www.pszh.ch Visit - Faires Zusammenspiel Vom Geben und Nehmen zwischen Jung und Alt. Und warum unser Generationenvertrag allen dient - Pro ...

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Nr. 1   Frühling 2020

Magazin von Pro Senectute Kanton Zürich
www.pszh.ch

                            Faires Zusammenspiel
                            Vom Geben und Nehmen zwischen Jung und Alt.
                            Und warum unser Generationenvertrag allen dient.
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Pro Senectute
                                                                                                  Kanton Zürich

 «Da sind wir uns einig.»

Rotkreuz-Notruf                                                                           Kontak ti
                                                                                                     eren
 Meine Mutter will ihre Unabhängigkeit, ich ihre                                              Sie uns
                                                                                         unverbin
 Sicherheit. Die Lösung: Der Rotkreuz-Notruf. Im                                                   dlich:
                                                                                        058 451
 Notfall wird schnell geholfen. Ich bin beruhigt –                                   h o m e 24    51 70
                                                                                                @p szh.c
                                                                                                         h
 und sie kann weiterhin zuhause wohnen.

                                                     Home
 Informationen unter Telefon 044 388 25 35

                                                     Begleitung und Betreuung
                                                     Fürsorgliche 24-Stunden-Betreuung
                                                     und kompetente Pflege zu Hause.
                                                     pszh.ch/home24

   Sonnmatt
   tut gut.

                                                                Gesund werden, gesund bleiben,
                                                                gelassen altern.

                                                                Sie erreichen uns telefonisch
                                                                unter 041 375 32 32

                                                                www.sonnmatt.ch

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INHALT

                                                                                        Liebe Leserin, lieber Leser
                                                                                        Wie solidarisch sind junge Menschen mit
                                                                                        älteren Menschen – und umgekehrt? Wer den
                                                                                        politischen und gesellschaftlichen Diskurs mit-
                                                                                        verfolgt, sieht sich mit diversen, teilweise wider-
                                                                                        sprüchlichen Meinungen konfrontiert. Glaubt
                                                                                        man einigen Aussagen, dann sieht es angeblich
                                                                                        schlecht aus: «Die Jungen zahlen, die Alten
                                                                                        profitieren» – so lautet das Fazit aus manchen
                                                                                        neueren Debatten zu Reformen der AHV und
                                                                                        der Pensionskassen.
                                                                                           Auf dem Prüfstand steht namentlich der
                                                                                        «Generationenvertrag». Er ist kein Vertrag im
                                                                                        juristischen Sinn, sondern eine wichtige sozial-
                                                                                        politische Grundhaltung: Die jeweils jüngere,
                                                                                                                                                   4
                                                                                        noch erwerbstätige Bevölkerung ermöglicht                 Der «Generationenvertrag» wird gerade einem ernsthaften Belastungstest
                                                                                        massgeblich die AHV-Renten der älteren Gene-              unterzogen. Von ihm profitieren die jüngeren und die älteren Menschen.
                                                                                        ration. Über die AHV-Kasse werden also Gelder
                                                                                        von der jüngeren an die ältere Bevölkerung
                                                                                        weitergegeben – eine langfristige, solidarische
                                                                                        und wichtige Wechselwirkung unter den
                                                                                        Generationen.
                                                                                           Doch es wäre unvollständig, die Solidarität
                                                                                        und die Qualität des Zusammenlebens zwischen
                                                                                        Jung und Alt nur am Geben und Nehmen in der
                                                                                        Altersvorsorge bemessen zu wollen. Füreinander
                                                                                        da sein, füreinander eintreten – das gilt weit
                                                                                                                                                   26                                                         38
                                                                                        über die AHV hinaus. So ermöglichen ältere                Suzanne Vogt liegt das Generatio-                         Die Wandergruppe Maur hat in
                                                                                        Menschen über ihre Steuern, Zuwendungen und               nen verbindende Projekt «Wohnen                           Dürnten das Klang-Maschinen
                                                                                        durch grosses persönliches Engagement eine                für Hilfe» am Herzen.                                     Museum besucht.
                                                                                        Vielzahl von Dienstleistungen, von denen primär
                                                                                        ihre Nachkommen profitieren. Darüber hinaus
                                                                                        leisten sie Unterstützungs- und Betreuungsauf-
                                                                                                                                                       LEBENSRAUM                                                 LEBENSLUST
                                                                                        gaben zum Nutzen jüngerer Menschen und ihrer
                                                                                        Kinder. Und umgekehrt spielt die Solidarität               4 Ein Geben und ein Nehmen                               28 Auf der Suche nach der Wahr-
                                                                                        genauso: Die jüngeren Generationen erbringen              10 «Solidarität ist keine Einbahn-                           heit: Die Ausstellung «Fake» in
                                                                                        eine riesige Leistung in der Unterstützung und               strasse»: Verena Diener und                               Lenzburg
                                                                                        Betreuung älterer Menschen.                                  Andri Silberschmidt im                                 35 Neulich im Zugsabteil
                                                                                           «Solidarität ist keine Einbahnstrasse», sagt die          Gespräch                                               36 Leseraktionen
                                                                                                                                                  14 Mehrere Generationen                                   38 Mit der Wandergruppe Maur
Foto Titelseite : Daniel Rihs ; Seite 3 : Daniel Rihs / Christian Roth /Renate Wernli

                                                                                        ehemalige Zürcher Regierungsrätin Verena
                                                                                                                                                     erweitern den Horizont                                    im Klang-Maschinen-Museum
                                                                                        Diener (70) im Visit-Gespräch auf Seite 10. Oder
                                                                                                                                                                                                               in Dürnten
                                                                                        wie es die Studentin Selina Scheidt (20) auf
                                                                                                                                                                                                            42 Rätsel
                                                                                        Seite 9 ausdrückt: «Man gibt zurück, was man                   LEBENSART
                                                                                                                                                                                                            44 Marktplatz
                                                                                        erhalten hat. Diese Haltung sollte sich auch bei          18 Elsi Kranz: Die Seniorin blickt                        45 Impressum
                                                                                        uns wieder verstärken.» Treffender kann man es               auf ein bewegtes Leben zurück                          46 Goldene Zeiten:
                                                                                        eigentlich nicht sagen.                                   23 Tipps zum Thema                                           Ein Glück für die AHV
                                                                                                                                                  24 Dienstleistung: Was die Vor-
                                                                                                                                                     züge der Büroassistenz sind
                                                                                                                                                  26 Ein Tag im Leben von Suzanne
                                                                                                                                                                                                                  BEILAGE AKTIV
                                                                                                                                                     Vogt, Freiwillige bei                                  		Agenda mit Veranstaltungen
                                                                                                                                                     Pro Senectute Kanton Zürich                              und Kursen von Pro Senectute
                                                                                                                                                                                                              Kanton Zürich

                                                                                                              Franjo Ambroz
                                                                                                              Vorsitzender der Geschäftsleitung   Auf dem Titelbild: Selina Scheidt und Helene Stähli-Küpfer (Seite 9)

                                                                                                                                                                                                                         Visit Frühling 2020   3
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LEBENSRAUM

Ein Geben
und Nehmen
Weil wir immer älter werden und die Geburtenziffer tief ist, stösst das
Rentensystem an seine Grenzen. Der «Generationenvertrag» wird gerade
einem ernsthaften Belastungstest unterzogen. Von ihm profitieren jedoch
sowohl die älteren als auch die jüngeren Menschen. Es ist ein Geben
und Nehmen.
Text: Robert Bösiger    Umfrage: Nina Fargahi

