Stiftung Netzwerk Jahres-bericht 2016

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Stiftung Netzwerk Jahres-bericht 2016
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 Jahres-
 bericht
  2016
Stiftung Netzwerk Jahres-bericht 2016
Inhalt

                                                                             5   Editorial
                                                                             6   Gespräch mit Liska Bernet & Andreas Mösli
                                                                            14   Gespräch mit Liliane Amuat & Constantin Seibt
                                                                            28   Gespräch mit Erika Klossner-Locher, Thomas Frey & Carlo Wolfisberg
                                                                            38   Expertengespräch mit Oswald Sigg
                                                                            50   Finanzen & Statistiken, Rückblick, Budget 2017 & Ausblick
                                                                            56   Statistiken
                                                                            62   Bogen F: Konzerte & Anlässe
                                                                            68   Daniel: Bewohner Auffangwohngruppe
                                                                            72   Zaklina: Teilnehmende Arbeitsintegrationsprojekt (AIP)
                                                                            78   Komun: Betrieb unseres Vertrauens
                                                                            84   Jobbus/Garage: Angebot der Stiftung Netzwerk
                                                                           100   Stiftungsrat & Mitarbeitende
                                                                           102   Adressen
                                                                           103   Impressum

    AIP-Schule, Wetzikon: Kunstvermittlung als Teil des Schulunterrichts

2
Stiftung Netzwerk Jahres-bericht 2016
Was im Kleinen geht,
                                                               könnte auch im Grossen
                                                               funktionieren
                                                               Fussball fürs Volk, keine Gewalt und keine Diskriminierung im Stadion, Einsatz für Integration und
                                                               gegen Familienarmut – dafür steht der FC Winterthur. Der Geschäftsleiter des Klubs, Andreas Mösli,
                                                               betont im vorliegenden Jahresbericht, dass er es wichtig finde, demokratische Strukturen im Klei-
                                                               nen aufzubauen. «Ein Fussballklub ist eine ideale Plattform, um den Leuten zu zeigen, wie es anders
                                                               funktionieren könnte.» Auch Liska Bernet, die in Athen das Projekt Khora betreibt und pro Woche
                                                               6000 Flüchtlinge verpflegt, hält fest: «Wir machen die Arbeit, die der Job der europäischen Staaten
                                                               und NGOs wäre, unser Handeln ist also auch ein politisches Statement.»

                                                               Menschen, die für soziale Gerechtigkeit und Standards einstehen und aktiv werden, kitten den
                                                               gesellschaftlichen Zusammenhalt. Schauspielerin Liliane Amuat und Ex-Bundesratssprecher und
                                                               -Vizekanzler Oswald Sigg, zwei weitere GesprächsteilnehmerInnen in diesem Jahresbericht, ver-
                                                               missen diese Gerechtigkeit zurzeit jedoch am meisten. Ungleichheit und Ungerechtigkeit machen
                                                               eine Gesellschaft dysfunktionaler und brüchiger. Insbesondere in rauen Zeiten wie diesen, in denen
                                                               die autoritäre Option bei vielen aufgrund der Verbitterung über nicht gehaltene Versprechen an
                                                               Attraktivität gewinnt. «Wenn Höflichkeit, Augenmass, Verantwortung, Lösungen von Fall zu Fall als
                                                               Tugenden verschwinden», so Journalist Constantin Seibt, «müssen die Ruinen des Bürgertums neu
                                                               besiedelt und die Traditionen aufs Energischste verteidigt werden.» Kurzum: Dagegenhalten ist
                                                               angesagt – ein Aufstand der Anständigen.

                                                               Als soziale Stiftung müssen auch wir mit Stärken und Konstanten arbeiten, uns vermehrt vernetzen
                                                               und die Entwicklung gemeinsam in eine positive Richtung lenken. Über diesen Prozess, aber auch
                                                               über persönliche Positionen diskutieren Erika Locher-Klossner, Thomas Frey und Carlo Wolfisberg
                                                               vom Stiftungsrat der Stiftung Netzwerk im Jahresbericht. Im zweiten Teil dokumentieren zwei
                                                               Porträts wie individuell die Biografien unserer KlientInnen sind. In unserer Reportage erfahren Sie
                                                               ausserdem, wie ein ganz normaler Tag bei unserem Angebot Jobbus/Garage heute ausschaut und
                                                               wie alles seinen Anfang nahm – vor 22 Jahren.

                                                               Einerseits sind wir stolz, dass wir als Nonprofit-Organisation in der Vergangenheit auf Verände-
                                                               rungen adäquat reagieren konnten. Wir wissen jedoch auch, dass die Folgen der Digitalisierung
                                                               und die zunehmenden Anforderungen an die Leistungsfähigkeit der Menschen in Zukunft vor allem
                                                               unsere KlientInnen treffen werden. Für diese Zeitphänomene die richtigen Strategien zu entwickeln
                                                               ist daher dringlich. Denn Nischenplayer wie wir können im Kleinen zeigen, was im Grossen ebenfalls
                                                               funktionieren könnte.

                                                               In diesem Sinn hoffen wir, dass die Lektüre des vorliegenden Jahresberichts für Sie inspirierend ist.
    AIP-Schule, Wetzikon: platonischer Körper im Schulzimmer
                                                               Wir bedanken uns ganz herzlich für das Vertrauen in unsere Arbeit und die grosszügige Unterstüt-
                                                               zung, mit der Sie sich ebenfalls für weniger Ungleichheit einsetzen.

4                                                              Kaspar Jucker, Geschäftsleiter
Stiftung Netzwerk Jahres-bericht 2016
«Wenn du mit
    anpackst,
    kannst du Ein-
                                                                                                                   – ohne Boss und Organisation im Rücken. In           wir die Einzigen, die noch zum Klub hielten. Wir
                                                                                                                   meiner Masterarbeit hatte ich die europäische        pflegten das Loser-Image auf ironische Art. Als
                                                                                                                   Verantwortung bezüglich der Flüchtlingskrise         der Verein vor der Pleite stand, veranstalteten

    fluss nehmen»
                                                                                                                   untersucht. Also beschloss ich, London zu ver-       wir im Gaswerk eine Bierkurvenparty und spen-
                                                                                                                   lassen und nach Serbien zu gehen. Was ich dort       deten dem Klub die Einnahmen: 15 000 Franken.
                                                                                                                   erlebte, überstieg meine Vorstellungskraft. Wir      So kam ich mit dem damaligen Ausbildungschef
                                                                                                                   leisteten vor Ort Nothilfe und bildeten via Face-    Peter Knäbel und dem Präsidenten Hannes W.
                                                                                                                   book Netzwerke: mit Geldgebern, Flüchtlingen,        Keller in Kontakt. Ich sagte mir: «Dein Klub liegt
                                                                                                                   kleinen Grassroot-Gruppen. Und wir machten           am Boden. Wenn du mit anpackst, kannst du
                                                                                                                   einfach immer weiter. Als dann später unser          hier Einfluss nehmen.» Im ersten Jahr arbeite-
                                                                                                                   Camp in Lesbos geschlossen wurde, steckten           te ich gratis. Mir war klar: Wir mussten unsere
                                                                                                                   Tausende von Flüchtlingen in Athen fest. Also        Nische finden. Für mich lag auf der Hand, dass
                                                                                                                   konnten wir nicht einfach nach Hause fahren.         man in diesem Verein soziales Engagement und
                                                                                                                   Natürlich hat auch mein Engagement zwei              Fankultur zuerst verbinden muss, um dann auf
    Ein Gespräch mit                                                                                               Seiten: die weisse Europäerin, die den armen         diesem Fundament aufbauen zu können. Fuss-

