KOLLEKTIVVERTRAGSVERHANDLUNGEN IM TOURISMUS. TIROL UND SÜDTIROL IM VERGLEICH

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KOLLEKTIVVERTRAGSVERHANDLUNGEN IM TOURISMUS. TIROL UND SÜDTIROL IM VERGLEICH
Arbeitsförderungsinstitut

KOLLEKTIVVERTRAGSVERHANDLUNGEN IM TOURISMUS.
        TIROL UND SÜDTIROL IM VERGLEICH
  STUDIE ZUR ERARBEITUNG EINES VERGLEICHSRASTERS
GESETZLICHER UND KOLLEKTIVVERTRAGLICHER REGELUNGEN
            ZWISCHEN TIROL UND SÜDTIROL,
              AUSGEARBEITET AM BEISPIEL
           HOTEL/GASTGEWERBE/TOURISMUS

                DIESE STUDIE WURDE IM AUFTRAG DES
       INTERREGIONALEN GEWERKSCHAFTSRATES ZENTRALALPEN
           IM RAHMEN EINER EURES-T-MAßNAHME ERSTELLT.
               MIT FREUNDLICHER UNTERSTÜTZUNG DER
             EUROPÄISCHEN KOMMISSION GD 05, EURES T.

                                                               Interregionaler
                                                              Gewerkschaftsrat
                                                                 Zentralalpen
                                        Consiglio sindacale
                                        Interregionale
                                        Alpi Centrali
KOLLEKTIVVERTRAGSVERHANDLUNGEN IM TOURISMUS. TIROL UND SÜDTIROL IM VERGLEICH
Unser Dank ergeht an alle Kolleginnen und Kollegen der Südtiroler Fachgewerkschaften, mit
denen wir unsere Fragen und die Ergebnisse diskutieren und vertiefen durften, insbesondere an
Frau Tila Mair, Frau Christine Walzl und Herrn Remigio Servadio. Dem ÖGB Tirol sprechen wir
ebenso unseren Dank aus, wobei wir den Landessekretär der HGPD, Herrn Siegfried Astl und
GPA-Sekretär Herrn Gottfried Kostenzer besonders hervorheben wollen.

Zu besonderem Dank sind wir Dr. Konrad Walter verpflichtet, der uns als Präsident des IGR
umsichtig und geduldig zur Seite gestanden ist. Ihm gebührt das Verdienst, auf regionaler
Ebene ein gewerkschaftliches grenzüberschreitendes Projekt initiiert und unterstützt zu haben,
dessen Bedeutung sich uns im Laufe der Arbeit immer stärker erschlossen hat.

Autoren

•   Werner Pramstrahler, Studium der Politikwissenschaft in Innsbruck, beschäftigt sich am
    Arbeitsförderungsinstitut mit der Erforschung der regionalen industriellen Beziehungen und
    mit der gewerkschaftsnahen Weiterbildung.
    E-Mail: werner.pramstrahler@afi-ipl.org

•   Mario V. Giovannacci, Studium der Wirtschaftswissenschaften in Trient, Master Europèen en
    Sciences du Travail, Forschungs- und Beratungstätigkeit am Arbeitsförderungsinstitut in den
    Bereichen industrielle Beziehungen, Betriebsberatung und Bilanzanalyse.
    E-Mail: mario.giovannacci@afi-ipl.org

Impressum
Herausgeber: Arbeitsförderungsinstitut, Körperschaft öffentlichen Rechts
für Forschung, Bildung und Information im Bereich Arbeit
Neubruchweg, 5/B/7
I-39100 BOZEN
Tel.: 0039 0471. 413540 - Fax: -49
E-Mail: info@afi-ipl.org
Internet: www.afi-ipl.org
Beilage zu: “Dimension Arbeit - Dimensione Lavoro”
Registriert beim Landesgericht Bozen unter Nr. 23/1996 s.t.

Druck: Alto Adige – Bozen

Verantwortlich im Sinne des Pressegesetzes: Dr. Egon Sanin

Studie im Auftrag des „IGR Zentralalpen – CSI Alpi Centrali”. Unterstützt durch die Europäische Kommission, GD 05 im Rahmen
einer Maßnahme in EURES-T.

