Klima wandelt Gesundheit - Warum das System umdenken muss - Gerechte Gesundheit

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Klima wandelt Gesundheit - Warum das System umdenken muss - Gerechte Gesundheit
Das Magazin zur
                                                              Verteilungsdebatte
                                                              ISSN: 2625-3313
                                                              Ausgabe 56 –August 2021

Klima wandelt
Gesundheit                                                                                © iStockphoto, Kyryl Gorlov

Warum das System umdenken muss

Gendermedizin                 Vision rauchfrei                Disease Interception

Kommt ein neuer Schub durch   Neue Impulse zur Tabakentwöh-   Eine andere Dimension der
Corona?                       nung                            Medizin
Klima wandelt Gesundheit - Warum das System umdenken muss - Gerechte Gesundheit
• Seite 2   GERECHTE GESUNDHEIT
Klima wandelt Gesundheit - Warum das System umdenken muss - Gerechte Gesundheit
August 2021                                                                                           Seite 3 •

                         Gesundes Klima
                         Die gesundheitlichen Folgen der Klimakrise waren lange ein Nischenthema. Doch all-
                         mählich fangen immer mehr Akteure des Gesundheitswesens an, sich mit dem Thema
                         auseinanderzusetzen. „Inzwischen sehen wir in den Ausschreibungen zu neuen Bau-
                         vorhaben immer öfter das Wort ‚klimaresilient‘“, berichtet etwa Stefanie Matthys,
                         Geschäftsführerin des European Network Architecture for Health, im Interview. Und
                         Prof. Sebastian Schellong von der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin postu-
                         liert: „Wenn Krankheitskonzepte aber die äußeren Umstände und Lebensverhältnisse
                         als Ursachen benennen, kann es Teil des ärztlichen Auftrags werden, sich auch damit
                         auseinanderzusetzen.“
                         Gut möglich, dass dieser allmähliche Bewusstseinswandel durch die Flutkatastrophe
                         im Juli noch deutlich beschleunigt wird.
                         Mehr über die Herausforderung klimagerechtes Gesundheitssystem lesen Sie in unserer
                         Titelgeschichte.

                         Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen

                         Ihre Antje Hoppe, Chefredakteurin

Inhalt
Im Fokus
4      Eine neue Dimension der Medizin
       Was hinter dem Konzept von Disease Interception steckt

7      Vision rauchfrei
       Was die Politik in Sachen Tabakentwöhnung unternimmt

10     Schub für Gendermedizin?
       Warum Corona dem Thema mehr Aufmerksamkeit verleihen könnte

14     Ein klima-gerechtes Gesundheitssystem
       Warum der Klimawandel ein grundsätzliches Umdenken erfordert

Im Gespräch
18     „Gesundheit braucht Klimaschutz“
       Ärzte müssen aktiv werden, verlangt Dr. Susanne Balzer

20     „Die Bedrohung nimmt zu“
       Stefanie Matthys über klimaresiliente Krankenhäuer

In Kürze
22     Cochrane vermisst Studienergebnisse

23     Therapeuten fördern Gesundheitskompetenz

24     Im Zentrum der Daten

23     Kosteneffektiv: Argumente für ein risikobasiertes Brustkrebs-Screening

26     Das digitale Gesundheitsportemonnaie

27     Das Dilemma leistungsfähiger Gesundheitssysteme

28     In eigener Sache: Gerechte Gesundheit initiiert Veranstaltungsreihe
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• Seite 4                                            Im Fokus                               GERECHTE GESUNDHEIT

                                                                                                              © iStock.com, jxfzsy
Eine neue Dimension
der Medizin
Was hinter dem Konzept von Disease Interception steckt

• Berlin (pag) – „Megatrends sind Mindchanger“, sagt Harry Gatterer vom Zukunftsinstitut.
Sie verändern die Denke. Ein solcher Mindchanger könnte das Konzept von Disease Intercep-
tion für die Medizin sein. Welche Chancen und Herausforderungen sind damit verbunden?

Die Medizin bekommt eine neue Dimension: Es geht          Fortschritte in der molekularen Medizin
nicht mehr nur ums Heilen, sondern auch darum, Krank-     „Das aktuell diskutierte Konzept Disease Interception
heiten zu verhindern, bevor sie ausbrechen. Das ist das   ist auf der einen Seite noch Vision, auf der anderen
Grundprinzip von Disease Interception. Dabei gelingt es   Seite ist aber klar zu erkennen, dass es anfängt,
Ärzten, mithilfe von Biomarkern die Entwicklung einer     Realität zu werden“, sagt Dr. Jasper zu Putlitz. Er
Krankheit nachzuweisen, noch bevor der Patient über-      ist Arzt, ehemals Kliniker und jetzt Industrieexperte
haupt Symptome hat. Das ist die eine Voraussetzung.       in Frankfurt am Main und beschäftigt sich mit der
Das zeitige Aufspüren ermöglicht eine frühzeitige The-    Zukunft der Medizin. In der Forschung weltweit wird
rapie, durch die die Erkrankung unterbrochen und das      bereits intensiv nach Ansätzen gesucht, Anzeichen
symptomatische Stadium gar nicht erst erreicht wird.      für Krankheiten möglichst früh mittels Biomarkern
Die zweite Voraussetzung für eine erfolgreiche Disease    zu entdecken und zu therapieren – in der Hoffnung,
Interception besteht darin, dass wirksame Therapiean-     dass sie erst gar nicht ausbrechen, im Idealfall sogar
sätze existieren. Ist das alles noch Zukunftsmusik oder   schon geheilt werden können, bevor sie Symptome
stecken bereits konkrete Anwendungsfälle dahinter?        entwickeln.
Klima wandelt Gesundheit - Warum das System umdenken muss - Gerechte Gesundheit
August 2021                                                          Im Fokus                                              Seite 5 •

                                                                          ermutigt, so etwas wie Disease Interception zu denken
                                                                          und uns damit zu beschäftigen“, sagt von Kalle.

                                                                          Digitalisierung befördert Disease Interception
                                                                          Befördert wird der Vorstoß in die neue Dimension
                                                                          zusätzlich durch die Digitalisierung. Die Technik hilft,
                                                                          den menschlichen Bauplan und die Zusammenhänge
                                                                          zwischen Erbanlagen und Umwelteinflüssen besser zu
                                                                          verstehen. Genom-, Proteom- und Mikrobiomanalysen
                                                                          werden dank Computern einfacher und schneller.
                                                                          Künstliche Intelligenz und Algorithmen unterstützen
                                                                          bei der Auswertung unterschiedlichster, teils unvor-
                                                                          stellbar großer Datenmengen und liefern Mustererken-
                                                                          nungen, die Ärzten Hinweise geben, wo mögliche
                                                                          Ansatzpunkte für eine Frühintervention liegen können.
                                                                          Das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf etwa
                                                                          führt zurzeit zusammen mit dem Universitätsspital
                                                                          Zürich eine Ganzgenomsequenzierung von 9.000 Pro-
                                                                          banden durch, um über diese Bioproben neue Optio-
                                                                          nen zur Prävention, Diagnostik und Therapie von
                                                                          Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu entwickeln.

