Anlagenteil oder verschiedene Maschinenkomponenten detailliert visualisiert und somit ein Einblick unabhängig vom eigenen Standpunkt gewonnen.26 Die Hauptaufgabe eines digitalen Zwillings ist es, ein „[…] realitätsnahes Modell zum Anfassen [zu erzeugen und …] simuliert nicht nur das geometrisch korrekte Aussehen, sondern auch das tatsächliche Verhalten aller vorhandenen Anlagen.“27 Als Ziel soll die Realität mit der Virtualität der Anlage oder Maschine verschmelzen und dadurch Transparenz innerhalb komplexer Vorgänge geschaffen werden. Darüber hinaus ist der digitale Zwilling einer der wichtigsten Werkzeuge, um cyberphysische Systeme kurz CPS in der Entwicklung zu forcieren.28 Ein cyberphysisches System ist ein Verbund aus informatischen und softwaretechnischen Komponenten unter Verwendung von mechanischen sowie elektronischen Teilen. Durch die Vernetzung der Teile sind sie imstande, eigenständige Entscheidungen zu treffen und sich gegenseitig Anweisungen zu geben. Die Basis der Entscheidungen sind Informationen, die letztendlich von digitalen Zwillingen getroffen werden. Das ist auch der große Nutzen für Prozesssteuerungs- und Automationssysteme, da es nicht nur möglich ist, einzelne Bestandsteile abzubilden, sondern auch ganze Produktionslinien.29 Dies ermöglicht, dass digitale Zwillinge bereits weit vor dem ersten Produktionsschritt eingesetzt werden können, um zu prüfen, ob die geplante Anlage ein z.B. neu geplantes Produkt fahren kann oder auch, ob veränderte Anlagen bzw. 26 (Virtual Reality Magazin, 2020) 27 (Prof. Dr.-Ing. Stark, 2017) 28 (Prof. Dr.-Ing. Stark, 2017) 29 (Produktion, 2012) 10
Fertigungsstellen z.B. durch Modernisierung einer Fräsmaschine oder der Schweißanlage virtuell in Betrieb genommen werden können. Hierbei sollten Ausfallzeiten und Rekonfigurationen möglichst gering gehalten werden. Die Vernetzung der gesamten Anlage mit den einzelnen Komponenten ermöglicht nicht nur, dass die gesamte Prozesskette abgebildet und somit unterstützt wird, sondern auch die Einhaltung der Qualitätsparameter oder die Planung und Einhaltung von Fertigungssequenzen.30 2.3 Voraussetzungen für die Integration eines DZ Um das volle Potenzial eines digitalen Zwillings zu nutzen, gibt es einige Voraussetzungen bei der Integration des Zwillings in der Produktion. Die Basis für die Implementierung eines digitalen Zwillings sind IoT-Plattformen, die sicherstellen, dass die Echtzeitdaten den virtuellen Wegbegleiter zum Leben erwecken. Die IoT-Plattform, die oft auch von Serviceanbietern als Cloudservice angeboten wird, ist die Basis, auf der der digitale Zwilling entworfen, entwickelt, getestet, eingesetzt und verwaltet wird. Es ist zu beachten, dass alle Veränderungen, welche am realen Produkt oder System stattfinden, sich wieder im digitalen Abbild spiegeln, damit beide Varianten gleichartig sind.31 Um ein Informationsmodell zu erstellen, welches für ein digitales Abbild notwendig ist, werden alle bekannten Informationen über den gesamten Lebenszyklus benötigt. Damit dies gewährleistet wird, gibt es die Möglichkeit, den digitalen Zwilling in die gewünschte Anlage oder Maschine zu integrieren und dadurch die benötigten Informationen zu erhalten. Ein weiterer Pluspunkt für die Erstellung eines Informationsmodells ist, dass das Grundgerüst des Planungsmodells schon vorgegeben ist, welches für die Betriebsanlage bzw. Maschine erstellt wird. Das Planungsmodell dient als eine Art Blaupause der realen Anlage und verschwindet nicht nach Einrichtung des digitalen Zwillings in der „Schublade“, sondern dient als Grundlage für alle weiteren Anpassungen. Alle Informationen, die aus einem Planungsmodell gewonnen werden, werden auch „Asset“ genannt. Assets können aber auch z.B. herzustellende Produkte, Werkstücke oder Geräte sein. Der digitale Zwilling kumuliert die in der physischen Umgebung erzeugten Daten und ermöglicht so das Experimentieren mit diesen. Dadurch 30 (Prof. Dr.-Ing. Stark, 2017) 31 (Heil, 2019) 11