Visit hat in der        «OK Boomer». Dieser Ausspruch einer jungen,         gegenüberstehen. Einiges deutet darauf hin, dass
ersten Januarwoche      grünen, neuseeländischen Parlamentsabgeordne-       sich die Fronten zwischen den Millennials und
in Zürich eine kleine   ten ging innert Stunden viral um die ganze Welt.    den Babyboomern tatsächlich verhärten könnten:
Umfrage bei             Die Phrase wurde quasi zu einer sarkastischen       Die Jungen, die gegen die Erderwärmung demon-
Studierenden und        Waffe der Millennials, jener Generation also, die   strieren, werfen den Alten Ignoranz und Taten-
bei Senioren zum        zwischen 1980 und den späten 1990er-Jahren zur      losigkeit vor. Während ihnen diese vorwerfen, sie
Generationenver-        Welt gekommen ist. Mit «Boomer» ist die Genera-     seien klimahysterisch und scheinheilig, sollten
trag gemacht. Die       tion der Babyboomer gemeint, also jene Men-         erstmal richtig anpacken und etwas erreichen.
Zitate auf den          schen, die heute 55 bis 75 Jahre alt sind.
Seiten 5 und 6             So hat es dieser Ausdruck sogar geschafft, bei   Düstere Aussichten?
stammen aus dieser      der Schweizer Auszeichnung «Wort des Jahres         Was bedeutet diese Verhärtung für den «Genera-
Umfrage.                2019» auf Platz 2 zu landen – gleich hinter der     tionenvertrag» und dessen Zukunft? Führen die
                        «Klimajugend». Gewählt werden seit 40 Jahren in     demografische Entwicklung, die Verschuldung
                        aller Regel Wörter und Redewendungen, die das       und die Beschleunigung dazu, Alt und Jung aus-
                        politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche   einanderzubringen, so wie es etwa Martin Eling,
                        Leben eines Jahres sprachlich bestimmt haben.       Professor am Institut für Versicherungswirt-
                                                                            schaft der Universität St. Gallen prognostiziert?
                        Boomer versus Millennials                           Trifft die Behauptung des deutschen Ökonomen
                        Zu Platz zwei heisst es, «OK Boomer» sei die Ant-   Bernd Raffelhüschen zu, wonach sich hierzulande
                        wort darauf, wenn sich eine Person aus der Baby-    eine «Nachhaltigkeitslücke» von 1000 Milliarden
                        boomer-Generation abwertend und herablassend        Franken auftue, weil die Alten einseitig auf der
                        über die Meinung einer jüngeren Person äussere.     Tasche der Jungen sässen?
                        Unter dem Hashtag #OkMillennial haben letzthin         Werden die Jungen also tatsächlich zunehmend
                        auch Baby-Boomer zum Gegenschlag ausgeholt;         benachteiligt punkto Altersrente? Werden sie letzt-
                        die «Jungen» werden als weltfremd und unwis-        lich vielleicht sogar aus dem AHV-Generationen-
                        send abgekanzelt.                                   vertrag aussteigen, weil sie glauben, das Renten-
                           Dieses Phänomen zeigt exemplarisch, dass         system verkomme zunehmend zu einer
                        sich die Generationen nicht nur wohlwollend         Einbahnstrasse, so wie es Martin Eling befürchtet?

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«Generationenbeziehungen sind ­mehr
als nur Geld. Gefühlsmässig stimmt für
mich die Ausgewogenheit von Geben und
Nehmen. Sichtweisen wie ‹die Alten
leben auf Kosten der Jungen› führen zur
Spaltung der­Generationen, und alte
Menschen werden nur noch als Kosten-
faktor wahrgenommen. Aber es gibt auch
eine Umverteilung von Alt zu Jung.»
Ruth Fries, Jg. 1949, früher beim Schweizerischen
Zentralverein für das Blindenwesen tätig

«Der fiktive Generationenvertrag wurde
in unserer Gesellschaft wohl zu so etwas
wie einer Norm, denn er wird einfach so
eingehalten. Irgendwann profitiert man
ja auch selbst von diesem Prinzip – es ist
ein Geben und Nehmen.»
Larissa Hochuli, Jg. 1998, Studentin

   Fakt ist: Bei der Einführung der Alters- und
Hinterlassenen-Versicherung (AHV) anno 1948
kamen auf einen Rentner 6,3 Personen im Er-
werbsalter. Heute sind es ungefähr drei und im
Jahre 2030 werden es noch deren zwei sein. Aber
von einer Überalterung unserer Gesellschaft –
oder noch bösartiger – einer «Gerontokratie»
(übersetzt etwa mit Herrschaft der Alten) zu spre-
chen, wäre vermessen und gemein.
                                                      Dieses Team harmoniert: Die 20-jährige Studentin Selina Scheidt kümmert
                                                      sich regelmässig und liebevoll um ihre Grossmutter Helene Stähli-Küpfer (83).
Verhältnis auf dem Prüfstand
Selbst wenn man einräumen muss, dass sich das
Verhältnis tatsächlich zu Ungunsten der jüngeren
Generationen verändert hat und geeignete Mass-        Berufsschulen, Fachhochschulen und Universitä-
nahmen angezeigt sind, gibt es mindestens drei        ten? Die Jungen. Wer finanziert mit Steuergeldern
schlagkräftige Gründe, weshalb der Generatio-         zum Beispiel Kindertagesheime, Stipendientöpfe
nenvertrag – der de facto kein Vertrag, sondern       und ermöglicht Prämienverbilligungen für Kran-
eine Solidaritätsabsicht ist – weiterleben dürfte:    kenkassen? Die Alten. Und vor allem die Jüngeren
    Grund 1 – die Steuern: Die älteren Generationen   unter uns profitieren davon. Übrigens: die Alters-
haben den Wohlstand geschaffen, von dem wir           gruppe der 65- bis 74-Jährigen gehört zu den kon-
heute alle – auch die Jungen – profitieren. Sie ha-   sumfreudigsten überhaupt; sie geben etwa die
ben ihr Leben lang Steuern bezahlt und tun dies       Hälfte ihres Einkommens für Konsum aus.
meist im Alter weiter. Die Haushaltsbudget-Erhe-         Grund 2 – die materielle Unterstützung: Es sind
bung des Bundesamts für Statistik zeigt, dass die     vor allem die Menschen im Ruhestand, die über
Menschen im Ruhestand im Schnitt 18,5 Prozent         65-Jährigen also, die Geldmittel transferieren zu
ihres Bruttoeinkommens als Steuern abliefern –        den Kindern und Grosskindern. Etwa jeder und
das sind über 1100 Franken pro Monat. Wer pro-        jede Zweite dieser Altersgruppe macht Zuwen-
fitiert von den mit Steuern bezahlten Schulen,        dungen ab 5000 Franken pro Jahr.
                                                                                                      >>

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LEBENSRAUM

«Die finanzielle Sicherheit, die der Genera-                                  es um die Frage, wie die AHV und die zweite Säule
tionenvertrag der ­älteren Generation bietet,                                 (Pensionskassen) langfristig gesichert werden kön-
fliesst zum Beispiel in Form von Hilfe bei                                    nen. Weil die Menschen immer älter werden, ver-
der Kinderbetreuung an die momentan                                           suchen etwa die Pensionskassen mittels tieferen
                                                                              Umwandlungssatzes die Umverteilung von Jung zu
einzahlende Generation zurück. Es ist also
                                                                              Alt zu korrigieren. Klar ist: Ohne Justierungen am
ein Deal, der sich nicht nur auf lange Sicht
                                                                              System wird es nicht möglich sein, das Ungleich-
lohnt.»                                                                       gewicht zu beheben oder abzudämpfen.
Andrin Walla, Jg. 1999, Student
                                                                              Drei mögliche Lösungen
                                                                              Lösungsansätze gibt es: Diskutiert wird zum ei-
«Die Erhöhung des Rentenalters hätte den                                      nen eine Erhöhung des Rentenalters. Denn wer
Nachteil, dass viele Arbeitnehmende über                                      länger arbeitet, zahlt nicht nur länger in die Vor-
60 keine Stelle mehr finden und somit                                         sorgekässeli ein, er oder sie bezieht auch entspre-
von der Sozialfürsorge unterstützt werden                                     chend weniger lang Rente. Avenir Suisse hat 2018
müssten. Also einfach eine Umlagerung                                         die Studie «Heute, nicht morgen!» Ideen für eine
                                                                              «fortschrittliche Altersvorsorge» präsentiert.
auf eine andere Kasse. Die Schweiz ist genug
                                                                              Wenn Männer und Frauen nur schon ein Jahr über
reich, um die AHV gesund zu halten.»                                          das heutige Pensionsalter hinaus berufstätig
Barbara Bischoff Frei, Jg. 1947, ehemalige Berufsschul-                       blieben, würde das gemäss Avenir Suisse die
lehrerin für Pflegeberufe                                                     AHV-Rechnung im Jahr 2030 um rund 2,7 Milli-
                                                                              arden Franken verbessern.
                                                                                 Gemäss Avenir Suisse gibt es theoretisch drei
                                                                              Hebel, um den finanziellen Ungleichgewichten in
                                                                              der Altersvorsorge zu begegnen und das System
                                                                              im Lot zu halten. Erstens: Rentenkürzungen –
                          Grund 3 – die Erbschaften: Die Universitäten        eher ein gesellschaftliches No-Go. Zweitens:
                       Lausanne und Zürich gehen davon aus, dass jähr-        ­höhere Einzahlungen (also höhere Lohnbeiträge).
                       lich Erbschaften von weit über 60 Milliarden wei-       Und drittens: die Erhöhung des Rentenalters.
                       tergegeben werden; laut aktuellsten Schätzungen
                       sind es im Jahr 2020 bereits um die 95 Milliarden      Reformen unumgänglich
                       Franken. Dass Erbschaften die vorhandene soziale       Unter der Bundeskuppel gehört die Reform der
                       Ungleichheit auf die folgende Generation fortset-      Altersvorsorge derzeit zu den wichtigsten, drän-
                       zen und verstärken, ist ein anderes Thema. Denn        gendsten und schwierigsten Aufgaben. Es braucht
                       oft gehen Vermögenswerte von Vermögenden an            tatsächlich Reformen, um die Sozialwerke lang-
                       Vermögende und von Hochaltrigen an jüngere             fristig zu sichern.
                       Rentner über, die wiederum oft einen Teil an die          Trotz aller Probleme zeigt sich jedoch: Der «Ge-
                       Kinder und Enkel weitervermachen.                      nerationenvertrag» lebt und es sieht nicht danach
                                                                              aus, dass er ernsthaft in Frage gestellt werden
                       Freiwilligenarbeit und Verantwortung                   könnte. Denn die Älteren haben ihren Teil beige-
                       Ein vierter Grund lässt sich nicht so eindeutig in     tragen und tun dies weiter. Und die meisten Jun-
                       Franken beziffern. Es geht um die Betreuungs-          gen anerkennen dies. Es wird spannend sein, zu
                       aufgaben, welche die Älteren wahrnehmen – zum          sehen, ob es gelingt, die Probleme zu lösen, ohne
                       Nutzen der jüngeren, in den Arbeitsprozess ein-        nachhaltig nur die Alten oder die Jungen zu be-
                       gebundenen Menschen. Im Jahr 2013 berechneten          nachteiligen. 
                       die Statistiker des Bundesamts für Statistik in
                       Biel diese immaterielle Leistung der älteren Ge-
                       nerationen. Sie kamen dabei auf einen Wert von           Was bedeutet der
                       schweizweit 93 Milliarden Franken, geleistet vor-
                       wiegend über 65-jährigen Menschen.
                                                                                Generationen­vertrag?
                          Würde man auch die übrige ehrenamtliche Tä-           Der Begriff steht für den Gedanken, dass Jung
                       tigkeit von Menschen im Pensionsalter zugunsten          und Alt füreinander Verantwortung tragen.
                       der jungen Generationen hinzuaddieren, wäre der          Neben der finanziellen Altersvorsorge geht es
                       Betrag noch markant höher.                               auch um die Erziehungsarbeit von Eltern und
                          Das System, das der Solidarität zwischen den          Grosseltern oder Pflegeleistungen von erwach-
                       Generationen zugrunde liegt, funktioniert derzeit        senen Kindern für ihre betagten Eltern.
                       noch. Aber wie sieht es in Zukunft aus? Zurzeit geht