                                                                          Hoffnungen und Herausforderungen
„Wenn man den Genotyp hochauflösend betrachtet, dann hat jeder von        Disease Interception weckt viele Hoffnungen, wirft
uns irgendwelche Makel“, sagt Christof von Kalle. © pag, Fiolka           aber auch grundsätzliche Fragen auf. Zum Beispiel:
                                                                          Wenn eine Krankheit noch gar nicht symptomatisch
                                                                          ist, müssen die Krankenversicherungen Disease-Inter-
Indikationen, in denen Ärzte, Wissenschaftler und                         ception-Maßnahmen überhaupt zahlen? Und wenn ja:
Pharmafirmen Chancen für eine Disease Interception                        Wie sicher muss die Prognose sein, dass die Krank-
sehen, gibt es einige. Besonders geeignet für diese                       heit ausbrechen wird? Biomarker, die mit hundert-
neue Art der individualisierten und personalisierten                      prozentiger Sicherheit das Auftreten einer Krankheit
Medizin sind Krankheiten, die sich über Jahre mit                         voraussagen können, wird es so schnell nicht geben.
Vorstufen entwickeln. Dazu gehören beispielsweise                         Denn bei den meisten Erkrankungen spielen nicht nur
Krebs, rheumatoide Arthritis oder auch psychiatrische                     die körperliche Prädisposition, sondern auch wei-
Erkrankungen (siehe Infokasten).                                          tere Faktoren wie Umwelteinflüsse oder Lebensstil
Baldige Lösungen könnte es bei Erkrankungen geben,                        eine wichtige Rolle bei der Entstehung. Bei Disease
„bei denen wir die molekularen Ursachen der Entste-                       Interception wird es eine elementare Frage sein, ab
hung kennen, aber noch Probleme in der Umsetzung                          welcher Wahrscheinlichkeit „Patienten“ unter Beob-
haben“, sagt Prof. Christof von Kalle, der die Professur                  achtung gesetzt werden, um dann zum richtigen
auf Lebenszeit für Klinisch-Translationale Wissen-                        Zeitpunkt – im „Interception Window“ – mit der
schaften am Berlin Institute of Health und der Charité                    frühzeitigen Behandlung zu beginnen. Ein weiteres
innehat und das gemeinsame Studienzentrum leitet.                         Thema, das nicht vernachlässigt werden darf, ist das
„Fortschritte in der molekularen Medizin haben uns                        Recht auf Nichtwissen.

   Vielversprechende Studienergebnisse

   Ein konkretes Praxisbeispiel ist                   über das tatsächliche Ausbrechen       möglichweise eine Chance, „durch
   Knochenmarkkrebs, das Multiple                     der Erkrankung ermöglichen, be-        frühzeitiges Auffangen der Erkran-
   Myelom. Bei dieser Krebsform gibt                  richtet Prof. Marc-Steffen Raab        kungsentstehung eine Heilung zu
   es in der Regel über Jahre hinweg                  vom Universitätsklinikum Heidel-       erreichen, ohne dass es zum Aus-
   Vorstufen der Erkrankung, die sich                 berg. Das Multiple Myelom sei          bruch kommt“, sagt Raab. Erste
   zunächst noch gutartig verhalten.                  derzeit zwar gut behandelbar, aber     klinische Ergebnisse aus interna-
   Hier wird derzeit intensiv erforscht,              lebenslimitierend und nicht heilbar.   tionalen Studien erwiesen sich als
   welche Biomarker eine Vorhersage                   Hier biete Disease Interception        vielversprechend.
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• Seite 6                                              Im Fokus                                 GERECHTE GESUNDHEIT

Die Krankenkassen haben das Thema als Zukunfts-             Krankheitsbegriff ein „Riesenproblem“, sagt Huster.
trend entdeckt, meint Franz Knieps. Der Vorstand des        Bevor dieser immer weiter aufgeweicht werde, hält er
BKK Dachverbands rechnet in den nächsten drei bis           es für sinnvoller, bei Fällen wie dem erblichen Brust-
fünf Jahren mit Disease-Interception-Behandlungen.          krebs oder eben für Disease Interception einen „eige-
Allerdings seien die bisherigen Rahmenbedingungen           nen Tatbestand, eine eigene Norm“ zu schaffen. Die
im SGB V an vielen Stellen – im Leistungsrecht, in          Norm müsste dann wiederum untergesetzlich weiter
den Erstattungs- und Bepreisungsfragen – überhaupt          konkretisiert werden. Diese Aufgabe sieht der Rechts-
nicht darauf vorbereitet. Knieps geht sogar so weit zu      wissenschaftler von der Ruhr Universität Bochum
fragen, „ob es heute überhaupt zulässig wäre, Arznei-       beim Gemeinsamen Bundesausschuss.
mittel im Rahmen von Disease Interception einzuset-
zen“. Bislang gebe es nämlich eine Begrenzung der
Arzneimittel auf die Behandlung akuter oder chroni-         Eine Welt der Gesunden …
scher Erkrankungen – und somit nicht für den Einsatz        Festzuhalten bleibt, dass es Erkenntnisse darüber, ob
in der Prävention. Weiterentwicklungsbedarf sieht der       Disease Interception wirkt und somit nützlich ist, erst
Kassenexperte außerdem bei der Nutzenbewertung.             nach Jahren und Jahrzehnten geben wird – wenn Ärzte
                                                            sicher sagen können, dass der Ausbruch einer Krankheit
                                                            verhindert wurde. Eine „Welt der Gesunden“ erwartet
Neue Formen von Wissen                                      Dr. Jasper zu Putlitz allerdings nicht. „Wir werden ge-
Auch die Medizinethikerin Prof. Alena Buyx hat sich mit     sünder sein, aber eine komplette Gesundheit wird es
Disease Interception beschäftigt. Bereits 2013 hat der      nicht geben.“ Auch wenn chronische Krankheiten eines
Deutsche Ethiktrat eine ausführliche Stellungnahme zur      Tages vielleicht heilbar seien, gebe es noch viele andere
„Zukunft der genetischen Diagnostik“ veröffentlicht.        Erkrankungen, zum Beispiel Infektionskrankheiten, mit
Das Thema ist seitdem immer komplexer geworden,             denen die Menschen weiterhin leben müssen.
meint die Vorsitzende des Gremiums. Sie sieht enormes
Potenzial für die Medizin. „Aber wir müssen verstehen,
dass es hier um neue Formen von Wissen und Ver-             … oder der Kranken?
ständnis von Krankheitsrisikofaktoren geht, mit denen       Beunruhigend ist der Gedanke, dass Disease Intercep-
wir lernen müssen umzugehen.“ Buyx denkt bei Disease        tion eine Welt der Kranken schaffen könnte. Anlagen
Interception über ganz neue Berufe nach, um Patienten       zu Gesundheitsstörungen können mit der feinsten
durch das Dickicht zu bringen. Anstatt Ärzte damit zu       Technik schließlich bei jedem gefunden werden, sagt
überlasten, hält sie zusätzliche Hilfsberufe wie etwa den   Christof von Kalle. „Wenn man den Genotyp hochauf-
Health Information Consultant für sinnvoll.                 lösend betrachtet, dann hat jeder von uns irgendwel-
Neue Berufe wären sinnvoll – und möglicherweise             che Makel.“ Das berge die Gefahr von Überdiagnosen
auch eine neue gesetzliche Norm? Letzteres hält der         und -therapie, dass also Maßnahmen eingeleitet wer-
Sozialrechtler Prof. Stefan Huster für überlegenswert.      den, die Patienten eher schaden als nützen. Von Kalle
Wie Buyx beschäftigt auch er sich bereits seit einigen      hält deshalb ein generelles Screening der Bevölke-
Jahren mit Disease Interception. Anlass dafür ist ein       rung nicht für sinnvoll. Disease Interception sollte nur
interdisziplinäres Forschungsprojekt zur prophylak-         bei Risikopatienten, etwa mit familiärer Disposition,
tischen Masektomie gewesen (siehe Infokasten).              zum Einsatz kommen. „Ein Allheilmittel wird Disease
Bei dem Projekt ging es unter anderem um die Frage,         Interception nicht sein. Aber es ist toll, dass so etwas
wer die prophylaktische Masektomie bezahlt. Bei dem         gedacht und entwickelt wird“.                                     •

   Angelina Jolie und die prophylaktische Masektomie

   Bei dem Eingriff handelt es        streng genommen nicht zur
   sich um eine prophylaktische       Disease Interception, denn: In
                                                                                                                  © Foreign and Commonwealth Office

   Entfernung des Brustdrüsen-        diesem Fall wird eine geneti-
   gewebes, um das Brustkrebs-        sche Veranlagung zum Krebs
   risiko von BRCA-Genmuta-           festgestellt, die Krankheit be-
   tions-Trägerinnen erheblich        findet sich aber noch nicht im
   zu senken. Bekannt wurde die       Entstehungsprozess. Daher
   prophylatische Masektomie          spricht man von risikoadap-
   durch die Schauspielerin           tierter Prävention.
   Angelina Jolie, die ihre Ope-
   ration öffentlich gemacht hat.
   Dieser Eingriff gehört aber
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August 2021                                         Im Fokus                                             Seite 7 •

              Vision rauchfrei
              Was die Politik in Sachen Tabakentwöhnung unternimmt

• Es ist politischer Konsens, dass der Tabakkonsum hierzulande deutlich reduziert werden
soll. Diese Absicht ist in mehreren internationalen Abkommen und nationalen Initiativen
dokumentiert. Aber wie ernsthaft und konsequent wird das Ziel tatsächlich verfolgt?
Aktuell ist einiges in Bewegung.

