Kartellrechtliche Entwicklungen in Europa und Deutschland - Competition Outlook 2023
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Kartellrechtliche Entwicklungen in Europa und Deutschland Competition Outlook 2023
NOERR_COMPETITION OUTLOOK 2023 COMPETITION OUTLOOK 2023_NOERR Vorwort In diesem Competition Outlook fasst die Noerr Antitrust & Competition Group für Sie anhand der prägends- ten Themenbereiche die wichtigsten kartellrechtlichen Entwicklungen in Europa und Deutschland aus 2022 zu- sammen und gibt einen Ausblick darauf, welche Entwicklungen auf diesen Gebieten für 2023 zu erwarten sind. Digitalthemen prägten dabei auch im Jahr 2022 in Deutschland und Europa die kartellrechtliche Ent- wicklung. In Deutschland schreitet die Anwendung des mit der 10. GWB-Novelle eingeführten § 19a GWB durch das Bundeskartellamt voran und wird auch das kommende Jahr entscheidend beeinflussen. Neu hin- zugekommen auf europäischer Ebene ist der im letzten Jahr verabschiedete Digital Markets Act („DMA“), der der Europäischen Kommission weitgehende Befugnisse bei der Überwachung sog. Torwächter gibt. Das neue Jahr wird insoweit Aufklärung über erste Anwendungsfelder des DMA sowie sein Zusammenspiel mit dem § 19a GWB bringen. Daneben war die kartellrechtliche Entwicklung des letzten Jahres entscheidend beeinflusst durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und seine Folgen. So traf das Bundeskartellamt Entscheidungen zu Krisenkooperationen aufgrund möglicher Gasengpässe. Steigende Energie- und Kraftstoffpreise waren auch einer der Anlässe für den deutschen Gesetzgeber, eine weitere Änderung des nationalen Kartellrechts vorzubereiten. Die 11. GWB-Novelle normiert in ihrem aktuellen Entwurf neue weitgehende Eingriffsbefugnis- se für das Bundeskartellamt in oligopolistischen Märkten jenseits der bekannten Fusions- und Missbrauchs- kontrolle. Das weitere Schicksal dieser angedachten Befugnisse im Gesetzgebungsverfahren wird in 2023 mit Spannung zu erwarten sein. Auch das europäische Beihilfenrecht hat im vergangenen Jahr auf die Folgen des Ukrainekrieges und die damit verbundenen negativen Effekte für die Wirtschaften der Mitgliedstaaten reagieren müssen. Mit dem be- fristeten Krisenrahmen wurde hierfür ein regulatorisches Instrument geschaffen, das zunächst bis 31.12.2023 gilt. Daneben findet ab Juli 2023 die neue EU-Verordnung über drittstaatliche Subventionen Anwendung, die zusätzlich zur klassischen Fusions- und Investitionsschutzkontrolle eine weitere regulatorische Schranke bil- det, die Unternehmen im Rahmen von Transaktionen beachten müssen. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie, die die letzten Jahre auch das Kartellrecht maßgeblich beein- flusste, scheinen dagegen abzuebben. Insbesondere haben die Kartellbehörden im Jahr 2022 wieder Durch- suchungen (sog. Dawn Raids) bei Unternehmen durchgeführt, um Kartellrechtsverstöße zu ermitteln. Auch für das neue Jahr ist damit zu rechnen, dass sich dieser Trend fortsetzen wird. Diese und viele weitere Themen – darunter die neusten Entwicklungen in den Bereichen Vertriebskartell-, Kartellschadensersatz- und Investitionskontrollrecht – behandelt der Competition Outlook. 2 3
NOERR_COMPETITION OUTLOOK 2023 COMPETITION OUTLOOK 2023_NOERR Inhalt Vorwort........................................................................................................................................................................................... 3 Inhalt............................................................................................................................................................................................... 5 Ihre Ansprechpartner.................................................................................................................................................................. 6 1. EU FUSIONSKONTROLLE................................................................................................................................................. 8 Eine neue (Un-)Ordnung in der Europäischen Fusionskontrolle. . ............................................................................ 9 2. DEUTSCHE FUSIONSKONTROLLE. . ............................................................................................................................... 11 Weitere Verschärfung der deutschen Fusionskontrolle........................................................................................... 12 3. KARTELLBEHÖRDLICHE VERFAHREN - EU. . .............................................................................................................. 13 Entwicklungen hinsichtlich Kartellverfahren der Europäischen Kommission.................................................... 14 4. KARTELLVERFAHREN - DEUTSCHLAND. . .................................................................................................................. 15 ESG- und Krisenthemen im Fokus des Bundeskartellamts.................................................................................... 16 5. KARTELLSCHADENSERSATZRECHT........................................................................................................................... 18 Höchstrichterliche Entscheidungen treiben Entwicklung voran.. ........................................................................... 19 6. DIGITALKARTELLRECHT - EU....................................................................................................................................... 20 Der kartellrechtliche Umgang der EU mit Tech-Unternehmen............................................................................. 21 7. DIGITALKARTELLRECHT - DEUTSCHLAND. . ............................................................................................................. 