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«Es war cool, dass jemand einfach da war
und Zeit für uns hatte»
Liora Kalupner (12), Sekundarschülerin, und Karl Gasser (69), Russikon

 «Am Anfang war es etwas merkwürdig,         Liora hat vier Geschwister. Sie sagt,      Selbständiger im Beruf arbeitet.
doch dann fanden wir es gut», sagt           dass sie wenig Kontakt zu alten Men-       «Senior im Klassenzimmer ist genau
Liora über die erste Zeit, als Karl Gasser   schen habe. Die Grosseltern haben          richtig für mich, ich helfe gerne der Zu-
bei ihr als Senior im Klassenzimmer          13 Enkelkinder. «Wir sehen uns fast        kunft auf die Sprünge.» An seiner Auf-
wirkte. Ein Jahr lang unterstützte er die    nur an Festtagen; aber wenn mein           gabe hat er sichtlich Spass. «An Kindern
sechste Klasse, seit dem Sommer              Gross­vater dann mal sehr alt ist und      gefällt mir, dass sie fröhlich, spontan
besucht Liora nun die Sekundarschule.        Unterstützung braucht, werde ich ihm       und für alles offen sind.» Selber hat er
«Es war schon cool, dass jemand ein-         helfen», bemerkt sie. In der Schule war    vier Enkelkinder im Schulalter. Auf den
fach da war und Zeit für uns hatte und       das Leben alter Menschen bisher nie        Generationenvertrag der Alters­vorsorge
man bei Fragen nicht warten musste,          ein Thema.                                 angesprochen, meint er, dass sei kein
sondern auch zu ihm gehen konnte»,           Karl Gasser ist seit knapp zwei Jahren     Vertrag, sondern ein stillschweigendes
erinnert sich die Schülerin. «Sehr span-     als Senior im Klassenzimmer in Russi-      Übereinkommen, das immer wieder
nend fand ich, als er uns von seinen         kon im Einsatz, in diesem Jahr mit fünf    neu ausgehandelt werden müsse. «Aus
Hobbys erzählte. Er sammelt Gegen-           Stunden an zwei Wochentagen. «Ich          meiner Sicht kann das nur mit Herz
stände, von denen ich einige nie gese-       habe Kinder gerne und die Einsätze         funktionieren, deshalb ist es wichtig,
hen hatte, und auch seine Geschichten        geben mir viel Positives zurück», sagt     dass wir Senioren den Kontakt mit den
von früher interessierten uns sehr.»         der Informatiker, der noch zwei Tage als   Jungen pflegen.»

                                                                                                         Visit Frühling 2020        7
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LEBENSRAUM

    «Ich verstehe heute besser, was alte
    Menschen wünschen und schätzen»
    Marcel Meili (20), Zivildienstleistender, und Marlis Schmuki (76), Volketswil

    Im hellen Essraum des Pflegezentrums       Vor dem Zivildienst schloss Meili eine    passiert, es braucht eine politische Ab-
    schiebt Marcel Meili den Rollstuhl von     Lehre als Hotelfachmann ab. «Durch        sicherung.» Sein Vorschlag ist, das
    Marlis Schmuki an den Tisch. Er leistet    den Zivildienst sehe ich die Welt jetzt   Rentenalter um ein bis zwei Jahre zu
    seit Oktober 2019 hier Zivildienst, «aus   etwas anders und verstehe besser, was     erhöhen und eine zusätzliche Finan­
    politischen Gründen», wie er betont.       alte Menschen wünschen und schät-         zierungsmöglichkeit über die Bundes-
    Im Alterszentrum gefällt es ihm. «Ich      zen.» Er könnte sich gut vorstellen,      steuern zu prüfen.
    finde die Arbeit spannend, und ich         wenn er später mal zuhause auszieht,      Marlis Schmuki hört interessiert zu. Ihr
    er­lebe viele schöne Momente; kürzlich     in einem Mehrgenerationenhaus zu          ist der Kontakt mit jungen Menschen
    hat mich sehr beeindruckt, als eine        leben. «Und sollte meine Grossmutter      wichtig, dazu gehören auch ihre sechs
    Bewohnerin sagte, sie fühle sich sehr      pflegebedürftig werden, würde ich bei     Enkelkinder. «Die Zivis bringen die
    glücklich.»                                ihrer Pflege mithelfen», bemerkt er.      Welt, mit ihnen ergeben sich andere
    Die 50 Personen, die im Pflegezentrum      Er findet das Prinzip des gegenseitigen   Gespräche», betont sie.
    leben, kennt er alle bei Namen. Beson-     Gebens und Nehmens von Jung und           Und sie fügt an: «Marcel Meili setzt
    ders interessiert ihn, wenn sie von frü-   Alt eine gute Sache. Gerade auch bei      sich wirklich für uns ein. Nicht alle Zivis
    heren Zeiten erzählen. «Es ist leben-      unserem Rentensystem. «Doch ich           tun das mit so viel Gefühl. Bei ihm aber
    dige Geschichte, ich lerne jeden Tag       glaube, das System ist gefährdet, wenn    merke ich, dass er Freude am Aus-
    dazu.»                                     in den nächsten zehn Jahren nichts        tausch hat.»