werden Einblicke möglich, die als verbesserte Konfiguration der realen Maschine oder Anlage zurückgespiegelt werden können. Somit spielt die Pflege von Assets, z.B. das physikalische Asset des Anlageninformationsmodells, eine wichtige Rolle. Denn dadurch ist es möglich, dauerhaft Anlagen oder Maschinen zu optimieren und Daten aufeinander abzustimmen.32 2.4 Problemstellungen in Bezug auf DZ Nur die reine Einführung eines digitalen Zwillings-Konzepts reicht nicht aus. Um das volle Potenzial zu nutzen, wird eine zu jedem Aufgabengebiet passende IT-Infrastruktur benötigt. So macht es bei manchen Anlagen Sinn, dass der digitale Zwilling komplett in einer Cloud gespeichert wird, aber nur dann, wenn Daten nicht häufig aktualisiert werden müssen. Werden regelmäßig mehrere Datenpakete von verschiedenen Anlagenteilen in einer Cloud gespeichert, um diese innerhalb kurzer Zeit wieder für andere Anwendungen zur Verfügung zu stellen, wird dies, auch abhängig von der Datengröße, zu einem enormen Datenverkehr führen. Dieser Aufwand kann leicht zur Überlastung der Kommunikationsinfrastruktur der Anlage führen und im schlimmsten Fall einen Ausfall erzeugen. Im umgekehrten Beispiel reicht es, wenn ein Datenabgleich von statischen oder weniger akuten Anforderungen in größeren regelmäßigen Abständen in einer Cloud gespeichert und dann bei Bedarf abgerufen werden kann. So muss z.B. die Füllstandshöhe von Ausgleichs- bzw. Vorratsbehältern von Gleitringdichtungen nicht sekündlich mit dem Server vor Ort erfasst werden, sondern bei laufendem Prozess in etwa fünfminütigen Abständen. Die dritte Möglichkeit ist ein hybrides Szenario zwischen Cloud und Serverspeicherung, wobei in diesem Fall der Ansatz von verteilten digitalen Zwillingen und der passenden Infrastruktur vorhanden sein muss. Eine weitere Problemstellung in Bezug auf digitale Zwillinge ist die nicht einheitliche Definition des Anlagenlebenszyklus. Es werden dabei unterschiedliche und auch unabhängige Anlagenzyklen unterschieden. So gibt es den Prozess-Lebenszyklus, den Anlagenstruktur-Lebenszyklus und zum Schluss den Asset-Lebenszyklus der Anlage bzw. der 32 (Schnicke & Dr. Kuhn, 2020) 12
Maschine/n. In einer Anlage kann der ausgeführte Prozess geändert werden, ohne dabei die Anlagenstruktur zu verändern. Wie vorangehend erwähnt, sind die Zyklen der Anlage bzw. Maschinenparts unabhängig voneinander. So verhält es sich auch mit den Assets der einzelnen Anlagen oder Maschinen. Ein Asset richtet sich danach, wie gut es der Anforderung der Anlagen- bzw. Maschinenstruktur gerecht wird. Wird zum Beispiel eine Komponente einer Maschine oder einer Anlage ausgetauscht, so besitzt diese neue Komponente ihr eigenes Asset sowie ihren eigenen Lebenszyklus (z.B. von Haltbarkeit des Ersatzteils bis hin zur Leistungskurve usw.) und wird aufgrund dieses passenden Assets als geeignete Komponente in der Anlage/Maschine ausgewählt. Eine Veränderung der Struktur von Anlage bzw. Maschine wird nicht gewünscht. Oft wird nicht richtig wahrgenommen, dass bei der