22 Auf halber Strecke............................................................................................................................................................ 23 8. VERTRIEBSKARTELLRECHT......................................................................................................................................... 24 Entwicklungen im Vertriebskartellrecht..................................................................................................................... 25 9. FOREIGN DIRECT INVESTMENTS................................................................................................................................. 26 Prüfung ausländischer Direktinvestitionen................................................................................................................ 27 10. BEIHILFERECHT / FOREIGN SUBSIDIES..................................................................................................................... 28 Krise und Kontrolle drittstaatlicher Subventionen im Fokus des EU-Beihilfenrechts...................................... 29 4 5
NOERR_COMPETITION OUTLOOK 2023 COMPETITION OUTLOOK 2023_NOERR Kommen Sie bei Fragen gerne auf uns zu. Ihre Ansprechpartner Dr. Fabian Badtke, LL.M. Dr. Alexander Birnstiel, LL.M. Sarah Blazek, E.MA Rusandra Sandu Markus Brösamle Dr. Lucas Gasser Dr. Sascha M. Giller, Dr. Lorenz W. Jarass Partner Partner Partner Partner Senior Associate Senior Associate Maître en droit Senior Associate Senior Associate Frankfurt am Main München München Bukarest Berlin Berlin Frankfurt am Main T +49 69 971477124 T +49 89 28628241 T +49 89 28628513 T +40 21 3125888 T +49 30 20942067 T +49 30 20942067 Frankfurt am Main T +49 69 971477124 fabian.badtke@noerr.com alexander.birnstiel@noerr.com sarah.blazek@noerr.com rusandra.sandu@noerr.com markus.broesamle@noerr.com lucas.gasser@noerr.com T +49 69 971477124 lorenz.jarass@noerr.com sascha.giller@noerr.com Dr. Henner Schläfke Dr. Jens Peter Schmidt Iulian Sorescu, FCCA, CMC Peter Stauber, LL.M. Dr. Raphael Reims, LL.M. Immo Schuler, LL.M. Sebastian Wrobel, LL.M. Sven Betzendörfer Partner Partner Partner Partner Senior Associate Senior Associate Senior Associate Associate Berlin Brüssel Bukarest Berlin München München Berlin Brüssel T +49 30 20942079 T +32 2 2745570 T +40 213125888 T +49 30 20942175 T +49 89 28628513 T +49 89 28628354 T +49 30 20942151 T +32 2 27455 164 henner.schlaefke@noerr.com jens.schmidt@noerr.com iulian.sorescu@noerr.com peter.stauber@noerr.com raphael.reims@noerr.com immo.schuler@noerr.com sebastian.wrobel@noerr.com sven.betzendoerfer@noerr.com Dr. Till Steinvorth Dr. Kathrin Westermann Dr. Fabian Hübener, LL.M. Pascal Schumacher Emilia Etz, LL.B., Maitre en Droit Jan-Hendrik Fitzl Dr. Jochen Christoph Hegener, Johanna Krauskopf, LL.M. Partner Partner Associated Partner Associated Partner Associate Associate LL.M. Associate Associate Hamburg Berlin Brüssel Berlin Brüssel Hamburg Frankfurt am Main T +49 40 300397145 T +49 30 20942151 T +32 2 2745572 T +49 30 20942030 T +32 492 11 39 19 T +49 40 300397141 München T +49 69 971477273 till.steinvorth@noerr.com kathrin.westermann@noerr.com fabian.huebener@noerr.com pascal.schumacher@noerr.com emilia.etz@noerr.com jan-hendrik.fitzl@noerr.com T +49 89 28628513 johanna.krauskopf@noerr.com jochen.hegener@noerr.com Prof. Dr. Karsten Metzlaff Luiza Bedros Robert Pahlen Dr. Szilvia Andriska Miriam Swamy-von Zastrow Giovanna Ventura Of Counsel Counsel Counsel Senior Associate Associate Legal Advisor Hamburg T +49 40 3003970 karsten.metzlaff@noerr.com Bukarest +40 21 3125888 luiza-elena.bedros@noerr.com Berlin T +49 30 20942316 robert.pahlen@noerr.com Budapest T +36 1 2240900 szilvia.andriska@noerr.com 6 7 München T +49 89 28628313 miriam.swamy-vonzastrow Brüssel T +32 2 2745573 giovanna.ventura@noerr.com @noerr.com
NOERR_COMPETITION OUTLOOK 2023 COMPETITION OUTLOOK 2023_NOERR Eine neue (Un-)Ordnung in der Europäischen Fusionskontrolle Als Folge der im Jahre 2021 eingeleiteten Bewer- Das Gericht der Europäischen Union („EuG“) tung von Verfahrens- und Zuständigkeitsaspekten der bestätigte im Juli 2022 diese Vorgehensweise mit EU-Fusionskontrolle hat die Europäische Kommission Urteil vom 13.07.2022. Nach Auffassung des EuG zweierlei Arbeitsprodukte auf den Weg gebracht: ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift keine Beschränkung dahingehend, dass nur Mit- • den bereits 2021 in Kraft getretenen Leitfaden gliedstaaten ohne eigene Fusionskontrolle einen zu Art. 22 FKVO; Verweisungsantrag an die Europäische Kommission • den Entwurf der überarbeiteten Durchführungs- stellen könnten. verordnung zur FKVO und der Bekanntmachung zum vereinfachten Verfahren. Illumina hat prompt Rechtsmittel eingelegt. So wird die Problematik erst in einiger Zeit, mögli- cherweise aber bereits im Laufe des Jahres 2023, Art. 22 FKVO endgültig durch den Europäischen Gerichtshof ent- schieden werden. Das Jahr 2022 brachte Schwung in die Anwen- dung des Leitfadens zu Art. 22 FKVO. Bis dahin ergibt sich aus der Entscheidung des EuG jedoch eine neue (Un-)Ordnung für die Fusions- Nach dieser Vorschrift kann eine nationale kontrolle. Deshalb ist in der M&A-Praxis nunmehr Wettbewerbsbehörde unter gewissen Umständen (erst recht) bereits frühzeitig zu prüfen, ob das Ri- einen Zusammenschluss, bei dem weder die Auf- siko einer Verweisung an die Europäische Kommis- greifschwellen der europäischen Fusionskontrolle sion besteht. Gerade in sensitiven Wirtschaftssek- noch die Aufgreifschwellen nationaler Fusionskon- toren oder bei der Beteiligung nicht-europäischer trollregimes überschritten werden, zur fusionskon- Unternehmen kann dies der Fall sein. Dann gilt es, trollrechtlichen Prüfung an die Europäische Kom- beispielsweise durch eine frühzeitige Abstimmung mission verweisen. mit nationalen Wettbewerbsbehörden und der Euro- päischen Kommission, zu klären, ob die Transaktion Diese Verweisungsmöglichkeit nutzten zuletzt gefahrlos vollzogen werden kann. die Wettbewerbsbehörden mehrerer EFTA-Mit- gliedstaaten, um eine Prüfung der beabsichtigten Übernahme von Grail, Inc. durch llumina zu errei- chen. Die Europäische Kommission gab den Verwei- sungsanträgen statt und leitete ein Fusionskontroll- verfahren ein. 1. EU FUSIONSKONTROLLE 8 9