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«Sie ist für mich von ihrem Wesen
her ein Vorbild»
Selina Scheidt (20), Studentin, und Helene Stähli-Küpfer (83), Winkel

Im Gespräch mit den beiden spürt          Das Titelbild ist ein altes Foto der       rück, was man erhalten hat. Diese Hal-
man, dass sie sich gerne haben und        Grossmutter, auf dem sie nur wenig         tung sollte sich bei uns wieder verstär-
einander vertrauen.                       älter ist als Selina heute. «Bei ihr be-   ken.» Sie ist zuversichtlich, dass dieser
Selina sagt: «Wir sehen uns sicher jede   eindruckte mich sehr, wie sie als Kind     Ausgleich gelingt.
Woche einmal, und vor Weihnachten         mit der Familie aus dem Bernbiet hier      Ihre Grossmutter betont: «Mein gröss-
basteln wir oft zusammen. Jetzt zeige     ankam und völlig neu beginnen muss-        tes Glück war und ist die Zeit mit den
ich ihr auch, wie sie das Tablet bedie-   te.» Durch das Buch wurde ihre Bezie-      Enkeln. Ich hätte damals, als ich jung
nen kann, das sie von einem Nachbarn      hung zur Grossmutter erwachsener.          war, gerne eine Lehre gemacht oder
geschenkt erhalten hat.» Es seien im-     «Ich habe viel über sie als Mensch         studiert, doch dafür fehlte das Geld»,
mer schöne Stunden. «Ich erzähle ihr      erfahren. Sie ist für mich von ihrem       so die ehemalige Bäuerin. Über die
auch, was mich beschäftigt oder vom       Wesen her ein Vorbild. Ich kenne kei-      Enkel erfahre sie viel von der heutigen
Studium. Wir reden über Gott und die      nen gütigeren und zufriedeneren            Welt. «Es ist schön, ihre Entwicklung
Welt.»                                    Menschen.»                                 mitzuverfolgen. An Selina schätze ich
Die Beziehung zur Grossmutter brach-      Für Selina ist es selbstverständlich,      alles: Sie ist lieb, hilfsbereit und immer
te sie auf die Idee, ihre Matura-Arbeit   dass Jüngere für die Älteren schauen,      da, wenn ich sie brauche.» Die junge
über alte Menschen zu schreiben. Da-      auch beim Thema Altersvorsorge. «Das       Frau fährt sie zum Arzt und erledigt mit
raus wurde ein Buch mit sechs Porträts.   ist in vielen Kulturen so, man gibt zu-    ihr Besorgungen.

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LEBENSRAUM

Zwei Persönlichkeiten, ein Thema: Ex-Regierungsrätin Verena Diener diskutiert mit Nationalrat Andri Silberschmidt
über den Generationenvertrag.

«Solidarität ist keine
Einbahnstrasse»
Wie gut funktioniert der Generationenvertrag heute noch und welche
Anforderungen stellt die Zukunft? Ein Gespräch mit Verena Diener, die
40 Jahre in der Politik auch AHV-Reformen mitgeprägt hat, und mit dem
neu gewählten Nationalrat Andri Silberschmidt.

Interview: Rita Torcasso      Foto: Renate Wernli

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Wie erleben Sie heute in Ihrem Umfeld                      «Die junge Generation hat kein
die Solidarität zwischen Jung und Alt?
Verena Diener: Ich beobachte beim Austausch der
                                                           Vertrauen, dass die Politik eine Lösung
Generationen im Alltag eine hohe Achtsamkeit.              findet für die langfristige Finanzierung
Junge Menschen erlebe ich als gruppenorientier-
ter, als wir es früher waren. Natürlich formuliert
                                                           der Altersvorsorge.»
jede Generation auch ihre Partikularinteressen,            Andri Silberschmidt
doch wenn es wirklich darauf ankommt, ist un-
sere Bevölkerung solidarisch.
Andri Silberschmidt: In meinem Umfeld erlebe ich      Andri Silberschmidt, auf Ihrer Website
den Generationenkitt als intakt. Früher war damit     schreiben Sie von «Rentenklau an den Jungen».
ja vor allem der innerfamiliäre Zusammenhalt ge-      Besteht die Gefahr einer Aufkündigung des
meint, was sich aus meiner Sicht immer mehr auf       heutigen Rentensystems?
die Gesellschaft ausgeweitet hat. Bei jungen Un-      Silberschmidt: Es ist einfach so, dass bei der be-
ternehmern sind gemischte Teams gefragt; in dem       ruflichen Vorsorge der zweiten Säule die berufs-
von mir mitbegründeten Startup haben wir zwei         tätige Bevölkerung heute nicht nur für sich selber,
ältere Personen, die ihre Erfahrungen einbringen.     sondern auch für die bereits laufenden Renten
                                                      bezahlt. Diese Umverteilung war in der BVG so
Welche Beziehungen zu Menschen anderer                nie geplant. Und die Umverteilung in der AHV ist
Generationen haben Sie persönlich?                    eine des Masses. Ich bin durchaus bereit, die heu-
Silberschmidt: Ich wuchs zusammen mit den Gross-      tigen Renten mitzutragen, wenn wir dafür die
eltern im selben Haus auf. Als sie im hohen Alter     Sicherheit haben, dass wir später ebenfalls noch
waren, machte ich während meiner Lehre die            eine existenzsichernde Rente erhalten werden.
Buchhaltung für sie und konnte so etwas von dem
zurückgeben, was ich als Kind von ihnen erhalten      Verena Diener, gibt es aus Ihrer Sicht
habe.                                                 Verpflichtungen der Pensionierten gegenüber
Diener: Ich bin in einem Mehrgenerationenhaus-        den Jungen?
halt aufgewachsen. Das gebe ich heute weiter,         Diener: Solidarität ist sicher keine Einbahnstrasse.
indem ich meine Enkelinnen, die zwischen 7 und        Die Verpflichtung sehe ich darin, dass die Älteren
16 Jahre alt sind, mit Betreuung und Beratung         Hand bieten zu Generationenlösungen. Heute er-
unterstütze. Ausserdem engagiere ich mich als         leben wir ja mit der Klimakrise drastisch, was
Mentorin für junge Frauen, die in die Politik ein-    geschieht, wenn man einfach zuwartet.
steigen möchten.                                      Silberschmidt: Finanziell leisten Pensionierte heu-
                                                      te über die Mehrwertsteuer einen Beitrag an die
Beim Sorgenbarometer der Schweizer Bevölke-           AHV. Wie und ob ältere Menschen in der Gesell-
rung steht die Altersvorsorge an erster Stelle.       schaft zusätzliche Verpflichtungen gegenüber
Traut die Bevölkerung der Politik keine               Jungen wahrnehmen sollen, ist nicht Sache der
Lösung mehr zu?                                       Politik. Viel wichtiger scheint mir heute, dass die
Silberschmidt: Tatsächlich hat die junge Genera-      Politik mehr Anreize entwickelt, damit ältere
tion kein Vertrauen mehr, dass die Politik eine       Menschen länger arbeiten können.
Lösung findet, welche die Finanzierung der Al-
tersvorsorge langfristig sichert. Es gibt jene, die   Ein höheres Rentenalter wurde allerdings
sich nicht darum kümmern, und die andern, die         vom Volk immer wieder abgelehnt. Was könnte
denken, dass sie im Alter nichts mehr erhalten        denn diese Haltung verändern?
werden. Für mich ist die wichtigste Aufgabe der       Diener: Ein neues Rentenmodell muss flexibler
Politik, diese Angst ernst zu nehmen.                 sein und könnte allenfalls auch über die Beitrags-
Diener: Die Sorge der Jungen finde ich berechtigt     jahre festgelegt werden. Ausserdem muss es die
und auch ihre Sicht, dass die heutigen Rentner-       heutigen Arbeitsmodelle unter die Lupe nehmen
innen und Rentner eine komfortable Situation          und Hindernisse wie zum Beispiel, dass ältere
haben. Doch der Ball für notwendige Veränderun-       Arbeitnehmende heute zu teuer sind, beseitigen.
gen zur Absicherung der Altersvorsorge kann           Der Gedanke, mit 65 endlich pensioniert zu sein,
nicht nur bei der Politik liegen. Wenn jeder in der   ist überholt, und es gibt viele, die damit nicht
Gesellschaft nur die eigenen Interessen schützt,      glücklich sind. Erwerbstätige sollten in Zukunft
werden Kompromisse schwierig. Deshalb muss            mehr Möglichkeiten haben, den Zeitpunkt der
die Politik auch dafür sorgen, dass die Bevölke-      Pensionierung selber zu wählen.
rung die Komplexität unseres Dreisäulen-Modells       Silberschmidt: Aber ein Referenzalter für die Pen-
besser versteht.                                      sionierung muss bleiben. Die Jungfreisinnigen
                                                                                                      >>

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LEBENSRAUM

                                                                              «Wenn jeder in der Gesellschaft
                                                                              nur die eigenen Interessen schützt,
                                                                              werden Kompromisse schwierig.»
                                                                              Verena Diener

Verena Diener (70) war viele Jahre zunächst für die Grüne Partei und später
für die Grünliberalen Regierungsrätin im Kanton Zürich und Ständerätin.