erstmaligen Planung einer Anlage oder bei Abläufen von Vorgängen eine Methode oder Modell als Referenz zur Anwendung kam. Ein oder mehrere digitale Zwillinge müssen bestmöglich zu diesem Modell passen. Einen digitalen Zwilling als Gesamtmodell in das vorhandene Modell bzw. in eine vorhandene Struktur zu integrieren, ist in den meisten Fällen sehr aufwendig und führt selten zum gewünschten Ergebnis bei den vorhandenen Teilmodellen. Hier kann der Ansatz von Objektverknüpfungen auf Datenebene oder Dienstsysteme hilfreich sein, wie es manche Start-Ups oder andere Firmen anbieten (siehe Kap. 5.5, S. 32). Um den digitalen Zwilling überhaupt anwenden zu können, werden selbstverständlich auch Werkzeuge benötigt, welche die passenden Schnittstellen besitzen, um die vorliegenden Informationen weiterzugeben. Das ist zu beachten, wenn z.B. Mikrofräswerkzeuge von unterschiedlichen Herstellern vorhanden sind. So sollen diese die passenden Schnittstellen zur eigenen Maschine haben, ansonsten müssten zusätzliche Implementierungen erarbeitet oder zugelegt werden, die den Informationsfluss unterstützen. Dieser zusätzliche Schritt ist mit Extrakosten verbunden, die meist durch den Kauf von passenden Werkzeugen reduziert werden können. Ein nicht zu unterschätzendes Thema ist die Sicherheit bei dem Einsatz von digitalen Zwillingen bzw. allgemein von Themen, welche sich rund um digital vernetzte Anlagen und Maschinen in Unternehmen handeln. Im Dezember 2020 hat das US-Sicherheits- unternehmen „Forescout“ einen Bericht veröffentlicht, in dem es eine Reihe von gravierenden Sicherheitslücken bei vernetzten Steueranlagen, Medizingeräten und anderen 13
vernetzten Geräten entdeckte. Weiter heißt es: „Von den Schwachstellen, die unter dem Namen „Amnesia:33“ zusammengefasst werden, seien Organisationen und Unternehmen auf der ganzen Welt betroffen […].“33 Ein Hauptgrund der Sicherheitslücken ist ein fehlerhaft umgesetztes technisches Internet-Protokoll TCP/IP, welches die Übertragung und den Austausch von Datenpaketen regelt.34 Dabei sind ca. 150 Anbieter weltweit betroffen und rund 14 Anbieter in Deutschland. In der Forschungsarbeit stellte die Firma Forescout 33 neue Schwachstellen fest, davon seien vier als kritisch zu sehen. Das Fatale an den Sicherheitslücken ist, dass Unbefugte sich Zugriff auf firmeninterne Daten erschleichen oder schlimmer noch, das vorhandene System verwenden können, um Anlagen zu überlasten oder Kontrolle über einzelne Maschinen zu übernehmen. Laut dem Bundesamt für Sicherheit (BSI) konnten alle Unternehmen, welche sich auf diese Hinweise rückmeldeten, die Schwachstellen beheben.35 Hierbei ist auch zu beachten, dass es nicht immer möglich ist, Sicherheitsupdates sofort anzuwenden, da diese in einer laufenden Fertigung zu ungewollten Problemen oder Veränderungen führen können. Im Ganzen betrachtet ist das Aufkommen und das Beseitigen von Fehlern ein kontinuierlicher und sich durch Anwendung stetig verbessernder Prozess. Das gilt auch bei der Integration von digital vernetzten Maschinen und Anlagen. Letztendlich nützen die daraus resultierenden Vorteile mehr, als dass sie schaden. Ein weiteres Problem ist, dass ein digitaler Zwilling allein als Geschäftsmodell keinen Mehrwert liefert bzw. nicht zur Wertschöpfung beiträgt. Nur wenn der digitale Zwilling in ein vorhandenes System implementiert wird, trägt er durch die Analyse und Selektion der notwendigen Daten sowie der Simulation einen Mehrwert im Unternehmen bei. Der Mehrwert des digitalen Zwillings ist aber immer vom Prozess bzw. vom Produkt abhängig. Dadurch kann keine einheitliche Definition des sogenannten digitalen Mehrwertes bestimmt werden.36 2.5 Herausforderung Gesamtsystem Ein nicht zu unterschätzender Aufwand ist zum Ersten die Integration mehrerer digitaler Zwillinge in einem System und zum Zweiten die Vereinheitlichung passender Schnittstellen. 