Die Studie ist Eigentum des Herausgebers. Nachdruck, Verwendung von Erkenntnissen, Entnahme von Tabellen und
Grafiken erwünscht, aber auch auszugsweise nur unter Angabe der Quelle (Herausgeber, Autoren und Titel) gestattet.
KOLLEKTIVVERTRAGSVERHANDLUNGEN IM TOURISMUS. TIROL UND SÜDTIROL IM VERGLEICH
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        KOLLEKTIVVERTRAGSVERHANDLUNGEN IM TOURISMUS. TIROL UND SÜDTIROL IM VERGLEICH

                                 Inhaltsverzeichnis

Kurzfassung _______________________________________________________________________4

Einführung ________________________________________________________________________5

Vergleich der Kollektivvertragsverhandlungssysteme_________________________________5
Einleitung __________________________________________________________________________5
Industrielle Beziehungen in der Region ________________________________________________8
Industrielle Beziehungen im Tourismus _______________________________________________10

Vergleichende Analyse der gesetzlichen und kollektivvertraglichen Regelungen
der Arbeitsverhältnisse im Hotel- und Gastgewerbe_________________________________12
Kollektivverträge und Vertragsparteien im Hotel- und Gastgewerbe in beiden Ländern _____14
Entgelt ___________________________________________________________________________16
Arbeitszeit ________________________________________________________________________20
Ruhezeiten ________________________________________________________________________22
Ferien und Feiertagsregelung________________________________________________________23
Abfertigung _______________________________________________________________________24
Entgeltfortzahlung _________________________________________________________________25
Mutterschaft und Elternkarenz _______________________________________________________27
Gleichbehandlung__________________________________________________________________29
Bildungskarenz ____________________________________________________________________31

Literaturliste______________________________________________________________________32

                                  AFI/IPL - DOKUMENTATION 15/2000
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    KOLLEKTIVVERTRAGSVERHANDLUNGEN IM TOURISMUS. TIROL UND SÜDTIROL IM VERGLEICH

                       KURZFASSUNG
Intention der Studie   Durch den europäischen Einigungsprozess stehen die nationalen und
                       regionalen Regulierungssysteme der Arbeitsbedingungen vor neuen
                       Herausforderungen, die sich aus dem forcierten Standortwettbe-
                       werb und der drohenden Tarifkonkurrenz ergeben. Die Studie zeigt,
                       dass auf regionaler Ebene durchaus die Möglichkeit besteht, einer
                       solchen Entwicklung durch grenzüberschreitende Kooperation der
                       Arbeitnehmerorganisationen entgegenzuwirken.
       Vergleich als   In der Untersuchung wird herausgearbeitet, dass der Vergleich der
         Instrument    Kollektivvertragsverhandlungssysteme und der arbeitsrechtlichen
                       Regelungen zwischen Tirol und Südtirol Voraussetzung dafür ist, eine
                       aktive Interessenvertretungspolitik über Staats- und Systemgrenzen
                       hinweg zu initiieren. Zwar unterscheiden sich das italienische und
                       österreichische System der industriellen Beziehungen in institutionel-
                       ler Hinsicht erheblich, allerdings existieren Einrichtungen mit analo-
                       gen Funktionen und durchaus äquivalente Regelungen. Die Verord-
                       nungen und Richtlinien auf europäischer Ebene verstärken diesen
                       Anpassungsprozess und sind daher ein wichtiger Ansatzpunkt für die
                       Entwicklung qualitativ gleichwertiger Arbeitsbedingungen.
        Regionale      Komplementär zur europäischen Rechtsetzung existieren auf regionaler
  Harmonisierungs-     Ebene Handlungsbereiche, die in die Zuständigkeit der lokalen Kollektiv-
       spielräume      vertragsparteien fallen und die für die Aufwertung dieser Verhandlungs-
                       ebene sprechen. Für eine grenzüberschreitende Kooperation und
                       „Harmonisierung nach oben“ ergeben sich folgende vier Ansatzpunkte:
                       1. Ein Angleichungsspielraum besteht im Bereich der Entgeltfest-
                           setzung. Der Tiroler wie der Südtiroler Vertrag enthalten aus
                           Arbeitnehmersicht einige interessante Aspekte: Der Tiroler Vertrag
                           honoriert besondere Qualifikationen der Mitarbeiter wie etwa
                           Fremdsprachenkenntnisse; der Südtiroler Versuch, ein Landeszu-
                           satzabkommen abzuschließen, das einen Teil der Entlohnung an
                           lokale Produktivitäts- und Qualitätssteigerungen bindet, kann für
                           das Tiroler Modell des umsatzorientierten Garantielohnes durch-
                           aus Anregungen enthalten. Ein erstes Forum für Diskussionen
                           sollte die entsprechende Arbeitsgruppe sein, die vom Südtiroler
                           Landeszusatzkollektivvertrag vorgesehen ist.
                       2. Obwohl die Materie auf nationaler Ebene und zunehmend auf
                           europäischer Ebene geregelt wird, gehört die Arbeitszeit in bei-
                           den Regionen zu den Verhandlungsgegenständen auf lokaler
                           Ebene. Nachdem der regionale Regelungsspielraum gering ist,
                           sollen andere Formen der Harmonisierung zum Tragen kommen:
                           zum einen eine Koordination durch einen verstärkten Erfahrungs-
                           austausch gerade in diesem für die Qualität der Arbeitsbedin-
                           gungen so wichtigen Bereich, zum anderen durch eine Erhebung
                           der tatsächlich geleisteten und vergüteten Arbeitszeit.
                       3. Das im Zuge der Arbeit entstandene Raster für den Vergleich der
                           kollektivvertraglichen und gesetzlichen Regelungen hat sich als
                           brauchbar und ausbaufähig erwiesen. Damit ist eine erste Verstän-
                           digungsbasis geschaffen worden, die weitere Vergleiche ermöglicht.
       Perspektiven    4. Die vorliegende Studie versteht sich als Aufforderung an die Nord-
                           und Südtiroler Gewerkschaften, die europäische Herausforderung
                           auf regionaler Ebene verstärkt wahrzunehmen. Dazu ist eine
                           Vertiefung der hier behandelten Themen notwendig: zum einen
                           durch grenzüberschreitende Diskussionen zur Fixierung von
                           gemeinsamen Standards, zum anderen durch einen Austausch
                           von „best-practice“-Regelungen in einem durch Saisonarbeit
                           und Fluktuation gekennzeichneten Bereich des Arbeitsmarktes.
                                AFI/IPL - DOKUMENTATION 15/2000
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             KOLLEKTIVVERTRAGSVERHANDLUNGEN IM TOURISMUS. TIROL UND SÜDTIROL IM VERGLEICH