NOERR_COMPETITION OUTLOOK 2023 COMPETITION OUTLOOK 2023_NOERR Vereinfachung des Fusionskontroll- verfahrens Für 2023 beabsichtigt die Europäische Kommis- sion eine Vereinfachung des Fusionskontrollverfah- rens. Entsprechende Entwürfe wurden im Jahr 2022 veröffentlicht. Die Europäische Kommission betont, dass rund 93 % der Zusammenschlüsse als wettbewerbsrecht- lich unbedenklich eingestuft werden und ohne Aufla- gen freigegeben werden. Sie möchte somit ihre Res- sourcen auf die 7 % lenken, die aus ihrer Sicht Anlass zu Bedenken geben könnten. Die in den Entwürfen enthaltenen Änderungen beziehen sich auf die folgenden Schwerpunkte: • Erweiterung und Präzisierung der Kategorien von Zusammenschlüssen, die nach dem ver- einfachten Verfahren behandelt werden können und Straffung der Prüfung dieser Art von Zu- sammenschlüssen; • Straffung der Prüfung von allen anderen Zu- sammenschlüssen, insbesondere Überarbei- tung der Struktur und Informationsanforderun- gen der Form CO; • Einführung elektronischer Anmeldungen. Insgesamt können die Änderungen sowohl zu mehr Rechtssicherheit in einem früheren Stadium und für unbedenkliche Zusammenschlüssen sowie zu Kosteneinsparungen führen. Allerdings zeigt die Europäische Kommission ihre Bereitschaft bei Zu- sammenschlüssen, die aus ihrer Sicht Wettbewerbs- bedenken hervorrufen, voll einzusteigen und diese künftig mehr unter die Lupe zu nehmen. 2. DEUTSCHE FUSIONSKONTROLLE 10 11
NOERR_COMPETITION OUTLOOK 2023 COMPETITION OUTLOOK 2023_NOERR Weitere Verschärfung der deutschen Fusionskontrolle Im September 2022 hat das Bundesministerium rückwirkend für bereits abgeschlossene Sektor- für Wirtschaft und Klimaschutz den Referentenentwurf untersuchungen, sofern die Veröffentlichung des zur 11. GWB-Novelle („Wettbewerbsdurchsetzungs- Abschlussberichts nicht mehr als ein Jahr zurück- gesetz“) veröffentlicht („RefE“). Herzstück des RefE ist liegt. Für laufende Sektoruntersuchungen wie etwa die Beschleunigung und Optimierung der Sektorunter- im Entsorgungsbereich oder im Bereich der On- suchungen durch Abhilfemaßnahmen des Bundeskar- line-Werbung wären die betroffenen Unternehmen tellamts. Das Bundeskartellamt konnte bislang ledig- also selbst bei der Veröffentlichung des Abschluss- lich verstoßabhängig eingreifen und verfügte somit über berichts vor Verabschiedung des Wettbewerbsdurch- kein geeignetes präventives Werkzeug, um oligopolisti- setzungsgesetzes nicht vor Eingriffsmaßnahmen ge- schen Märkten vorzubeugen, die durch fusionskontroll- schützt. freie Unternehmenskäufe, Marktaustritte oder Wachs- tum entstanden sind. Sektoruntersuchungen konnten Schließlich soll der mit der 10. GWB-Novelle gera- zudem sehr lange dauern. Beide Schwachstellen sollen de erst eingefügte § 39a GWB verschärft und in § 32f nun durch § 32f RefE verbessert werden. RefE überführt worden. § 39a GWB ermöglicht es dem Bundeskartellamt schon derzeit, Unterneh- Diese Vorschrift räumt dem Bundeskartellamt men per Verfügung zu verpflichten, für drei Jahre erstmals Befugnisse im Rahmen einer Sektorunter- bestimmte noch unterhalb der Schwellenwerte des suchung ein. Danach kann es beispielsweise die Ge- § 35 GWB liegende Zusammenschlüsse anzumelden, währung des Zugangs zu Daten, die Belieferung an- wenn die betreffenden „Wirtschaftszweige“ zuvor Ge- derer Unternehmen, die Lieferbeziehungen zwischen genstand einer Sektoruntersuchung waren. Unternehmen auf den betroffenen Märkten oder die organisatorische Trennung von Unternehmens- oder Die aktuell in § 39a GWB geregelten Schwellen Geschäftsbereichen regeln. für den Erlass einer solchen Verpflichtung sollen dabei abgesenkt werden. Insbesondere sollen die Neben der organisatorischen Entflechtung Schwellenwerte auf zwei Inlandsumsatzschwellen ermöglicht § 32f RefE als ultima ratio sogar eine (EUR 50 Mio. für den Erwerber, EUR 0,5 Mio. für die eigentumsrechtliche Entflechtung des jeweiligen Zielgesellschaft) verringert werden, während das Unternehmens (Verpflichtung zur Veräußerung derzeitige Marktanteilskriterium, die weltweite Um- von Unternehmensanteilen oder Vermögen). Diese satzschwelle (EUR 500 Mio.) und die Zweidrittelvor- (zum Teil für verfassungswidrig erachtete) Ermäch- gabe für den Inlandsumsatz der Zielgesellschaft ent- tigungsgrundlage nimmt jedoch bestandskräftige fallen sollen. fusionskontrollrechtliche Freigaben aus Vertrauens- schutzgesichtspunkten für fünf Jahre von dem An- Die neuen Werkzeuge des Bundeskartellamts wendungsbereich aus. sind deshalb so gefährlich für Unternehmen, weil der RefE keine Rechtsschutzmöglichkeiten gegen den Ab- Zur Beschleunigung der Sektoruntersuchungen schlussbericht zu einer Sektoruntersuchung vorsieht. legt § 32 RefE eine Verfahrensdauer von 18 Monaten nahe. Hierbei handelt es sich jedoch um keine zwin- Da ein Fehlverhalten der betroffenen Unternehmen für ein Einschreiten des Bundeskartellamts nicht er- 3. KARTELLBEHÖRDLICHE VERFAHREN - EU gende Vorschrift; im Falle ihrer Missachtung sieht sie forderlich ist, ist eine besonders enge Zusammen- keine Rechtsfolgen vor. Außerdem gelten die Regeln arbeit zwischen Unternehmen und ihren Beratern 12 13 nicht erst ab Inkrafttreten des Wettbewerbsdurch- unerlässlich, um den neuen Möglichkeiten des Bun- setzungsgesetzes (noch für 2023 geplant), sondern deskartellamts gegenüber gewappnet zu sein.