Das Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungs-            rungen an die evidenzbasierten Programme zur Tabak-
gesetz (GVWG) hat nicht nur einen zu langen Namen,       entwöhnung fest – wie etwa Dauer der Intervention,
sondern wurde auch mit vielen, ebenso unterschied-       Qualifikation des Personals und Qualitätssicherung.
lichen wie kontroversen, Inhalten beladen. Vermutlich    Wichtig zu wissen: Alle Programme, bei denen es sich
ist der Passus zur Tabakentwöhnung, der es noch per      nicht um ein Präventionsprogramm gemäß §20 SGB V
Änderungsantrag ins Gesetz geschafft hat, deswegen       handelt, sind keine GKV-Leistung. Im Falle einer posi-
nahezu untergegangen. Das GVWG sieht nämlich vor,        tiven G-BA-Bewertung müssten sie in den Leistungs-
dass die Versorgung mit Arzneimitteln zur Tabakent-      katalog aufgenommen werden, heißt es aus Experten-
wöhnung künftig zulasten der GKV unter definierten       kreisen. Spannend ist daran, dass durch diese Hintertür
Bedingungen erfolgen kann.                               auch die nicht-medikamentöse Tabakentwöhnungs-
Eine wichtige Rolle kommt dem Gemeinsamen Bundes-        therapie in die Regelversorgung gelangen dürfte.
ausschuss (G-BA) zu: Er legt fest, welche Arzneimittel   Bisher hat der Gesetzgeber Arzneimittel zur Raucher-
und unter welchen Voraussetzungen diese zur Tabak-       entwöhnung von der Erstattungsfähigkeit ausge-
entwöhnung im Rahmen von evidenzbasierten Pro-           schlossen. Sie werden in Paragraph 34 SGB V zur
grammen verordnet werden können. Außerdem                Kategorie der Lifestyle-Medikamente gerechnet, in die
bestimmt er, welche Verfahren angewendet werden          auch Mittel zur Behandlung der erektilen Dysfunktion
sollen, um eine bestehende starke Tabakabhängigkeit      oder Appetitzügler gehören und bei der eine „Er-
zu bestimmen. Und: Der Ausschuss legt die Anforde-       höhung der Lebensqualität“ im Vordergrund steht.
Klima wandelt Gesundheit - Warum das System umdenken muss - Gerechte Gesundheit
• Seite 8                                            Im Fokus                                 GERECHTE GESUNDHEIT

In der Lifestyle-Falle                                    Schweregrades GOLD 1 die Kassen jährlich 2.600 Euro
Diese Regelung ist schon seit Langem umstritten,          koste, während sich die medikamentösen Entwöh-
zuletzt hatte die Bundestagsfraktion Bündnis 90/          nungskosten pro Patient und Jahr auf bis zu 300 Euro
Die Grünen bei den Beratungen zum Bevölkerungs-           beliefen.
schutzgesetz II beantragt, den Passus zu streichen.
Einige der Argumente gegen den Ausschluss aus der
Verordnungsfähigkeit haben Kassenärztliche Bundes-        Abschreckende Steuererhöhung
vereinigung (KBV) und Bundesärztekammer (BÄK) im          „Rauchende beim Rauchstopp unterstützen und Kosten-
Dezember in einem Brief an Bundesgesundheitsminister      übernahme der Behandlung der Tabakabhängigkeit
Jens Spahn zusammengefasst. Darin konstatieren sie,       gewährleisten“ lautet eine der zehn Maßnahmen, die in
dass die von den Kassen angebotenen Nichtraucher-         der im Mai vorgestellten „Strategie für ein tabakfreies
kurse von den Versicherten kaum genutzt werden und        Deutschland 2040“ enthalten sind. Getragen wird die-
die Kurse als Präventionsangebot für manifest er-         se von einem breiten Bündnis von Gesundheits- und
krankte Raucher kein geeignetes Behandlungsangebot        zivilgesellschaftlichen Organisationen, dazu gehören
darstellten. Sie verweisen auf die vom Bundesgesund-      auch viele medizinische Fachgesellschaften sowie
heitsministerium beauftragte DEBRA-Studie, wonach         die Deutsche Krebshilfe und das Deutsche Krebs-
20 Prozent der Rauchenden mindestens einmal pro           forschungszentrum.
Jahr versuchten, das Rauchen aufzugeben, 87 Prozent       Als erste Maßnahme für ein tabakfreies Land wird in der
der Ausstiegswilligen bedienten sich dabei allerdings     Strategie genannt: die Tabaksteuern jedes Jahr deutlich
wissenschaftlich ungeeigneter Methoden, sodass be-        erhöhen. Dass diese Forderung zuerst genannt wird,
reits im ersten halben Jahr wieder 90 Prozent von ihnen   kommt nicht von ungefähr, denn Tabaksteuererhöhun-
rückfällig werden. Dabei stünden „hochwirksame Medi-      gen gelten als die effektivste Maßnahme, um Rauchende
kamente zur Tabakentwöhnung“ längst zur Verfügung,        zu motivieren, mit dem Rauchen aufzuhören, sowie Kin-
heißt es in dem Brief. BÄK und KBV verweisen auf eine     der und Jugendliche davon abzuhalten, überhaupt zu
Cochrane-Analyse, wonach in Gesundheitssystemen,          beginnen. Diese Ansicht wird von vielen Experten und
in denen Patienten die Kosten zur Tabakentwöhnung         Institutionen, etwa der WHO, vertreten. Bei einer öffent-
erstattet bekommen, die Abstinenzraten nach sechs         lichen Anhörung des Finanzausschusses im Mai dieses
Monaten um mehr als 70 Prozent erhöht seien.              Jahres machen Mediziner darauf aufmerksam, dass die
Aus gesundheitsökonomischer Perspektive argumen-          im geplanten Tabaksteuermodernisierungsgesetz vorge-
tieren die Ärzteorganisationen außerdem, dass die         sehenen Steuererhöhungen zu gering ausfallen, um eine
Behandlung der COPD bei Patienten des leichtesten         abschreckende Wirkung zu entfalten.

                                                                                                                 Foto Seite 7 © istockphoto.com, ThomasVogel
                                                                                                                 © istockphoto.com, dem10
Klima wandelt Gesundheit - Warum das System umdenken muss - Gerechte Gesundheit
August 2021                                           Im Fokus                                              Seite 9 •