    Liska Bernet & Andreas Mösli

                                                                                                               «Wir fällen unsere Entscheide sehr ba-
    Die Welt mehr so machen, wie ihr sie euch             nie in die Welt hinausgezogen. Nach dem Motto        sisdemokratisch, was sehr kompliziert
    vorstellt, im Umgang mit Flüchtlingen, auf dem
    Fussballplatz – ist das euer Hauptantrieb als
                                                          «Global denken, lokal handeln» wollte ich immer
                                                          dort etwas bewegen, wo ich lebe: in Winterthur.      sein kann. Gleichzeitig lebt das Projekt
                                                                                                               von dieser breiten Beteiligung» Liska Bernet
    MacherInnen?                                          Ich habe schon ganz viele Dinge gemacht: als
    Liska Bernet: Ja, bei mir bestimmt. Dass Euro-        Kollektivbeizer, Journalist, Musiker. Ich möchte
    pa gegen die katastrophalen Lebensbedingun-           die Welt in eine bessere Richtung verändern,
    gen von Flüchtlingen viel zu wenig unternimmt,        egal, ob es am Schluss nur 0,001111 Millimeter
    ist offensichtlich. Als ich auf Lesbos war, standen   sind. Bereits während der Lehre trat ich der
    3000 Menschen vor mir im Schlamm, ohne WC,            Gewerkschaft bei. Für mich war schon damals              Flüchtlingen hilft. Doch die Ungleichheit auf die-   ball ist für mich die Welt im Kleinformat. Bei uns
    ohne irgendetwas. Ich musste etwas unterneh-          klar, dass man sich engagieren muss, wenn sich           ser Welt ist eine Realität. Ich sehe mich darum      findest du die verschiedensten Menschen, Ge-
    men und handeln, denn für mich steht immer der        etwas ändern soll.                                       vor allem als Brückenbauerin. Mit dem Geld aus       nerationen, sozialen Schichten. Der Fussballklub
    Mensch im Vordergrund. Solange die politischen                                                                 der Schweiz und Europa werden die Leute un-          ist eine ideale Plattform, um diesen Leuten zu
    Strukturen sich nicht ändern, ist Handeln zwar        Warum entscheidet sich eine junge Frau, nach             terstützt, die von der Ungleichheit stärker be-      zeigen, wie es auch anders funktionieren könn-
    nur in einem limitierten Rahmen möglich. Unser        ihrem Masterstudium sogleich ein eigenes Pro-            troffen sind als ich.                                te. Trotzdem ist der Job als Geschäftsleiter eine
    Handeln ist aber auch ein politisches Statement:      jekt zu realisieren und nicht wie alle anderen bei                                                            Gratwanderung. Einerseits ist er spannend, weil
    Wir machen den europäischen PolitikerInnen,           einer NGO anzuheuern?                                    Wie wird ein ehemaliger «Bewegter» Fussball-         du viel erreichen und anreissen kannst: Inte-
    Staaten, NGOs unmissverständlich klar, dass           Bernet: Ich arbeitete nach dem Studium auch              funktionär?                                          gration, Solidarität, Spendeaktionen. Anderer-
    wir genau registrieren, was passiert. Und dass        noch bei zwei NGOs. Doch obwohl sie klein wa-            Mösli: Fussball faszinierte mich bereits, als ich    seits ist Fussball ein spezielles Business. Neben
    wir darum die Arbeit machen, die eigentlich ihr       ren, war mir im Hinblick auf die Entwicklungs-           jung war. Ich gehörte irgendwann der Bierkurve       dem Ökonomischen spielt das Emotionale stark
    Job wäre und in ihrer Verantwortlichkeit liegen       hilfeindustrie nicht wohl bei der Sache. Darum           der links-alternativen Fanszene des FC Win-          hinein. Das alles unter einen Hut zu bringen, ist
6   würde. Andreas Mösli: Als Macher hat es mich          wollte ich lieber ein eigenes Projekt realisieren        terthur an. Um die Jahrtausendwende waren            extrem schwierig. Wenn es auf dem Platz läuft
Stiftung Netzwerk Jahres-bericht 2016
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    Liska Bernet   Andreas Mösli
Stiftung Netzwerk Jahres-bericht 2016
Andreas Mösli, *1965, aus Winter–                                                                                    Liska Bernet, *1989, aus Zürich, hat
             thur, ehemaliger «Bewegter», Journa-                                                                                 Politikwissenschaften an der Universi-
             list beim «Tages-Anzeiger» für die Re-                                                                               tät Zürich studiert und ein Masterstu-
             gion Winterthur. Bis heute Mitglied der                                                                              dium an der School of Economics (LSE)
             Winterthurer Gitarrenrockband Ear,                                                                                   in London absolviert mit Fachgebiet
             mit der er im Vorprogramm von Bad                                                                                    Entwicklungszusammenarbeit und Fo-
             Religion und Dinosaur Jr. auftrat. Seit                                                                              kus auf humanitäre Nothilfe; Abschluss
             2002 engagiert er sich beim FC Winter–                                                                               2015. Freiwilligenarbeit während der
             thur; im ersten Jahr arbeitete er gratis                                                                             Flüchtlingskrise in Serbien und auf Les-
             im Vorstand. 2003 übernahm er die Ge-                                                                                bos, wo sie mit anderen HelferInnen ein
             schäftsleitung des hoch verschuldeten                                                                                Flüchtlingscamp für über 600 Menschen
             Klubs. Heute steht der FC Winterthur                                                                                 aufbaute. Als die europäischen Grenzen
             «für das Gute im Schweizer Fussball»                                                                                 geschlossen wurden, ging sie nach Grie-
             (WOZ, Die Wochenzeitung), weil er sich                                                                               chenland und gründete in Athen das
             auf und neben dem Fussballplatz für ein                                                                              Projekt Khora. Auf fünf Stockwerken
             solidarisches Zusammenleben einsetzt.                                                                                bietet Khora unter anderem Sprach-
             Da der Physiker Hannes W. Keller als                                                                                 und Musikkurse, juristische Beratung,
             Präsident per Mitte Jahr zurücktreten                                                                                eine Zahnarztpraxis und kostenloses
             und gleichzeitig mit seiner Keller AG für                                                                            Essen für zurzeit 1000 Flüchtlinge pro
             Druckmesstechnik als Hauptsponsor                                                                                    Tag. Finanziert wird das Projekt durch
             wegfallen wird, ist der Klub zurzeit auf                                                                             private Spenden und Gelder von kleinen
             der Suche nach neuen Geldgebern.                                                                                     Hilfsorganisationen.