NOERR_COMPETITION OUTLOOK 2023 COMPETITION OUTLOOK 2023_NOERR Entwicklungen hinsichtlich Kartellverfahren der Europäischen Kommission Im Policy Brief aus Oktober 2022 berechnete die Auch im Fall von Qualcomm wurde ein von der Europäische Kommission, dass durch alle ihre Kar- Europäischen Kommission verhängtes Bußgeld tell- und Fusionskontrollmaßnahmen zwischen EUR 12 i. H. v. EUR 997 Mio. durch ein Urteil des EuG vom bis 21 Mrd. pro Jahr an direkten Einsparungen für die 15.06.2022 aufgehoben. Qualcomm hatte Geldzah- Kunden erzielt werden. Das letzte Jahr dürfte insoweit lungen an Apple geleistet, damit das Unternehmen aber einen gewissen Rückschlag darstellen, da einige keine LTE-kompatiblen Chips von anderen Herstel- Entscheidungen der Wettbewerbsbehörde aufgehoben lern kaufen würde. Laut Europäischer Kommission wurden. führte dies kartellrechtswidrig zu einem mehr als fünf Jahre langen Ausschluss anderer Wettbewerber Nach Aufhebung und Zurückverweisung durch vom Markt für LTE-Chipsätze. Das EuG stellte da- den Europäischen Gerichtshof kam es am 26.01.2022 gegen fest, dass ein Preisverhalten eines Marktbe- zum erneuten Urteil des Gerichts der Europäischen herrschers mit Ausschließlichkeitsbindungen zwar Union („EuG“) über das von der Europäischen Kom- grundsätzlich gegen Art. 102 AEUV verstoße. Anders mission verhängte Bußgeld i. H. v. EUR 1,06 Mrd. liege es aber, wenn dies im konkreten Fall nicht zum gegen Intel. Gegenstand waren Direktzahlungen Ausschluss von Wettbewerbern führe, etwa weil es durch Intel an Abnehmer, damit diese die Vermark- im relevanten Zeitraum keine technischen Alterna- tung bestimmter Produkte von AMD (dem engsten tiven zum Angebot des Marktbeherrschers gegeben Konkurrenten von Intel) verzögern, stornieren oder habe. Ebenso wurden prozessuale Mängel gerügt: einschränken („naked restriction“), sowie bestimm- Alle Befragungen Dritter, die die Europäische Kom- te Ausschließlichkeitsrabatte. Während erstere bei mission in Vorbereitung einer Entscheidung durch- einem marktbeherrschenden Unternehmen ohne führt, seien aufzuzeichnen und in die Verfahrensakte Weiteres zur Annahme eines Verstoßes gegen den aufzunehmen. Missbrauchstatbestand führen, muss bei letzteren im Einzelfall jedenfalls bei entsprechendem Partei- Die Europäische Kommission hat außerdem am vortrag untersucht werden, ob sie geeignet sind, 25.10.2022 Leitlinien zu ihrer Kronzeugenregelung in den Wettbewerb zu beschränken. Dies kann insbe- Form von Frequently Asked Questions veröffentlicht. sondere anhand des As-Efficient-Competitor-Tests Neben einer Vielzahl an Klarstellungen zu Definitio- erfolgen. Das EuG hob die Geldbuße insgesamt auf, nen finden sich darin auch prozessuale Neuerungen da es nicht in der Lage war, den auf die Ausschließ- wie die Einführung von Leniency Officern, der Mög- lichkeitsrabatte entfallenden Anteil der Geldbuße von lichkeit eines anonymen Austauschs über potentielle dem Anteil zu trennen, der auf die naked restriction Kronzeugenanträge sowie der Ausbau der eLenien- entfiel. cy-Plattform. Dadurch sollen die Voraussetzungen und der Ausgang eines Kronzeugenantrags bere- chenbarer werden und so in Zukunft die bessere Auf- deckung von Kartellen gefördert werden (Link). 4. KARTELLVERFAHREN - DEUTSCHLAND 14 15
NOERR_COMPETITION OUTLOOK 2023 COMPETITION OUTLOOK 2023_NOERR ESG- und Krisenthemen im Fokus des Bundes- kartellamts Im Jahr 2022 hat das Bundeskartellamt – erstmalig Krisenkooperationen Auch im Jahr 2023 werden Ermittlungsver- wieder, nachdem aufgrund der Corona-Pandemie keine Zudem hat das Bundeskartellamt eine Kooperation fahren – laut dem Präsidenten des Bundeskartell- Durchsuchungen stattgefunden hatten – elf Durchsu- von Zuckerproduzenten geprüft, die im Zusammen- amtes (Andreas Mundt) – eine sehr hohe Priorität chungen durchgeführt (fünf eigene Fälle und sechs für hang mit den aktuellen, wirtschaftlich schwierige- haben. Nach einem durch die Corona-Pandemie be- andere nationale Kartellbehörden bzw. die Europäi- ren Rahmenbedingungen steht (Zucker). Vorliegend dingten Rückgang von Durchsuchungen (sog. Dawn sche Kommission). Das verhängte Bußgeld im Hinblick soll insbesondere dem möglicherweise drohenden Raids) bei Unternehmen in den letzten Jahren ist auf abgeschlossene Fälle war mit ca. EUR 20 Mio. ver- Gasversorgungsnotstand vorgebeugt werden. Das daher für 2023 erneut mit derartigen Maßnahmen gleichsweise niedrig (Quotenkartell bei Herstellern von Bundeskartellamt erklärt das gegenseitige zur Ver- in nicht unerheblichem Umfang zu rechnen. mehrprofiligen Brückendehnfugen; Geldbußen wegen fügung stellen von Produktionskapazitäten der Zu- Absprachen im Industriebau). Erfahrungsgemäß sind ckerproduzenten für zulässig. Ein Ausweichen auf in den nächsten Jahren daher wieder höhere Bußgelder die Kapazitäten von Wettbewerbern muss aber letz- bzw. größere Verfahren, die durch das Bundeskartellamt tes Mittel sein. Zudem ist die Kooperation auf eine abgeschlossen werden, zu erwarten. Saison befristet (bis Juni 2023). Weiterhin hat das Bundeskartellamt – angesichts der aktuellen „Kri- Das Bundeskartellamt hat sich im Jahr 2022 sensituation“ – eine Kooperation zwischen Gasim- zudem mit verschiedenen weiteren interessanten porteuren und -großhändlern beim Aufbau und Be- Fällen befasst bzw. Entscheidungen erlassen – u. a. trieb schwimmender LNG-Terminals geprüft und zu folgenden Themen bzw. Bereichen: erlaubt (LNG). Unter „normalen“ Umständen hätte das Bundeskartellamt die Kooperation kritischer Nachhaltigkeit gesehen. Die Zusammenarbeit beschränke