Kinderseelen in Not Kindliche Krisen erkennen, verstehen und handeln - Akademie Schönbrunn
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Fachtagung 2012 Kinderseelen in Not Kindliche Krisen erkennen, verstehen und handeln. Fachakademie für Heilpädagogik
2 Inhalt Inhalte Einführung 3 Michael Kreisel und Stephanie Jofer-Ernstberger Kinderseelen in Not – Kindliche Krisen erkennen, verstehen und handeln Vorträge 5 Michael Kreisel Kinder und kritische Lebensereignisse – Ein Aufgabenfeld für die Heilpädagogik 9 Curd Michael Hockel „Kind sein dürfen!“ Ein Wegweiser der SpielFreiZeit für Kinder in Krisensituationen 18 Stephanie Jofer-Ernstberger Zeiten der Krise begleiten. Aus den Workshops 29 Astrid Karrasch Zusammenleben mit seelisch verletzten Kindern 32 Dagmar Keil Bindungen wagen – Die heilpädagogische Beziehungsgestaltung in der stationären Jugendhilfe 34 Claudia Daniel Die „Krise als Chance“ – Möglichkeiten, (systemische) Interventionen und Angebote in der ambulanten Kinder-, Jugend- und Familienhilfe. 36 Eckart Wolfrum Elternseelen in Not 38 Manuela Fröhlich Kunsttherapeutische Angebote als Hilfestellung für Kinder in Not 42 Carmen Jörg und Oswald Peterlik Unterstützung von Kindern in Krisensituationen 44 Brigitte Seger Gemeinsam neue Antworten finden – Psychodrama mit Kindern Impressum | Verantwortlich für den Inhalt: Michael Kreisel und Stephanie Jofer-Ernstberger | Redaktion: Stephanie Jofer-Ernstberger Auflage: 1000 Stück | Druck: Druckerei Ortmeier | Januar 2013 | Gestaltung: leporello-company.de
Einführung 3 Kinderseelen in Not – Kindliche Krisen erkennen, verstehen und handeln Michael Kreisel und Stephanie Jofer-Ernstberger Leide nicht deines Nächsten Kritische Lebensereignisse Kummer, und Kindersorgen leide nicht deines Nächsten Heilpädagog/innen haben es in ihrem Arbeitsfeld Ohnmacht, häufig mit Kindern zu tun, die sich in Krisen aber reiche deine Hand hin, befinden. Meist ist jeder Mensch im Laufe seines reiche sie hin. Lebens mit Lebensereignissen konfrontiert, Patti Smith kritische Lebensereignisse fordern das Kind jedoch besonders heraus. Für Kinder können kritische Lebensereignisse, wie der plötzliche Tod eines Elternteils oder auch die Unterbringung in einer Kinderseelen in Not – Kindliche Krisen erkennen, Pflegefamilie sehr bedrohlich sein. Kinder sind in verstehen und handeln. Unter diesem Motto solchen Fällen mit Leiderfahrungen konfrontiert, hatte die Fachakademie für Heilpädagogik der die sie belasten, manchmal überwältigen und zu Akademie Schönbrunn zu ihrem Fachtag 2012 „Kindersorgen“ werden. am 3. März eingeladen. Der Fachtag beschäftigte sich in Vorträgen, Workshops und Diskussionen Kinder bekommen dann Bauch- oder Kopfschmer- mit den Auswirkungen kritischer Lebensereignisse zen, können nicht einschlafen oder wachen auf Kinder und Jugendliche. Vor allem ging es um nachts durch Alpträume auf. Es kann sein, dass sie Möglichkeiten, wie Kinder und Jugendliche durch ihre Umwelt mit Wutausbrüchen nerven, hastig eine (heil-)pädagogische Begleitung aufgefangen sprechen oder die Sprache ganz verweigern und werden können. sich von anderen isolieren. Manchmal flüchten sie sich in Scheinwelten. Den Lehrern fallen die Das Thema fand großes Interesse. Gekommen schlechten Leistungen in der Schule oder das waren Heilpädagog/innen, Lehrer/innen, Erzie- Fehlen von Hausaufgaben auf. her/innen sowie Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe. 150 Personen trafen sich im vollbe- Die Folgen von kritischen Lebensereignissen setzten Tagungsraum der Akademie Schönbrunn, können lange anhalten. Kritische Lebensereignisse viele Interessenten konnten aufgrund der be- sind jedoch nicht ausschließlich bedrohlich. So grenzten Teilnehmerzahl nicht teilnehmen. stellen Übertrittssituation (in den Kindergarten oder in die Schule) zwar tendenziell eine „wacke- Wir freuen uns, dass wir Ihnen mit dieser Bro- lige Situation“ für die Beteiligten dar, gleichzeitig schüre eine Sammlung der einzelnen Beiträge, gehören sie zum Leben dazu. für deren Inhalte sich die jeweiligen Autoren verantwortlich zeigen, vorlegen können.
4 Einführung Für viele Kinder gibt es eine vorwiegend Kinder benötigen sichere Orte und beschützte, glückliche, unbeschwerte und sichere Beziehungen, die ihnen helfen, wohlbehütete Kindheit nicht die Situation zu verstehen Kritische Lebensereignisse, die akut oder schlei- Familien finden im Umgang mit kritischen chend in ihren Alltag einbrechen, irritieren, er- Lebensereignissen für sie sinnvolle Bewältigungs- zeugen Belastungen und erfordern Bewältigungs- strategien, z. B. halten die Familienmitglieder strategien. Manche Kinder „funktionieren“ in in der belasteten Situation verstärkt zusammen. der Zeit der Krise „einfach nur“ und versuchen, Aber auch hier sind vor allem Kinder gefordert. ihre Umwelt so wenig wie möglich zu belasten. Sie übernehmen Verantwortung, verzichten, Andere reagieren auf die Stresssituationen füllen Lücken und schützen ihre Familie. Damit mit körperlichen Symptomen, durch auffällige Kinder nicht überfordert sind, ist es nötig, dass Verhaltensweisen zu Hause oder in der Schule. Eltern und Fachkräfte zusammenarbeiten und Eltern und auch Professionelle realisieren die „Hilfen zum Verstehen“ sowie „Beziehungsräu- Auswirkungen der Lebensereignisse auf die me“ geschafft werden. Kinderseele und die Intensität dieser Leiderfah- rung oftmals zu wenig. Kinder, die Sorgen oder Ängste haben, benötigen Sicherheit und das Gefühl, selbst Einfluss bzw. Kinder drücken ihre Not auf Umwegen aus. Sie Kontrolle zu haben. Sie brauchen Unterstützung, leiden in ihrer eigenen Art, die für die Erwachsenen- damit sie die Ereignisse um sich herum – aber welt nicht immer begreifbar ist. Sie drücken auch ihre innerseelischen Vorgänge – verstehen ihre Sorgen verdeckter, unmittelbarer, spontaner, und begreifen können. Vor allem benötigen sie leidenschaftlicher aus und benutzen kaum sach- Momente, in denen sie „Kind-Sein” dürfen und liche Argumente oder sprachlich ausgedrückte in denen die Last der Erwachsenenwelt beiseite- Hilferufe. gelegt wird. Kinder benötigen „freie” Zeiten des Spiels Wir hoffen, dass wir mit dieser Broschüre Impulse Innerhalb des Fachtages zeigte der Psychologe für den pädagogischen Alltag geben können und und Psychotherapeut Curd Michael Hockel wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen! anhand eines Falles eindrücklich auf, wie wichtig Spielzeiten, Raum für Spiel und eine pädagogisch- Michael Kreisel therapeutische Begleitung zum richtigen Zeit- Leiter der Fachakademie für Heilpädagogik punkt sind. Stephanie Jofer-Ernstberger Kinder sind kritischen Lebensereignissen nicht nur Stellvertr. Leiterin der Fachakademie für Heilpädagogik passiv ausgeliefert. Sie brauchen jedoch die (heil-) pädagogische Unterstützung von Erwachsenen, damit ihr seelisches Gleichgewicht wieder her- gestellt wird, damit sie sich auf die Situation ein- stellen können. Georg Blaser, Leiter der Akademie Schönbrunn, eröffnet die gut besuchte Fachtagung 2012.