     und der Klub gewinnt, finden dich alle toll. Wenn
     die Mannschaft schlecht spielt, hagelt es Kritik.
                                                         für das Projekt ist also riesig. 18 HelferInnen
                                                         erhalten Kost und Logis. Ausserdem haben wir
                                                                                                             «Es fehlt an Toleranz, an Respekt vor
     War es schwierig, die Leute für eure Idee zu be-
                                                         noch sechs Stipendien à 500 Euro. Auch ich lebe
                                                         von einem dieser Stipendien. Ich bin jetzt in der
                                                                                                             anderen Meinungen und Lebenshal-
     geistern?
     Bernet: Aus meiner Sicht braucht man vor al-
                                                         Schweiz und suche weiter Geld. Unser Budget
                                                         liegt derzeit bei 15 000 Euro monatlich. Pro Wo-    tungen. Es bräuchte mehr Gelassen-
     lem am Anfang jemanden, der an die Idee glaubt.
     Wir erhielten die erste namhafte Unterstützung
                                                         che verpflegen wir damit 6000 Flüchtlinge. Da
                                                         Khora Athen sehr selbständig läuft, könnte ich      heit, um aufeinander zugehen zu
     von einer englischen Grassroot-Organisation.
     Als wir diese erste Hürde genommen hatten, lief
                                                         mir vorstellen, bereits ein weiteres Projekt im
                                                         Libanon oder in Jordanien zu starten. Mösli:        können» Andreas Mösli
     die Geldbeschaffung leichter. In Athen arbeiten     Ich habe die Erfahrung gemacht, dass du schnell
     zurzeit 50 freiwillige HelferInnen pro Tag, circa   Goodwill erntest, wenn du dein Herzblut in ein
     die Hälfte besteht aus Flüchtlingen. Der Support    Projekt steckst und gute Arbeit lieferst. Win-
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Stiftung Netzwerk Jahres-bericht 2016
terthur ist eine ehemalige Arbeiterstadt. Wenn       Fussballer verbindet man in der Regel mit schi-       Bernet: Gerechtigkeit vermisse ich total. Ver-     Eine unübersichtliche Realität bedeutet für die
     du in dieser Stadt «chrampfst», wird das ge-         cken Ferraris. Es gibt aber auch noch eine an-        stösse gegen Menschenrechte und Flüchtlings-       Menschen Überforderung. Darum sagen viele,
     würdigt. Da unser Hauptsponsor und Präsident,        dere Realität: Viele Profifussballer leben nahe       konventionen sind an der Tagesordnung, obwohl      wir müssten die Grenzen schliessen und sollten
     Hannes W. Keller, per Mitte Jahr zurücktritt,        am Existenzminimum. Davon spricht niemand.            Europa Verträge unterschrieben hat. Diese          besser für uns selber schauen. Mösli: Die Über-
     müssen wir nun aber neue Leute und neues Geld        Gleichzeitig wird unsere Integrationsarbeit           Rechtswidrigkeit ist bedenklich. Das Recht zählt   forderung des Individuums in dieser grossen
     finden. In einer finanzschwachen Stadt wie Win-      im Fan- und Nachwuchsbereich viel zu wenig            nicht mehr. Polizisten in Ungarn und Bulgarien     und komplexen Welt ist allgegenwärtig. Auch ich
     terthur wird es immer schwieriger, für Kultur,       gewürdigt und belohnt. 63 Prozent unserer Ju-         verbrennen Flüchtlingen mit brennenden Zi-         verstehe vieles nicht. Darum finde ich es wichtig,
     Sport und Soziales Unterstützung zu erhalten.        nioren haben einen Migrationshintergrund, in          garetten die Arme, nehmen ihnen die Kleider        demokratische Strukturen im Kleinen aufzubau-
                                                          einzelnen Teams sind es über 80. Denen bietet         weg, übergiessen sie mit kaltem Wasser. Diese      en. Ich wollte nie eine linke Kampforganisation
     Ihr müsst in eurer Position auch unangenehme         sich die Chance, als Spieler eine gesellschaftliche   Fälle sind dokumentiert. Aber es folgen keine      aus dem FC Winterthur machen. Ein Fussball-
     Entscheide auf personeller Ebene fällen. Wie         und berufliche Perspektive und Akzeptanz zu er-       Sanktionen gegen diese Staaten. Mösli: Wer         verein hat die gesellschaftliche Verantwortung,
     geht ihr damit um?                                   arbeiten. In diesem Zusammenhang stellt sich          seine Mitmenschen plagt, wird heute eher ho-       möglichst viele Strömungen unter einem Dach
     Mösli: Mir fällt es einerseits extrem schwer. Es     die Frage, wie politisch Fussball, Sport allgemein,   noriert als bestraft. Dass jeder zuerst für sich   zu vereinen. Wenn du all die Leute am Ende un-
     ist hart, einem jungen Spieler, den du seit Jahren   sein darf. Unsere Aufgabe ist es, darüber eine        schaut, manifestiert sich als Mentalität. Die      ter dem Dach hast, kannst du politisch etwas
     kennst und magst, sagen zu müssen, dass es für       Diskussion in Gang zu bringen. Fussballvereine        Krise im Kapitalismus spitzt sich zu, doch den     bewegen. Wenn da nur Linke ständen, wäre der
     die erste Mannschaft nicht mehr reicht. Ande-        erhalten Unterstützung für die Infrastruktur, die     Sozialismus als Alternative gibt es nicht mehr.    Verein ein Ghetto, was meiner Auffassung von
     rerseits habe ich gelernt, dass man in diesem        Sportstätte, aber nicht für ihre wichtige Inte-       Gleichzeitig können die fortschrittlichen Kräfte   politischer Arbeit widerspricht.
     Job unbedingt alles klar kommunizieren muss.         grationsarbeit. Doch es gibt Politiker, die wol-      den Leuten keine glaubhaften Alternativen zum
     Egal, ob es sich um einen Trainerwechsel oder        len davon nichts hören, obwohl es um die Frage        Kapitalismus bieten. Wenn ein Banker von einem
     um einen Spieler handelt – Systemkorrektu-           geht, wie das öffentliche Geld verteilt werden        gemeinsam gebackenen Kuchen mit 14 Stücken
     ren sind nötig, damit wir ein gemeinsames Ziel       soll. Bernet: Die Freiheit zu bewahren, damit         13 wegnimmt, sagt er zu seinem Tischnachbarn,
     erreichen können. Bernet: Wir fällen unsere          wir tun und sagen können, was wir wollen, ist         dem Schweizer Arbeiter: «Jetzt musst du aber
     Entscheide sehr basisdemokratisch, was sehr          für uns das A und O. Bei Khora treffen die un-        aufpassen, dass dir der Ausländer das letzte
     kompliziert sein kann. Gleichzeitig lebt das Pro-    terschiedlichsten Menschen zusammen: Sie              Stück nicht wegnimmt.» Also wächst die Wut
     jekt von dieser breiten Beteiligung. Die Mehr-       stammen aus verschiedenen Ländern, gehören            auf die Ausländer. Es wird gar nicht mehr hin-
     heit bei Khora arbeitet aus Überzeugung gratis.      anderen Religionen an. Es gibt AktivistInnen,         terfragt, wieso der Banker 13 Stücke für sich
     Diese Leute am Entscheidungsprozess teilhaben        Linke, SozialistInnen, BesetzerInnen, die auch        beansprucht. Am meisten vermisse ich den Re-
     zu lassen, ist wichtig, sonst entsteht Frust. Als    Flüchtlinge in ihren Häusern aufnehmen. Zu-           spekt vor den Mitmenschen. Es fehlt aber auch
     Präsidentin des Projekts trage ich die Gesamt-       sammen diskutieren wir intensiv, welches Geld         an Toleranz, an Respekt vor anderen Meinungen
     verantwortung. Ich hafte rechtlich, muss also        wir überhaupt annehmen dürfen, um unabhän-            und Lebenshaltungen. Es bräuchte mehr Gelas-
     alleine vors Gericht, wenn wir mit dem Gesetz        gig zu bleiben. Staatliche Unterstützung lehnen       senheit, um aufeinander zugehen zu können.
     in Konflikt geraten. Darum kann ich ein Veto ein-    wir aus Prinzip ab, auch die von grossen NGOs.
     legen, wenn ich sehe, dass etwas gar nicht geht.     Diese zu kritisieren und gleichzeitig ihr Geld zu     Auf der einen Seite wachsen die Produktion und
                                                          nehmen, wäre ein Widerspruch. Wie lange wir           der Zugang zum Wissen in einer nie dagewese-
     Im Fussball regiert das Geld. Gleichzeitig be-       das so strikt handhaben können, weiss ich nicht.      nen Weise. Auf der anderen Seite verkümmern
     steht ein Fussballklub nicht nur aus einer ersten    Wahrscheinlich müssen wir am Ende einen Mit-          Durchblick und Verstehen. Stecken wir in einer
     Mannschaft, sondern da sind vor allem Junioren,      telweg wählen.                                        Bewusstseinskrise?
     die es zu fördern gilt. Warum wird das so selten                                                           Bernet: Die Globalisierung hat die Welt komple-
     thematisiert?                                        Gerechtigkeit, Toleranz, eine Politik, die handelt,   xer und unübersichtlicher gemacht. Wenn ich
     Mösli: Fussball ist Kapitalismus im Quadrat.         eine fairere Welthandelspolitik: Was vermisst         im Laden einen Joghurt kaufe, weiss ich nicht
     Das ist sicher nicht gesund, auch für uns nicht.     ihr zurzeit am meisten?                               mehr, welche Folgen dies am Ende der Kette hat.
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Stiftung Netzwerk Jahres-bericht 2016
«Die Zeiten sind
     rau, aber
     interessant»
                                                                                                                Constantin, du sagst, dass du beruflich mit dei-     das alltägliche Scheitern, da ich jeden Abend
                                                                                                                nem Medien-Start-up im bisher interessantes-         neu beurteilt werde. Doch wenn man nicht
                                                                                                                ten, aber auch schwierigsten Projekt steckst.        scheitert, hinterfragt man sich nicht und pro-
                                                                                                                Liliane, du stellst dich im Theater und in Filmen    biert auch nichts Neues aus.
                                                                                                                immer wieder neuen Herausforderungen. Wie            Seibt: Welches Urteil zählt für dich am meisten:
                                                                                                                fest sitzt euch dabei die Angst vor dem Schei-       das der Zuschauer, das der KollegInnen oder
                                                                                                                tern im Nacken?                                      dein eigenes? Amuat: Wahrscheinlich zuerst
                                                                                                                Seibt: Ich dachte ursprünglich, dass Scheitern       das eigene, es ist ja auch das erste. Während
                                                                                                                okay wäre, wenn man hart gekämpft hat. Doch          des Probens gibt es noch kein Publikum. Ich ver-
                                                                                                                bei «Project R» und der «Republik» ist Scheitern     suche dann immer, möglichst nicht an das End-
                                                                                                                keine Option – es wäre eine klare, endgültige        produkt zu denken, sondern Dinge zu entdecken
                                                                                                                Niederlage. Schon allein, weil wir dem Publikum      und herauszufinden. Auffallend ist, dass im The-
                                                                                                                ein Versprechen gegeben haben. Beim Crowd-           ater grundsätzlich die Figuren, die scheitern, am