Ziele der öffentlichen Gesundheit                          finalen Sitzung des Finanzausschusses eine Einigung
Der Gesetzentwurf, der im Juni vom Bundesrat ab-           erzielt werden: Es findet sich eine ergänzende Er-
gesegnet wurde, sieht neben einer Besteuerung von          klärung, dass aus den Tabaksteuermehreinnahmen
Ersatzprodukten zur Zigarette wie beispielsweise die       500 Millionen Euro für Präventionsmaßnahmen in den
E-Zigarette eine von 2022 bis 2026 vorgenommene,           Haushalt eingestellt werden sollen.
„regelmäßige, moderate Erhöhung der Tarife für
Zigaretten und Feinschnitt“ vor, informiert das Bun-
desfinanzministerium. Das DKFZ übt daran deutliche         Rauchfreies Europa
Kritik. In seiner Stellungnahme erinnert das Zentrum       An dem Ringen hinter den Kulissen wird deutlich,
im Frühjahr an eines der Ziele des Gesetzes, nämlich       dass der Anspruch von „Health in all Policies“ im poli-
ein Gleichgewicht zwischen konstanten Steuerein-           tischen Tagesgeschäft meist noch sehr schwergängig
nahmen und den Zielen der öffentlichen Gesundheit.         umzusetzen ist. Wie realistisch ist vor diesem Hinter-
Dieses Gleichgewicht erreiche der Gesetzentwurf al-        grund das im „Europäischen Plan zur Krebsbekämp-
lerdings nicht, er habe lediglich die Generierung von      fung“ angestrebte „rauchfreie Europa“?
Steuereinnahmen zum Ziel und „verschenkt das große         In dem Papier ist nachzulesen, dass bis zum Jahr
Potenzial, deutliche Steuererhöhungen zum Schutz           2040 weniger als fünf Prozent der Bevölkerung
der Gesundheit der Bevölkerung bei gleichzeitigem          gegenüber derzeit etwa 25 Prozent Tabak konsumie-
Anstieg der Steuereinnahmen einzusetzen“, betonen          ren sollten. „Als Zwischenziel sollte die Zielsetzung
die Krebsexperten.                                         der WHO erreicht werden, den Tabakkonsum bis
Weniger kritisch als das DKFZ reagiert die Deutsche        2025 um 30 Prozent gegenüber 2010 zu senken.“ Das
Krebsgesellschaft auf das Gesetz. Ihrer Ansicht nach       entspricht einer Prävalenz des Rauchens in der EU
stellt es einen „Schritt in die richtige Richtung“ dar.    von etwa 20 Prozent. Hierzulande beträgt derzeit laut
Indes moniert die Gesellschaft, dass das parlamenta-       DEBRA-Studie die Prävalenz aktueller Raucherinnen
rische Verfahren im Bundestag allein als finanzpoli-       und Raucher 27,5 Prozent (Stand Januar/2021). Luft
tisches Thema diskutiert wurde. „Trotz der Relevanz        nach oben gibt es da noch reichlich. Abzuwarten
des Gesetzes für die Tabakprävention ist der Ausschuss     bleibt, welche Wirkung die jüngsten Aktivitäten des
für Gesundheit nicht bei Anhörungen einbezogen.“           Gesetzgebers haben werden.                            •
Allerdings soll es innerhalb der CDU/CSU-Fraktion
intensive Diskussionen zwischen den Finanz- und
Gesundheitspolitikern gegeben haben. Daher konnte
letztlich auch innerhalb der Fraktion erst kurz vor der

   Vermeidbare Krebserkrankungen                                 Verpflichtungen und Umsetzungen

   In der Nationalen Dekade gegen Krebs wird                     Deutschland hat das Rahmenabkommen der
   als ein Ziel formuliert, den Anteil vermeidba-                WHO zur Eindämmung des Tabakgebrauchs
   rer Krebserkrankungen an den Gesamtkrebs-                     von 2003 unterzeichnet. Damit wurde die
   erkrankungen um zehn Prozent zu senken. Der                   Verpflichtung eingegangen, den Zugang zu
   aktuelle Status quo: Infolge einer raucherspezi-              bezahlbaren Behandlungen der Tabakabhän-
   fischen Erkrankung wurden in Deutschland im                   gigkeit „einschließlich pharmazeutischer Pro-
   Jahr 2019 insgesamt 458 000 Patientinnen und                  dukte“ zu erleichtern. „Zu diesen Produkten
   Patienten im Krankenhaus behandelt, davon                     und deren Bestandteilen können Medikamen-
   waren 57 Prozent Männer. Dem Statistischen                    te, Produkte zur Verabreichung von Medika-
   Bundesamt zufolge ist damit die Zahl solcher                  menten und Diagnostika, soweit zutreffend,
   vollstationärer Behandlungen im Vergleich zu                  gehören“, heißt es in dem Abkommen. Dieser
   2010 um 18 Prozent gestiegen. 211.300 dieser                  Verpflichtung ist Deutschland jetzt mit dem
   Fälle waren auf einen Lungen- und Bronchial-,                 GVWG nachgekommen.
   Kehlkopf- oder Luftröhrenkrebs zurückzufüh-
   ren, 246.700 auf eine chronisch obstruktive
   Lungenerkrankung (COPD). Die behandelten
   Patientinnen und Patienten waren im Durch-              Weiterführender Link:
   schnitt 67,3 Jahre (Krebsdiagnosen) bezie-              Rahmenabkommen der WHO zur Eindäm-
   hungsweise 70,5 Jahre (COPD) alt.                       mung des Tabakgebrauchs

                                                           https://www.dkfz.de/de/tabakkontrolle/down-
                                                           load/fctc/FCTC_deutsche_Uebersetzung.pdf
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                                                Im Fokus
                                                 GERECHTE GESUNDHEIT

© pixabay, sbtlneet; Bearbeitung: pag, Toygar
August 2021                                                         Im Fokus                                                        Seite 11 •

Schub für Gendermedizin?
Warum Corona dem Thema mehr Aufmerksamkeit verleihen könnte

Corona rückt die geschlechtersensible Medizin in den Fokus der interessierten Fachöffent-
lichkeit. In Bielefeld kommt die neue Disziplin in das Vorlesungsverzeichnis. An der dortigen
neuen Medizinischen Fakultät Ostwestfalen-Lippe (OWL) gibt es jetzt eine Professur für
geschlechtersensible Medizin – die zweite überhaupt in Deutschland.

Ab dem Wintersemester 2021/2022 wird sich an der                          Das Ziel: Translation
Universität Bielefeld Prof. Sabine Oertelt-Prigione um                    Eine von Oertelt-Prigiones ersten Aufgaben ist die
den Aufbau der Arbeitsgruppe Geschlechtersensible                         Erstellung eines Curriculums. Auf lange Sicht ge-
Medizin kümmern. Die Internistin leitet seit 2017 auch                    plant sei, Gendermedizin zum Prüfstoff für die
den Lehrstuhl für Gender in Primary and Transmural                        Medizin-Studenten zu machen. Darüber hinaus ver-
Care am Radboud University Medical Center in Nijme-                       folgt die Professorin das Ziel, geschlechtersensible
gen, Niederlande. Sie wird künftig an beiden Stand-                       Medizin flächendeckend zu implementieren. Nicht
orten forschen und lehren.                                                nur in den Vorlesungen, sondern auch in der Praxis,

Sabine Oertelt-Prigione forscht unter anderem zum Einfluss von Ge-        Die Universitäten könnten mehr tun, um geschlechtersensibler
schlecht auf Herzkreislauferkrankungen und das Immunsystem. Außer-        Medizin mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen, findet Vera Regitz-
dem entwickelt die Fachärztin für Innere Medizin Präventionsstrategien    Zagrosek. Sie ist Gründungspräsidentin der Deutschen und der Inter-
für geschlechtsspezifische Ungleichheiten in der Medizin. © Prof. Sabi-   nationalen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin. © BIH,
ne Oertelt-Prigione                                                       Thomas Rafalzyk
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                                                                                                   © TK Pressefoto

also in Krankenhäusern und bei den niedergelasse-        Gendermedizin führt Nischendasein
nen Ärzten. Translation ist Sabine Oertelt-Prigione      Die Universitäten könnten mehr tun, um der ge-
wichtig. Erleichtert wird ihr die Arbeit an der Uni-     schlechtersensiblen Medizin mehr Bekanntheit und
versität dadurch, dass geschlechtersensible Medizin      Aufmerksamkeit zu verschaffen, findet Prof. Vera
zum Querschnittsthema erhoben wurde. Das sei ein         Regitz-Zagrosek, von 2007 bis 2019 Inhaberin des
guter Anreizmechanismus, um die neue Disziplin im        Charité-Lehrstuhls. Ein vom Bundesbildungsministerium
Bewusstsein aller zu verankern und eine Stufe der        gefördertes Gutachten ergab kürzlich, dass Gender-
Normalität zu erreichen, so die Wissenschaftlerin.       medizin an den meisten medizinischen Fakultäten ein
Bisher gibt es in Deutschland nur eine Einrichtung,      Nischendasein führt. Bei 70 Prozent von ihnen sei die
die sich regulär mit geschlechtersensibler Medizin       Vermittlung von geschlechtersensiblem Wissen „als un-
befasst: das Institut für Geschlechterforschung in der   zureichend zu bezeichnen“, schreiben die Autoren.
Medizin, das 2007 an der Berliner Charité gegründet      Am weitesten fortgeschritten bei der Wissensver-
wurde. In Bielefeld gibt es nun also den zweiten Lehr-   mittlung sind die Universitäten mit Modell- oder
stuhl. In Sachsen-Anhalt kündigte im vergangenen         Reformstudiengängen. Ihnen, so das Gutachten, sei
Jahr das Johanniter-Krankenhaus Genthin-Stendal an,      die Integration von Gendermedizin in die Curricula am
zusammen mit der Margarete-Ammon-Stiftung eine           häufigsten gelungen – allerdings auch nur auf „einem
Stiftungsprofessur für geschlechtsspezifische Medizin    niedrigen Niveau von 50 Prozent dieser Fakultäten“.
in Magdeburg ins Leben rufen zu wollen. Die Gespräche    Eine Ausnahme bilden Kardiologie und Pharmakolo-
dazu laufen jedoch noch.                                 gie: Hier gaben fast alle der befragten 31 Fakultäten
August 2021                                           Im Fokus                                                              Seite 13 •