Kinder und kritische Lebensereignisse – Ein Aufgabenfeld für die Heilpädagogik – Michael Kreisel 5 Kinder und kritische Lebensereignisse – Ein Aufgabenfeld für die Heilpädagogik Michael Kreisel, Diplom Pädagoge „Wohl niemand weiß mehr und besser darüber Für Kinder kann die Krankheit oder der Tod einer zu berichten, als der vielzitierte ‚Mann auf der nahestehenden Person, ein Orts- und Schulwech- Straße’, dass das Leben nicht geradlinig verläuft. sel, die Scheidung der Eltern, die Diagnose einer Jeder individuelle Lebenslauf ist gekennzeichnet Krankheit oder die Geburt eines (Geschwister-) durch eine Fülle von Ereignissen, die mehr oder Kindes mit Beeinträchtigungen zu einem kriti- minder abrupt und unvorhergesehen eintreten, schen Lebensereignis werden. Kinder können die mehr oder minder gravierend in alltägliche ferner von Traumatisierungen betroffen sein, Handlungsabläufe eingreifen, die mehr oder d. h. von schwersten, länger anhaltende Folgen minder dramatisch verlaufen und der Person Um- von Unfällen, Schädel-Hirn-Traumen, Quer- orientierungen in ihrem Handeln und Denken, schnittslähmungen, Verbrennungen Misshand- in ihren Überzeugungen und Verpflichtungen lungen/ Missbrauch oder Vernachlässigungen abverlangt“ (Filipp 2010, S. 3) (vgl. Bergeest u. a. 2011, S. 127f.). Kritische Lebens- ereignisse müssen jedoch nicht unbedingt als Jeder Mensch wird im Laufe seines Lebens mit negativ erlebt werden. Kritische Lebensereignisse einer Fülle von Lebensereignissen konfrontiert. stellen Ereignisse dar, die eine Zäsur im Leben Auch steht jeder Mensch vor Entwicklungs- sind. Zurückblickend erleben Menschen kritische aufgaben, die es zu bewältigen gilt, sei es bedingt Lebenserfahrungen oftmals als Einschnitte, als durch biologische Veränderungen, gesellschaft- Übergänge im Lebenslauf oder als „stressreiches liche Aufgaben oder individuelle Werte. Kritische Ereignis“. Das bisher aufgebaute Passungsgefüge Lebensereignisse jedoch fordern das Kind bzw. des Menschen mit seiner Umwelt gerät in ein das Familiensystem im Unterschied zu altersent- Ungleichgewicht. Die Person wird durch das sprechenden Entwicklungsaufgaben besonders kritische Lebensereignis „aufgefordert“, sich in heraus. Schauen wir uns also zunächst an, was Bezug zur Umgebung neu zu orientieren bzw. mit dem Begriff ‚Kritische Lebensereignisse’ ge- neu anzupassen. meint ist, bevor Aufgabenfelder der Heilpäda- gogik beschrieben werden. Heute bedingt der gesellschaftliche Wandel, dass Kinder kritischen Lebensereignissen mehr Kritische Lebensereignisse – ausgesetzt sind, als in früheren Zeiten. Ich denke eine Herausforderung für das Kind dabei z. B. an die von Eltern beruflich geforderte in seiner Anpassungsleistung Flexibilität und Mobilität (Veränderung Umzug der Unter kritischen Lebensereignissen werden sogen. Familie, der oftmals nicht freiwillig geschieht etc.). „nicht-normativen Einschnitte“ im Lebenslauf eines Menschen verstanden (vgl. Filipp 2010). Kinder müssen in ihrem Person-Umwelt-Bezug Anpassungsleistungen erbringen, müssen sich auf die neue Situation einstellen.
6 Vorträge Wenn dieser Anpassungsprozess nicht gelingt, Lebensereignis dar. Der Familienalltag verändert zeigen Kinder ihre Not. Entwicklungsverzögerun- sich stark, das beeinträchtigte Kind steht deutlich gen, Auffälligkeiten in den Bereichen Verhalten, im Mittelpunkt, alles richtet sich nach ihm. Das Lernen und Leistung, Körper und Motorik, sowie Wohlergehen der Eltern behinderter Kindern der mentalen Entwicklung können Ausdruck steht in direktem Zusammenhang mit dem Wohl- kritischer Lebensereignisse sowohl der Gegen- ergehen des Kindes, sodass hoher Zeitaufwand wart als auch der Vergangenheit sein. Die Kindern und Stress zu Anfang oftmals für die Eltern zeigen sich „anders“ als andere Kinder, sind kennzeichnend sind. tendenziell „ausserhalb ihres Gleichgewicht“. Stephanie Jofer- Ernstberger schilderte in Ihrem Die Behinderung des Kindes stellt für die Familie Vortrag Sorgen von Kindern der Grundschule einen Risikofaktor dar. Die Selbstregulationskraft Petershausen. Zur Lösung und Wieder-Herstellung des Systems Familie gerät in Gefahr, das soziale eines neuen Gleichgewichts benötigen diese und Gefüge kann durcheinander geraten. Die Folge ist andere Kinder eine angemessene Lebensumwelt häufig, dass Eltern behinderter Kinder in unter- und die Unterstützung von Erwachsenen, die die schiedlicher Weise belastet sind oder auch leiden. Botschaften der Kinderseele verstehen. Die besondere Herausforderung des Umgangs mit der Behinderung kann für die Paarbeziehung eine Kritische Lebensereignisse als Chance zu positiven, menschlichem Wachstum Herausforderung für die Familie werden. Es kann aber auch sein, dass Paare den Kindliche Entwicklungsprozesse werden von den damit verbundenen Anforderungen nicht gewach- Lebensbereichen und Lebenswelten, in denen ein sen sind. Die Familienbeziehungen können sich Kind lebt, beeinflusst. Die pädagogischen, psycho- ändern. Vater, Mutter, Geschwisterkinder werden logischen und soziologischen Wissenschaften evtl. in traditionelle Rollenmuster gedrängt: der weisen darauf hin, dass vor allem die Familie Vater, der zu viel arbeitet, die Mutter, die zu sehr bzw. Bezugspersonen besondere Bedeutung für für die emotionale Seite der Familie zuständig ist, das Kind haben. das Geschwisterkind, das zu wenig Beachtung erhält. Während Mütter manchmal einen beson- Idealtypisch stellt die Familie einen geschützten ders tiefen Schmerz erleben oder Formen innerer Raum dar, innerhalb dessen Sozialisation als Abwehr entwickeln, setzen Väter sogen. „klaren erlebte Geborgenheit, Bindung und Raum für Sachverstand“ ein und agieren vielleicht eher aus Wachstum stattfindet. Die Zunahme von Rat- der Distanz, was oftmals auch die zur Verfügung geber- und Erziehungsliteratur kann jedoch als stehende Zeit im Umgang mit dem eigenen Kind Indiz dafür gesehen werden, dass die Familie widerspiegelt. Erschwerend ist für Eltern behin- als Ganzes heute sehr herausgefordert ist bzw. derter Kinder ferner, dass, aus der eigenen Ur- als System teilweise überfordert ist. Tendenziell sprungsfamilie gelernte, Erziehungsmaßnahmen ursprünglich von der Familie wahrgenommen oftmals nicht direkt auf die Situation des Um- soziale Funktionen müssen immer mehr (aus- gangs mit dem eigenen Kinder mit Behinderung gleichend) vom Staat wahrgenommen werden. zu übertragen sind (vgl. Wagner Lenzin 2007, Wenn die Familie weniger in der Lage ist, emo- S. 21). So kann es sein, dass auch die Familie tionalen Halt und Orientierung zu geben oder „sich nicht in ihrer Mitte befindet“, sich Familien- Werte zu vermitteln, dann sind Pädagogik und beziehungen dysfunktional organisieren. Schule um so mehr gefragt, Kindern Stabilität und Sicherheit im Umgang mit kritischen Lebens- Das System Familie, die Eltern und auch die ereignissen zu ermöglichen. nähere Umgebung müssen dann neue Lösungen im Umgang mit der Situation finden. Einrichtun- Ich möchte dies am Beispiel der Situation von gen der Behindertenhilfe haben daher vor allem in Eltern behinderter Kinder aufzeigen: Für die der frühen Kindheit den Blick auf die Begleitung Familie stellt die Geburt eines Kindes mit Be- der Familie als Ganzes. einträchtigungen bzw. die Diagnosenstellung einer Beeinträchtigung des Kindes ein kritisches