                       haben im November die Renteninitiative lanciert,       Eltern aufgeteilt und entsprechen nicht dem
                       die das Rentenalter bis 2030 schrittweise auf 66       ­effektiv geleisteten Arbeitsaufwand.
                       anheben und danach an die Lebenserwartung               Silberschmidt: Für mich stellt sich die Frage an-
                       binden will. Argumente dagegen wie jene, der            ders: Welche Arbeit soll finanziell entschädigt
                       Arbeitsmarkt sei für Ältere schwierig, sind be-         werden? Denn von der dieser Entschädigung
                       rechtigt, sollen aber nicht gegeneinander ausge-        hängt die Rentenbildung ab. Für Menschen, wel-
                       spielt werden. Es braucht eine Lösung für das           che unentgeltlich andere unterstützen, gibt es
                       Rentendefizit. Ich bin überzeugt, dass ein grosser      zivilgesellschaftliche Lösungen wie zum Beispiel,
                       Teil der Arbeitnehmer gerne länger arbeiten             dass diese Arbeit auf ein Konto gutgeschrieben
                       möchten, wenn sie gute Möglichkeiten haben.             wird, über das man später selber Hilfe anfordern
                                                                               kann.
                       Das heutige Rentensystem orientiert sich an
                       der linearen Vollzeit-Arbeitsbiografie. Ist das        Heute bezieht jeder sechste Rentner Ergänzungs­
                       heute mit mehr Teilzeitarbeitenden und                 leistungen. Werden Rentner immer häufiger in
                       Freelancern überhaupt noch zeitgemäss?                 Armut leben müssen?
                       Diener: Heute wird bei allen derselbe Koordina-        Silberschmidt: Ergänzungsleistungen waren als
                       tionsabzug von rund 25 000 Franken erhoben,            Übergangslösung gedacht, bis alle Erwerbstäti-
                       doch für die anstehende Reform besteht ein Kon-        gen in der Zweiten Säule versichert sind. Doch die
                       sens, dass dieser Abzug in Zukunft nach Anstel-        Zahl der Bezüger nahm nicht ab, sondern immer
                       lungspensum abgestuft sein soll. Da zeichnen           weiter zu. Das ist heute ein echtes Problem im
                       sich also Lösungen ab. Mehr Sorgen macht mir,          Sozialversicherungssystem. Die anstehende Re-
                       dass es heute bei einem Vollpensum Löhne gibt,         form sollte sich wieder am Versprechen orientie-
                       die so tief sind, dass damit keine ausreichende        ren, dass die Rente 60 bis 70 Prozent des letzten
                       Rente erwirtschaftet werden kann.                      Lohnes betragen sollte, auch für die unteren
                                                                              Lohnsegmente.
                       Betroffen sind davon ja vor allem Frauen, die          Diener: Die Berufe im Verkauf und weitere Nied-
                       gut einen Drittel weniger Rente als Männer             riglohnbereiche sind Beispiele dafür, dass die Po-
                       erhalten, in der Zweiten Säule gar 63 Prozent          litik und die Wirtschaft diesbezüglich noch Haus-
                       weniger. Müsste die unbezahlte Betreuungs-             aufgaben machen müssen. Denn nur wenn Löhne
                       und Pflegearbeit, die vor allem Frauen leisten,        und Renten existenzsichernd sind und sich die
                       stärker berücksichtigt werden?                         Lohnschere nicht noch weiter öffnet, hat die Ren-
                       Diener: Ja, man müsste diese Arbeit stärker ein-       tenreform an der Urne überhaupt eine Chance.
                       binden in die Berechnung der Renten. Zwar gibt
                       es bei der AHV Erziehungs- und Betreuungsgut-          Die Reform AHV 21 kommt im Frühling ins
                       schriften, doch diese werden hälftig zwischen den      Parlament. Wird es eine Einigung geben?

12      Visit Frühling 2020
«Mir geht es nicht um eine Schuld-
frage, sondern darum, dass jetzt alle
Generationen bereit sind, gemein-
sam Lösungen zu erarbeiten.»
Andri Silberschmidt

                                                       Andri Silberschmidt (25) wurde im vergangenen Herbst als Präsident der Jung-
                                                       freisinnigen Schweiz in den Nationalrat gewählt.

Silberschmidt: Im Parlament sitzen jetzt mehr Jun-     handhaben, weil sie die realen Kosten nicht abge-
ge und mehr Frauen als vor den Wahlen. Ich hoffe,      bildet hat. Doch die Erfahrung lehrt, dass die
dass diese Veränderung der Dringlichkeit der           Menschen immer wieder für ein lebenswertes
Reform mehr Gewicht verleiht. Und damit auch die       Leben gekämpft haben und bereit waren, sich
Chance steigt, dass mehrheitsfähige Lösungen           wenn nötig umzustellen.
erarbeitet werden können.                              Silberschmidt: Es gibt ja auch bereits erfreuliche
                                                       Entwicklungen in diese Sinne, zum Beispiel die
Verena Diener, Sie haben sich politisch oft ­          Kreislaufwirtschaft, in der Abfälle wieder Ver-
für Umweltanliegen eingesetzt. Entzweit die            wendung finden und damit der Ressourcenver-
Klimadebatte die Generationen?                         brauch abnimmt. Ich bin überzeugt, dass sich
Diener: Ich sehe keine Spaltung, denn ob sich          Systeme anpassen können.
jemand in der Klimadebatte engagiert, ist alters-
unabhängig. Aber natürlich wird die Klimakrise,
welche in der Politik meiner Generation lange nicht
wahrgenommen werden wollte, die Jungen stärker
treffen.                                                                  Persönlich
Silberschmidt: Mir geht es nicht um eine Schuld-
                                                                          Andri Silberschmidt (25), Betriebsökonom, seit
frage, sondern darum, dass jetzt alle Generationen
                                                                          November 2019 N  ­ ationalrat für die FDP, Mitbe-
bereit sind, gemeinsam Lösungen zu erarbeiten.
                                                                          gründer und Verwaltungsratspräsident des Gastro-
Es ist ähnlich wie bei der Altersvorsorge, niemand
                                                                          Unternehmens Kaisin. Bis Herbst 2019 war er Präsi-
sollte auf Kosten anderer leben. Dasselbe Ziel, dass
                                                                          dent der Jungfreisinnigen Schweiz. Er engagiert sich
der C02-Ausstoss bis 2050 auf null gesenkt werden
                                                                          im Stiftungsrat einer Stiftung für Wohnbauförderung
soll, muss auch für das Defizit in der AHV gelten.
                                                                          und in verschiedenen Vereinen. In Zürich lebt e­ r in
Diener: Nicht nur für die Renten und die Umwelt
                                                                          einer Wohngemeinschaft.
müssen wir diese Überlegungen anstellen, son-
dern ebenso für das Ziel der sozialen Nachhaltig-                         Verena Diener (70), Rentnerin und in einem Teilpen-
keit, die ebenso wichtig für uns alle ist.                                sum Trägerin verschiedener Mandate, vor allem in den
                                                                          Bereichen Umwelt und Gesundheitswesen, ein Teil
Das Wirtschaftswachstum sichert ja auch die                               davon als unbezahlte Freiwilligenarbeit. Sie war 40
Renten ab. Braucht es neue Lösungsansätze für                             Jahre zuerst für die Grüne Partei und dann für die
eine lebenswerte Zukunft?                                                 Grünliberalen Regierungs­­rätin im Kanton Zürich so-
Diener: Dass die Wirtschaft in der heutigen Form                          wie National- und Ständerätin. Sie hat vier Enkelkin-
nicht immer weiterwachsen kann, bedeutet eine                             der und lebt seit Frühjahr 2019 in einer «alters­
grosse Herausforderung. Die bisherige Wachs-                              gerechten» Wohnung in Winterthur.
tumsphilosophie war sicher einfacher zu

                                                                                                         Visit Frühling 2020      13
Mehrere Generationen
erweitern den Horizont
Häuser, in denen mehrere Generationen leben. Studierende, die im Altersheim
wohnen. Ein Quartier-Netzwerk mit sozialer Teilhabe – der Wunsch nach
gemeinsamen Projekten, die Jung und Alt verbinden, nimmt erfreulich zu.
Interview: Rita Torcasso      Foto: Katharina Simonett

14      Visit Frühling 2020
LEBENSRAUM

                                                    Schon fast im Grünen liegt die Siedlung Heizen-
                                                    holz der Genossenschaft Kraftwerk1 am Stadt-
                                                    rand von Zürich. Von weitem sieht das moderne
                                                    Gebäude aus wie irgendeine Siedlung. Doch hin-
                                                    ter den Mauern werden hier die Wohnformen der
                                                    Zukunft gelebt.