     Ein Gespräch mit                                                                                           funding verkaufen wir hektoliterweise Hoffnung
                                                                                                                – und haben die Pflicht, sie über die Jahre in
                                                                                                                                                                     meisten interessieren, weil Scheitern mensch-
                                                                                                                                                                     lich ist. Seibt: Yep. Es sind nicht die Siege und
     Liliane Amuat & Constantin Seibt                                                                           kleinen Fläschchen zurückzuzahlen. Ausserdem         Stärken, sondern die Wunden und Sehnsüchte,
                                                                                                                braucht der Journalismus ein neues Modell, um        die einen vorantreiben. Mit dem Alter wird das
                                                                                                                zu überleben. Wenn wir es nicht hinbekommen,         schwieriger: Man hat zu viele verheilte Narben.
                                                                                                                sind die Türen für viele andere Projekte auf lange   Als ich jung war, sah ich mir die alten Herren an,
                                                                                                                Zeit geschlossen. Kurz: Wir. Dürfen. Es. Nicht.      bei denen jede Anekdote und jede Idee zwanzig
                                                                                                                Vermasseln. Amuat: Bei dir hat Scheitern sehr        Jahre alt war. Und ich dachte: Die haben einen
     Ihr seid beide preisgekrönt, in den Medien wird     angeht, sind Ehrungen nichts wert. Man sitzt
                                                                                                                konkrete Folgen, Constantin. Bei mir ist das ein     Charakterfehler. Heute weiss ich: Das passiert
     positiv über euch berichtet. Was bedeuten euch      jedes Mal wieder vor einem leeren Blatt Papier.
     berufliche Ehrungen, und welche Wirkung haben       Nach einem Erfolg ist das noch übler. Du denkst,
     sie?                                                du musst zwingend wieder etwas Grossarti-
     Constantin Seibt: Früher dachte ich immer,          ges liefern und die Leute weghauen. Und dann
     dass es cool wäre, irgendeinen Preis zu gewin-
     nen. Als ich tatsächlich einen Preis gewann,
                                                         scheiterst du grausam. Weil du an die Wirkung
                                                         denkst – nicht an die Sache.
                                                                                                            «Es herrscht ein Mangel an briti-
     musste ich feststellen, dass Ehrungen darin
     bestehen, dass dir plötzlich alle möglichen Leu-
                                                         Liliane Amuat: Preise sind in meinem Fall wohl
                                                         am ehesten eine Anerkennung für die kontinu-
                                                                                                            schem Stoizismus. Es wird viel
     te auf die Schultern klopfen, die du gar nicht
     kennen wolltest. Beim Gründen von «Project
                                                         ierliche Arbeit in den vergangenen Jahren. Dass
                                                         ich plötzlich so prominent in der Öffentlichkeit
                                                                                                            gejammert, und dieses Jammern ist
     R» habe ich dann die Erfahrung gemacht, dass
     Image tatsächlich Geld wert ist. Das hat mich
                                                         stehe, ist komplett neu für mich. Ich werde
                                                         durch die Preise aber nicht besser, schlechter
                                                                                                            aggressiv gemeint» Constantin Seibt
     verblüfft. Ich hielt mich für den schlechtesten     oder eine andere. Die Ehrungen müssen ausser-
     aller Verkäufer und war überzeugt, dass ich als     dem richtig eingeordnet werden: Sie sind eine
     Gebrauchtwagenhändler verhungern würde.             Anerkennung, ja, doch es ist nicht so, dass ich        bisschen anders: Ich muss als Schauspielerin         einfach so. Irgendwann kommst du in die Rush-
     Dass ich bei Gesprächen mit Investoren über-        deshalb mit Angeboten überhäuft werde oder             den Mut haben, zu scheitern, weil sonst die Ge-      hour des Lebens: Du hast einen Beruf, eine Ehe,
     zeugen konnte: ein Wunder. Nur entbindet dies       plötzlich höhere Gagen kassiere. Alle Filme wa-        fahr besteht, gefällig zu werden. Darum ist diese    Kinder. Das heisst, du musst effizient werden,
     nicht von der Arbeit, mit diesem Geld etwas         ren Low-Budget-Filme. Es freut mich natürlich,         Option für mich sehr wichtig. Sie zwingt mich,       damit du dein Leben managen kannst. Nur:
     Vernünftiges, Solides anzustellen – im Gegenteil:   wenn diese Arthouse-Filme aufgrund der Preise          ein Risiko einzugehen, den sicheren Rahmen zu        Effizienz bedeutet, dass du schon davor unge-
14   Die Verantwortung wächst. Was das Schreiben         mehr Aufmerksamkeit bekommen.                          verlassen. Als Theaterschauspielerin kenne ich       fähr weisst, was am Schluss dabei rauskommt.
Stiftung Netzwerk Jahres-bericht 2016
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     Liliane Amuat   Constantin Seibt
Stiftung Netzwerk Jahres-bericht 2016
Constantin Seibt, *1966, aus Zürich,                                                          Liliane Amuat, *1989, aus Zürich,
       Journalist und Autor (u.a. «Der Swis-                                                         Schauspielerin. Nach Abschluss des
       sair-Prozess», «Deadline – wie man                                                            Musischen Gymnasiums wurde sie
       besser schreibt»). Von 1997 bis 2005                                                          2008 am Max-Reinhardt-Seminar in
       Redaktor für Politik und Wirtschaft                                                           Wien aufgenommen, danach war sie
       sowie Kolumnist bei der WOZ. Danach                                                           vier Jahre lang am Wiener Burgthe-
       Reporter beim Tages-Anzeiger. Grosse                                                          ater engagiert. 2014 erhielt sie den
       Wirkung erzielte er mit der gerichtli-                                                        «Junge Talente Preis». 2015 wechselte
       chen Aufarbeitung des Swissair-Groun-                                                         sie ans Theater Basel, wo sie in «Drei
       dings. 2007: Journalist des Jahres; 2012                                                      Schwestern» (gefeiert am Berliner
       und 2016: Reporter des Jahres. Seit                                                           Theatertreffen 2017) und «Idomeneus»
       Ende 2016 ist er für das eigene Start-up                                                      auf der Bühne steht. Anfang Jahr war
       «Project R» tätig. Falls beim Crowdfun-                                                       sie ausserdem in zwei Hauptrollen im
       ding im Mai 3000 LeserInnen zusammen                                                          Kino zu sehen: in «Skizzen von Lou» von
       750 000 Franken spenden, geht «Pro-                                                           Lisa Blatter und «Der Frosch» von Jann
       ject R» mit zwei Gesellschaftsformen                                                          Preuss. An den Solothurner Filmtagen
       an den Start: Die Genossenschaft «soll                                                        hat sie den Schweizer Fernsehfilmpreis
       dem Journalismus seinen Platz als                                                             als beste Nebendarstellerin in Micha
       Wachhund in der Demokratie sichern».                                                          Lewinskys Streifen «Lotto» erhalten.
       Die AG wird das digitale Magazin «Die                                                         Zudem war sie in diesem Jahr als bes-
       Republik» herausbringen. Das gesam-                                                           te Nachwuchsschauspielerin für den
       te Budget beträgt sieben Millionen                                                            Max-Ophüls-Preis sowie auch für den
       Franken.                                                                                      Schweizer Filmpreis als beste Darstel-
                                                                                                     lerin nominiert.
       → Mittlerweile ist das Crowdfunding
       durch die Decke gegangen. Nach Ab-
       schluss Ende Mai zählt das digitale Ma-
       gazin «Republik» 13’845 AbonnentInnen
       und VerlegerInnen.

     «Dennoch glaube ich, dass es diese           In der Jugend hatte man Zeit herumzuhängen
                                                  – auf acht Parties, in acht Filmen, in acht The-
                                                                                                     sei, sich auf unorthodoxe Weise zu beweisen.
                                                                                                     Wem gebt ihr Recht?

     grosse Sehnsucht nach dem                    ateraufführungen langweilte man sich. Aber
                                                  bei der neunten sah man etwas wirklich Neues.
                                                                                                     Seibt: Beide haben recht. Die Zeiten sind
                                                                                                     rau, aber interessant. In meiner Branche etwa

     gemeinschaftlichen Erlebnis gibt. Das        Das passiert in einem effizienten Leben kaum
                                                  mehr: weil man keine Zeit zum Herumhängen
                                                                                                     machen die Verleger ihren Job nicht mehr. Sie
                                                                                                     verlassen den Journalismus und setzen auf eine

     Theater wird aus diesem Grund                hat.                                               Zukunft als Internet-Handelshäuser. Also haben
                                                                                                     wir etwas Neues gegründet: die Firma «Project