Kinder und kritische Lebensereignisse – Ein Aufgabenfeld für die Heilpädagogik – Michael Kreisel 7 Aufgabenstellungen der Heilpädagogik Es stellt sich in der Heilpädagogik immer die „Wir haben es gerade im Bereich heilpädagogi- Frage, wie Teilhabe und Aktivität individuell scher Problemstellungen und Herausforderungen verbessert werden kann. Hierbei ist zu berück- verstärkt mit offensichtlich ungünstigen Umfeld sichtigen, inwieweit die Praxis, Kultur und Struktur Einflüssen zu tun, mit Behinderungen, Heim- und von Institutionen Inklusion fördert. Aufgabe der Krankenhausaufenthalten, mit hospitalisierenden Heilpädagogik ist dann auch ein Einwirken auf die und deprivierenden Einflüssen ,,allgemein gesehen Regelpädagogik. Wenn z. B. die, von Curd Michael mit teilweise völlig verunsicherten Erziehungsper- Hockel in seinem Vortrag dargestellte, Forderung sonen, demnach mit Einflüssen, die sich negativ nach mehr SpielFreiZeit, in die Praxis des Unter- auf Emotional- und damit Lern- und Sozialentwick- richts der Grundschulen einbezogen würde, so lung von Kindern auswirken.“ (Bundschuh 2010, könnten Grundschulen sicherlich ein mehr an S.101) Teilhabe für die beschriebenen Kinder ermöglichen. Neurobiologische Erkenntnisse belegen, dass das Man kann kritischen Lebensereignissen emotional Spiel für die emotionale und kognitive Entwicklung nicht gleichgültig gegenüber treten. Was bietet eines Kindes enorm wichtig ist (vgl. Zimpel 2012). in solchen Situationen eine Unterstützung, was Heilpädagogik kann als Teilgebiet der Pädagogik bietet Hilfe? Warum aber kommen manche dazu beitragen, dass die Regelpädagogik Lebens- Menschen mit Lebensereignissen schlechter und welten ermöglicht, innerhalb dessen Kinder Wege manche besser zurecht als andere? Menschen des Umgangs mit kritischen Lebensereignissen sind kritischen Lebensereignissen nicht einfach nur finden. Wenn in jeder Grundschule ein Spielzim- ausgeliefert. In der Bewältigung von Krisen liegt mer als Rückzugsort existieren würde, innerhalb immer auch eine Chance. Ja, Menschen können dessen Kinder „Kind sein dürfen“, könnten Kinder diese sogar als Gelegenheit für selbstbestimmtes womöglich bessere Formen des Umgangs mit Lernen nutzen. ihren Sorgen oder Leiderfahrungen finden. Die Heilpädagogik ist gefordert, Kinder und Ausgangspunkt einer heilpädagogischen För- Familien bei ihrer Anpassungsleistung zu derung sind das Können und die Kompetenzen unterstützen. eines Kindes. Wichtige Ziele der heilpädagogi- schen Förderung sind die Stärkung der Eigen- Kritische Lebensereignisse sind Gegenstand der kompetenzen und die Unterstützung der Selbst- Psychologie (insbesondere der Entwicklungs- befähigung. Die heilpädagogische Förderung psychologie, der klinischen Psychologie, der orientiert sich immer an den Stärken eines Kindes. Stressforschung, der systemisch-ökologischen Die Stärken-Perspektive geht davon aus, dass Richtungen) und auch der Sozialpädagogik. Die jeder Mensch Widerstandsressourcen und Wider- Heilpädagogik nutzt die Erkenntnisse der Wissen- standskräfte besitzt, die im Sinne einer inneren schaften zur Unterstützung von Kindern, die sich Kraft „heilend“ wirken können. Auch wenn in besonderen bzw. herausfordernden Lebens- häufig ein Defizit Anlass für die Aufnahme heil- lagen befinden. pädagogischer Förderung ist, wird im Prozess der Förderung der Schwerpunkt auf die Ressourcen In den letzten Jahren wandelt sich die allgemeine und Schutz-faktoren des Kindes bzw. der Familie Heilpädagogik von einer speziellen Pädagogik hin gelegt. zu einer vertieften Pädagogik, die sich verstärkt den Erfordernissen einer inklusiven Pädagogik Die Arbeit mit Angehörigen kann in den Auf- stellt. Die Leitidee der Inklusion erinnert an die gabenfeldern der Heilpädagogik sehr unterschied- Notwendigkeit von Veränderungen der Institutio- liche Schwerpunkte beinhalten. Bei Behinderun- nen und des Sozialen Raumes, die durch die gen in der Phase der frühkindlichen Entwicklung Integrationsbewegung begonnen wurde. Neben steht eher die Stärkung bzw. Erweiterung der der Orientierung an der Person (heilpädagogische Kompetenzen von Eltern und auch die Begleitung Förderung) und dem Ablauf von Hilfeleistungen der Familie in der Auseinandersetzung mit (planerische Vorgehensweisen) ist heute auch Situation der Behinderung des Kindes im Vorder- die Orientierung an den allgemeinen (Regel-) grund. Bei Entwicklungsverzögerungen oder Aufgaben der Pädagogik (Vgl. Biewer 2010) drohenden Behinderungen in der vorschulischen von Bedeutung. Phase sind Angehörigen oftmals im Hinblick auf eine angemessene Reaktion auf das Kind zu
8 Vorträge informieren oder auch anzuleiten. Bei Verhaltens- • Prävention problemen in der Schulkindphase erhalten die (Gestaltung und Organisation Themen Hilfe zur Erziehung, Familienentlastung präventiver Angebote) und auch das Kindeswohl Bedeutung. Bei Lern- • Assistenz Leistungsproblemen im schulischen Kontext (Unterstützung im Alltag, können die Auswahl des geeigneten Förderortes Orientierung an Lebensorten) oder Fragestellungen der Förderung und Stärkung • Organisation von Inklusion und Teilhabe des Kindes im Vordergrund stehen. (Interdisziplinäre Zusammenarbeit, Kooperation sowie institutionelle und Die Gestaltung der Beziehung ist in jeglicher sozialräumliche Orientierung) Form von Erziehung bedeutsam für den „Erfolg“ der erzieherischen Tätigkeit. Vor allem im Bereich Die Aufgabenfelder differenzieren sich entspre- der Heilpädagogik ist die Gestaltung der Bezie- chend je nach Handlungsfeld, institutionellen hung von großer Bedeutung. Heilpädagogische Bedingungen, Förderbedarfen etc. aus. Heilpäda- Beziehungsgestaltung ist quasi eine „Methode“ gogisches Handeln steht dabei oftmals zwischen bzw. Didaktik in der Vorgehensweise und ermög- dem Anspruch von Inklusion