                                                    Der Grosshaushalt Clu 3
                                                    In der ganzen Siedlung wohnen rund 95 Personen
                                                    in 28 Wohnungen. Neben Familienwohnungen
                                                    gibt es mehrere Wohngemeinschaften, die sich
                                                    Menschen verschiedenen Alters teilen, und zwei
                                                    Mehrgenerationen-Cluster.
                                                       Im Clu 3 leben neun Personen, die zwischen 5
                                                    und 73 Jahre alt sind. Sie teilen sich ein grosses
                                                    Wohnzimmer mit mehreren Sofas und einer schö-
                                                    nen Veranda sowie den Essbereich mit offener
                                                    Küche – und können sich in Ein- oder Zweizim-
                                                    mereinheiten mit eigenem Bad zurückziehen.
                                                       «Wir Pensionierten kamen als Letzte vor zwei
                                                    Jahren dazu», sagen Reiner Elsener (73) und Ve-
                                                    rena Walther (70). Ruth Kunz (45) lebt mit Partner
                                                    und der 5-jährigen Tochter seit der Fertigstellung
                                                    des Hauses vor acht Jahren hier. Wir sitzen um
                                                    den grossen Tisch, an dem abends gemeinsam
                                                    gegessen wird. Jeder Mitbewohner kocht dreimal
                                                    im Monat für alle.

                                                    «Einsam wird man hier nicht»
                                                    Verena Walther zeigt ihr helles Eckzimmer mit
                                                    Bad und kleiner Küche. Sie erzählt: «Ich konnte
                                                    einen Monat zur Probe wohnen, dann habe ich
                                                    mich entschieden.» Vorher lebte sie 27 Jahre in
                                                    einem Einfamilienhaus. «Hier profitiere ich von
                                                    der Durchmischung. Man hat einen erweiterten
                                                    Blick dafür, was Menschen erleben, und es gefällt
                                                    mir, dass auch zwei Kinder da sind, einsam wird
Hier werden die Wohnformen der Zukunft gelebt:
                                                    man hier nicht.» Reiner Elsener begründet seinen
Blick in einen Innenhof der Siedlung Kraftwerk 1,
                                                    Einzug im Cluster so: «Mir ist es wichtig, in einem
wo gerade ein Fest im Gange ist.
                                                    überschaubaren Umfeld alt zu werden, hier ken-
                                                    nen wir uns alle.» Ruth Kunz ist es wichtig, dass
                                                    ihre Tochter mehrere Bezugspersonen hat, «so,
                                                    wie es das afrikanische Sprichwort sagt, ein Kind
                                                    braucht ein ganzes Dorf». Als Erwerbstätige mit
                                                    Vollpensum schätzt sie, dass sie sich abends an
                                                    den gedeckten Tisch setzen kann. «Das gemein-
                                                    same Essen gibt Struktur im Alltag.» Auch die
                                                    Sicherheit, nicht plötzlich die Wohnungskündi-
                                                    gung zu erhalten, sei ihr mit Familie wichtig.

                                                    Sich eingeben in die Gemeinschaft
                                                    Zum Gemeinschaftsgefühl in der Siedlung tragen
                                                    die Hausgruppen bei, in denen man sich freiwillig
                                                    engagiert. Sie sind verantwortlich für die «Salle
                                                                                                   >>

                                                                                                   Visit Frühling 2020   15
LEBENSRAUM

                        commune», wo oft Feste gefeiert werden, ausser- Verdrängung von älteren Menschen aus den zen-
                        dem für die Werkstatt, den Aussenraum, den tralen Quartieren. Im Kreis 8 entstand im Früh-
                        Hausladen und die Sauna, die zur Siedlung gehö- ling 2019 die Genossenschaft NeMeri – Netzwerk
                        ren. «Es herrscht eine gute Stimmung, doch wir Mehrgenerationen Riesbach. «Das Ziel ist eine
                        sind keine homogene Gemeinschaft», erklärt Rei- bessere soziale Durchmischung im Quartier», so
                        ner Elsener. «Aber wenn man eine solche Wohn- der Präsident Manuel Lehmann: «Heute finden
                        form wählt, soll man sich auch eingeben in die hier ältere Menschen bei Kündigungen kaum
                        Gemeinschaft.» Er stellt klar: «Die Wohnform ist mehr bezahlbare Wohnungen.»
                        keine Absicherung für Unterstützung im Alter,
                        ich bin tagsüber oft allein hier, denn die meisten Netzwerk-Häuser für ein Quartier
                        arbeiten, und gegenseitige Hilfe ist freiwillig.» Die Genossenschaft strebt ein Wohnnetz mit 40
                        Der älteste Bewohner, der über 80 Jahre alt war, Netzwerkhäusern für 500 Personen im Quartier
                        lebte nach einem Hirnschlag                                             an. Im Zentrum der Idee steht
                        noch drei Jahre mit Unterstüt-
                        zung in der Siedlung, dann
                                                             «Es herrscht eine gute das             Mehrgenerationen-Wohnen.
                                                                                                Es sind Häuser, in denen sich
                        wurde der Pflegebedarf zu              Stimmung, doch wir               die Raumbedürfnisse der jewei-
                        gross.                                sind keine homogene ligen Lebensphase anpassen
                           Im Clu 3 bezahlen die Bewoh-                                         lassen. Ausserdem sollen Läden
                        ner eine durchschnittliche Ge-            Gemeinschaft.»                und Dienstleister für die alltäg-
                        nossenschaftsmiete: Für die 32                                          lichen Bedürfnisse wie Nah-
                        Quadratmeter grosse Einzimmer-Einheit mit Nut- rung und Gesundheit und Räume für gemeinsame
                        zung der Gemeinschaftsräume sind es 1130 Fran- Essen zum Netzwerk gehören.
                        ken. Der Grosshaushalt wird mit einem Ämtli-Plan        Arbeitsgruppen versuchen nun, auch durch
                        selber organisiert. Sonst bringt sich jeder ein, wie direkte Kontakte im Quartier Häuser zu finden,
                        er möchte: «Ich unternehme mit den beiden Kin- die durch Anpassungen gemeinschaftlich nutzbar
                        dern hie und da etwas, und im Winter organisie- wären. «Auch ein Neubau ist eine Option», so Leh-
                        ren wir alle zwei Wochen bei uns im Wohnzimmer mann. Eine Zusammenarbeit besteht mit dem
                        einen Filmabend für das ganze Haus», erklärt Gemeinschaftszentrum Riesbach. Der grössere
                                               Verena Walther. Für frei Teil der Mitglieder von NeMeRi ist zwischen 50
                                               werdende Wohneinheiten und 70 Jahre alt, ein paar wenige jünger. «Die
 Generationen-Mix                              findet ein mehrstufiges meisten sind aus einem persönlichen Bedürfnis
                                               Auswahlverfahren statt, heraus daran interessiert.» Noch steht das Netz-
 Erwähnte Wohnsiedlungen:                      bei dem man die Mitbewoh- werk ganz am Anfang. Doch die Vision weist in
                                               nenden kennenlernt.           die Zukunft. «Grosse Hoffnung setzen wir in die
 Kraftwerk1: www.kraftwerk1.ch,                                              neue Alterspolitik der Stadt Zürich, die im Früh-
 ­NeMeRi – Netzwerk Mehrgenerationen           Soziale Durchmischung         jahr vorgestellt wird, Wohnen war eines der wich-
  Riesbach: www.nemeri.ch;                     als Ziel                      tigsten Themen, die an den offenen Workshops
 Giesserei Winterthur:                         Vor allem in Baugenossen- angesprochen wurden.»
 www.giesserei-gesewo.ch                       schaften entstehen neue
 Generationenprojekte:                         Wohnideen. Dazu gehören Wenn Junge im Alterszentrum wohnen
                                               Mehrgenerationenhäuser,       Mehr Austausch mit Jungen wünschen sich viele
 «Intergeneration» stellt Generatio-           von denen es im Kanton Betagte in den Altersheimen. Zwei Alterszentren
 nenprojekte vor, die man nach Region          Zürich heute mehrere gibt. bieten jetzt Studierenden Wohnraum an, weitere
 abrufen kann. D­ ort findet man auch          Das grösste ist das Mehr- sollen folgen. Anina Weisshaupt steht im letzten
 die nächsten GenerationenAteliers.            generationenhaus Gies- Studienjahr als Physiotherapeutin und lebt im
 www.intergeneration.ch                        serei in Winterthur mit 134 Alterszentrum Kluspark. «Wir sind zu dritt in der
                                               Wohnungen.                    grossen Vierzimmerwohnung, die früher der Lei-
 Pro Senectute Kanton Zürich bietet
                                                  In der Stadt Zürich und ter mit der Familie bewohnt hat», erklärt sie. Die
 neben den Generationen­Ateliers:
                                               Einzugsgebiet entwickelt 25-Jährige zahlt 700 Franken für das Zimmer,
 «Generationen im Klassenzimmer» mit           die Genossenschaft Kraft- doch mit Mitarbeit im Alterszentrum reduziert
  Einsätzen von Senioren in Schulklassen:      werk1 zurzeit die vierte sich ihre Miete. «Zurzeit sind es bei mir etwa 10
  pszh.ch/ihr-engagement                       Siedlung. Auch bei ihr Stunden Mitarbeit im Monat, die mir mit 250
                                               wird Wert auf eine beson- Franken von der Miete abgezogen werden; meine
  «Wohnen für Hilfe», Studierende
                                               ders gute Durchmischung WG-Kollegin, die im ersten Studienjahr steht,
  wohnen gegen Hilfe bei Senioren:
                                               gelegt wird.                  engagiert sich für 20 Stunden und bietet neu im
  pszh.ch/soziales-und-beratung
                                                  Ein zunehmendes Prob- Haus einen Computerkurs an.»
                                               lem in der Stadt ist die         Die drei jungen Mitbewohnerinnen helfen bei