an, geschlechtsspezifische Unterschiede zu lehren,
2016 waren es nur fünf Fakultäten gewesen.
Ein bisschen hoffen die Streiter und Streiterinnen für
Gendermedizin wie Regitz-Zagrosek, dass Corona
dem Thema auf Dauer mehr Aufmerksamkeit besche-
ren und vor allem die Erkenntnis reifen lassen wird,
dass mehr Forschung auf diesem Gebiet dringend
notwendig ist. Sars-CoV-2 zeige, dass in der Medizin
mehr auf die geschlechtsbedingten Unterschiede bei
den Patienten geachtet werden müsse. Denn während
das Risiko für schwere und tödliche COVID-19-Verläufe
bei Männern höher ist als bei Frauen, sind fast nur
diese nach Impfungen, vor allem mit AstraZenca, von
Sinusthrombosen betroffen.

Andere Symptome
Vor allem im Bereich der Kardiologie gibt es schon viel
Wissen über medizinisch bedeutsame Unterschiede
zwischen Mann und Frau. Ein Beispiel, das zunehmend
auch in der breiten Öffentlichkeit thematisiert wird:
der Herzinfarkt, der sich bei Frauen mit ganz anderen
Symptomen äußern kann als bei Männern. Während
Letztere meist starke Schmerzen oder Druckgefühl
im Brustraum auf der linken Seite haben, klagen etwa             Prof. Gertraud Stadler, Professorin für geschlechtersensible
20 Prozent der Frauen über Übelkeit oder Erbrechen,              Präventionsforschung an der Charité © Wiebke Peitz, Charité
Schmerzen im Nacken-, Kiefer- oder Schulterbereich,
über Unwohlsein oder plötzliche Erschöpfung und
Müdigkeit. Die Folge: Frauen gehen nicht rechtzeitig ins         Geschlechtersensible Gesundheitsversorgung
Krankenhaus oder laufen Gefahr, ohne richtige Diagnose
wieder nach Hause geschickt zu werden.                           Frauen und Männer werden im Gesundheits-
Weitere Beispiele: Vorhofflimmern ist bei Frauen                 system nicht gleich versorgt. In einem Fach-
öfter mit einem Schlaganfall verbunden. Diabetes                 gespräch der Grünen-Fraktion im Bundestag
erhöht beim weiblichen Geschlecht das Risiko für                 diskutieren kürzlich Expertinnen, wie die Ver-
eine KHK-Erkrankung um das Fünf- bis Siebenfache,                sorgung von Frauen verbessert werden kann.
bei Männern sind ist „nur“ das Drei- bis Vierfache.              Aus Sicht von Prof. Gertraud Stadler, Profes-
Für Blutdruckwerte und Blutfette müsste es je nach               sorin für geschlechtersensible Präventionsfor-
Geschlecht unterschiedliche Grenzwerte geben, sagt               schung an der Charité, braucht es in medizini-
Vera Regitz-Zagrosek.                                            scher Forschung, Lehre und Praxis sowie den
                                                                 Strukturen des Gesundheitssystems eine „ge-
                                                                 schlechtersensible Medizin und Gesundheits-
Undifferenzierte Diagnosen und Therapien                         versorgung, die die Geschlechterunterschiede
Geschlechtersensible Medizin habe nichts mit Frauen-             in den verschiedenen sozialen Lagen mitdenkt“.
heilkunde zu tun, betont die Expertin. Ziel sei es,              In Deutschland sei man noch relativ am Anfang.
die Medizin für beide Geschlechter zu verbessern.                Das Thema geschlechtersensible Gesundheits-
Schließlich litten auch Männer unter undifferenzierten           versorgung sei „leider noch lange keine Selbst-
Diagnosen und Therapien. Osteoporose und Depres-                 verständlichkeit“, bestätigt Karen Walkenhorst,
sion werden bei Männern häufig nicht erkannt, weil               Vorständin bei der Techniker Krankenkasse.
sie zum einen als typische Frauenkrankheiten gelten,             Einerseits verspreche sich das Gesundheits-
zum anderen die Symptome sich anders äußern. Auch                wesen von der Digitalisierung individualisier-
die Behandlung von Brustkrebs beruht bei Männern                 tere Behandlungsmöglichkeiten, gleichzeitig
auf Erfahrungen und Forschungsarbeiten, die bei                  negiere man aber selbst eine so grundlegende
Frauen gemacht wurden. Aus diesem Grunde, so die                 Kategorie wie Geschlecht. „Ein Widerspruch,
Gendermediziner, sei es unter anderem nötig, in der              den man wirklich nicht logisch erklären kann.“
Forschung (auch bei Tierversuchen) nicht nur beide               Man laufe Gefahr, die geschlechtsspezifischen
Geschlechter mehr als in der Vergangenheit einzube-              Fehler einfach in die digitale Versorgung zu
ziehen, sondern auch die gewonnenen Daten je nach                übertragen und weiterzuentwickeln.
Geschlecht auszuwerten. Das passiere in der Praxis
noch viel zu wenig.                                  •
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                                                                                                               Foto oben © istockphoto.com, leonard_c
Ein klima-gerechtes
Gesundheitssystem
Warum der Klimawandel ein grundsätzliches Umdenken erfordert

• Berlin (pag) – Die gesundheitlichen Auswirkungen der Klimakrise waren bis vor einiger Zeit
noch ein Nischenthema in der Gesundheitspolitik, aber das hat sich mittlerweile gründlich
geändert. Viele Expertinnen und Experten sind überzeugt: Die größte Gesundheitsbedrohung
des 21. Jahrhunderts ist der Klimawandel. Wie wird darauf reagiert?

Bereits vor der verheerenden Flutkatastrophe im       über Hitze reden“, sagt er. Über das, was sie mit dem
Juni hat der Klimawandel und dessen Folgen für die    menschlichen Körper mache und wie das Gesund-
menschliche Gesundheit die (gesundheits-)politi-      heitssystem darauf vorzubereiten sei. Spahn verweist
schen Akteure zunehmend alarmiert. Gesundheits-       auf erhöhte Todeszahlen im August, die auf Hitze
minister Jens Spahn geht auf das Thema Mitte Juni     zurückzuführen seien. „Das zeigt, dass es jenseits der
beim Krankenhausgipfel ein. „Wir müssen mit Blick     Pandemie weitere wichtige Aufgaben für die 20er
auf die Versorgung in Krankenhaus und Pflegeheim      Jahre gibt.“
August 2021                                           Im Fokus                                               Seite 15 •

Infoportal geht online                                     Gefährliche Hitze
Einige Tage zuvor ist ein neues Infoportal der Bundes-     Es sind insbesondere die steigenden Temperaturen,
zentrale für gesundheitliche Aufklärung online gegan-      die als klimatischer Einfluss eine wesentliche Rolle für
gen. Unter www.klima-mensch-gesundheit.de finden           die Gesundheit der Menschen spielen. Hitze belastet
Bürgerinnen und Bürger Informationen, wie sie Hitze-       das Herz-Kreislaufsystem und kann zu aggressivem
belastungen vorbeugen können. Weitere Themen sollen        Verhalten führen. Es gibt Untersuchungen, die be-
das Portal künftig noch ergänzen.                          legen, dass selbst die Suizid-Rate mit zunehmenden
Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Ent-          Temperaturen ansteigt, warnen die Experten in der
wicklung im Gesundheitswesen wird den Klimawandel          Klimawirkungs- und Risikoanalyse.
und seine gesundheitlichen Folgen in seinem nächsten
Gutachten behandeln, heißt es ebenfalls im Juni auf

                                                            © Robert Kneschke, stock.adobe.com
einem Symposium des Rates. Und auch auf europä-
ischer Ebene gewinnt das Thema an Bedeutung. Derzeit
ist beispielsweise auf EU-Ebene eine Stelle im Aufbau,
die Daten dazu sammelt, berichtet ein Vertreter des
Bundesumweltministeriums im Bundestagsausschuss
für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit.