EINFÜHRUNG
Die Studie „Regulierung der Arbeitsbedingungen im Tourismus. Tirol                              Koordination und sozia-
und Südtirol im Vergleich“ versteht sich in erster Linie als Beitrag zur                        ler Dialog
grenzüberschreitenden Koordination von Arbeitnehmerinteressen
und zur Stärkung des sozialen Dialoges bei der Behandlung landes-
übergreifender Fragen des Arbeitnehmerschutzes. Zudem will die Un-
tersuchung einen Anstoß zur Thematisierung der Arbeitsbedingungen
in einem für die Regionalökonomie zentralen Wirtschaftssektor liefern.
Der Vergleich der Arbeitsverhältnisse zwischen Nachbarregionen, die                             Unterschiedliche
zwei unterschiedlichen Systemen industrieller Beziehungen angehören,                            Systeme
ist ein komplexes Unterfangen. Die Unterschiede zwischen Tirol und
Südtirol liegen sowohl im Bereich der Akteure, der Struktur und des
Modus Operandi des Kollektivvertragsverhandlungssystems sowie
selbstverständlich im tatsächlichen Regelungsoutput.
Ausgangspunkt der Studie ist die vergleichende Untersuchung aus-                                Vergleichsraster
gewählter Regelungen der Arbeitsverhältnisse im Hotel- und Gast-
gewerbe. Am Beispiel dieses Sektors wird ein Raster vorgestellt, mit
dem Regelungen in Tirol und Südtirol komparativ untersucht und
dargestellt werden können. Notwendige Vorarbeit für den spezifi-
schen Teil der Studie ist ein prägnanter Vergleich der Kollektivver-
tragsverhandlungssysteme beider Länder. Wir bemühen uns zudem
um den Nachweis, weshalb einer forcierten tarifpolitischen Koordi-
nation zwischen den benachbarten Regionen1 Tirol und Südtirol aus
Arbeitnehmersicht eine besondere Wichtigkeit zukommt. Diese Einfüh-
rung ist zum einen ein eigenständiger Teil der vorliegenden Studie, zum
anderen dient sie dem Zweck, die unterschiedlichen arbeitsrechtlichen
Regelungsformen, -ebenen und -inhalte im Sektor Hotel/ Gastgewer-
be/Tourismus beider Länder nachvollziehbar darzustellen.
Die Konzentration auf die arbeitsrechtlichen Aspekte des Arbeitsver-                            Regelungen bestimmen
hältnisses ergibt sich aus der Wichtigkeit dieser Regelungen für die                            Qualität
Qualität der Arbeitsbedingungen. Sozialrechtliche Regelungen werden
lediglich gestreift und am Rand behandelt.
Der Bericht gliedert sich in zwei Hauptteile: Während der erste Teil in                         Gliederung des
das jeweilige kollektivvertragliche System auf nationaler und insbeson-                         Berichts
dere auf regionaler Ebene einführt, werden im zweiten Teil die Inhalte
der kollektivvertraglichen und gesetzlichen Regelungen im Bereich
Hotel/Gastgewerbe/Tourismus dargestellt.