zwar Das Bundeskartellamt hat verschiedene Initiativen tendenziell den Wettbewerb, potenziell negativen (u. a. Initiative Tierwohl, Existenzsichernde Löhne Wirkungen stünden jedoch (aktuell) gewichtige bei Bananen, Agrardialog Milch) geprüft, die die Vorteile gegenüber. Auch hier ist das Betreibermo- Wirtschaft nachhaltiger gestalten sollen. Dabei er- dell befristet (zunächst bis März 2024). kennt das Bundeskartellamt die Bedeutung ent- sprechender Kooperationen zwischen Wettbewer- Einkaufskooperationen bern bzw. Vertragspartnern dem Grunde nach an. Das Bundeskartellamt hat zudem verschiedene Es stellt zugleich aber klar, dass solche Kooperati- Einkaufskooperationen geprüft (u. a. Möbel, Bier). onen allein aufgrund entsprechender Gemeinwohl- In solchen Fällen ist – neben der Zusammen- ziele nicht automatisch zulässig sind. Vielmehr sind schlusskontrolle (die je nach Art der Kooperation die Auswirkungen auf den Wettbewerb im Einzel- und abhängig von den beteiligten Unternehmen fall zu prüfen. Klare Grenzen sind bspw. Preisab- greifen kann) – insbesondere zu prüfen und darauf sprachen oder auch nur ein damit in Zusammen- zu achten, dass der Umfang des gemeinsamen Ein- hang stehender Austausch von Informationen. Dem kaufs und die ausgetauschten Informationen nicht Bundeskartellamt ist bei gemeinsamen Initiativen gegen das Kartellverbot verstoßen, es durch den insbesondere wichtig, dass diese diskriminierungs- gemeinsamen Einkauf also zu keiner unzulässigen frei, offen und transparent gestaltet sind (vgl. für Abstimmung kommt. weitere Informationen den Lex Mundi Sustainability and Competition Global Practice Guide). 16 17
NOERR_COMPETITION OUTLOOK 2023 COMPETITION OUTLOOK 2023_NOERR Höchstrichterliche Entscheidungen treiben Entwicklung voran Das vergangene Jahr zeichnet sich im Kartell- Zudem hat der Bundesgerichtshof in seinem schadensersatzrecht durch eine Zunahme der gericht- Urteil VBL-Gegenwert III (KZR 111/18) Ende des Jah- lichen Aktivitäten in einer Vielzahl von Verfahren aus. res auch klargestellt, dass die durch eine Zuwider- In Deutschland schreiten die Instanzgerichte, die die handlung erlangte Bereicherung des einzelnen Kar- Aufforderung des Bundesgerichtshofes angenommen telltäters auch nach Eintritt der kenntnisabhängigen haben, den Anspruch bis hin zur Höhe umfassend zu Verjährung gestützt auf § 852 BGB abgeschöpft wer- diskutieren, mit den Verfahren voran. Urteile, die einen den kann. Schaden zusprechen oder zum Ergebnis gelangen, dass eine Zuwiderhandlung keinen Schaden verursacht Der Europäische Gerichtshof hat ferner in ei- hat, sind zwar weiterhin eine Seltenheit. Für 2023 ist nem weiteren Urteil zur Auslegung der Kartellscha- mit solchen Entscheidungen jedoch zu rechnen. Die densersatzrichtlinie (Rs. C-163/21) entschieden, von den Gerichten angewandten Methoden variieren dass im Rahmen der Informationsbeschaffungs- hierbei zwischen freien Schätzungen nach § 287 ZPO und Auskunftsansprüche vom Anspruchsgegner und umfangreichen Gutachterprozessen. Welche Art auch verlangt werden kann, Unterlagen neu zu er- der Schadensbestimmung sich letztlich durchsetzt, ist stellen und nicht nur bereits bestehende Unterlagen noch nicht abzusehen und letztlich auch von Fall zu Fall herauszugeben. unterschiedlich zu bewerten. Weiterhin ungelöst ist dagegen die Frage, inwie- Seine bisherige Rechtsprechung, nach der eine weit in Deutschland Kartellschadensersatzansprü- umfassende Würdigung des Parteivortrags durch che gebündelt geltend gemacht werden können. Der den Tatrichter erforderlich ist, setzte der Bundesge- Bundesgerichtshof hat u.a. in seinem financialright- richtshof mit dem Anfang 2023 im Volltext veröffent- Urteil (VIa ZR 418/21) solche Geschäftsmodelle be- lichten Schlecker-Urteil (KZR 42/20) fort (vergleiche zogen auf andere gebündelte Ansprüche für grund- Urteilsbesprechung). sätzlich möglich erachtet. Die Debatte darüber, ob Kartellschadensersatzansprüche zu komplex und Sah man sodann im deutschen Recht die Frage zu heterogen sind, um ohne Interessengegensätze der Verjährung kartellrechtlicher Schadensersatz- zwischen einzelnen Anspruchsinhabern gebündelt ansprüche nach den Leitentscheidungen des Bun- werden zu können, dauert aber an. desgerichtshofes der vergangenen Jahre als weit- gehend geklärt an, hat der Europäische Gerichtshof Zuletzt wird die 11. GWB-Novelle voraussicht- mit seinem Urteil in der Rechtssache Volvo und DAF lich auch neue Schadensersatzansprüche eröffnen. Trucks (Rs. C-267/20) eine neue Debatte eröffnet. Denn der aktuelle Referentenentwurf („RefE“) er- Die Frage der zeitlichen Anwendung der Kartell- möglicht die private Durchsetzung jener Verpflich- schadensersatzrichtlinie ist im Sinne des deutschen tungen, die der Digital Markets Act („DMA“) sog. Ga- Gesetzgebers geklärt worden. Jedoch werden wei- tekeepern auferlegt. So werden Art. 5, 6 und 7 des tergehende Ausführungen des Europäischen Ge- DMA in § 33 Abs. 1 RefE aufgenommen, sodass bei 5. KARTELLSCHADENS- richtshofes zu etwaigen Auswirkungen des Effet Utile bezogen auf das spanische Verjährungsrecht auf Verstößen gegen diese Normen gerichtlich durch- setzbare Beseitigungs- und Unterlassungsansprü- ERSATZRECHT der Seite der Anspruchsteller die Hoffnung wachsen che sowie über § 33a Abs. 1 GWB auch Schadenser- lassen, dass in Deutschland Altansprüche aus längst satzansprüche der Geschädigten bestehen. Klar ist 18 19 abgeschlossenen Sachverhalten doch noch geltend mithin: Gatekeeper sehen sich auch zivilrechtlichen gemacht werden könnten. Ansprüchen ausgesetzt.