Dringender Handlungsbedarf
Viele Daten, Studien und Experteneinschätzungen
wurden bereits in der Klimawirkungs- und Risikoanalyse
2021 (KWRA) für Deutschland zusammengestellt. Unter-
sucht werden über 100 Wirkungen des Klimawandels
und deren Wechselwirkungen. Bei rund 30 besteht sehr
dringender Handlungsbedarf. Die Studie wurde im Auf-
trag der Bundesregierung durch ein wissenschaftliches
Konsortium und unter Einbindung von Expertinnen und
Experten aus 25 Bundesbehörden und -institutionen aus
neun Ressorts erarbeitet. Der Teilbericht 5 widmet sich
Klimarisiken in den Clustern Wirtschaft und Gesund-
heit. Bei der menschlichen Gesundheit unterscheiden        Alarmierende Zahlen enthält der kürzlich veröffentlichte
die Experten zwischen indirekten und direkten Folgen.      Versorgungsreport Klima und Gesundheit zu den Folgen
Extremereignisse wie Hitze, Starkwinde oder Starknie-      steigender Temperaturen. In der vom Wissenschaft-
derschläge können Körper und Psyche direkt belasten,       lichen Institut der AOK (WIdO) vorgestellten Publikation
beispielsweise indem sie zu Beschwerden, schweren          untersucht das Klimaforschungsinstitut MCC, wie viele
Erkrankungen, Verletzungen oder zum Tod führen. Die        Krankenhauseinweisungen in den Jahren 2008 bis 2018
katastrophalen Ausmaße solcher Extremereignisse ha-        auf Hitze zurückzuführen waren. Jeder vierte AOK-Ver-
ben wir jüngst in Westdeutschland erfahren. Auf vielfäl-   sicherte über 65 Jahre ist demnach überdurchschnittlich
tige Weise beeinflussen Wetter und Witterung auch die      gefährdet, an heißen Tagen gesundheitliche Probleme
UV-Strahlung, welche Haut und Augen schädigen kann         zu bekommen und deshalb ins Krankenhaus zu müssen.
und Hauptursache von Hautkrebs sein kann, heißt es.        An Hitzetagen mit Temperaturen über 30 Grad Celsius
                                                           kam es hitzebedingt zu drei Prozent mehr Krankenhaus-
                                                           einweisungen in dieser Altersgruppe. Schreitet die Erd-
© iStock.com, Kyryl Gorlov

                                                           erwärmung ungebremst voran, könnte sich bis zum Jahr
                                                           2100 die Zahl der hitzebedingten Klinikeinweisungen
                                                           versechsfachen, heißt es in der Analyse.

                                                           Tigermücken, West-Nil-Fieber und Co.
                                                           Mehr und mehr rücken neben den direkten auch die
                                                           indirekten Folgen des Klimawandels für die mensch-
                                                           liche Gesundheit in den Fokus. Erläuternd heißt es in
                                                           der Klimawirkungs- und Risikoanalyse: „Wenn Krank-
                                                           heitserreger, deren Überträger oder auch allergie-
                                                           verursachende Pflanzen oder Tiere von Wetter oder
                                                           Witterung profitieren oder die Wirkungen von Schad-
                                                           stoffen und Strahlung verstärkt werden, wird von in-
                                                           direkten Folgen für den Menschen gesprochen.“
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Auf solche geht der Präsident des Robert Koch-In-        Teil des ärztlichen Auftrags
stituts, Prof. Lothar Wieler, kürzlich beim Jahres-      Es gibt Stimmen, die von Ärzten angesichts der
kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere           Klimakrise weit mehr erwarten als ihr diagnostisches
Medizin (DGIM) ein. Er berichtet unter anderem von       Repertoire zu erweitern. Zu ihnen gehört DGIM-Kon-
Klimaveränderungen, die Einfluss auf das Vorkom-         gresspräsident Prof. Sebastian Schellong. Zwar sieht
men von Mückenarten haben, die wiederum Tropen-          er den Bereich ärztlicher Verantwortung zunächst auf
krankheiten übertragen können. Die Tigermücke            das Binnenverhältnis Arzt – Patient begrenzt. „Wenn
sei bereits in Gebieten von Deutschland heimisch.        Krankheitskonzepte aber die äußeren Umstände und
Bisher seien noch keine Krankheitsübertragungen          Lebensverhältnisse als Ursachen benennen, kann es
über sie bekannt. Die Mücken seien aber theoretisch      Teil des ärztlichen Auftrags werden, sich auch damit
Vektor – also Überträger – für zum Beispiel Dengue,      auseinanderzusetzen“ sagt er auf dem Kongress.
Zika und Chikungunya. Das Vorkommen von Mücken           Mediziner verstehen die zunehmenden Veränderungen
wird daher beobachtet, es besteht eine Meldepflicht      der klimatischen Bedingungen als Krankheitsursachen
für von Stechmücken übertragenen Erkrankungen,           und könnten mit ihrem Expertenwissen darüber auf-
um frühzeitig ein Ausbruchsgeschehen zu erkennen.        klären, argumentiert er. Mit Blick auf sogenannte
Bereits seit 2018 findet man hierzulande das West-       Co-Benefits weist er außerdem darauf hin, dass das
Nil-Fieber. Einzelne schwer verlaufende Fälle und        Eintreten für eine Lebensstiländerung bei vielen Er-
2020 einen ersten Todesfall gab es bereits, berichtet    krankungen ohnedies Teil der ärztlichen Beratung sei.
der RKI-Präsident. Das Virus sei vermutlich über Vögel   Die angeratenen Veränderungen – zum Beispiel bei
hierhergekommen und werde vor allem über die hei-        Ernährung und Bewegung – seien aber qua CO2-Aus-
mische Mücke Culex übertragen.                           stoß in ihrer Gesamtheit auch klimarelevant.
„Der Klimawandel kann auch die Etablierung solcher       Ärztinnen wie Sylvia Hartmann und Dr. Susanne
Krankheitserreger begünstigen, also nicht nur die        Balzer, die sich in der Deutschen Allianz Klimawandel
der Vektoren“, hebt Wieler hervor. Eine Konsequenz       und Gesundheit (KLUG) engagieren, fordern längst,
dieser Entwicklung sei, dass Ärztinnen und Ärzte         dass die gesundheitlichen Folgen des Klimawandels
zunehmend differentialdiagnostisch Krankheiten in        als Thema in Lehre und Fortbildung etabliert wer-
Erwägung ziehen, „die wir bisher eher nur aus der        den. Erste Schritte in diese Richtung werden bereits
Reisemedizin kennen“.                                    unternommen: Die von KLUG organisierte Planetary
                                                         Health Academy hat bereits mehrfach online eine

                                                                                                           © iStock.com, szefei
August 2021                                          Im Fokus                                             Seite 17 •