und klinischen licht zusätzlich ein Korrektiv zu bisherigen „ (…) Aufgaben. Dies muss in der Praxis kein Wider- verletzenden, einschränkenden, entmutigenden spruch sein, zeigt sich doch hier im Grunde eine oder deprivierenden und auch beschämenden alte Verknüpfung (manchmal auch Polarität): Beziehungserfahrungen (…)“ (Fischer / Renner Heilpädagogik als Fachdisziplin, die sich auf 2012, S. 107). Optimal gesehen kann Beziehung Pädagogik und Medizin bezieht. Sah man früher in der Heilpädagogik zu einer „heilenden Er- in der Sonderpädagogik schnell „gescheiterte fahrung“ werden. Familien“ oder „Problemfamilien“, so lenkt man heute den Blick hin zu den Kompetenzen und Unsere Fachakademie für Heilpädagogik hat Ressourcen der Familie. Es gilt in der Regelpäda- verschiedene Fachschwerpunkte im Bereich der gogik wie in der Heilpädagogik eine Art der heilpädagogischen Handlungskonzepte gelegt. Begleitung von Kindern in Krisen zu kultivieren, Vor allem die Heilpädagogische Spieltherapie stellt die Wertschätzung und Sicherheit gibt und bei der ein Handlungskonzept dar, welches die spezifische gemeinsam sinnvolle Umgangsformen mit Leid Sprache des Kindes nutzt, d.h. den Ausdruck oder Stress gefunden werden. im Spiel, mit dem Ziel Wege zum Umgang mit kritischen Lebensereignissen zu finden. Litaratur Beergest, H. u.a. (2011). Wenn Kinder und deren Familien der Umgang Körperbehindertenpädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt mit kritischen Lebensereignissen nicht adäquat Biewer, G. (2010). gelingt, übernehmen Staat und Gesellschaft sub- Grundlagen der Heilpädagogik und Inklusiven Pädagogik sidiär die Sicherung und Widerherstellung eines Bad Heilbronn: Klinkhardt menschenwürdigen bzw. selbstbestimmten Lebens Bundschuh, K. (2010). in aktiver Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Allgemeine Heilpädagogik – Eine Einführung. Für die Heilpädagogik ergeben sich Aufgaben- München: Kohlhammer felder, die sich einerseits darauf beziehen, wie Hain, U. (2008). Kinder und Jugendliche „aufgefangen“ werden Familiendynamik bei Belastungen durch umschriebene Lern-Leistungsstörungen. Göttingen: V&R Unipress können, die aber auch darüber hinaus gehen, d. h.: Filipp, S.-H. (2010). Kritische Lebensereignisse. Weinheim/Basel: Beltz • Bildung, Erziehung und Beziehungs- Fischer, H./ Renner, M. (2011). gestaltung Heilpädagogik: Heilpädagogische Handlungskonzepte (Inklusive Pädagogik, Gestaltung eines in der Praxis. Freiburg: Lambertus therapeutisches Milieu und unterrichten) Wagner Lenzin, M. (2007). • Diagnostik Elternberatung: Die Bedeutung von Beratung in Bewält- (Verstehen, Erkennen und Einordnen gungsprozessen bei Eltern mit ihrem Kind mit Behinderung im Hinblick auf Teilhabe und Inklusion) (Profile – Theorie und Praxis der Sonderpädagogik). • Förderung, Therapie, Bern: Haupt Rehabilitation und Beratung Zimbel, A. F. (2012). (Individuelle Unterstützung und Arbeit Lasst unsere Kinder spielen! Der Schlüssel zum Erfolg mit dem System) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
„Kind sein dürfen!“ Ein Wegweiser der SpielFreiZeit für Kinder in Krisensituationen – Curd Michael Hockel 9 „Kind sein dürfen!“ Ein Wegweiser der SpielFreiZeit für Kinder in Krisensituationen Curd Michael Hockel, Dipl. Psychologe Manchmal ist es mit Vortragstiteln verhext: dessen Zucht und Ordnung nur mit zivilisatori- natürlich werde ich keinen Wegweiser für Kinder scher Mühe zu erreichen ist, dann wird die Er- in Krisensituationen aufzeigen – auch wenn dieser laubnis „Kind sein dürfen“ etwas anderes heißen, vielleicht mit dem Ausruf „Kind sein dürfen!“ als wenn „der Mensch“ als natürlich friedfertiges auch schon gemeint und gesagt ist. Aber eigent- „gutes“ Wesen gesehen wird. Ist die Menschheit lich geht es darum, dass wir Erwachsene uns diese im innersten friedfertig oder gewalttätig? Mit beiden Grundgedanken deutlich machen: Kinder dieser Frage möchte ich einsteigen. müssen Kinder sein dürfen – und in Krisensitua- tionen benötigen wir Erwachsene Wegweiser um Ihre Kindheit ist mehrheitlich von dem geprägt, ihnen helfend beizustehen – ein solcher Wegwei- was der beste Kenner der menschheitlichen ser wird mit dem neuen Fachterminus SpielFreiZeit Gewaltentwicklung, Steven Pinker (2011) den herzuleiten sein. Um es vorneweg zu nehmen – „Neuen Frieden“ nennt, jene Zeit nach dem SpielFreiZeit ist für mich ein Arbeitsbegriff, der zweiten Weltkrieg in welchem die Menschheit das zusammenfasst, was dann, wenn es beruflich aus dem Zustand eines „Gleichgewichtes des geleistet wird, auch heilpädagogische Spiel- Schreckens“, in eine Wirklichkeit eines Neuen therapie genannt wird. Friedens eintrat, in welchem die Großmächte untereinander keine Kriege mehr führten und Heute geht es um Kinderseelen in Not, wobei wir die Gewalt auf dem Globus endgültig soweit nie vergessen, dass Kinderkörper auch in Not abnahm, dass er zusammenfassend sagen kann: sein können – Armut, Hunger, Gewalt als sexuelle „Die Gewalt ist über lange Zeiträume immer oder anders misshandelnde Gewalt treffen auch weiter zurückgegangen, und heute dürften die Leiber. Wenn wir also uns Kinderseelen in Not wir in der friedlichsten Epoche leben, seit zuwenden, dann doch wohl vor allem, weil wir unsere Spezies existiert.“ (Pinker 2011, S.11) wissen, dass der Leib Verletzungen leichter heilen kann als die Seele, dass ein Hunger nach Nahrung Pinker schrieb dies Monumentalwerk der mensch- leichter zu befriedigen ist als der nach einer liebe- heitlichen Gewaltgeschichte nicht als Historiker, vollen Beziehung und dass Körperkrankheit und er ist Evolutionspsychologe und forscht und lehrt Seelenqual untrennbar zusammengehören. seit 2003 an der Harvard University in den USA. Und nachdem er die historischen Statistiken für Kind sein dürfen sich – und für seine These – sprechen lässt, kommt Es erhebt sich die Frage, was benötigen kleine er auf das engere Fachgebiet, das uns heute Menschen um „Kind sein zu dürfen“ und was interessiert. Ich möchte aus seinem Erkenntnis- wird dann sichtbar, wenn junge Menschen „Kind schatz zwei Gesichtspunkte hervorheben. Er sein dürfen“? Immer wenn es um helfendes berichtet von den inneren Dämonen, der dunklen Handeln am Kinde geht, geht es ums Menschen- Seite im Menschen und führt Forschungsergeb- bild – denn wenn „der Mensch“ als Bestie nisse an: gesehen wird, den zu dressieren schwer ist und