     weiterexistieren» Liliane Amuat              Theater, Kino, Zeitungen klagen über schwin-
                                                  dende Zuschauer- und Leserzahlen. Es gibt
                                                                                                     R» und das Magazin «Republik», um den Jour-
                                                                                                     nalismus in seiner traditionellen Rolle als Wach-
                                                  Stimmen, die sagen, dass das goldene Zeitalter     hund der Demokratie zu erhalten. Nur: Um das
                                                  definitiv vorbei sei. Andere wiederum sind der     zu tun, muss man den Beruf neu erfinden – leser-
                                                  Meinung, dass es gerade heute wieder möglich       finanziert, ohne Werbung, kompromisslos in der
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Qualität, ohne Bullshit. Der Job einer Redaktion      ihren Sehnsüchten, von ihrer Verlorenheit in der     So jedenfalls geht es mir. Mich überfordert die     schen Instinkt: Der Untergang ist die bessere
     besteht heute nicht mehr darin, Autorität und         heutigen Zeit. Und auch in diesem Stück ist das      Flut an Informationen, und es fehlt auch oft das    Geschichte als der Erfolg. Seitdem kämpfen
     Instanz zu sein, sondern eine Dienstleistung für      Scheitern Thema.                                     Vertrauen; man ist nicht mehr sicher, was wirk-     Haltung und Instinkt in meinem Kopf. Mal sehen,
     Menschen in einer komplexen Welt. Die Leser                                                                lich stimmt. Wenn ich zum Beispiel im Theater       wer gewinnt. Amuat: Ich versuche es ebenfalls
     führen ein vernünftiges Leben mit Job, Familie,       Gerechtigkeit, Toleranz, Mut, eine Politik, die      in der Endprobephase stecke, habe ich diesen        mit Optimismus. Erfreulicherweise entstehen
     Hobby und haben wenig Zeit, sich um den Lärm          handelt, eine fairere Welthandelspolitik: Was        Tunnelblick, ich will mich nicht ablenken lassen.   zurzeit ja auch viele Gegenbewegungen. Leute
     der Welt zu kümmern. Das ist unsere Aufga-            vermisst ihr zurzeit am meisten?                     Darum höre ich oft nicht einmal mehr Nachrich-      werden politisch aktiv, schliessen sich zusam-
     be. Im Grunde mietet sich der Leser mit einem         Amuat: Für mich ist vor allem Gerechtigkeit ein      ten, da ich gar nicht weiss, wohin ich mit den      men, halten dagegen. Das ist ein Grund zur
     Abonnement bei uns ein privates Expeditions-          Thema. Ich kann mein Leben in dem Beruf be-          Informationen soll. Ohne Handlungsspielraum         Hoffnung.
     team im Hinblick auf die Wirklichkeit. Und kauft      streiten, für den ich brenne und den ich liebe.      fühle ich mich oft nur seltsam berührt. Daher
     sich komprimierte Zeit. Mal sehen, ob das Kon-        Im Vergleich zu vielen anderen Menschen fühle        nehme ich in diesen Phasen eher eine Abwehr-
     zept klappt. Unser Projekt ist ein Risiko. Aber ich   ich mich deshalb sehr privilegiert. Toleranz und     haltung ein. Seibt: Ich habe öfter das Gefühl,
     glaube, es passt in die Zeit, in der sich auch po-    Respekt beschäftigen mich derzeit zum Beispiel       dass wir ziemlich allein unterwegs sind und uns
     litisch alles ändert. Das Bürgertum ist erodiert;     im Hinblick auf Amerika. Ich habe das Gefühl,        den Kompass selber bauen müssen. Mein Gehirn
     es läuft zu den Rechtsnationalen über. Zentrale       dass wir uns heute wieder mit Dingen aus-            ist empört, damit überfordert zu sein. Nur stellt
     Tugenden verschwinden: Höflichkeit, Augen-            einandersetzen müssen, in denen wir eigentlich       sich die Frage, ob das nicht immer so war. Es gab
     mass, Verantwortung, Lösungen von Fall zu Fall.       schon weiter waren. Die Gleichberechtigung der       um 1870 ärztliche Untersuchungen, die besag-
     Also muss man als Ex-Punk eben die Ruinen des         Frauen etwa. Ich sehe Rückschritte in vielen Be-     ten, dass der menschliche Körper die rasende
     Bürgertums neu besiedeln. Das ist politisch           reichen. Seibt: Was mich am meisten beschäf-         Geschwindigkeit der Eisenbahn nicht aushalte.
     riskant, persönlich peinlich, aber intellektuell      tigt, ist der Mangel an Mut. Egal, mit welcher       Und davor flammende Warnungen über die Ver-
     interessant. Ich glaube, das Motto der aktuellen      Branche man sich beschäftigt – Theater, Me-          derbnis durch das Buch. Die ersten Strassen-
     Zeit lautet: Wir müssen aufs Energischste die         dien, Banking, Werbung –, es ist überall das Glei-   laternen führten zu Schlaflosigkeit und wurden
     Traditionen verteidigen, die wir gerade neu er-       che: Das Geschäft läuft ziemlich gut, aber man       von den Anwohnern geköpft. Die Bedrohung
     finden. Amuat: Mit der ganzen Digitalisierung         fürchtet, dass es in Zukunft nicht mehr so gut       durch das Neue ist also schon seit je ein Thema.
     hat in unserem Genre natürlich eine Verände-          laufen könnte. Und man hat auch keine Idee, was      Wir leben in Ambivalenzen und müssen lernen,
     rung stattgefunden. Wieso soll jemand ins Kino        kommt. Das heisst: Überall sitzen wohlhabende        uns durchzuschlagen.
     gehen, wenn er oder sie sich zu Hause auf dem         Leute, die entschlossen sind, den Status quo
     Sofa eine tolle amerikanische Serie anschauen         zu verteidigen. Das hat zur Folge, dass ein be-      Blickt ihr eher pessimistisch oder eher optimis-
     kann? Dennoch glaube ich, dass es diese grosse        achtliches Potenzial für autoritäre Strukturen       tisch in die Zukunft?
     Sehnsucht nach dem gemeinschaftlichen Erleb-          entsteht. Es herrscht ein Mangel an britischem       Seibt: Meine Haltung war lange, dass ich pessi-
     nis gibt. Der Begriff der komprimierten Zeit oder     Stoizismus. Es wird viel gejammert, und dieses       mistisch für die Welt und optimistisch für mich
     der komprimierten Wirklichkeit, den Constantin        Jammern ist aggressiv gemeint.                       selber bin. Nur: So denken fast alle. Statistiken
     erwähnt hat, gefällt mir sehr. Das Theater wird                                                            beweisen, dass der Fortschritt in den vergan-
     aus diesem Grund weiterexistieren. Am Theater         Auf der einen Seite wachsen die Produktion und       genen zwei Jahrhunderten atemberaubend
     Basel haben wir ein älteres Stammpublikum.            der Zugang zum Wissen in einer nie dagewese-         war, bei Kindersterblichkeit, Armut, Analpha-
     Aber wir versuchen natürlich, auch ein jünge-         nen Weise. Auf der anderen Seite verkümmern          betismus etwa. Kurz: Hinter meiner Skepsis im
     res Publikum anzusprechen. Mit dem Tsche-             Durchblick und Verstehen. Stecken wir in einer       Grossen steckt offensichtlich weniger Klugheit
     chow-Klassiker «Drei Schwestern», den Simon           Bewusstseinskrise?                                   als ein fundamentaler Mangel an Vertrauen in
     Stone auf unsere heutige Zeit umgeschrieben           Amuat: Es ist sicher so, dass wir heute oft          die anderen Leute. Deshalb versuche ich, meine
     hat, ist uns das gelungen. Das Stück ist sehr         überfordert sind. Früher musste man das Wis-         Haltung zu ändern – in Richtung Optimismus.
     cineastisch und handelt von jungen Menschen,          sen suchen, jetzt muss man sich eher schützen.       Dies widerspricht jedoch meinem dramati-
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AIP Restaurant Konter, Wetzikon: Jahresabschlussessen aller
     Teilnehmenden des Arbeitsintegrationsprojekts (AIP)
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Geschäftsstelle Zürich: Büroräumlichkeiten der Teams von Restaurant Viadukt   AIP-Schule, Wetzikon: Sport und Kultur – vierzehntäglich Capoeira-Training
     und Bogen F sowie der Mitarbeitenden des administrativen Dienstes

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     AIP Bogen F, Zürich: The Paper Kites (AUS)
«Bei uns steht
     der Prozess im
     Mittelpunkt»
                                                                                                                     dies den Stiftungsrat sicher stärker belasten.     im Sozialbereich offensichtlich eine Taktik der
                                                                                                                     Vielleicht wäre es dann auch im Gremium zu Ab-     Verdrängung ihrer KlientInnen verfolgen, sei es
                                                                                                                     gängen gekommen.                                   in der Sozialhilfe selbst oder indem man diesen
                                                                                                                                                                        Menschen Angebote vorenthält. Schlimm da-
                                                                                                                     Welche Veränderungen sind am stärksten             ran ist, dass solche Gemeinden mit dieser Taktik
                                                                                                                     spürbar?                                           auf der Kostenseite Erfolge verbuchen können.
                                                                                                                     Klossner: Die wohl grösste Veränderung ist,        Denn die Leute, die unter die Räder kommen,
                                                                                                                     dass bestimmte Gemeinden und auch der Kan-         verlassen irgendwann den Wohnort und ziehen
                                                                                                                     ton gewisse Angebote als selbstverständlich        an einen anderen Ort. Gemeinden, die anders-
                                                                                                                     betrachten und sie aus dieser Haltung heraus       wo eine menschlichere Sozialpolitik verfolgen,
                                                                                                                     nicht mehr aktiv unterstützen. Hier anzuset-       werden im Grunde also bestraft. Für mich ist
                                                                                                                     zen und Gemeinden und Kanton klarzumachen,         es wichtig, dass die Gemeinden die soziale Ver-
                                                                                                                     dass dies nicht sein sollte, ist eine grosse He-   antwortung übernehmen. Ein Angebot wie der
                                                                                                                     rausforderung. Wolfisberg: Die Tatsache,
     Ein Gespräch mit                                                                                                dass man die Bearbeitung sozialer Probleme
                                                                                                                                                                        Jobbus/Garage, das aus dem System gefallenen
                                                                                                                                                                        Menschen eine Aufgabe ermöglicht und damit
     Erika Klossner-Locher, Thomas Frey & Carlo Wolfisberg                                                           delegiert und sie so aus dem öffentlichen Be-      einen Platz in unserer Gesellschaft, zeichnet ein
                                                                                                                     wusstsein und aus den Schlagzeilen tilgt, ist      gutes Sozialwesen aus.