16     Visit Frühling 2020
der Aktivierung und an Veranstaltungen. «Und
zunehmend nutzen die Bewohner jetzt, dass sie                         Der Age Report
uns stundenweise für eine bestimmte Unterstüt-
                                                                      «Wohnen in den späten Lebens-
zung ‹buchen› können.» Zweimal im Monat findet
                                                                      jahren»: So heisst der neue Age
ein Austauschabend statt, den alle drei gemein-
                                                                      Report IV. Er zeigt: Jede zweite
sam mit den Bewohnern gestalten. «Es besteht ein
                                                                      Person in Rente würde gerne,
grosses Interesse daran, was wir Jungen machen»,
                                                                      mit eigener Wohnung, in einem
sagt die Studentin.
                                                                      Mehrgenerationenhaus leben.
   Die Idee hinter dem Wohnangebot: Wer sich
                                                      Von den heute 55- bis 74-Jährigen bezeichnen
bewirbt, soll sich einbringen. «Für mich ist es ein
                                                      sich 67 Prozent als «innovationsorientiert».
gegenseitiges Geben und Nehmen. Ich kann viel
                                                      Tatsächlich leben aber die meisten recht «tradi-
von den älteren Menschen mitnehmen, Geschich-
                                                      tionell».
ten von früher und eine andere Sicht auf die Welt.»
Sie findet, dass es mehr solche Möglichkeiten ge-     Jeder vierte Senior über 65 findet, dass er in der
ben sollte. «Die Begegnungen mit den Bewohnern        Wohngegend leicht vereinsamen könnte, ebenso
sind wohltuend, gerade auch dann, wenn ich im         vielen fehlt in der Umgebung ein Arzt oder eine
Studium Stress habe.»                                 Apotheke. Auffallend viele ältere Menschen le-
                                                      ben in viel grösseren Wohnungen, als sie bräuch-
Ateliers für gegenseitigen Austausch                  ten: 70 Prozent der Alleinstehenden bewohnen
Aktivitäten mit jungen Menschen stehen bei den        3 bis 5 Zimmer, ein Drittel der Paare 5 oder
Pensionierten hoch im Kurs. Pro Senectute Kan-        mehr. Viele Wünsche, die Senioren an eine zu-
ton Zürich bietet seit zehn Jahren Generationen-      künftige Wohnmöglichkeit haben, unterscheiden
Ateliers an, in welchen Alt und Jung Ideen ein-       sich von ihrer realen Wohnsituation: 55 Prozent
bringen und gemeinsam umsetzen können. Ini-           wünschen sich, in ein Mehrgenerationenhaus zu
tiiert wurden die Ateliers in Zürich; heute gibt es   ziehen, und 17 Prozent könnten sich vorstellen,
sie in bereits drei Städten im Kanton. Durch-         in einer Wohngemeinschaft zu leben. Die Auto-
geführt werden sie jeweils mit lokalen Partner-       ren halten fest: «Das generationendurchmischte
organisationen aus den Regionen, die sich zum         Wohnen mit eigener Wohnung ist heute eine
Verein Generationenbeziehungen zusammenge-            klare Präferenz bei der Mehrheit der älteren
schlossen haben.                                      Menschen.» Von jenen, die nach der Pensionie-
    «An den Ateliers stellen Interessierte jeden      rung umgezogen sind, gibt nur ein Viertel eine
Alters ihre Ideen vor und entwickeln sie dann         altersgerechte Wohnsituation als Grund an, die
zusammen weiter», erklärt Jürg Niklaus. Viele         Hälfte suchte mehr Nähe zu den Kindern.
Projekte sind so entstanden: mit Video-Clips zu       Der Age Report zeigt auch auf, dass bei der
Themen älterer Menschen, aufgenommen von Ju-          Wohnsituation von älteren Menschen grosse
gendlichen. «Weitere Ideen wie den ‹DrumCircle›,      Ungleichheiten bestehen. «Wohnraum im Alter
zusammen trommeln, die Sackgeldjob-Börse,             muss ein Ort sein, der den Komfort- und Quali-
Graffiti sprayen führten wir schon mehrmals           tätsbedürfnissen aller Menschen gerecht zu
durch. Viele Menschen verschiedenen Alters und        werden vermag», fordern die Autoren. Heute
aus verschiedenen Kulturen machten mit.» Ein-         muss ein Viertel der Pensionierten mit einem
mal wurde ein «Trommel-Workshop» im Asylzen-          Budget von weniger als 3900 Franken im Monat
trum Töss organisiert.                                auskommen. Aus finanziellen Gründen die Woh-
                                                      nung wechseln zu müssen, beurteilen die Auto-
Damit sich Türen öffnen                               ren als schwierigste Situation im Alter. «Denn
Durchschnittlich besuchen etwa 40 Personen die        die Wohnung ist ein Ankerpunkt, der stark
regionalen GenerationenAteliers. «Einige der Pro-     abhängig ist von den gewachsenen Nachbar-
jekte, die in den Ateliers entstanden sind, laufen    schaftsbeziehungen und den im Laufe der Zeit
heute ohne Unterstützung weiter.» Am Anfang           aufgebauten Erinnerungen.» Gefordert wird im
stehe oft der Wunsch, mehr darüber zu erfahren,       Report, dass bei den Diskussionen über zukünf-
wie man solche Projekte aufbauen kann und was         tiges Wohnen im Alter und neue Wohnformen
bereits angeboten wird. «Am besten funktionie-        nicht für die Pensionierten entschieden wird,
ren sie, wenn jüngere und ältere Menschen etwas       sondern zusammen mit ihnen.
gemeinsam auf die Beine stellen, mit dem Erleben
öffnen sich oft Türen zum gemeinsamen Aus-            Age Report IV, Wohnen in den späten
tausch», so Niklaus. Seine Aufgabe bestehe heute      Lebensjahren, Seismo Verlag, 2019
vor allem darin, passende Interessenten zusam-        www.age-report.ch
menzuführen.»

                                                                                                      Visit Frühling 2020   17
Elsi Kranz

18      Visit Frühling 2020
LEBENSART

Grosse Liebe,
kurzes Glück
Die Zürcherin Elsi Kranz hat ein bewegtes, teilweise schicksalsschweres
Leben hinter sich. Ihren «Mann fürs Leben» durfte sie nur wenige Jahre
haben. Sie vermisst ihn tagtäglich.