10 Vorträge „Der Psychologe Richard Tremblay ermittelte das Selbstkontrolle liegen. Kindern wurde im Zuge der Ausmaß der Gewaltanwendung im Laufe eines Zivilisierung beigebracht, dass sie sich selbst Lebens und konnte damit zeigen, dass das entsprechend den „Benimmregeln“ zu verhalten gewalttätigste Lebensstadium nicht die Pubertät haben. Im Spielen haben die Kinder das Mittel oder das junge Erwachsenenalter ist, sondern das der Selbststeuerung des „als – ob“. Hier sind alle Trotzalter von ungefähr zwei bis drei Jahren … denkmöglichen Grenzverletzungen erfahrbar Ein typisches Kleinkind tritt, beißt, schlägt „als ob“ sie stattfänden. und rauft zumindest manchmal, und im weiteren Verlauf der Kindheit geht die Selbstkontrolle führt die „typischen Kleinkinder“ Häufigkeit der körperlichen Aggression dann in eine soziale Gemeinschaft, in der sie wechsel- nach und nach zurück …“ Tremblay merkt dazu seitige Unterstützung zu leben vermögen – es sei an: „Babys bringen sich gegenseitig nicht um, denn sie werden dauerhaft nur auf Konkurrenz weil wir ihnen keine Messer und Pistolen geben. trainiert. Darauf komme ich später zurück. Die Frage … die wir seit 30 Jahren zu beantwor- ten versuchen, lautet: Wie lernen Kinder aggressiv Im Augenblick ist mir erst mal wichtig, dass dies zu sein? Aber das ist die falsche Frage. Die richtige „Bannen“ der Aggressivität in einer anpassenden, lautet: Wie lernen sie, nicht aggressiv zu sein“ Selbstkontrolle ermöglichenden Sozialisation durch (in Pinker 2011, S. 714). die Institutionen der Erziehung (Familie und Schule) geleistet wird. Und dabei allerdings muss das rechte Scheint es also, als sei man nun von der einen Augenmaß behalten werden. „Kind sein dürfen“ Forschungsposition, „wie entsteht Mord und muss immer auch heißen, eigene Erfahrungen mit Totschlag?” zur anderen, wie dies zu unterbinden Grenzen, Streichen, „Jugendsünden“ zu machen. sei fortgeschritten, so ist dies wie jede Schwarz- Ich verwende bewusst den altertümlichen Begriff Weiss-Malerei unzutreffend als Abbild von Wirk- des „Bannens“, denn damit ist angesprochen, lichkeit – als eine didaktisch herausarbeitende dass die verhaltenssteuernde Macht von Regeln, eigene provozierende Wirklichkeit sind solche Gesetzen, Verboten sozial umgesetzt werden Vergröberungen natürlich hilfreich, Karikaturen muss – und dies kann nicht allein durch immer und Kohlerisszeichnungen können viel verdeut- mehr Polizei geschehen, dies muss auch durch das lichende Kraft in sich haben. wechselseitige in „Acht und Bann“ nehmen der unerwünschten Verhaltensweisen und durch die Tatsächlich gilt: „Vor 1970 wurde in der entwick- geeignete Entwicklung von Anstand und Selbst- lungspsychologischen Literatur zum Thema steuerung in jedem Einzelnen erfolgen. „Aggression” eine wesentliche Unterscheidung nicht getroffen: spielerisches Raufen sowie In dieser Zusammenfassung steckt auch eine Kampfspiele wurden nicht von ernst gemeinter sozialpolitisch brisante Forderung: „Kind sein Aggression unterschieden…“ (Bischof-Köhler dürfen“ – heißt – spielen können, – spielen 2011, S. 136) dürfen, und gehalten, gelassen und begleitet reifen und lernen zu dürfen. Dazu passen die inzwischen quasi Allgemeinwis- sen darstellenden Forschungsergebnisse wie die Einerseits ist das Insgesamt der Kinderkäfighal- von Wegner–Spöhring (1995): Aggressivität im tung ein wirksamer Schrecken – ein grausames kindlichen Spiel ist gebannte Aggressivität. Fehlbewerten der Notwendigkeiten kindlicher Lebenswelten und ein Terror gegen die Risiko- Dass wir heute in der gewaltärmsten Welt seit An- bereitschaft von Eltern gegenüber der Selbstver- beginn der Menschheitsgeschichte leben hat mit antwortung ihrer Kinder. Aus Angst um die Kinder vielen einzelnen Entwicklungsschritten zu tun – werden diese in Käfigen des „das darfst Du nicht, von der menschenfressenden Horde zum geregel- das ist zu gefährlich“ gehalten, die ihre Erlebens- ten Gemeinwesen, das Gesetze erlässt …– wie welt verkümmern lassen und sie zwingen in die gesagt, wenn sie hierzu die einzelnen Entwick- kalten und leeren Übungswelten zu fliehen, die lungsschritte nachlesen und nachvollziehen sie in der Sicherheit des Wohnzimmers hinter der wollen, machen sie sich die Freude und lesen Panzerglasscheibe des Bildschirmes entdecken – Pinker (2011). Der für uns bedeutsamste Aspekt mit all den Folgen, die Spitzer (2006) beschwört. dürfte in der Entfaltung von Empathie und
„Kind sein dürfen!“ Ein Wegweiser der SpielFreiZeit für Kinder in Krisensituationen – Curd Michael Hockel 11 Und daneben werden die Normen immer drohen- sondern durch Erlebnisse. Nicht das was geschieht der. Pinker (2011) meint pointiert: „Die historische entscheidet ob ein Kind in Krise ist, sondern das, Zunahme der Wertschätzung von Kindern ist was ein Kind erlebt / erfährt (Hockel 2013). mittlerweile in ihre dekadente Phase eingetreten“ (S. 657) und illustriert dies erschreckend an den Krisenhelfer dürfen keine Besserwisser sein, sie amerikanischen Erfahrungen: müssen sich dauerhaft und ständig selbst prüfen. „Die Null-Toleranz-Politik gegen Waffen auf dem Sie müssen den Mut haben sich dem Kind so zu Schulgelände führte dazu, dass ein sechsjähriger nähern, dass klar ist: wenn es ihnen nicht gelingt Jungpfadfinder, der ein Camping-Allzweckwerk- das Kind in eine Beziehung zu locken, dann zeug in seine Frühstücksdose gepackt hatte mit werden sie nicht helfen können. Geduld ist daher dem Schulausschluss bedroht wurde; ein zwölf- eine wesentliche Grundtugend für Krisenhelfer. jähriges Mädchen, das im Rahmen eines Klassen- Und das beste Paradigma für gelingende Bezie- projektes mit einem Teppichmesser Fenster in hung im Kindesalter ist das gemeinsame Spiel. ein Haus aus Pappe geschnitten hatte, wurde der Wer es schafft mit einem Kind in Krise „ins Spiel Schule verwiesen, und auch ein Pfadfinder, der zu kommen“, der hat den entscheidenden ersten das Motto „Allzeit bereit” befolgen wollte und in Schritt getan. In meiner Praxis ist dies meist dann seinem Auto einen Schlafsack, Trinkwasser, eine auch wirklich ein erster Schritt – nämlich der in Notfall-Essensration und ein fünf Zentimeter das Therapiezimmer. Ich bin leidenschaftlicher langes Taschenmesser mitführte, wurde suspen- Raumgestalter für kindliche, heilungsförderlich diert …“ (Pinker 2011, S. 656 – 657). gemeinte Lebenswelten (Hockel 2004). Damit ist deutlich, dass wir dabei sind, uns in Hier möchte ich einen ersten Ausgriff auf das einer aus der Wertschätzung von Kindheit empor machen, was wir Krisensituation nennen. In meiner wuchernde, übertriebene Ordnungsangst zu Praxis – und das meine ich jetzt in jenem Doppel- verlieren. sinn, dass diese die Summe meiner Erfahrungen ebenso ist, wie die 100 m² am