                                                                                                                 «Mein Fokus liegt auf dem
     Ihr engagiert euch alle seit Jahrzehnten im Stif-
     tungsrat des Netzwerks. Warum habt ihr zu die-
                                                         werk sich stetig verändert. Wenn ich auf die
                                                         vergangenen neun Jahre zurückblicke, sehe ich           Positiven, nicht auf dem, was nicht
     sem Amt Ja gesagt, und wie erklärt ihr euch die
     auffallende Konstante im Gremium?
                                                         eine hochdynamische Entwicklung, die uns stets
                                                         positiv gefordert hat.                                  geht» Erika Klossner-Locher
     Thomas Frey: Erstens ist dieses Engagement
     im Stiftungsrat für mich eine ausserordentlich      Obwohl in neuester Zeit keine neuen Angebote                bei der Mittelkürzung der Dezentralen Drogen-      Kann sich die Stiftung Netzwerk als kleiner Ni-
     bereichernde Ergänzung zu meinem Beruf als          hinzukamen?                                                 hilfe sichtbar geworden. Ähnliches haben wir       schenplayer gegen Sparübungen wie etwa die
     Bezirksrichter – sozial und unternehmerisch.        Erika Klossner-Locher: Von aussen betrach-                  in der vergangenen Zeit immer wieder erlebt.       Streichung der kantonalen Subventionen der
     Zweitens finde ich das Konzept der Stiftung         tet mag man vielleicht den Eindruck haben, dass             Es ist erfreulich, wenn soziale Probleme gelöst    Dezentralen Drogenhilfe wehren?
     Netzwerk schlichtweg genial. Sozialarbeit ohne      alles beim Alten geblieben ist. Doch es gibt im-            werden. Wir wissen aber, dass sie oft nur aus      Klossner: Wenn das Elend auf der Strasse
     miefigen Unterton und dafür mit viel Einsatz und    mer wieder Anpassungen, etwa wenn ein Ange-                 dem öffentlichen Bewusstsein verschwinden.         sichtbar ist, verlangt man nach Angeboten
     Freude. Die Kombination von sozialer Arbeit mit     bot sich neu ausrichten muss, weil die Nachfrage            Frey: Wenn bestimmte Gemeinden für pro-            für die betroffenen Menschen. In der jetzigen
     Kultur und Sport ist wegweisend. Carlo Wol-         abgenommen hat. Die Sicht ist darum immer                   blembelastete Menschen, namentlich Jugend-         Situation, in der die Drogenproblematik im
     fisberg: Mir wird diese Frage öfters gestellt,      wieder eine andere. Von innen betrachtet ver-               liche, kein Geld mehr ausgeben wollen, besteht     öffentlichen Raum nicht mehr in der gleichen
     doch ich selber stelle die Frage eher umgekehrt:    ändert sich viel, und gleichzeitig ist es erfreulich,       die grosse Gefahr, dass diese Menschen unter die   Weise präsent ist, erachtet man diese Projekte
     Wieso engagieren sich eigentlich nicht viel mehr    dass es Konstanten gibt. Es gibt eine Konstante             Räder kommen. In meiner Tätigkeit als Bezirks-     als immer unnötiger und streicht deshalb Sub-
     Menschen? Engagement ausserhalb von Beruf           sowohl in der Geschäftsführung wie auch im Ka-              richter sehe ich, dass Personen in aussichtslo-    ventionen. Dieser Entwicklung müssen wir mit
     und Familie ist für mich selbstverständlich. Dass   der. Das ist aussergewöhnlich für eine so grosse            sen Situationen öfter mit dem Gesetz in Konflikt   mehr Öffentlichkeitsarbeit entgegenwirken.
     ich schon bald ein Jahrzehnt lang im Stiftungs-     Nonprofit-Organisation. Wenn wir uns ständig                kommen. Dies führt dann zu hohen Folgekosten,      Es wird oft ignoriert, dass es heute viel mehr
     rat bin und bis heute nie ans Aufhören gedacht      mit Personalproblemen herumschlagen und                     zum Beispiel im Justizvollzug. Klossner: Ich       Menschen gibt, bei denen zur Suchtproblematik
28   habe, rührt wohl daher, dass die Stiftung Netz-     neue Führungskräfte suchen müssten, würde                   finde es bedenklich, dass gewisse Gemeinden        noch eine psychische Erkrankung hinzukommt.
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     Carlo Wolfisberg, Thomas Frey und Erika Klossner-Locher
Carlo       Wolfisberg,     *1967,                                Thomas Frey, *1956, wohnhaft        Erika Klossner-Locher, *1955,
                                              wohnhaft in Uster, seit 2008                                      in Auslikon, seit der Gründung      wohnhaft in Bisikon, seit 2004
                                              im Stiftungsrat der Stiftung                                      der Stiftung Netzwerk im Jahr       Stiftungsrätin und seit 2008 Stif-
                                              Netzwerk. Er leitete während                                      1998 Mitglied des Stiftungsrats.    tungsratspräsidentin der Stiftung
                                              mehrerer Jahre die Ausbildung                                     Von 1994 bis 1997 nahm er bereits   Netzwerk. Als FDP-Politikerin
                                              an der Hochschule für Soziale                                     Einsitz im Fachausschuss der In-    wurde sie 2002 in den Stadtrat
                                              Arbeit, bis er 2008 an die In-                                    stitution Wohnnetz – der von der    von Illnau-Effretikon gewählt, wo
                                              terkantonale Hochschule für                                       Gemeinnützigen Gesellschaft des     sie das Ressort Bildung leitet. Vor
                                              Heilpädagogik wechselte, wo er                                    Bezirks Hinwil getragenen Vor-      dem Stadtratsmandat war sie
                                              zurzeit das Institut Behinderung                                  gängerin der Stiftung Netzwerk.     während acht Jahren in der Vor-
                                              und Partizipation leitet. Des                                     Seit 1980 arbeitet er am Bezirks-   mundschaftsbehörde und ebenso
                                              Weiteren ist er Präsident der                                     gericht Hinwil, in den vergange-    lang in der Jugendkommission des
                                              Mathilde Escher-Stiftung.                                         nen 26 Jahren als Bezirksrichter.   Bezirks Pfäffikon und der Region
                                                                                                                Ausserdem beteiligt er sich aktiv   Oberland tätig. Ausserdem hat
                                                                                                                an den Produktionen der Thea-       sie als selbständige Unterneh-
                                                                                                                tergruppe Auslikon-Balm.            mensberaterin und Mediatorin,
                                                                                                                                                    vor allem im Hospitality-Bereich,
                                                                                                                                                    gearbeitet.

     Diese Doppeldiagnose nimmt sogar bei den ganz
     Jungen zu. Wir müssen sehr wach und beweglich
                                                          arbeiten und bei denen die Restaurants oder
                                                          auch der Dorfladen zusätzlich nach aussen wir-             «Die Kombination von sozialer
                                                                                                                     Arbeit mit Kultur und Sport ist
     sein, damit wir auf diese Veränderungen adä-         ken, ist aber viel einfacher als Öffentlichkeitsar-
     quat reagieren und herausfinden können, wel-         beit für das Angebot Jobbus/Garage mit älteren