VERGLEICH DER KOLLEKTIVVERTRAGSVERHANDLUNGSSYSTEME
EINLEITUNG
Der wirtschaftliche und politische Einigungsprozess Europas übt einen                           Die europäische
immer stärkeren Einfluss auf die nationalen und regionalen Kollektiv-                           Herausforderung für
vertragsverhandlungssysteme aus. Die europäische Dimension besteht                              Gewerkschaften
nicht aus einem sich vorläufig erst in Grundzügen abzeichnenden
europäischen Kollektivvertragsverhandlungssystem im eigentlichen
Sinne, sondern aus einer Vielzahl von Einflüssen, die sich sowohl auf
den wirtschaftlichen, den institutionellen und den arbeitsrechtlichen
Kontext der Kollektivvertragsverhandlungssysteme auswirken.
Die europäische Herausforderung für die Arbeitnehmerorganisationen
liegt darin, den grenzüberschreitenden Wettbewerb um die Lohn-
1
    Auf den Begriff „Region“ sind wir aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung ausgewichen,
    um nicht ständig die Bezeichnungen „Bundesland Tirol“ und „Autonome Provinz Bozen –
    Südtirol“ verwenden zu müssen.

                                                AFI/IPL - DOKUMENTATION 15/2000
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  KOLLEKTIVVERTRAGSVERHANDLUNGEN IM TOURISMUS. TIROL UND SÜDTIROL IM VERGLEICH

                   und Arbeitskosten zu begrenzen (Schulten 1999: 2). Somit wird die
                   bisher primär im nationalstaatlichen Rahmen erfüllte Funktion der
                   Gewerkschaften auf die europäische, d. h. in unserem Fall regionale
                   und nationale Grenzen überschreitende Ebene gehoben.2 Wir gehen
                   davon aus, dass der Harmonisierungsspielraum in institutioneller
                   und struktureller Hinsicht zwischen Österreich und Italien und
                   damit zwischen Tirol und Südtirol gering ist; angebracht scheint uns
                   vielmehr eine grenzüberschreitende Verknüpfung der regionalen und
                   nationalen Kollektivverträge, um die Gefahr von „Tarifdumping“ und
                   eines „Harmonisierungswettlaufes nach unten“ (Schulten 1999: 2)
                   zu verringern. Grundlegende Voraussetzung und Ansatzpunkt für Maß-
                   nahmen in Richtung einer „Harmonisierung nach oben“ sind Kennt-
                   nisse über die Situation in der jeweiligen Nachbarregion.
Harmonisierungs-   Tirol und Südtirol sind in zwei unterschiedliche Kollektivvertragsver-
     spielräume    handlungssysteme eingebettet. Beide sind Ausdruck der jeweiligen
                   nationalen Systeme industrieller Beziehungen, die in institutioneller
                   Hinsicht eine Reihe von Unterschieden aufweisen. Dies gilt in erster
                   Linie für den rechtlichen Handlungsrahmen und das System der indu-
                   striellen Beziehungen (Giovannacci/Pramstrahler 1999). Dennoch las-
                   sen sich Gemeinsamkeiten konstatieren: Wie in den meisten europäi-
                   schen Ländern nimmt die nationale Branchenebene den zentralen
                   Stellenwert ein (Burgess 1997 und WSI 1999); sie übt die „Sperrklin-
                   kenfunktion“ für die nachgeordnete regionale und betriebliche Ver-
                   handlungsebene aus. Der Spielraum der – wenngleich unterschiedlich
                   entwickelten – regionalen Verhandlungsebene kann durchaus ge-
                   nutzt werden, eine über Grenzen hinweg koordinierte Kollektiv-
                   vertragspolitik zu betreiben.
Koordination und   Dies gilt umso mehr, als Koordination und Kooperation die adäqua-
    Kooperation    testen Mechanismen der gewerkschaftlichen grenzüberschreitenden
                   Zusammenarbeit sind. (Kreimer-de Fries 1999, Marginson/Schulten
                   1999, Schulten 1999). Aufgrund des Fehlens eines europäischen Kol-
                   lektivvertragsverhandlungssystems weist diese Strategie zwei wichti-
                   ge Vorteile auf: Sie ist unmittelbar umsetzbar und praktikabel. Die
                   gesamteuropäische Ebene, die aus Verordnungen, Richtlinien und so-
                   zialem Dialog auf Spitzenebene besteht, erhält Unterstützung „von
                   unten“. Die Gewerkschaften werden vor Ort zu gemeinsamen tarifpo-
                   litischen Forderungen und Mindeststandards gedrängt sowie zum
                   institutionellen Ausbau ihrer Kooperationsstrukturen angeregt (Lecher
                   1999: 343). Wie ein Blick auf das Repertoire der Zusammenarbeit
                   zeigt3, so gibt es gerade auf sektoraler und regionaler Ebene eine
                   Reihe von Möglichkeiten: von gegenseitigem Meinungsaustausch,
                   grenzüberschreitenden Einladungen zu Tarifverhandlungen und in
                   Tarifkommissionen, Kooperation durch Memoranden, Abkommen und
                   Tarifpartnerschaften. Der Spielraum auf regionaler Ebene muss ge-
                   nutzt werden, um trotz der nach wie vor vorhandenen nationalen Un-
                   terschiede die Koordinations- und Kooperationsmöglichkeiten über
                   Grenzen hinweg verstärkt wahrzunehmen.
                   Um den Handlungsspielraum der regionalen Kollektivvertragsparteien
                   konkret aufzuzeigen, wird im nächsten Abschnitt die Einbettung der
                   regionalen Ebene in das jeweilige nationale Kollektivvertragsverhand-
                   lungssystem sowohl für Tirol wie für Südtirol dargestellt.
                   2
                       Wir gehen keineswegs davon aus, dass dies ein „logischer“, sich aus der gewerkschaftlichen
                       Tradition und europäischen Einigung ergebender Prozess ist. Nationale und regionale
                       Gewerkschaften haben durchaus andere Handlungsoptionen: Sie sind ein unverzichtbarer
                       Partner in „Wettbewerbspakten“, die in vielen Bereichen eine „beggar my neighbour“-Politik
                       bedeuten (Bispinck/Schulten 1999, Grote/Schmitter 1999, Hassel 1999).
                   3
                       Siehe dazu die Übersichten bei Braun/Guggenberger-Sappl 1999, Kreimer-de Fries 1999,
                       Lecher 1999, Marginson/Schulten 1999, Zagelmeyer 1999.