Thierschplatz – Wegweiser zur Spieldefinition lernte ich viele Kinder kennen, deren Eltern, und für Krisenhelfer Lehrer, Heimerzieher, Pflegeeltern, Kinderärzte sie Ich werde ihnen fünf Wegweiser des Verhaltens als Personen in Krisensituationen beschrieben. vorstellen, die meiner Auffassung nach für alle Krise kann nur subjektiv diagnostiziert werden, zwischenmenschliche Arbeit (Unterrichtung, objektive äußere Einflüsse können akut als Not- Therapie) zentral sind – sie stellen auch zentrale fälle auftreten, dies bedeutet jedoch ebenso wenig Wirkfaktoren von Psychotherapie dar (Hockel eine „Krise“, wie es ein Trauma bedeuten muss. 2011). Diese Wegweiser sind auch eine Reise durch die Psychotherapieforschung: der erste Wenn es gut geht, kann ich das Kind bewe- stammt aus der Psychoanalyse: Selbstprüfung, gen sich meinem Raum anzuvertrauen – ein- die nächsten drei bilden das Kerngerüst person- zutreten. „Tatsächlich kenne ich in meiner Praxis zentrierter Psychotherapie und im Fünften natürlich mehr Fälle, in welchen die Kinder / Jugend- bildet sich die Summe aller Lernpsychologischen lichen sich selbst subjektiv ganz und gar nicht in (Kognitions- und Verhaltenswissenschaftlichen) Krise erfuhren, während die Erziehungsberechtig- Kompetenzen ab. ten von mir durchaus darin bestärkt wurden, dass dem Kind nun Hilfe anzubieten sei. Damit bot ich Selbstprüfung mich auch als Helfer an – und stand sogleich vor der Spielen ist freiwillig – was Menschen nicht frei- zweiten Prüffrage: Wie steht die Person zu mir?“ willig tun kann kein Spielen sein – so ist jedes (Hockel 2013). Das meint auch, dass das Kind / Spielen nur möglich im selbst geprüften Gleich- der Jugendliche sich fragt: werde ich als die Person gewicht des freiwilligen Dabei-Seins. Manche wahr genommen, die ich bin? Darf ich so sein, Kinder sind nicht spielfähig – und gerade die Spiel- wie ich bin? Diese (ängstliche / trotzige) Frage des unfähigkeit kann eines der ersten oder zentralen Kindes / Jugendlichen prüft unsere Bereitschaft Kennzeichen dafür sein, dass ein Kind in Krise ist. und Fähigkeit des Annehmens. Selbstprüfung des Denn Krise wird nicht durch Ereignisse definiert, Therapeuten wird so auch zur Spiegelung der Selbstunsicherheit der Kinder.
12 Vorträge Offenheit Einfühlung Offenheit meint die emotionale Tragfähigkeit des- Einfühlung, Empathie, Verbalisation emotionaler jenigen, der sich als Mitspieler und /oder als Helfer Erlebnisinhalte – das haben Sie alle irgendwann zur Verfügung stellt. Offenheit ist jene menschli- auf den Wegen Ihrer Ausbildung kennen gelernt, che Wärme, die jeden anderen erst einmal gelten dass dies mit der Forschungsgruppe von Carl lässt, die dem Angeklagten – bis zum Erweis der Ransom Rogers als zentraler Wirkfaktor der Schuld – mit der freundlichen Unschuldsvermu- Gesprächspsychotherapie (Rogers 1973) und mit tung entgegentritt, die jedem Menschenkind die den Forschungsergebnissen des Ehepaars Tausch Gattungssolidarität des würdigen, geachteten (1977) als eine der wichtigsten Dimensionen Mitmenschleins anbietet. Offenheit ergibt: Spielen pädagogischen Verhaltens erkannt wurde. bedarf der Regeln die die Spielsituation definieren Zur Empathie ist auch bedeutsam zu verstehen: Die Menschenrechte sind jene Spielregeln, nach „Wir können nicht damit rechnen, dass die Form denen wir unsere Kommunikation organisieren – von Empathie ausgelöst wird, die wir uns wün- Offenheit ergibt, dass wir nach bestimmten schen, nämlich die mitfühlende Besorgnis um Regeln zu handeln haben, wenn wir spielen das Wohlergehen anderer. Mitgefühl kommt wollen – und diese freiwillig beachteten Regeln von innen und ist keine Ursache, sondern eine müssen den Spielenden bekannt sein, sonst Wirkung des Umgangs zwischen den Menschen. können sie nicht zu Mitspielern werden. Spielen Je nachdem, wie Betrachter eine Beziehung ist freiwillig und regelhaft. Die Notfallpsychologie wahrnehmen, fällt ihre Reaktion auf die Schmer- hat erforscht, was wesentliche Kompetenzen von zen eines anderen empathisch, neutral oder sogar Nothelfern sind – die bedingungslos warm wert- gegenempathisch aus“ (Pinker 2011, S. 856). schätzende Mitmenschlichkeit muss gegeben sein und dies angesichts allen denkmöglichen mensch- Spielende sind nicht von dieser Welt – sie leben lichen Entsetzens. Die „parteiliche Empörung“ in einer einfühlbaren Eigenwelt. Die Kompetenz, ist ebenso wenig hilfreich wie die ohnmächtige, die Gefühle eines Kindes wahr zu nehmen, hilflose und vielleicht sogar retraumatisierende unterscheidet feinfühlige von anderen Müttern Selbstverteidigung des Helfers „Du brauchst jetzt und möglichweise auch unterschiedliche Schulen nicht mehr daran zu denken … Du musst mir das der Pädagogik und Kinderpsychotherapie. Für auch nicht so genau schildern….“ mich ist Empathie zu erlernen der Grundkurs aller Kompetenz im Umgang mit Kindern und Jugend- So schrecklich schwer es sein mag: wer das lichen. Gerade nachdem in der psychologischen Schlagen eines Kindes – wie ich – als eine schwere Forschung kognitionswissenschaftliche und ver- Grenzverletzung erlebt (die seit 2000 auch in haltenstheoretische Zugänge zum Kind als Be- Deutschland endlich einen Rechtsverstoß bedeutet, handlungsgegenstand so weit entfalteten, dass es da Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung „Siegeszüge der Verhaltenstherapie“ zu feiern haben) und seine Empörung darüber, dass es galt, gerade in dieser Konfrontation konnte ich dem Krisenopfer angetan wurde, nicht soweit in immer wieder erleben: gut war jene Verhaltens- den Hintergrund stellen kann, dass er offen und therapie, die von intuitiv empathischen Menschen herzlich mit dem was da ist gehen kann (dem geleistet wurde. geprügelten Kind, das jetzt eben nicht noch die Problematik unseres „Mitleidens“ aufgebrummt Die zentrale Kompetenz jeden Krisenhelfers bekommen darf), der kann noch kein Krisenhelfer ist die praktizierte Empathie. Denn Kinder in für geschlagene Kinder sein. Offenheit bedeutet Krisensituationen leben in Eigenwelten – die auch den Verzicht auf jene Ordnungsgesichts- Krisensituation wird eben nicht vorrangig durch punkte, die uns Halt geben und selbstverständlich die Äußerlichkeiten definiert, sondern durch das, erscheinen. was die Umweltsituation im Erleben des Kindes bedeutet. Selbstverständlich kann keine Krisen- hilfe beginnen, solange die ganz akute äußere Katastrophe anhält. Das missbrauchte Mädchen muss erst in Sicherheit sein, ehe die Bewältigungs- krise einer Missbrauchserfahrung – meist als Trauma wirksam – dann behandelt werden kann.