NOERR_COMPETITION OUTLOOK 2023 COMPETITION OUTLOOK 2023_NOERR Der kartellrechtliche Umgang der EU mit Tech-Unternehmen Im Zentrum der (kartellrechtlichen) Aufmerk- ternehmen und deren Vertragspartner sich spätes- samkeit des Digitalsektors steht weiterhin der Digital tens im Laufe des Jahres 2023 darauf vorbereiten. Markets Act („DMA“). Mit der Verordnung soll sicher- Dies könnte zu Änderungen jedenfalls eines Teils gestellt werden, dass wesentliche Online-Plattformen der Geschäftsmodelle der großen Digitalkonzerne wie etwa Suchmaschinen, soziale Netzwerke oder führen, die wiederum ebenfalls an kartellrechtlichen Online-Vermittlungsdienste, die aufgrund der Be- Maßstäben sowie am Maßstab des DMA zu messen deutung ihrer Dienste für den Marktzugang anderer wären. Unternehmen auf digitalen Märkten als „Gatekeeper“ („Torwächter“) agieren, den Zugang zu den eigenen Daneben sind in den kommenden Monaten Nutzern nicht versperren können. Entscheidungen in verschiedenen namhaften EU- Kartellrechtsuntersuchungen gegen große Digital- Der DMA ist am 01.11.2022 in Kraft getreten konzerne wie Google, Apple, Meta und Amazon zu und gilt ab dem 02.05.2023. Die Europäische Kom- erwarten. Die Europäische Kommission plant of- mission dürfte bis Anfang September 2023 erste fenbar, einige der Verfahren noch vor Geltung der betroffene Unternehmen als Torwächter benennen Verhaltenspflichten des DMA abzuschließen. Sie – sofern diese die gesetzliche Vermutung nicht wi- hat klargestellt, dass sie die kartellrechtliche Ver- derlegen können. Benannt werden voraussichtlich folgung großer Tech-Unternehmen – insbesondere zunächst nur wenige Unternehmen (untere zwei- in Form der Missbrauchskontrolle – neben der An- stellige Anzahl), welche die relevanten quantitativen wendung des DMA nicht stoppen wird. Herausfor- Schwellenwerte (u.a. Jahresumsatz (EUR 7,5 Mrd.), dernd wird insofern vor allem das Zusammenspiel Marktkapitalisierung (EUR 75 Mrd.), Zahl der End- zwischen DMA und dem europäischen (und nationa- nutzer (45 Mio.)) erfüllen, darunter Amazon, Apple, len) Kartell- und Wettbewerbsrecht. Meta und Google. Auf Ebene der europäischen Gerichte wird wei- Im Vergleich zu den eher abstrakten Instru- terhin die Google-Android-Entscheidung im Fokus menten des Kartellrechts setzt der DMA auf konkret stehen. Nachdem das Gericht der Europäischen geregelte Verhaltensvorgaben. Die abschließenden Union im September 2022 die von der Europäischen Verhaltenspflichten orientieren sich an der bishe- Kommission verhängte Geldbuße von über vier Mil- rigen kartellrechtlichen Fallpraxis im Digitalsektor, liarden Euro für den Missbrauch von Marktmacht ohne dass den Unternehmen allerdings ermöglicht größtenteils bestätigte (Az. T-604/18), trägt Google würde, ihr Verhalten zu rechtfertigen oder damit ver- den Kampf um die Rekordgeldbuße vor den Euro- bundene Effizienzen die Verhaltenspflichten entfal- päischen Gerichtshof (Az. C-738/22). Google möchte len ließen. Damit sollen aufgrund des DMA Verhal- klären lassen, inwiefern positive Effekte von Android tensweisen verboten sein, deren Untersagung nach auf das Ökosystem nicht ausreichend berücksichtigt dem kartellrechtlichen Missbrauchsverbot nicht worden seien. ohne Weiteres oder jedenfalls nicht schnell genug möglich wäre. 6. DIGITALKARTELLRECHT - EU Auch wenn die im DMA abschließend geregel- ten Verhaltenspflichten erst sechs Monate nach der 20 21 Qualifizierung als Torwächter in Kraft treten werden (d.h. ab Frühjahr 2024), werden die betroffenen Un-
NOERR_COMPETITION OUTLOOK 2023 COMPETITION OUTLOOK 2023_NOERR Auf halber Strecke Die Digitalökonomie steht weiter im Fokus des die Anmeldung mit einem Facebook-Konto nicht deutschen Kartellrechts. In Gesetzgebung und Ent- mehr erforderlich ist, um eine solche Brille nutzen scheidungspraxis zeichnen sich immer stärker die zu können (Fallbericht des Bundeskartellamts zum Konturen der kartellrechtlichen Regeln ab, ein klares Verfahren B6 – 55/20). Damit ist der Fall zwar nicht Bild ist aber noch nicht erkennbar. abgeschlossen, eine Untersagungsentscheidung nach § 19a Abs. 2 GWB aber in weite Ferne gerückt. Das Bundeskartellamt kann auf Basis des seit Januar 2021 in Kraft getretenen § 19a GWB in einem Vor dem Hintergrund bleibt abzuwarten, wie zweistufigen Vorgehen Unternehmen, die eine über- scharf das neue Schwert der Missbrauchskontrolle ragende marktübergreifende Bedeutung für den nach § 19a GWB wirklich sein wird. Mit Spannung Wettbewerb haben („ÜMÜB“), wettbewerbsgefähr- verbunden ist auch die Frage nach dem Kompe- dende Praktiken untersagen. tenzverhältnis und der Arbeitsteilung zwischen dem Bundeskartellamt (§ 19a GWB) und den künftigen Auf der ersten Stufe dieser neuen Missbrauchs- Handlungsmöglichkeiten der Europäischen Kom- kontrolle (§ 19a Abs. 1 GWB) hat das Bundeskartell- mission nach der Verabschiedung des Digital Market amt 2022 den ÜMÜB-Status für die großen Digital- Acts (DMA), dessen Anwendungsbereich sich in Tei- konzerne Alphabet/Google, Meta/Facebook und len mit § 19a GWB überschneidet. Amazon rechtskräftig festgestellt. Die ersten beiden Entscheidungen sind bestandskräftig geworden. Daneben finden auch weitere, erst Anfang 2021 Amazon hat die Feststellung dagegen vor dem zu- geschaffene Digitalvorschriften Eingang in die kar- ständigen Gericht (Bundesgerichtshof) angegriffen. tellrechtliche Entscheidungspraxis. Ein Beispiel Dieses Verfahren ist ebenso wie ein viertes Verfah- hierfür ist die erste obergerichtliche Entscheidung ren des Bundeskartellamts gegen Apple noch nicht zum neuen „Tipping-Paragraphen“ (§ 20 Abs. 3a abgeschlossen (s. Tabelle). GWB). Die Vorschrift soll