33 (Dernbach, 2020) 34 (Elektronik-Kompendium, 2020) 35 (Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, 2020) 36 (Klostermeier, Haag, & Benlian, 2018) 14
Die fertigende Industrie wird durch Anwendung und Anpassung der vorliegenden Prozesse die Implementierung und Entwicklung übergreifender Schnittstellen fordern und mit Austausch aufkommender Start-Ups geeignete Lösungen finden. Mögliche Unternehmen sowie Dienstleister im Bereich digitaler Zwillinge folgen im Kap. 5.5, S. 32. Damit verschiedene digitale Zwillinge, auch evtl. von verschiedenen Anbietern, miteinander kooperieren können, wurde das „Functional Mock-Up Interface“ (FMI) aufgebaut. Durch FMI ist es möglich, dass Co-Simulationen von Modellen und der Austausch von Modellen in verschiedenen Entwicklungs- sowie Planungsszenarien stattfinden. Das FMI ist als unabhängiger Industriestandard entwickelt worden, wodurch verschiedene Simulationssoftware miteinander gekoppelt werden kann, die auch als Functional Mock-Up Units (FMUs) bezeichnet werden. Als nahtloser Funktionsbaustein kann das FMI bei der Integration und der Umsetzung von mehreren digitalen Zwillingen zu einer Einheit dienen. Des Weiteren werden Verhaltensmodelle, welche zur Steuerung und Regelung verwendet werden, von FMI unterstützt. So besteht z.B. die Möglichkeit, mit der Integration von Simulink und auch Stateflow die Mehrkörpersimulation darzustellen. Die meisten FMI werden als „Plug and Model“ Modell angeboten und unterstützen dabei Bereiche, wie z.B. die virtuelle Inbetriebnahme, Maschinenauslegung, Entwicklung komplexer Softwarestrukturen, Emulation kritischer Anlagenteile (Hardware in the loop) oder auch statistische Datenauswertung usw.37 Weiterhin ist zu beachten, dass der Datenaustausch von dem technisch Integrierten Modell auch zu dem integrierten digitalen Zwilling passt. FMI Standards gewährleisten zwar eine werkzeugunabhängige und durchgängige Simulation, doch kann eine solche Umsetzung durch den fehlenden Datenaustausch der einzelnen Simulationen scheitern. Bei digitalen Zwillingen ist die oberste Priorität, dass erstens alle notwendigen Daten vorhanden sind und zweitens diese von allen vorhandenen Zwillingen/Modellen gleich interpretiert werden. Dies ist nur möglich, wenn alle Daten einheitlich definiert werden. Um dies sicherzustellen, wird ein semantisches Verständnis der vorhandenen Daten benötigt. Einen möglichen Lösungsansatz bieten die Ontologien. Unter Ontologie ist der Versuch zu verstehen, Daten für Maschinen „lesbar“ zu machen, damit Maschinen mithilfe bestimmter Datenbanken, z.B. aus deren bestehenden Wissensbeständen Informationen extrahieren oder dadurch neue 37 (B&R, 2020) 15