Vorlesungsreihe zu den Zusammenhängen zwischen            Die Deutsche Röntgengesellschaft und ihr Vorstands-
Nachhaltigkeit und Gesundheit angeboten. „Bisher          mitglied Dr. Kerstin Westphalen sehen ihr Fachgebiet
waren wir regelmäßig von der hohen Nachfrage nach         ebenfalls in der Pflicht, klimabelastende Emissionen
diesem Thema überrascht“, sagt Hartmann, Grün-            zu reduzieren, Ressourcen zu schützen und insgesamt
dungsmitglied von KLUG.                                   mehr Nachhaltigkeitskonzepte zu entwickeln und
                                                          umzusetzen. Aus gutem Grund, denn die in der Radio-
                                                          logie eingesetzten medizintechnischen Großgeräte
Von Einzelfällen zur Selbstverständlichkeit               wie Magnetresonanztomografen oder Computertomo-
Wer sich mit Gesundheit und Klimawandel auseinan-         grafen verbrauchen sehr viel Energie und produzieren
dersetzt, kommt nicht an dem Umstand vorbei, dass         große Mengen an klimaschädlichem CO2. „Es gibt
der Gesundheitssektor hierzulande zu den Branchen         bereits einige Kliniken, die sich das Ziel ‚Nullemissio-
mit dem größten Ressourcenverbrauch gehört. Spe-          nen‘ gesetzt haben und mit wenigen Veränderungen
ziell Krankenhäuser seien einer der sechs größten         schon viel erreicht haben“, sagt Kerstin Westphalen.
Energieverbraucher in der Branche Handel, Dienst-         Auch im ambulanten Bereich gebe es nachhaltige Pra-
leistung und Gewerbe, heißt es in einem Anfang des        xiskonzepte. „Leider sind solche Beispiele aber noch
Jahres publizierten Positionspapier des Bündnisses        Einzelfälle.“ Die Fachgesellschaft hat deshalb kürzlich
Junge Ärzte. Sie fordern darin die klima-gerechte         die interne Kommission Nachhaltigkeit@DRG gegrün-
Umgestaltung von Gesundheitssystemen. Diese Her-          det, deren Sprecherin Westphalen ist. Ähnlich wie bei
ausforderung nehmen einige Akteure bereits an. Ein        der AOK wurde ein 10-Punkte-Plan für mehr Nachhal-
Beispiel: Anlässlich der Vorstellung des Versorgungs-     tigkeit verabschiedet, ein Gütesiegel für „Nachhaltige
reports Klima und Gesundheit kündigt der Vorstands-       Radiologie“ ist außerdem im Gespräch.
vorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Martin Litsch,       So soll aus Einzelfällen in Zukunft eine Selbstver-
ein Maßnahmenpaket zur Verbesserung des CO2-Fuß-          ständlichkeit gemacht werden.                          •
abdrucks an. Es soll in den nächsten drei Jahren um-
gesetzt werden und reiche von der Umstellung der          Weiterführender Link:
Stromversorgung auf Grünstrom über das Mobilitäts-
                                                          „Das Klima ändert sich - so schützen Sie Ihre
management bis hin zur Schaffung von mehr Sensibilität    Gesundheit.“ – Infoportal der Bundeszentrale
für ein klimafreundliches Verhalten in der Belegschaft,   für gesundheitliche Aufklärung

so Litsch.                                                https://www.klima-mensch-gesundheit.de

                                                                                                                © pag, Fiolka
    Gesunde Erde – Gesunde Menschen

    „Von der Krise lernen“ lautet das Motto des
    DGIM-Kongresses. Die Veranstaltung dreht sich
    nicht nur um die Pandemie-Folgen, sondern setzt
    prominent die Krise der planetaren Gesund-
    heit auf die Tagesordnung. Auf der begleitenden
    Pressekonferenz fordert der Arzt und Modera-
    tor Eckhard von Hirschhausen (Foto rechts) ein
    grundlegendes Umdenken: Es müsse neu ent-
    deckt werden, dass die Grundlagen für jede gute
    Medizin nicht in der Medizin begründet sind,
    sondern in den physiologischen Voraussetzungen,
    in den natürlichen Lebensgrundlagen – und die
    seien massiv bedroht. „Wir brauchen lange vor
    Medikamenten, Operationen und Krankenhäusern
    so basale Dinge wie saubere Luft zum Atmen,
    Wasser, etwas zu essen und erträgliche Außen-
    temperaturen“, sagt von Hirschhausen. All das
    auf eine Formel gebracht bedeute „one health“,
    planetary health oder auf gut Deutsch: Gesunde
    Erde – Gesunde Menschen.
• Seite 18                                          Im Gespräch                                                GERECHTE GESUNDHEIT

„Gesundheit braucht Klimaschutz“
Ärzte müssen aktiv werden, verlangt Dr. Susanne Balzer

• Berlin (pag) – Möglichst rasch sollten die gesundheitlichen Folgen der Klimakrise als The-
ma in Lehre und Fortbildungen für alle Gesundheitsberufe etabliert werden. Das fordert die
niedergelassene Internistin Dr. Susanne Balzer, die auch bei der Deutschen Gesellschaft für
Innere Medizin (DGIM) die Herausforderung Klimaschutz vorantreibt. Im Interview beschreibt
sie Auswirkungen des Klimawandels auf die Versorgung, drängende Gegenmaßnahmen und
die Bereitschaft der Ärzteschaft, sich mit alledem auseinanderzusetzen.

Sind die gesundheitlichen Folgen        bar. Am prägnantesten und aktu-                        Insbesondere unsere hochbetag-
des Klimawandels bereits in Klini-      ellsten sicherlich durch zunehmen-                     ten und multimorbiden Patienten
ken und Praxen konkret spürbar?         de Hitze. Es gibt mehr, längere                        sind gefährdet. Der August 2020
Was sind Ihre persönlichen Erfah-       und intensivere Hitzeperioden. Im                      beispielsweise hatte Gebietsmittel
rungen?                                 „Lancet Countdown Policy Brief                         von 20 Grad Celsius. Es war für
                                        for Germany“ wurde bereits 2019                        Deutschland – nach dem August
Balzer: Die Folgen der Klimakrise       deutlich gewarnt, dass Gesund-                         2003 – der zweitwärmste August
sind bereits in der ärztlichen und      heitsrisiken durch die zunehmen-                       seit 1881 und 3,6 Grad wärmer als
pflegerischen Versorgung unserer        de Hitze in Deutschland häufiger                       die mittleren Augusttemperaturen
Patientinnen und Patienten spür-        und schwerwiegender werden.                            der internationalen Referenzperio-
                                                                                               de 1961. Daraufhin kam es zu circa
                                                                                               4.200 hitzebedingten Todesfällen.
                                                                                               Hierbei sind Herz-Kreislauf-Er-
                                                                                               krankungen die maßgeblich an-
                                                                        © Dr. Susanne Balzer

  ZUR PERSON                                                                                   geführte Todesursache.

  Dr. Susanne Balzer ist hausärzt-                                                             Wie wirkt sich das in der Versor-
  liche Internistin in Köln. Im April                                                          gung konkret aus?
  vergangenen Jahres hat sie sich
  niedergelassen. Balzer ist Mit-                                                              Balzer: In der Hausarztpraxis stellt
  glied der AG hausärztliche Inter-                                                            eine Hitzeperiode durch gege-
  nisten der DGIM, in der sie das                                                              benenfalls vermehrte Hausbesu-
  Ressort Klimaschutz betreut.                                                                 che und eine intensive Beratung
  Sie ist über die Deutsche Allianz                                                            unserer Patienten mit Anpassung
  Klimawandel und Gesundheit                                                                   der Medikation und Monitoring der
  (KLUG) vernetzt und setzt sich                                                               Nierenfunktion etc. eine zusätz-
  für Klimaschutz in der Primär-                                                               liche zeitliche Herausforderung
  versorgung und die Reduktion                                                                 dar. Im Krankenhaus führt Hitze
  von Treibhausgasemissionen in                                                                über 30 Grad zu circa 3 Prozent
  der Arztpraxis ein                                                                           mehr Krankenhauseinweisungen
                                                                                               bei den über 65-Jährigen. Aber
                                                                                               nicht nur Hitze, sondern auch Aller-
August 2021                                        Im Gespräch                                             Seite 19 •