verhindern, dass ein wett- bewerblich geprägter Markt zu einem Markt ohne Auf der zweiten Stufe der neuen Missbrauchs- Wettbewerb „kippt“. Das Kammergericht (Az. U 4/21 kontrolle kann das Bundeskartellamt konkrete Kart) hat jüngst (ebenso wie die Vorinstanz) ent- wettbewerbsgefährdende Praktiken der ÜMÜB-Un- schieden, dass das Immobilienportal Immoscout ternehmen untersagen (§ 19a Abs. 2 GWB). Derzeit bestimmte „List-First“-Rabatte nicht mehr anbie- prüft das Bundeskartellamt dies in mehreren Ver- ten darf, weil diese Konkurrenten wie Immowelt aus fahren (s. Tabelle). dem Markt drängen könnten. Diese Entscheidung könnte zum Präzedenzfall für andere Onlinemärkte Bisher hat das Bundeskartellamt noch keine werden. Untersagung nach § 19a Abs. 2 GWB ausgesprochen. Vielmehr scheint sich die Tendenz herauszukristalli- sieren, dass die Verfahren einvernehmlich beigelegt 7. DIGITALKARTELLRECHT - werden. Das zeigt etwa das gegen Meta in Sachen „Oculus“ geführte Verfahren, das die Kopplung der DEUTSCHLAND Datenbrille Oculus an das soziale Netzwerk Face- book betrifft. Meta hat auf die Bedenken des Bun- 22 23 deskartellamts reagiert und die Option eines sepa- raten Kontos – dem Meta-Konto – eröffnet, sodass
NOERR_COMPETITION OUTLOOK 2023 COMPETITION OUTLOOK 2023_NOERR Entwicklungen im Vertriebskartellrecht Die maßgebliche Entwicklung innerhalb des Ver- • Überarbeitet wurde zudem der geschützte Be- triebskartellrechts ist die seit Juni 2022 geltende Verti- reich in Bezug auf den Informationsaustausch kal-Gruppenfreistellungsverordnung („Vertikal-GVO zwischen Anbieter und Abnehmer beim dualen 2022“) nebst zugehöriger neuer Vertikal-Leitlinien. Vertrieb. Hiervon erfasst sind Fälle, in denen Vertikale Vereinbarungen zwischen Unternehmen, ein Anbieter seine Waren oder Dienstleistungen die auf verschiedenen Stufen der Produktions- oder nicht nur über unabhängige Händler (Abneh- Vertriebskette tätig sind (Anbieter-Abnehmer-Ver- mer), sondern auch direkt (etwa online) an End- hältnis), werden unter den Voraussetzungen der Ver- kunden verkauft. Der Informationsaustausch tikal-GVO 2022 vom Kartellverbot freigestellt (Safe zwischen Lieferant und Händler muss erforder- Harbor). Die Neufassung trägt insbesondere der zu- lich für das Vertriebssystem sein, um nach der nehmenden Bedeutung des Online-Vertriebs und da- Vertikal-GVO 2022 freigestellt zu sein. mit einhergehender neuer Vertriebsformen wie dem • Paritätsverpflichtungen (MFN) sind grundsätz- Omni-Channel-, Multi-Channel- und Plattformver- lich durch die Vertikal-GVO 2022 freigestellt. trieb Rechnung. Ausgenommen hiervon sind MFNs im Rahmen des Plattformvertriebs: Wird der Abnehmer Die maßgeblichen Neuerungen der Vertikal-GVO lediglich verpflichtet, die Leistung oder Ware 2022 sind: im (eigenen) Direktvertrieb nicht günstiger an- zubieten, bleibt diese MFN freistellungsfähig • Bestimmte Praktiken im Rahmen des Online- nach der Vertikal-GVO 2022 (enge MFN). Die Vertriebs, die früher nicht freigestellt waren, Verpflichtung des Abnehmers, Produkte oder sind nun möglich. Künftig besteht etwa die Dienstleistungen auch auf anderen Vertriebs- Möglichkeit, ein und demselben Händler für wegen nicht günstiger anbieten zu dürfen (weite online und für offline verkaufte Produkte un- MFN), ist hingegen nicht freigestellt. terschiedliche Großhandelspreise zu berech- nen. Zudem können bspw. für Online- und für Spätestens ab dem 01.06.2023 ist eine Freistel- Offline-Verkäufe in selektiven Vertriebssyste- lung nach der alten Vertikal-GVO nicht mehr mög- men unterschiedliche Auswahlkriterien fest- lich. Unternehmen sollten deshalb für ihre laufenden gelegt werden. Weiterhin sind Beschränkun- Vertriebsverträge prüfen, ob die darin enthaltenen gen einzelner Online-Werbekanäle ebenso wie Wettbewerbsbeschränkungen auch nach der Verti- Plattform-Verbote möglich. Dem Abnehmer kal-GVO 2022 vom Kartellverbot freigestellt sind. muss aber stets ein effektiver Internetvertrieb möglich bleiben. Neben der Vertikal-GVO 2022 will die Europäi- • Klargestellt wurde, dass Vertriebsvereinba- sche Kommission auch weiterhin den Vertrieb von rungen mit Online-Handelsplattformen an Neufahrzeugen durch eine sektorspezifische GVO re- den Voraussetzungen der Vertikal-GVO 2022 geln: Die zum 31.05.2023 auslaufende Kfz-Gruppen- zu messen sind. Plattformen, auf denen der freistellungsverordnung (Kfz-GVO) soll durch eine Plattformbetreiber auch selbst Waren oder neue GVO ersetzt werden. Dazu hat die Europäische Dienstleistungen als Händler anbietet (Hyb- Kommission am 06.07.2022 einen Verordnungsent- 8. VERTRIEBSKARTELLRECHT rid-Plattform), fallen künftig nicht mehr unter wurf vorgelegt, der unter anderem den Umgang mit die Vertikal-GVO 2022. fahrzeuggenerierten Daten regelt. 24 25
NOERR_COMPETITION OUTLOOK 2023 COMPETITION OUTLOOK 2023_NOERR Prüfung ausländischer Direktinvestitionen Investitionskontrollverfahren zur Prüfung von schreitenden M&A-Transaktionen ist besonders zu ausländischen Direktinvestitionen (foreign direct in- beachten, dass in mehreren Staaten Meldepflichten vestments – „FDI“) gewinnen weiter an Bedeutung in bestehen können. Diese müssen von Käufer- und Deutschland und in Europa. Verkäuferseite sorgfältig analysiert werden, nicht zuletzt, weil sich Vorschriften in diesem Bereich Die Europäische Kommission hat 2022 Zahlen häufig ändern. In den Transaktionsvereinbarungen zu den FDI-Prüfverfahren in der Europäischen Union sind die Meldepflichten durch entsprechende Be- im Jahr 2021 veröffentlicht. Diese belegen, dass der stimmungen zu berücksichtigen. Im Bereich des durch die Covid-19-Pandemie bedingte Rückgang Transaktions-Timings müssen