Instanzen von Informationen generieren. Zwei der geläufigsten Varianten sind eCl@ss und das IEC Common Data Dictionary (IEC CDD). Beide stellen den fehlerfreien Austausch von Daten zwischen verschiedenen Herstellersystemen sicher. Die Ontologie spielt soweit eine wichtige Rolle, da sie die bereitgestellten Daten des digitalen Zwillings vergleicht und diese auf Elemente der Ontologie festsetzt (siehe unten, Abb. 3). Dabei wird ermöglicht, dass einzelne Elemente miteinander verglichen und auch weitere Eigenschaften der Elemente festgehalten werden können. Nur durch den Abgleich der Elemente mit verschiedenen Ontologien können Ähnlichkeiten der Elemente festgestellt werden, da es bis jetzt keine Ontologie gibt, die alle Eigenschaften von vorgegebenen Elementen beschreibt.38 Abbildung 3: Ontologie zur Definition von Eigenschaften39 38 (Dr. Kuhn, Digitaler Zwilling, 2017) 39 (Dr. Kuhn, Digitaler Zwilling, 2017) 16
3. Anwendungsszenarien 3.1 Einsatzzweck von DZ Wie zum Teil in dem vorangegangenen 2. Kapitel „Theoretische Grundlagen“ beschrieben wurde, bietet der digitale Zwilling vielfältige Einsatzzwecke in den Bereichen der Produktionsplanung, Anlagenentwicklung mit der verbundenen Steuerung sowie Produktentwicklung, Logistikplanung und der Qualitätssicherung bis hin zur digitalen Absicherung von Produkten und Anlagen. Der Grundansatz eines jeden digitalen Zwillings verfolgt dabei immer zwei Punkte, erstens die Unterstützung der Entwicklung oder der Planung und zweitens die Wiedergabe eines oder mehrerer Prozesse durch eine Simulation. Mit der ständigen Weiterentwicklung und den technischen Möglichkeiten wurde der digitale Zwilling immer leistungsstärker. Eine weitere Errungenschaft bei der Anwendung von digitalen Zwillingen ist der Einsatz im Bereich des Product Lifecycle Management kurz PLM. Kurz gesagt, beschäftigt sich das PLM mit der durchgehenden Analyse, Optimierung sowie der ständigen Kontrolle der Produktlebenszyklen. Der digitale Zwilling ist bestens geeignet, diese virtuell abzubilden und kann somit eine Hilfestellung für KMU sein bei der neuen oder weiterführenden Planung in den Bereichen der Produktion, Produktdesign bis hin zu Serviceleistungen von Produkten oder Maschinen. 3.2 Umsetzungsbeispiele Im Folgenden sollen Einsatzmöglichkeiten von digitalen Zwillingen exemplarisch aufgeführt werden. 3.2.1 Anwendung im Engineeringprozess Mithilfe des digitalen Zwillings einer geplanten Maschine oder Fertigungsanlage können im Vorfeld durch Bereitstellung bzw. Vergleich von produktspezifischen Daten die Ablaufsequenzen der einzelnen Fertigungsschritte simuliert und auch gleich optimiert werden. Somit ist es möglich, auf die Erstellung der ersten Prototypen (von Maschinen oder Maschinenteile) zu verzichten. Dies bringt nicht nur Einsparungen von Ressourcen, sondern auch Zeitersparnisse, da einzelne Schritte der realen Optimierung wegfallen (z.B. Zwischenprobeläufe nach Anpassungen usw.). Durch die im Vorfeld erfolgten 17
Anpassungen und Optimierungen können auch neue Erkenntnisse abgeleitet werden, die möglicherweise schon bei vorherigen Prozessschritten (z.B. in der Konstruktion) berücksichtigt werden können. Ein mögliches Ziel eines KMU kann sein, dass die reale Prototypenentwicklung komplett vermieden wird und nur noch im digitalen Rahmen stattfindet.40 3.2.2 Maschinenabnahme vor der Fertigstellung Eine gängige Praxis für Werkzeugmaschinenhersteller ist es, dass Werkzeugmaschinen, zumindest Teile davon, individuell für den Betreiber entwickelt werden. Um die Maschine für die gewünschten Anwendungsprozesse optimal auszulegen, sind einige Gespräche und Anpassungen mit dem zukünftigen Betreiber unumgänglich. Damit der Maschinenhersteller seine möglichen Umsetzungen nach den Wünschen des Auftraggebers im Vorfeld zeigen und zugleich darstellen kann, hilft auch ihm der Einsatz eines digitalen Zwillings. Durch den Zwilling ist es möglich, die virtuell konstruierte Maschine im Vorfeld