                                                                                                                     wegweisend» Thomas Frey
     che Programme machbar sind und welche nicht.         TeilnehmerInnen.
     Politisch wird einfach alles delegiert. Der Kanton
     delegiert das Problem an die Gemeinden. Und          Wie sieht eure aktuelle Strategie aus: konso-
     wenn ein Angebot für ehemalige Drogensüchti-         lidieren oder beweglich bleiben und über neue
     ge wegfällt, muss die Gemeinde weiterschauen.        Angebote nachdenken?
     Ich bin überzeugt, dass unsere Angebote eine         Wolfisberg: Nischenplayer wie das Netzwerk
     hohe Qualität aufweisen. Öffentlichkeitsarbeit       können es sich nicht erlauben, auf eine 5-Jah-
     für unsere Angebote zur Arbeitsintegration zu        res-Strategie zu setzen. Sie müssen beweglich
     machen, in denen vor allem junge Menschen            bleiben. In den vergangenen Jahren gab es eine
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gewisse Konsolidierung. Doch ich bin der Auf-        im Schulbereich ganz viel passiert ist. Für 95           ist für mich eine Einladung zur Klage, ich vermis-   eine hinreichende soziale Kompetenz findet man
     fassung, dass dies nach dem grossen Wachs-           Prozent der SchulabgängerInnen sollten nach              se heutzutage jedoch vielmehr die Lust an der        kaum mehr einen Job. Die Anforderungen auf
     tumsschub die richtige Strategie war. Das            heutigen Vorgaben Anschlusslösungen gefun-               Freude. Klossner: Mir geht es ähnlich. Mein          dem Arbeitsmarkt steigen, und gleichzeitig ster-
     Netzwerk reagiert nach wie vor sehr schnell auf      den werden. Früher gingen viele von der Schu-            Fokus liegt auf dem Positiven, nicht auf dem,        ben ganz viele Berufe aus. Klossner: Wenn ich
     Entwicklungen im Sozialbereich. Dass man dabei       le ab und verschwanden vom Radar. In diesem              was nicht geht.                                      heute die Auftrittskompetenz von Jugendlichen
     versucht, mit Stärken und Konstanten zu arbei-       Bereich hat also ganz klar eine Sensibilisierung                                                              mit derjenigen meiner Generation vergleiche,
     ten und Neues auszuprobieren, etwa im Bereich        stattgefunden. Gleichzeitig sind aber auch die           Auf der einen Seite wachsen die Produktion und       nehme ich wahr, dass diese Generation einen
     Arbeitsintegrationsprogramme, zeichnet die           Anforderungen an die Jugendlichen gestiegen.             der Zugang zum Wissen in einer nie dagewese-         viel souveräneren Auftritt hat, etwa bei Vorträ-
     Stiftung aus. Alle Geschäfte werden extrem gut       Eine Ausbildung, Weiterbildung, Diplome sind             nen Weise. Auf der anderen Seite verkümmern          gen. Die Fähigkeiten haben sich also auch ver-
     vorbereitet. Sie sind dermassen transparent,         heute zwingend, um im beruflichen Leben wei-             Durchblick und Verstehen. Stecken wir in einer       ändert. Gleichzeitig sind heute im Berufsleben
     dass wir im Stiftungsrat sofort wissen, worum        terzukommen.                                             Bewusstseinskrise?                                   mehrheitlich Eigenschaften gefragt, die eher
     es geht. Frey: Das stimmt: Wir werden über                                                                    Wolfisberg: Als Historiker habe ich gelernt,         einen intellektuellen und weniger einen hand-
     Zahlen und Inhalt perfekt informiert. Würde          Worüber streitet ihr euch im Stiftungsrat, wo            dass die Menschen in ihrer Zeit stets gefordert,     werklichen Bereich betreffen.
     sich die Geschäftsleitung verrennen, würden          seid ihr euch einig?
     wir es merken. Klossner: Grösstenteils hat die
     heutige Geschäftsleitung das Netzwerk dorthin
                                                          Wolfisberg: Ich denke, dass wir oft unter-
                                                          schiedliche Standpunkte vertreten, aber die          «Wir vertreten oft unterschiedliche
     gebracht, wo es heute steht. Das ist eine Garan-
     tie. Uns werden Dinge nicht vorenthalten, son-
                                                          Wertebasis teilen. Für mich ist das eine gute
                                                          Ausgangslage, da ich andere Meinungen schät-         Standpunkte, teilen aber die
                                                                                                               Wertebasis» Carlo Wolfisberg
     dern wir werden stets möglichst breit und gut        ze. Klossner: Ich schätze die unterschiedlichen
     informiert. Das ist die perfekte Ausgangslage.       Erfahrungen und Standpunkte, aber auch die
     Wir entscheiden nie Hals über Kopf. Wir nehmen       gemeinsame Wertehaltung in unserem Stif-
     uns immer Zeit, Themen zu durchleuchten und          tungsrat. Ein Nickergremium wäre nicht der               wenn nicht sogar überfordert waren. Weshalb          Blickt ihr eher pessimistisch oder eher optimis-
     die Dinge auszudiskutieren.                          richtige Platz für mich. Bei uns steht der Prozess       sollen wir es plötzlich nicht mehr sein? Frey:       tisch in die Zukunft?
                                                          im Mittelpunkt. Frey: Man kann dies Schwarm–             Dennoch wird per se auch nicht alles besser.         Klossner: Ich finde, dass wir gute Grundvo-
     Gibt es noch eine starke Lobby für sozial Be-        intelligenz nennen. Jeder bringt sich ein, und wir       Uns geht es trotz steigender Produktivität im-       raussetzungen und Möglichkeiten haben, um
     nachteiligte?                                        finden Schritt für Schritt gemeinsam einen Weg           mer noch gut, ja. Die weltweit zunehmende            unseren Teil zum Gelingen beizusteuern. Ich bin
     Wolfisberg: Einerseits ist man versucht, Nein        und müssen zu guter Letzt gar nicht mehr ab-             Arbeitslosigkeit als logische Folge von Industri-    daher weder pessimistisch noch optimistisch.
     zu sagen, anderseits gibt es auch positive Ent-      stimmen.                                                 alisierung und Digitalisierung findet aber in den    Selbstverständlich gibt es Dinge, die mich nach-
     wicklungen. In vielen Bereichen ist ganz viel pas-                                                            schwächeren Ländern statt: in Italien, Griechen-     denklich stimmen. Doch es liegt auch in unserer
     siert, etwa im Bereich der Arbeitsintegration,       Gesunden Menschenverstand, Gerechtigkeit,                land, Spanien, in Afrika und Südamerika. Dort        Hand, die Entwicklung in eine positive Richtung
     wo die Stiftung Netzwerk neue Projekte realisie-     Toleranz, Respekt, eine Politik, die handelt, eine       gibt es Heerscharen von Arbeitslosen, vor allem      zu lenken.
     ren konnte. Darum glaube ich nicht, dass die Ge-     fairere Welthandelspolitik: Was vermisst ihr             von arbeitslosen Jugendlichen, die teils als Wirt-
     sellschaft sich aus der Verantwortung gezogen        zurzeit am meisten?                                      schaftsflüchtlinge zu uns kommen. Wolfisberg:
     hat. Frey: Ich wollte gerade das Gleiche sagen.      Frey: Ich ärgere mich über das Aufkommen des             Dass die Anforderungen an die Leistungsfähig-
     Leute mit psychischen Problemen wurden frü-          sogenannten Wutbürgers, die oberflächlichen              keit der Menschen konstant zunehmen, berei-
     her etwa rasch als «arbeitsscheu» abgestem-          Hasskommentare im Internet und die Tatsache,             tet mir ebenfalls Sorgen. Viele Berufe des 19.
     pelt. Problembelastete Jugendliche rutschten         dass die Medien dieses Phänomen noch för-                Jahrhunderts gibt es nur noch in geschützten
     ins Drogenelend ab. Heute kümmert man sich           dern, zum Beispiel der «Tages-Anzeiger», indem           Werkstätten, den des Töpfers und Flechters
     besser um sie. Klossner: Man muss sicher den         er die Entlöhnung der Online-Journalisten von            etwa. Solange kein Topf in Scherben ging, wurde
     richtigen Massstab finden. Ich bin seit 15 Jah-      der Anzahl der durch ihre Artikel generierten            früher auch ein unkommunikativer Mitarbeiter
     ren Schulpräsidentin und kann bestätigen, dass       Klicks abhängig macht. Wolfisberg: Die Frage             als Töpfer geschätzt. Heute ist das anders: Ohne
34
«Wenn Unge-
     rechtigkeit nicht
     sichtbar ist, ist
                                                                                                                     Wir trafen uns, und er erklärte mir seine Idee     Die finnische Regierung will 2017 das bedin-
                                                                                                                     der Mikrosteuer.                                   gungslose Grundeinkommen mit 1000 Pro-
                                                                                                                                                                        banden testen. Man will herausfinden, ob ein
                                                                                                                     Kritiker bemängeln, dass bei der Einführung ei-    Bürger gewillt ist zu arbeiten, wenn der Staat

     sie kaum ein
                                                                                                                     ner Mikrosteuer die grossen Finanztransaktio-      dessen Existenzminimum absichert. Warum ist
                                                                                                                     nen innert Kürze ins Ausland verlagert würden.     solches in Finnland möglich und in der Schweiz
                                                                                                                     Was entgegnen Sie denen?                           nicht?

     Thema»
                                                                                                                     Die automatische Mikrosteuer verschiebt die        Das ist auch in der Schweiz möglich. In den Zür-
                                                                                                                     Steuerlast, und sie ist ein Ersatz für andere      cher Stadtkreisen 4 und 5, wo das BGE übrigens
                                                                                                                     Steuern. Die Realwirtschaft wird also finanziell   angenommen wurde, und in Lausanne sind Be-
                                                                                                                     und administrativ stark entlastet, weil tiefere    strebungen im Gang, die Sozialhilfe temporär in
                                                                                                                     Steuern den Unternehmen einen Wettbewerbs-         Form eines Grundeinkommens auszuschütten.
                                                                                                                     vorteil verschaffen. Zur Kasse gebeten werden      Solche Versuche sind wichtig, um die sozial-

     Expertengespräch mit Oswald Sigg                                                                                vor allem Dealer, Trader, Spekulanten – also die
                                                                                                                     Finanzwirtschaft, die über 90 Prozent des ge-
                                                                                                                                                                        politischen und wirtschaftlichen Wirkungen des
                                                                                                                                                                        BGE zu testen.