zudem das Einholen mittlerweile überwunden ist. Investitionen von au- von behördlichen Genehmigungen und Vollzugsver- ßerhalb der EU/EFTA im Jahr 2021 übertrafen den bote im Ablauf eingeplant werden. Letztlich steht die Stand des Pandemievorjahres 2019 um 11 % und Investitionskontrolle aber nur selten einer Transak- die Investitionen des Jahres 2020 sogar um 52 %. tion im Wege: Nur 1 % aller an die Europäische Kom- Führende Herkunftsländer der Investoren waren die mission gemeldeten Transaktionen wurden 2021 von USA und UK. Andere Länder, wie China und Japan, den EU-Mitgliedsstaaten blockiert. In Deutschland blieben demgegenüber hinter den früheren Zahlen lagen die „erwerbsbeschränkenden Maßnahmen“ zurück. Auch 2021 war Deutschland das wichtigste (Untersagungen, aber auch Nebenbestimmungen Zielland für Nicht-EU/EFTA-Investoren. Mit 16,4 % und öffentlich-rechtliche Verträge und Anordnun- aller ausländischen Investitionen in der EU konnte gen) mit 2 % im gleichen Bereich. 2021 sogar ein Anstieg von 20 % der FDI im Vergleich zum Vorjahr verzeichnet werden. Im Bereich der Greenfield-Investitionen lag Deutschland zudem auf Platz drei hinter Frankreich und Spanien. Mittlerweile haben fast alle EU-Mitgliedsstaaten einen FDI-Überprüfungsmechanismus eingerichtet. Die einzigen Ausnahmen sind Bulgarien und Zypern. Deutschland hat zuletzt durch die 17. AWV-Novelle die Fallgruppen für eine Anmeldepflicht in der sek- torübergreifenden Investitionskontrolle von 11 auf 27 erweitert, so dass nicht nur kritische Infrastruktu- ren, sondern auch z. B. der Gesundheitssektor sowie Zukunfts- und Schlüsseltechnologien (künstliche Intelligenz, autonomes Fahren, Robotik und Cybersi- cherheit) erfasst werden. Meldepflichtige Investitio- nen unterliegen bis zur Freigabe durch das Bundes- ministerium für Wirtschaft und Klimaschutz einem strafbewehrten Vollzugsverbot. 9. FOREIGN DIRECT INVESTMENTS Bei Transaktionen unter Beteiligung von Nicht-EU/ 26 27 EFTA-Investoren sind deshalb zwingend die FDI- Regelungen im Blick zu behalten. Bei grenzüber-
NOERR_COMPETITION OUTLOOK 2023 COMPETITION OUTLOOK 2023_NOERR Krise und Kontrolle drittstaatlicher Subventionen im Fokus des EU-Beihilfenrechts Befristeter Krisenrahmen Ukraine möglicherweise von Vorteilen profitieren, die die EU-Mitgliedstaaten „ihren“ Unternehmen aufgrund Das wirtschaftliche Umfeld im Jahr 2022 war der Vorgaben des EU-Beihilfenrechts nicht zukom- nach den Einschränkungen durch die COVID-19-Pan- men lassen können. Drittstaatsubventionen können demie besonders stark von den Folgen des Angriffs- gleichzeitig mit den bestehenden Instrumenten des krieges Russlands gegen die Ukraine geprägt. Um Beihilfen-, Fusionskontroll-, Vergabe- und Außen- die damit verbundenen negativen Effekte abzu- handelsrechts der Europäischen Union aus Sicht der mildern und den Mitgliedstaaten der Europäischen Europäischen Kommission nicht angemessen kont- Union zu ermöglichen, die Wirtschaft mit staatlichen rolliert werden. Beihilfen zu unterstützen, verabschiedete die Euro- päische Kommission am 23.03.2022 den sogenann- Nachdem sich die EU-Organe in weniger als 1,5 ten „Befristeten Krisenrahmen“, der angesichts der Jahren auf den Text einer Verordnung zur Schlie- anhaltenden Lage am 20.07.2022 und am 28.10.2022 ßung dieser mutmaßlichen Regelungslücke geeinigt verlängert und überarbeitet wurde. In diesem Zuge haben, wird ab Juli 2023 die neue Verordnung über schaffte die Europäische Kommission unter an- drittstaatliche Subventionen Anwendung finden. derem die rechtlichen Grundlagen dafür, dass die Die neue Verordnung sieht drei Instrumente zur Bundesrepublik Deutschland die Instrumente der Überprüfung der Vereinbarkeit von Drittstaatssub- Strom- und Gaspreisbremse verabschieden konnte, ventionen mit dem Binnenmarkt vor: welche zur Eindämmung der kriegs- und krisenbe- (i) ein notifizierungsbasiertes Untersuchungsinst- dingt erhöhten Energiekosten beitragen sollen. Laut rument für Transaktionen; dem „Befristeten Krisenrahmen“ sollen die Instru- (ii) ein notifizierungsbasiertes Untersuchungsins- mente jedenfalls bis zum 31.12.2023 zur Verfügung trument für Angebote bei großen öffentlichen stehen. Die von der Bundesrepublik Deutschland Aufträgen; und eingesetzte Gaspreiskommission hatte in ihrem Ab- (iii) ein allgemeines Untersuchungsinstrument. schlussbericht „Sicher durch den Winter“ sogar eine Laufzeit bis 30.04.2023 empfohlen. Ob eine solche Insbesondere bei dem Untersuchungsinstru- gewährt werden kann, bleibt abzuwarten und dürfte ment für Transaktionen (abhängig von der Über- auch maßgeblich von den weiteren Entwicklungen schreitung gewisser Schwellenwerte für Umsätze im Jahr 2023 abhängen. Klar scheint jedoch, dass und Zuwendungen aus Drittstaaten) ist absehbar, der „Befristete Krisenrahmen“ als dynamisches Ins- dass dieses sorgfältige Vorbereitung bei betroffenen trument weiterhin von hervorgehobener Bedeutung Unternehmen erfordern wird. Gleichzeitig bietet die im EU-Beihilfenrecht im Jahr 2023 bleiben dürfte. neue Verordnung für Unternehmen aber auch die Chance, die Europäische Kommission im Rahmen des allgemeinen Untersuchungsinstrument über Neue EU-Verordnung über Drittstaats- unzulässige Drittstaatssubventionen für Wettbewer- subventionen ber zu informieren und so etwaige eigene Nachteile 10. BEIHILFERECHT / In der Europäischen Union bestehen seit länge- zu verhindern. FOREIGN SUBSIDIES rem Bedenken, dass Subventionen von Drittstaaten zugunsten von in der Europäischen Union tätigen 28 29 Unternehmen die Chancengleichheit im Binnen- markt beeinträchtigen. Diese Unternehmen können
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