                                                                                               © Nastco, iStock.com

gien, welche durch den menschen-       Balzer: Bewusstsein für die Klima-   heitssektor in Deutschland sollte
gemachten Klimawandel zuneh-           krise schaffen, entsprechend han-    sich darüber hinaus auf klare Kli-
men, sind bereits in häufigeren        deln und akut – auch wenn teils      maziele festlegen.
Beratungsanlässen spürbar. Genau-      mit mehr Treibhausgasemissionen
so wie eine vermehrte psychische       verbunden – Hitzeschutzmaß-          Besteht in der Ärzteschaft Inter-
Belastung insbesondere der jün-        nahmen für unsere vulnerabelsten     esse und Bereitschaft, sich damit
geren Generation. In der Umfrage       Patientinnen und Patienten schaf-    auseinanderzusetzen?
„Zukunft! Jugend fragen“ von 2017      fen: kühle Räume in Pflegehei-
wurden 1.000 junge Menschen            men, Krankenhäusern und soweit       Balzer: Das denke ich schon. Im
zwischen 14 und 22 Jahren befragt,     möglich in Praxen, Begrünung,        DGIM Talk Klimawandel und Ge-
wobei jeder Dritte Zukunftsängste      Verschattung und flächendecken-      sundheit Ende Juni haben sich zu-
angab! Da müssen wir als Ärzte ak-     de kommunale Hitzeschutzpläne        mindest 95 Prozent der Beteiligten
tiv werden und sowohl unsere Mit-      etablieren.                          dafür ausgesprochen, das Thema
menschen entsprechend beraten                                               Klimawandel und Gesundheit wei-
als auch politisch darauf hinwirken,   Wie können sich die Gesundheits-     ter zu vertiefen oder Klimaschutz
dass Klimaschutzmaßnahmen mit          berufe darauf vorbereiten? Wo        im eigenen Wirkungsfeld zu be-
aller notwendigen Priorisierung        besteht der drängendste Hand-        treiben. Denn Gesundheit braucht
durchgesetzt werden.                   lungsbedarf?                         Klimaschutz! Es gibt eine große
                                                                            Anzahl an Kolleginnen und Kolle-
Was sind die schwierigsten             Balzer: Es braucht eine rasche       gen, die sich sehr intensiv engagie-
Herausforderungen, die ein sich        Etablierung des Themas in der        ren und inzwischen gibt es tolles
wandelndes Klima für Ärztinnen         Lehre und Fortbildungen für alle     Informationsmaterial für Patienten
und Ärzte mit sich bringt?             Gesundheitsberufe. Der Gesund-       und auch für Ärzte.                  •
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                                                 Im Gespräch                              GERECHTE GESUNDHEIT

„Die Bedrohung nimmt zu“
Stefanie Matthys über klimaresiliente Krankenhäuser

• Berlin (pag) – Ein wachsendes Bewusstsein für die Notwendigkeit, Krankenhäuser
und Pflegeheime an klimatische Änderungen anzupassen, nimmt die Architektin Stefa-
nie Matthys wahr. „Inzwischen sehen wir in den Ausschreibungen zu neuen Bauvorhaben
immer öfter das Wort ‚klimaresilient‘“, sagt die Geschäftsführerin des European Network
Architecture for Health. Im Interview beschreibt sie, wie Gesundheitseinrichtungen an
das sich wandelnde Klima angepasst werden können und welche Herausforderungen
dabei bestehen.

Wie können sich Krankenhäuser,       Matthys: Die Hauptrisiken entste-     oder die Energieversorgung
Pflegeheime & Co. auf den Klima-     hen aus Extremwetterereignissen       unterbrochen werden. Die Folgen
wandel vorbereiten? Jeder für        wie Stürmen und Starkregen, wie       von Hitzewellen und dem daraus
sich allein oder wie können Syn-     wir sie gerade dieser Tage wieder     resultierenden Phänomen des
ergien gehoben werden?               in Deutschland erleben, und aus       Heat-Island-Effekts in den Städten
                                     Hitzewellen. Die Folgen daraus sind   bedrohen vor allem Gesundheit
Matthys: Dafür sollten wir uns zu-   vielfältig. Durch Extremwetter-       und Leistungsfähigkeit von Pa-
nächst fragen, welche Risiken für    ereignisse können Betriebsabläufe     tienten und Personal. Und diese
Krankenhäuser und Pflegeheime        gestört oder sogar unterbrochen       Bedrohung nimmt zu. Schon in den
der Klimawandel mit sich bringt.     werden, indem zum Beispiel Ge-        Rekordsommern der vergangenen
                                     bäudeteile beschädigt oder unter      Jahre stöhnten viele Krankenhäuser
Und welche sind das?                 Wasser gesetzt und Lieferketten       über die Belastung durch extreme
August 2021                                        Im Gespräch                                          Seite 21 •

Hitze. Bis Ende 2100 prognostiziert    internen Schulungen über Patien-     Matthys: Ich würde sagen, das
der Lancet Countdown Report für        tenmonitoring besonders vulnera-     Bewusstsein wächst. Die Hitze-
Deutschland bis zu 30 Hitzewellen      bler Gruppen bis hin zur Verlegung   sommer der vergangenen Jahre
pro Jahr und bis 2030 über 30.000      von Patienten und veränderten        sind nicht ohne Effekt an den Bau-
zusätzliche hitzebedingte Todes-       bzw. flexibleren Betriebsabläufen,   herren vorbeigegangen und auch
fälle in Europa. Wir haben uns         in denen Aktivitäten mit erhöhter    die öffentliche Wahrnehmung der
in dem Webinar „Klimaresiliente        körperlicher Belastung in die Mor-   Problematik ist ja in den letzten
Krankenhäuser“ daher vor allem         gen- und Abendstunden verlegt        Jahren gewachsen. Inzwischen
auf Maßnahmen zur Hitzeresilienz       werden.                              sehen wir in den Ausschreibun-
konzentriert und bauliche wie ver-                                          gen zu neuen Bauvorhaben immer
haltensbasierte Anpassungsmaß-         Welche sind die größten Hürden?      öfter das Wort „klimaresilient“ auf-
nahmen besprochen.                                                          tauchen und an vielen größeren
                                       Matthys: Viele Häuser stehen vor     Häusern gibt es inzwischen einen
Wie können solche Anpassungs-          der Herausforderung, entspre-        Klimamanager, der nicht nur für
maßnahmen aussehen?                    chende Anpassungsmaßnahmen           die oben beschriebenen baulichen
                                       in die Fassaden oder in die Ge-      und verhaltensbasierten Maßnah-
Matthys: Diese müssen sowohl           bäudekühlung in teilweise ver-       men, sondern auch zum Beispiel
innerhalb jedes Hauses also auch       alteten, teilweise sogar denkmal-    für klimafreundliche Warenkreis-
auf kommunaler und bundeswei-          geschützten Bauten im laufenden      läufe und Abfallmanagement
ter Ebene stattfinden. Jedes Haus      Betrieb umzusetzen. Dabei fehlt es   zuständig ist. Das Bundesumwelt-
muss seine baulichen Gegebenhei-       an verlässlichen Regelwerken und     ministerium hat zudem seit 2020
ten auf Stand bringen. Wie sieht es    Daten, welche Maßnahmen sich         mit dem Förderprogramm „Klima-
aus mit außenliegendem Sonnen-         wie auswirken. Der schlimmste zu     anpassung in sozialen Einrichtun-
schutz und der Isolierung der Ge-      erwartende Effekt wäre, dass mit     gen“ einen Fördertopf geöffnet,
bäudehülle? Sind auf dem Gelände       wenig Weitsicht gehandelt wird       der Krankenhäuser und Pflege-
ausreichende Verdunstungsflächen       und stromfressende, außenliegende    heime bei Beratung, Investitionen
und verschattete Aufenthaltsberei-     Klimageräte an den Fassaden ange-    und auch Schulungsmaßnahmen
che im Freien vorhanden? Können        bracht werden, die wiederum noch     unterstützt. Dieses Programm
begrünte Dachflächen oder sogar        mehr zum Klimawandel beitragen.      wird sehr gut angenommen, was
Grünfassaden geschaffen werden?                                             deutlich macht, dass das Bewusst-
Sind energie- und ressourcenscho-      Besteht bei Bauherren und Trä-       sein und der Bedarf auf jeden Fall
nende Kühlsysteme vorhanden?           gern ein Bewusstsein für die         vorhanden sind.                         •
Dazu kommen Möglichkeiten zu           Notwendigkeit, bestehende oder
verhaltensbasierten Anpassungs-        neue Bauten an klimatische Ände-
maßnahmen. Diese reichen von           rungen anzupassen?

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  ZUR PERSON

  Die Architektin Stefanie Matthys
  war unter anderem wissenschaft-
  liche Mitarbeiterin an der TU
  Berlin im Fachgebiet „Entwerfen
  von Krankenhäusern und Bauten
  des Gesundheitswesens“ von
  Prof. Christine Nickl-Weller. Dort
  initiierte sie diverse Forschungs-
  projekte, Tagungen und Work-
  shops zu „Healing Architecture“.
  2014 trat Matthys in die Nickl &
  Partner Architekten AG ein. Seit
  2017 ist sie Geschäftsführerin des
  European Network Architecture
  for Health.
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