„Kind sein dürfen!“ Ein Wegweiser der SpielFreiZeit für Kinder in Krisensituationen – Curd Michael Hockel 13 Der Bub, der im Auto saß, als seine beiden Eltern eines Instruments, sondern auch die Entfaltung tödlich verunfallten – er wird nicht in den Trüm- des eigenen, auch intuitiven Handelns und mern des Fahrzeuges Krisenhilfe bekommen – Begegnens hin zu einer hilfreichen Identität. hier ist Notfallpsychologie angesagt, die erst einmal jene Lebenswelt ermöglicht, in der das Echt sein fordert: Die Spielenden in ihren wech- Kind, das die Schreckenserfahrung machte, dann selnden Identifikationen zu achten. Was Echt sein einem Krisenhelfer begegnen kann. Die Resilienz- meint ist vielleicht am besten durch Kindermund forschung hat ergeben, dass Kinder in schreck- zu verstehen. In Gisela Wegner-Spöhrings materi- lichen Krisensituationen leben können und un- alreichem Buch zur Aggressivität im kindlichen beschadet ihren Weg gehen können – solange Spiel kommt folgende dichte Passage vor. Sie eine tragfähige emotionale Beziehung sie spüren berichtet von einer Studie: „Das Beispiel ‚Cowboy lässt, dass sie geliebte und liebenswerte Menschen und Indianer‘ zeigt, wie sich der zum Mitspiel sind. aufgeforderte Erzieher völlig unangemessen in den spielerischen Kampf der Jungen einbringt. Spielen ist freiwillig, regelhaft und entführt die Er will nicht ‚schießen‘ und befragt, was er denn Spielenden in jeweilige Eigenwelten – Krisenhelfer dann täte, antwortet er in philosophischer Manier: müssen sich selbst prüfen, wertschätzend offen ‚Ich arbeite, ich esse, ich schlafe‘. Das Kind sein und sich in die Krisenopfer (und deren Lebens- (Alfred) ist fassungslos, das Cowboyspiel geht welt) einfühlen können. ganz anders: ‚…machen se nicht bei Winnetou‘ sagt Alfred und wendet sich ab.“ (Wegner- Echt sein Spöhring 1995, S. 191) „Wenn mein Sohn sich so aufführt, dass ich ihn gar nicht mehr erreiche, dann fängt er eine!“ – Freiwillig, regelhaft, in Eigenwelten und wechseln- diese Väterliche Programmaussage empathisch de Identifikationen geborgen – so geht Spielen aufzugreifen ist unverzichtbar und es ist nicht entsprechend den ersten vier unserer Definitions- statthaft in die Empathie manipulierend Korrek- elemente. Mitspielen oder Dabeisein – ist eine turen einzubauen. Also eine Äußerung wie „Es wesentliche Frage an jeden Spieltherapeuten und schmerzt sie, dass sie ihm dann die Schmerzen es ist ein bedeutsames Lernziel hier Handlungs- nicht ersparen können“ wäre eben gerade nicht sicherheit zu erreichen. empathisch und in ihrer manipluativen Absicht Und selbstverständlich meint Echtsein auch jenes nur lächerlich. Wenn ich jedoch zutreffend sage: professionelle Verhalten, das dem Kind-Jugend- „Es macht sie stolz, dass sie sich zu helfen wissen“ lichen dient indem es dem Helfer seine eigene dann habe ich zwar vermutlich einen verblüfft Verantwortung lässt. Echtsein ist keine Erlaubnis- sich verstanden fühlenden Vater vor mir, aber dimension, sondern eine Verpflichtung. auch nicht die ganze Wahrheit der Emotion und Echt sein fordert: Der Krisenhelfer muss un- vor allem nicht meiner Stellungnahme zu dieser erschütterlich in seiner Ruhe und Zuversicht geäußert. Ich denke, wir sind in solch einem bleiben können. Fall zu beidem verpflichtet: zur empathischen Präzision und zur persönlichen Authentizität – zu Die Ausbildung zum Kinderpsychotherapeuten unserem eigenen Echt – sein. „In ohnmächtiger ist eine Qualifizierung in einem sehr mächtigen Wut schlagen sie dann zu“ – UND – „Und jeder Verhaltensinstrument – erfolgreich angewandt Schlag gegen ein Kind zerschlägt Beziehung – werden kann es jedoch nur in tiefer Achtung ich spüre ein wenig von all dem: ihre Hilflosigkeit, vor der Selbstheilungskraft, der organismischen ihre Empörung einerseits, die brennende Wange Selbstregulation derer denen geholfen werden und die Demütigung ihres Kindes andererseits.“ soll. Für jede Psycho-Hilfe gilt der uralte Ärzte Spruch: Der Arzt hilft, die Natur heilt. Und darüber Helfer helfen durch Beziehungsqualität und diese hinaus gilt, dass Psychotherapie aufgrund der ist nicht das Ergebnis von artistisch angewandten unauflösbaren Freiheit jeden – auch noch so Interventionskompetenzen (obwohl diese in ihrer jungen Patientens – immer ein Heilversuch sein Vielfalt kennengelernt und erarbeitet / erübt wer- wird: das Angebot einer einmaligen Begegnung, den müssen) sondern wird immer getragen von einer hilfreichen, vielleicht heilsamen Beziehung. der Echtheit – der menschlichen Begegnung und Ohne supervidierende Begleitung und immer deren Tragfähigkeit. Ausbildung zum Spielthera- wieder auftankende Fortbildung ist Krisenhelfer peuten, zum Krisenhelfer ist nicht nur das Erlernen – Dasein daher unmöglich.