z.B. in den Ablaufprozessen des Kunden zu integrieren und abzunehmen. So wird ersichtlich, ob die gewählten Ansätze der Umsetzung den Anforderungen des Kunden gerecht werden. Der Hersteller kann mithilfe der visuellen Präsentation seiner simulierten Umgebung zugleich sein Pflichtenheft mit dem Kunden durchgehen und anstehende Fragen diesbezüglich klären. Das alles führt erstens zu einer wesentlich transparenteren Absprache und zweitens ist das finanzielle Risiko des Maschinenherstellers für eine Fehlentwicklung auf ein Minimum beschränkt. Ein weiterer Pluspunkt liegt in der Terminierung der Erstellung und Übergabe des Auftrags, da dieser durch die Verfolgung der einzelnen Prozessschritte wesentlich genauer geplant und bestimmt werden kann. Es wird angenommen, dass eine Zeitersparnis von bis zu 25% für die Inbetriebnahme gesamter Anlagen erreicht werden kann. Dies alles ermöglicht dem Anbieter, sich weiter von der Konkurrenz abzuheben und beschert dessen Kunden einen möglichen weiteren Unique Selling Point (USP).41 40 (Siemens, 2019) 41 (MDF & Co Magazin, 2020) 18
3.2.3 Neukonfiguration während des Maschineneinsatzes Um den Einsatz von einer Maschine in der Fertigung anzupassen, muss diese gestoppt werden, um sie neu zu programmieren. Die Anpassung bzw. die Programmierung der Maschine durch den zuständigen Mitarbeiter kann dabei einige Stunden dauern. Durch die Einführung eines virtuellen Abbilds wird diese Unproduktivität umgangen. Der digitale Zwilling bildet den Arbeitsprozess der Maschine digital ab und ermöglicht es somit, Anpassungen im virtuellen Rahmen durchzuführen und zu simulieren. Somit verrichtet die Maschine ihre Arbeit und wird gleichzeitig durch den Maschinenbediener angepasst. Durch die „virtuelle Maschine“ werden auch mögliche Grenzen bei der Fertigung sofort ersichtlich. Die Anwendung des digitalen Zwillings kann eine Produktivitätssteigerung im laufenden Betrieb von bis zu 10% und eine Zeitersparnis beim Aufstellen bzw. beim Einrichten der realen Maschine von bis zu 80% ermöglichen.42 43 42 (Siemens, 2019) 43 (Obermaier, 2019) 19
4. Methoden 4.1 Erweiterte SWOT-Analyse Die erweiterte SWOT-Analyse wurde in dieser Arbeit angewendet, um dem Leser mit einem Blick das Gesamtbild des momentanen Ist-Zustandes im Bereich des digitalen Zwillings zu vermitteln. Im Fokus steht die Anwendung in Produktionsprozessen, wie z.B. Planung, Steuerung und Handhabung von Unerwartetem in KMU. Es werden Stärken, Schwächen sowie Chancen und Bedrohungen unter Berücksichtigung verschiedener Rahmenbedingungen aufgezeigt. Dadurch können anwendungsspezifische Maßnahmen, auch unabhängig von den hier aufgezeigten Ergebnissen, abgeleitet werden. 4.2 Literaturrecherche Da das Thema digitaler Zwilling in der Großindustrie vor allem in Verbindung mit IoT und Industrie 4.0 in den letzten Jahren immer mehr als Grundlage von Diskussionen und Fachartikeln war, führten einige Marktforschungsunternehmen diesbezüglich Studien und Umfragen durch. Das war auch der Anlass für diese Arbeit, sich auf die Auswertung und genauere Recherche in Bezug des digitalen Zwillings für KMU hauptsächlich in den Bereichen Maschinen- und Anlagenbau zu beziehen, sich damit auseinanderzusetzen und zu hinterfragen. Bei der Recherche und Auswertung wurden hauptsächlich Studien, Berichte, Fachartikel und Zeitungsartikel aus diversen Datenbanken (z.B. Wiso oder Key Technologies in Bavaria usw.) oder Druckmedien verwendet. Durch die Auswertung der vorhandenen Medien war es möglich, eine