Text: Robert Bösiger   Foto: Christian Roth

Es muss Fügung gewesen sein.                           Wallisellen. Ihr Verhältnis entwickelt sich rasch
Am 21. März 2007 erscheint im «Tagblatt» eine          zu einer richtigen Liebesgeschichte. Elsi Kranz
4-Zeilen-Annonce folgenden Inhalts:                    streichelt liebevoll das dicke rote Album, das vor
Krebs, 22.6. bis 23. 7.: Das Schicksal lädt Sie        ihr auf dem Tisch liegt. Das Buch ist voll mit Hun-
freundlich dazu ein, in Ihrer Persönlichkeitsent-      derten von eingeklebten Liebesbriefen, Ansichts-
wicklung einen Schritt vorwärts zu machen. Auch        karten, ausgedruckten E-Mails und handschrift-
wenn Sie der Einladung mit gemischten Gefühlen         lich geschriebenen Liebesbotschaften und SMS.
folgen: Sie bereuen es nicht!                          Sie sagt mit Blick auf eine schöne Karte mit einer
   Zur selben Zeit, wenn nicht gar in der gleichen     Sonne drauf: «Er hatte eine so schöne Handschrift!»
Ausgabe, wird eine weitere Chiffre-Annonce fol-        Die eingeklebten Fotos zeugen von der gemeinsa-
genden Inhalts publiziert:                             men Zeit mit Bruno. Diese schöne Zeit mit Bruno
CH-Mann, 60 Jahre. Suche eine liebe Frau, 57–63        dauert viel zu kurz – doch dazu später mehr.
Jahre. Wandern, Natur, Kuscheln und Romantik
sind meine Leidenschaften.                             Von der Coiffeuse zur Bauleiterin
   Die erste Anzeige stammt von Elsi Kranz, die        Elsi Kranz erblickt am 21. Juli 1942 das Licht der
zweite von Bruno Lisser. So kommt es, dass sich        Welt. Es ist ein Dienstag, an dem die japanischen
die beiden – auf Initiative von ihr – ein erstes Mal   Truppen auf Neuguinea ihre Expansion vorantrei-
treffen. Sie weiss noch gut, wann und wo dieses        ben. Das Mädchen wächst in einem eher proble-
«Date» stattfand: «Wir trafen uns im Restaurant        matischen Elternhaus auf, weil der Vater – ein
Landhus in Zürich Seebach zum Nachtessen. Da           Schriftsetzer – sehr jähzornig ist. Heute mag sie
stand schon die erste Baccara-Rose auf dem Tisch       sich lieber nicht mehr an den Vater und die Jahre
– und zwischen uns hat es gefunkt.»                    der Kindheit und Jugend erinnern.
   Es bleibt nicht bei diesem Treffen und bei dieser      Nach den üblichen Schuljahren absolviert Elsi
einen Rose. Fortan treffen sich die beiden regel-      Kranz eine Lehre als Coiffeuse. Jahre später – sie hat
mässig. Er besucht sie in Oerlikon, sie ihn in         bereits einen eigenen Salon – besucht sie die

                                                                                                        Visit Frühling 2020   19
LEBENSART

Die Liebesgeschichte dauert 6 Jahre,                                                Handelsschule. Noch heute ist es für sie eine grosse
2 Monate und 10 Tage – die wertvollsten                                             Genugtuung, dass sie den Abschluss besteht, ob-
                                                                                    wohl die Mehrheit der Klasse vorher das Handtuch
im Leben von Elsi Kranz.                                                            wirft. Denn ihr Bruder habe damals gesagt: «So
                                                                                    dumm wie du sollte man nicht zur Welt kommen.»
                                                                                       Nach der «Handeli» heuert sie als 30-jährige
                                                                                    Frau bei den Schweizerischen Bundesbahnen an.
                                                                                    Zuerst landet sie bei der Telefondirektion, dann
                                                                                    als Bauleiterin im Bereich Geleisebau. Dies wird
                                                                                    für sie zu einer spannenden Zeit. Sie bleibt bei
                                                                                    den SBB bis zu ihrer Pensionierung.

                                                                                    Besser keine Kinder
                                                                                    Kommt man auf ihre familiäre Situation zu spre-
                                                                                    chen, wird Elsi Kranz nachdenklich. Mit ihrem
                                                                                    ersten Mann sei sie nicht glücklich gewesen, gibt
                                                                                    sie unumwunden zu. Mehr noch: «Den hätte ich
                                                                                    gescheiter nicht kennengelernt.» Zum Glück habe
                                                                                    es keine Kinder gegeben – «dafür habe ich ge-
                                                                                    sorgt». Jahre später erträgt sie ihn nicht mehr. Es
                                                                                    kommt zur Trennung.
                                                                                       Kinder wollte Elsi Kranz aus zwei Gründen nie.
                                                                                    Zum einen wegen ihres damaligen Mannes. Zum
                                                                                    anderen, weil sie auf ihren Reisen nach Afrika
                                                                                    «viele Hungerbäuchlein» gesehen habe: «Ich war
                                                                                    überzeugt davon, dass auf der Erde viel zu viele
                                                                                    Menschen leben, die alle ernährt werden wollen.»
                                                                                       Im Ruhestand wendet sich Elsi Kranz der Frei-
                                                                                    willigenarbeit zu. Sie gründet im Jahr 2005 die
                                                                                    Wandergruppe Edelweiss für Pro Senectute Kan-
                                                                                    ton Zürich. Als Wanderleiterin organisiert sie
                                                                                    spannende vierzehntägliche Wanderungen für
                                                                                    ihre Gruppe. Im Jahre 2017 hat sie genug und die
                                                                                    Wandergruppe löst sich auf.

Elsi Kranz ist als Wanderleiterin der Wandergruppe Edelweiss viel unterwegs.        Sünneli und Kuschelbär
Doch am liebsten reist und wandert sie mit ihrem Schatz Bruno Lisser. Unser         Zurück zu ihrer grossen Liebe, zu Bruno Lisser:
Bild zeigt die beiden bei einer Rast in der Gegend Klöntal im Kanton Glarus.        Mit ihm teilt sie zahlreiche Leidenschaften wie

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20          Visit Frühling 2020
das Wandern und die Natur. Die Fotos in ihrem
Erinnerungsalbum zeigen häufig, wie die beiden
irgendwo auf einer Alpwiese oder einem Felsen
sitzen, eng aneinander gelehnt. Ein Herz und eine
Seele. Eine grosse Liebe.
    Die beiden wandern viel. Und sie reisen – auch
um die halbe Welt. Die Zeit mit dem Polizeibeam-
ten Bruno bezeichnet Elsi im Rückblick eindeutig
als ihre glücklichste und schönste im Leben. Er
ist für sie der Kuschelbär, sie für ihn «mis Sünne-
li». Diese gemeinsame Zeit entschädigt für die
vielen Jahre und Jahrzehnte, die weniger schön
und aufregend waren.

Tragischer Unfall auf Gran Canaria
Das abrupte Ende des Traums lässt sich auf den
                                                                                       Elsi Kranz als 16-Jährige.
10. März 2014 datieren. Elsi Kranz berichtet: «Wir
waren zusammen auf Gran Canaria in den Feri-
en.» Beim Erzählen blättert sie immer wieder in         Das Zitherspielen reaktivieren
Gedanken versunken in ihrem Album. «Mit einem           Was macht sie heute? Wie sieht ein normaler Tag
alten Bus waren wir zwischen den Ortschaften            aus? Wenn sie nicht gerade einkaufen gehen müs-
Pasadilla und Cazadora viel zu schnell unterwegs,       se, bleibe sie meist zuhause, sagt Elsi Kranz. Im
als der Fahrer von der Strasse abkam und das            TV schaut sie sich bevorzugt Natursendungen an
Gefährt einen Steilhang hinab in ein Tobel              – aber auch Sportsendungen: «Seit Bruno – er war
stürzte.»                                               auch Schiedsrichter – verfolge ich mit Interesse
   Elsi Kranz fliegt bei diesem Horrorsturz durch       Fussballspiele. Ich kenne dank ihm jetzt sogar die
die Scheibe und bleibt schwer verletzt und be-          Regeln.»
wusstlos liegen. Seit diesem Tag ist ihr Rücken            Früher häkelte und strickte sie noch gerne,
«kaputt»; ohne Schmerzmittel geht es nicht mehr.        heute lässt sie es bleiben. Hingegen überlegt sie
Aber sie lebt – ebenso ein weiteres Dutzend ande-       sich, eine «alte Liebe» wieder neu zu erwecken
rer Reisepassagiere vorwiegend aus der Schweiz.         und wieder Zither zu spielen. Dieses Saitenins-
Doch er, ihr geliebter Bruno, hat weniger Glück:        trument hat sie damals ihrem Bruno so gut beige-
Er erliegt dem Sturz auf die spitzigen Lavafelsen       bracht, so dass sie zusammen haben musizieren
noch auf der Unfallstelle.                              können. Nun möchte sie unbedingt wieder Zither
   Eine schöne Liebesgeschichte nimmt ein eben-         spielen, «allerdings lieber zusammen mit jeman-
so trauriges wie abruptes Ende. Sie dauert sechs        dem anderen».
Jahre, zwei Monate und zehn Tage – die wertvolls-          Vielleicht müsste Elsi Kranz wieder eine An-
ten im Leben von Elsi Kranz.                            nonce aufgeben …

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