14 Vorträge Fördern und Fordern • Kinder sollten in einer Weise erzogen werden, Fördern und Fordern ermöglicht: Im Spielen das die es ihnen ermöglicht, genügend emotionale Lexikon der Emotionen kennen zu lernen und sich Sicherheit anzusammeln, um Unternehmungs- somit emotional reifen zu lassen und vielfältige lust und Autonomie zu entwickeln und in der Kompetenzen zu entfalten. Damit ist die Katze Lage zu sein, in einer Situation, in der jeman- aus dem Sack: Spielen ist freiwillig, regelhaft, dem ein Missgeschick widerfahren ist, selbst- offen für Eigenwelt und wechselnde Identifika- ständig zu helfen, ohne dass ihnen das andere tionen und ermöglich es alle Gefühle schadlos Personen erst ausdrücklich erlauben oder sie kennen zu lernen und sie auch regulieren zu dabei unterstützen müssen. können. Im Schutzzustand des „als ob“ werden • Und schließlich kann man von einem Kind, die ganzen unverständlichen, emotional kaum das ausdrücklich auf Konkurrenzdenken hin erträglichen Handlungen und Gefühle der sozialisiert ist, nicht erwarten, dass es für Erwachsenen vorwegnehmbar. Spielen ist jenes andere einzutreten bereit ist.“ (Bischof-Köhler Probehandeln, das dem Kind das „erwachsen“ 2011, S. 444) ermöglicht. Nur wer genug spielen durfte kann auch emotional reich und vielseitig werden. Und Dass die Entfaltung solcher Kompetenz nicht spielen ist keineswegs immer nur Spaß. Im Spielen bedeutet, auf die Förderung aller anderen Kom- erlebt das Kind Angst (es spielt damit in jedem petenzen zu verzichten, dürfte selbstverständlich Versteckspielen), es erprobt sich als Draufgänger sein – allerdings wird das Lernen aller anderen (als Stürmer im Fussball), es lernt sich kennen als Leistungskompetenzen in einer angstfreien und fürsorglich (in jedem Vater-Mutter-Kind Spiel). Es wechselseitig zuarbeitend, unterstützenden Lern- übt sich mutig zu verhalten („wir spielen Kranken- Atmosphäre auch besser klappen, als in einer auf haus …“). „Ellbogenegoismus”-zentrierten Lern-Atmosphäre. Fördern und fordern ermöglicht: Dass der Krisen- FreiSpielZeit – ein neuer Begriff ? helfer umsichtig und vorausblickend Lernwege Eine Umschreibung für heilpädagogische andeutet und Grenzsetzungen sichert. Die beste Spieltherapie! und aktuellste Darstellung der sozialen Entwick- Stellen Sie sich vor wir würden ein einfaches, lung in Kindheit und Jugend (Bischoff-Köhler körperliches Funktionsspiel spielen – jeder für sich. 2011) fasst die bisher bekannten, gesicherten Sie können es als Leser/in auch spielen: Däumchen Empfehlungen für die Förderung prosozial-morali- drehen. Wir spielen und dabei benutzen wir schen Verhaltens so zusammen: unseren Leib als Spielzeug. Dieser Leib ist Wirk- • „Kinder sollten ein normales Ausmaß an lichkeit – und während sie nun schnell oder lang- eigener Erfahrung mit negativ getönten sam drehen entsteht eine Eigenwelt: sie können Gefühlen haben, denn nur so lernen sie, in den Daumen einander verfolgende, im Kreis sich vorzustellen, wie andere sich in solchen rennende, spielende junge Katzen sehen, sie kön- Situationen fühlen. nen die Flügel einer Windmühle spielen. Jedes • Kinder sollten die Möglichkeit haben sich in die Spiel schafft Eigenwelt. Lage eines Anderen zu versetzen, zu helfen und zu trösten, damit sie die nötige Erfahrung Und so können sie auch den Daumen persönliche sammeln können, die ihnen ermöglicht immer Identitäten geben, vielleicht ein Gesicht auf den angemessener zu helfen Daumennagel malen und schon wird es ein „Vater • Sie sollten auf die Folgen ihrer eigenen Hand- rennt hinter dem frechen Sohn her“ oder „zwei lungen für die Gefühle anderer hingewiesen tanzen fröhlich“ Spielen, es werden wechselnde werden (induktive Methode) und aggressives, Identifikationen bespielt, erspielt, ins Spiel rücksichtsloses Verhalten nicht einfach nur gebracht. Kinder im Krankenhaus, die auf ihre kommentarlos verboten bekommen. Genesung warten mussten, wurden gefragt, wie sie denn die Zeit für sich gestalten, nutzen würden, die zentrale Antwort war „ich mache mir schöne Gedanken“, dies wurde zu Recht als Gedanken- spielen begriffen.
„Kind sein dürfen!“ Ein Wegweiser der SpielFreiZeit für Kinder in Krisensituationen – Curd Michael Hockel 15 Spielen ist freiwillig, regelhaft, schafft (auf Wirk- Was meint denn Spiel. Was macht das Spielen lichkeit bezogene) Eigenwelt und schenkt wech- zu meinem und umgekehrt, was macht mir das selnde Identifikationen – soweit unsere Definition. Spielen zu eigen? Weltaneignung ist ernstes Nun zum wichtigsten Bestimmungsstück des Spielen. Im Spiel sein meint zu leben. Der Gegen- Spielens. Zur Definition des Spielens gehört satz zu Spiel ist nicht Ernst und Arbeit sondern zentral die Gefühlsoffenheit – eben nicht nur Unfreiheit – insofern könnte es ein Spiel-und- für Freude, wie Erwachsene abwertend meinen. Arbeit Denken geben, das des Spielens Freiheit Spielen ist offen für alle Gefühle, schon auch zu achten vermag. Arbeit die freiwillig geleistet insbesondere für Spielspass und Freude, jedoch wird trägt alle Phänomene des Spielens in sich, für Erfahrungen die des Gelingens und Miss- unterscheidet sich nur durch jene Verpflichtungs- lingens, also auch für Angst und Wut, Hass und dimension, dass der Arbeitende einen Gestal- Neid. tungszweck für andere, einen sozialen Vertrag, eine Zuwendung in seinem Handeln mit gestaltet. Arbeiten ist jenes ernste Spielen, das dem Kind S P IE LE N Damit steht unsere Definition nicht zugemutet werden kann, weil sein Spielen von Spielen: noch in der beliebigen Freiheit des Erprobens Spielen ist das (1.) freiwillige, durch steht. Ein Orchester, das „spielt“ zeigt, was es (von den Beteiligten jederzeit änderbare) wirklich meint zu arbeiten. Eine Kindergruppe, die (2.) Regeln gekennzeichnete Handeln spielt macht erfahrbar, was Arbeit alles zu Wege von Menschen, die sich im Spiel in einer zu bringen vermag. (3.) Eigenwelt des „als-ob“ bewegen, in welcher sie leichthin unterschiedliche Im Vortrag zeigte die Videoaufzeichnung aus (4.) Identifikationen („Vater-Mutter- einer Spielstunde: Das Kind fordert sich selbst, Kind“, „Räuber-Polizist“) erprobend Es erprobt sich bis zur „Erschöpfung“. übernehmen und entfalten können und hierbei (5.) Erfahrungen aller Gefühle Freiheit ist das tun dürfen, was man tun will und machen können. nicht das tun müssen, was man nicht tun will. Freiheit ist das Reich des menschlichen Wollens. Ob ein Mensch „gut“ handeln will, kann nur er Spielen ist regelhaft, diese Regeln jedoch können selbst entscheiden und was je und je gut sei, im Spielen selbst jederzeit geändert werden – Das können nur Menschen entscheiden und verant- macht den zentralen Unterschied zwischen einer worten. Fördern wir Kinder im Spielen, so fördern Partie Mensch ärgere Dich nicht in der Familie und wir die Fertigkeit zur Freiheit, das Handwerk der der Spieltherapie aus. In der Familie werden die Freiheit (Bieri 2001). Spiel-Frei. Und dies braucht Regeln fest geschrieben – in der Therapie können Zeit, denn alles Leben ist zeiterfüllend. sie beliebig variiert werden und der trainierte „Asoziale“, der Spieltherapeut wird die Spielent- Zeitverfügung ist eine Kompetenz, wir nennen sie wicklung nutzen um dem Kind Erfahrungen der gerne auch „Aufmerksamkeit“ oder „Konzentra- Selbstwirksamkeit und der freien Verantwortungs- tion“. Ich nenne die HKS / ADHS Kinder „Schmet- übernahme zu ermöglichen. Spielen ist die terlingskinder“, da ich erlebe, dass sie eine andere Lernstatt der Freiheit. Zeitstruktur in ihrem Handeln haben. Die gegen- wärtige Erforschung dieser Problematik ist in Frei zu sein wird viel zu wenig bedacht. In jedem vollem Gang. Wieweit sich als gesichert heraus- wirklichen Kinderspiel wirkt dies Freisein. Ein Frei stellen wird, dass solche Kinder, Kinder in / aus ist jene Einheit in welcher wir Geschichte messen: Krisensituationen sind, wird sich noch erweisen die Entscheidung, die Wegwahl, die freie Tat. müssen. Sie sind jedenfalls in eine „Hirnnutzung“ Freispiel ist eine alte Konstruktion, die gute Im- gefangen, die problematisch ist. Ich hatte eine pulse gab, heute jedoch verkommen ist zu einem Videostichprobe von Erwin gezeigt – ein solches Spielen-lassen. Was mit dem Begriff einst ange- ADHS-Kind. zielt war muss in neuem Rang gerettet werden.
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