bessere Einschätzung des Nutzungspotenzials sowie die Verfügbarkeit von digitalen Zwillingen hinsichtlich KMU abzuleiten. Des Weiteren kann dadurch der digitale Zwilling als eventueller neuer Technologietrend für den Einsatz im Maschinen- bzw. Anlagenbau besser eingeordnet und Chancen wie Risiken dargelegt werden. Letztendlich wird durch das Herausarbeiten von etablierten und auch neuen Anbietern von digitalen Zwillingen, je nach Anwendungsgebiet und -verfahren, dem Leser eine Strategie für den Umgang sowie Empfehlungen in Bezug auf digitale Zwillinge und deren Anwendung gegeben. 20
5. Auswertung und Ergebnisse 5.1 Erweiterte SWOT-Analyse Abbildung 4: Einflussfaktoren und Abhängigkeiten des digitalen Zwillings für KMU (in Anlehnung des Trendmikrokosmos der DB Systel GmbH)44 44 (DB Systel GmbH, 2020) 21
Die direkte Beziehung des realen Objekts und des digitalen Zwillings bezüglich auf den Lebenszyklus ermöglicht die durchgehende Steuerung und Optimierung von komplexen Anlagen, Maschinen sowie Systemen bis hin zu Unternehmensprozessen. Der digitale Zwilling könnte sich in den nächsten Jahren in einigen Industrien zu einem kritischen Erfolgsfaktor (z.B. in der Wartung und Instandhaltung) entwickeln. Die Möglichkeit der Echtzeitüberwachung und das dadurch verbundene zeitige Erkennen von Problemen oder Störungen bestimmter Komponenten bietet eine nicht zu unterschätzende Zeit- und Kostenersparnis. Eines der wichtigsten Ziele der KMU ist es, deren Leistungsfähigkeit und die damit verbundene Kapitaleffizienz zu steigern. Eine Analyse von Gartner geht davon aus, dass bereits bis zum Ende des Jahres 2021 die Hälfte der großen Industrien digitale Zwillinge im Einsatz haben werden und dadurch eine Effizienzsteigerung von 10% erreicht werden wird.45 Mit der Simulation von physischen Objekten durch exakte Echtzeitdatenmodellierung wird gewährleistet, dass z.B. keine kritischen Ressourcen benötigt werden. Außerdem können in einem laufenden Prozess Veränderungen von relevanten Parametern angepasst bzw. deren Auswirkungen zeitnah als Ergebnisse dargestellt werden. Probeläufe und Versuche sind durch die reine Simulation in Verbindung mit den Umgebungsdaten bzw. Echtzeitdaten wesentlich einfacher durchzuführen. Dies gilt besonders für den Zeitaufwand und die damit verbundenen Kosten von Personal und Maschinenanpassung. Auch kleine Unternehmen, die ihr Changemanagement outgesourct haben, können von der Einführung eines digitalen Zwillings profitieren. Der digitale Zwilling unterstützt und optimiert bezüglich der Planung nicht nur die Ressourcennutzung, sondern auch die Steuerung und Planung von Lieferketten sowie der Durchlaufzeiten. Dadurch können die verschiedenen Prozesse so materialschonend und störungsfrei wie möglich gestaltet werden. Ein weiteres Effizienzpotential hat der digitale Zwilling in der Kombination mit künstlicher Intelligenz und Human Machine Interfaces. So besteht die Möglichkeit einer erhöhten Nutzereffizienz von bis zu fünf Prozent in einem Zeitraum von 10 bis 15 Jahren. Dies wird abgeleitet durch die damit erreichte intelligentere und leichtere Entscheidungsunterstützung und die Reduzierung von Fehlentscheidungen z.B. durch digitale Assistenten. Der digitale Assistent könnte in Verbindung mit dem digitalen Zwilling z.B. die simulierte Darstellung einer Werkstattfertigung mit den einzelnen benötigten Arbeitsschritten ermöglichen. 45 (Kerremans, Burke, Cearley, & Velosa, 2019) 22
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