                                                                                                                 «Wir sind wirtschaftlich vielleicht
     In einem Porträt über Sie ist zu lesen: «Oswald
     Sigg ist eher der Grübler und Zweifler als der
                                                             men einen schönen Teilerfolg erzielte, engagie-
                                                             ren Sie sich für die stufenweise Einführung einer
                                                                                                                 in der Lage, Trends und Tendenzen
     Macher. Er ist der klassische Intellektuelle, der
     Bücher liest, selber schreibt und seine Ideen an-
                                                             Mikrosteuer von 2 Promille auf allen elektroni-
                                                             schen Geldtransaktionen.
                                                                                                                 umzusetzen, politisch und vor allem
     deren zur Verfügung stellt.» Richtig getroffen?
     Nicht ganz. Ich bin kein Bücherverschlinger, son-
                                                             Das BGE und die Mikrosteuer sind miteinander
                                                             verknüpft. Als ich am Tag eins nach meiner Pen-
                                                                                                                 sozialpolitisch gelingt uns das aber
     dern lese eher langsam. Ich habe meistens drei
     Bücher gleichzeitig auf dem Nachttisch. In meiner
                                                             sionierung erwachte und mir bewusst wurde,
                                                             dass ich ab sofort nicht mehr wie all die Jahre
                                                                                                                 immer weniger»
     Bibliothek steht auch viel Lesestoff, den ich bis zu    zuvor ins Bundeshaus gehen würde, kam bei mir
     meiner Pensionierung nie angeschaut habe. Ein           nicht Langeweile auf, sondern ein Gefühl von
     Grübler? Ja, wenn damit nachdenken, analysie-           Freiheit. Dank der Errungenschaften der 1. und          samten Zahlungsverkehrs verursacht. Der Zür-       Bis 2020 könnten mehr als 5 Millionen Jobs in
     ren oder Ideen nachhängen gemeint ist. Wobei            2. Säule erfuhr ich damals, was es bedeutet, sich       cher Finanzprofessor Marc Chesney, der auch in     den 15 wichtigsten Industrieländern verloren
     dieser Prozess bei mir in der Regel durch einen         nicht mehr um materielle Sicherheit kümmern             unserem Komitee ist, warnt davor, dass die heu-    gehen. Verschläft die Politik aus Ihrer Sicht die
     Impuls von aussen ausgelöst wird. Bei der ersten        zu müssen. Eine Woche später kontaktierten              tige Casino-Finanzwirtschaft für die Schweiz       Gelegenheit, auf einschneidende Entwicklungen
     Initiative, die ich 1969 lancieren half, der Schulko-   mich meine Grundeinkommensbrüder. Sie sag-              ein Hochrisiko darstellt. Sie gefährdet unsere     auf dem Arbeitsmarkt adäquat zu reagieren?
     ordination, holte mich ein Freund ins Boot. Auch        ten in etwa: «Du hast ein Grundeinkommen, und           Volkswirtschaft. Das wissen wir spätestens seit    Da bin ich mir nicht so sicher. Der Bruch
     auf die Initiative zum bedingungslosen Grundein-        wir möchten eins.» Da die Idee mich überzeug-           der Finanzkrise, die im Jahr 2008 begann. Wenn     zwischen analogem und digitalem Zeitalter
     kommen wurde ich durch Kollegen aufmerksam.             te, trat ich dem Komitee bei. Wochen später             also aufgrund der Einführung der Mikrosteuer       überfordert uns: Wir können uns nicht konkret
                                                             schrieb mir ein Banker von der Goldküste. Er sei        die Hochrisiko-Finanzwirtschaft redimensio-        vorstellen, welche Konsequenzen diese Ent-
     Seit der Ablehnung des bedingungslosen Grund-           zwar ein Freisinniger, doch er befürworte das           niert wird, ist das nur gut für die Schweiz und    wicklung in Zukunft haben wird. Wir sehen aber
38   einkommens (BGE), das mit 23 Prozent Ja-Stim-           BGE und wisse, wie man es finanzieren könne.            für uns alle.                                      bereits, dass viele bewährte und traditionelle
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     Oswald Sigg
Berufe überflüssig werden. Die Gewerkschaften        Volksinitiativen vernünftige Ideen enthalten, die                                                         Oswald Sigg, *1944, aufgewachsen
     wissen nicht recht, wie sie diesem Phänomen          er in seine Politik integrieren könnte. Stattdes-                                                         in Höngg, wohnhaft in Bern, von 2005
     begegnen sollen. Sie waren auch die grössten         sen lehnt die Regierung beinahe alle Volksinitia-                                                         bis 2009 Vizekanzler und Bundesrats-
     und stärksten Gegner des BGE. Sie sind nach          tiven aus Prinzip ab.                                                                                     sprecher im Bundeshaus. Davor hat er
     wie vor auf Vollbeschäftigung und auf das Recht                                                                                                                für die ehemaligen Bundesräte Adolf
     auf Arbeit ausgerichtet. Die Frage ist aber, wel-    Sie haben praktisch Ihr ganzes Berufsleben im                                                             Ogi, Samuel Schmid, Moritz Leuenber-
     chen Sinn das noch macht, wenn es keine Arbeit       Dunstkreis der Politik verbracht. Worüber ha-                                                             ger, Willi Ritschard und Otto Stich als
     mehr gibt. Bereits vor über 100 Jahren, als man      ben Sie selber gestaunt?                                                                                  Informationschef und Stabschef ge-
     im Nationalrat die damalige von der SP und den       Darüber, dass jede und jeder im Bundesrat die                                                             arbeitet. In Bundesbern startete das
     Gewerkschaften lancierte Initiative «Recht auf       Rolle spielt, für die sie oder er gewählt wurde.                                                          SP-Mitglied seine berufliche Laufbahn
     Arbeit» behandelte, warf ein Liberaler diese         So richtig klar wurde mir das, als Alt-Bundesrat                                                          als Stellvertretender Informations-
     Frage in die Runde. Ich möchte hier kein Gewerk-     Moritz Leuenberger vor der Vereinigten Bun-                                                               chef der Bundeskanzlei. Des Weiteren
     schaftsbashing betreiben, ich bin selber seit 1973   desversammlung seine Abschiedsrede hielt. Er                                                              war er Chefredaktor der Schweize-
     SP-Mitglied und Gewerkschafter. Aber wenn wir        begann und schloss das Referat mit demselben                                                              rischen Depeschenagentur, Unterneh-
     sehen, wie lange es gedauert hat, bis die AHV        Satz: «Wir treten auf, wir spielen, wir treten                                                            menssprecher der SRG sowie Mitini-
     angenommen wurde – beinahe 50 Jahre –, ist es        ab.» Im ersten Moment schüttelte ich über die-                                                            tiant der Volksinitiative über das be-
     nun wirklich an der Zeit, gewissen Tatsachen in      sen Satz den Kopf. Doch je länger ich darüber                                                             dingungslose Grundeinkommen (BGE).
     die Augen zu schauen. Die Sozialversicherung         nachdachte, desto mehr musste ich ihm recht                                                               Als freier Autor hat er Kolumnen und
     wird in Zukunft nicht mehr über den Arbeitslohn      geben. Moritz Leuenberger hat den Bundesrat                                                               Artikel für diverse Zeitungen sowie die
     finanzierbar sein. Wir werden das Geld für die       als Theaterbühne begriffen, auf der alle ihre Rol-                                                        Bücher «Koch- und Lesebuch für alle
     öffentlichen Aufgaben dort holen müssen, wo es       le mehr oder weniger gut spielen. Eine gewisse                                                            Fälle» und «Die käufliche Schweiz» (mit
     «arbeitet»: in der Finanzwirtschaft.                 Abgehobenheit und Entfremdung vom Publikum                                                                Co-Autor Viktor Parma) geschrieben.
                                                          und damit von den Bürgerinnen und Bürgern
     Das grosse Verdienst unserer direkten Demo-          geht aus diesem Grund mit dem Amt einher.
     kratie sei, dass wir über Utopien diskutieren        Auf der anderen Seite werden diejenigen abge-
     und abstimmen können, sagen Sie. Können Sie          wählt, die nicht mitspielen. Dieser in der Politik
     das weiter ausführen?                                logische Vorgang hat sich im Fall von Bundesrat
     Bekanntlich musste über die Einführung der           Christoph Blocher gezeigt. Es ist allgemein be-
     AHV auch lange diskutiert und mehrmals abge-         kannt, dass Blocher im Bundesrat bei wichtigen
     stimmt werden, bevor sie 1947 angenommen und         Fragen feststellte, die Meinungen seien gemacht
     umgesetzt wurde. Viele konnten sich damals           und man möge sofort abstimmen. Genau das
     nicht vorstellen, dass pensionierte Grossväter       war aber eigentlich verfassungswidrig. In un-
     gemütlich ein Buch lesen und eine Rente bekom-       serer Bundesverfassung schreibt Artikel 177           und ihnen nichts mehr zutraut. Inwiefern hat        hierzulande ist zudem, dass es uns im europä-
     men, so, wie es Hans Ernis damaliges Plakat zur      Absatz 1 vor: «Der Bundesrat entscheidet als          sich die Politik hierzulande vom Volk entfernt?     ischen Vergleich extrem gut geht. Ich bin aber
     Einführung der AHV illustrierte. Das Fatale an       Kollegium.» Das heisst: Er muss so lange dis-         Die Freisinnigen hiessen früher Radikale, Sozial-   der Meinung, dass wir teilweise auf Kosten von
     unserer direkten Demokratie ist, dass sich zu        kutieren, bis ein Weg gefunden worden ist und         demokraten waren vom Habitus her eher So-           Europa leben und von einigen der Krisen pro-
     viele um ihr Stimmrecht foutieren. Also leisten      ohne davor eine Mehrheit zu ermitteln. Blocher        zialisten, die Gewerkschaft nennt man im            fitieren. Das hat eine gewisse Tradition in der
     wir uns den Luxus, dass die meisten Abstimmun-       verweigerte sich dem Kollegium, er spielte das        Welschen Syndicat. Sie alle gingen früher viel      Schweiz – wir sind zwar von den letzten beiden
     gen und Wahlen von einer Minderheit bestritten       Spiel nicht mit. Dabei gehört die Kollegialität zur   öfter auf die Strasse und brachten ihre Politik     Weltkriegen verschont geblieben, aber nicht nur
     werden und dass die Mehrheit von ihrer Stim-         politischen Architektur und ist mit ein Grund für     unter die Leute. Es herrschten andere politische    wegen unserer Armee.
     me gar keinen Gebrauch macht. Würde unsere           die politische Stabilität in unserem Land.            Zustände, und es wurde in einem Umfeld politi-
     direkte Demokratie mit qualifizierten Mehrhei-                                                             siert, in dem die Zeitungen schwächere Rollen       Je näher eine komplexe, aber faktische Zukunfts-
     ten aller Stimmberechtigten funktionieren, leb-      Die Wahlen in den USA und in Frankreich haben         spielten im Vergleich zu den heutigen Medien.       möglichkeit rückt, umso nostalgischer und gegen-
     ten wir in einem anderen Land. Der Bundesrat         gezeigt, dass das Volk den etablierten politischen    Gegenwärtig gestalten Politikerinnen und Po-        wartsverliebter werden die Menschen, so der Ein-
     wiederum hat leider nie begriffen, dass einige       Parteien, egal ob linke oder rechte, misstraut        litiker weniger und verwalten mehr. Die Krux        druck. Wie steht es um unsere Zukunftskompetenz?
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