                                 AFI/IPL - DOKUMENTATION 15/2000
Übersicht 1: Die regionale Ebene im Kontext des österreichischen und italienischen Kollektivvertragsverhandlungssystems
                                                          ÖSTERREICH                                                      ITALIEN
                                  Generalkollektivverträge    Angelegenheiten von besonderer Wichtigkeit, die die           „Interkonföderale“             Bilaterale Abkommen mit weitreichendem Geltungsbereich
                                                              Gesamtheit der Arbeitnehmer betreffen                         Abkommen                       in einem Sektor (z. B. Industrie)
                                                                                                                            „Accordi interconfederali“     Tripartistische „concertazione“ als Sonderform mit starkem
                                                                                                                                                           Engagement der öffentlichen Hand
                                  Branchenkollektiv-          Standardfall, branchenspezifisch                              Nationaler                     Standardfall, sektorenspezifisch
                                  vertrag, allgemeiner        Trennung in Arbeiter- und Angestelltenkollektivverträge       Branchenkollektivvertrag       einheitliche Kollektivverträge für Arbeiter und Angestellte
                                  Kollektivvertrag            Trennung in ein längerfristiges Rahmenabkommen und            „contratto collettivo nazio-   Trennung in ein Rahmenabkommen mit vierjähriger Laufzeit
                                                              einen primär entgeltbezogenen Teil, der in der Regel alle     nale di lavoro“:               („parte normativa“) und in einen primär entlohnungsbezo-
                                                              Jahre erneuert wird                                                                          genen Teil („parte economica“) mit zweijähriger Laufzeit
                                  Lokale / regionale Ebene    • Breiter Tripartismus auf zentralen Feldern der Arbeits-     Lokale / regionale Ebene       • Bi- und tripartistische Abkommen auf Landesebene
                                                                markt-, Sozial-, Wirtschafts- und Ausbildungspolitik                                         („contratti territoriali interconfederali“)
                                                              • Pakte für Arbeit und Wirtschaft                                                            • Branchen- und sektorenspezifische Landeszusatzver-
                                                              • Landeskollektivverträge: betrifft die von den Gesetzen                                       träge („contratti territoriali integrativi / di secondo livel-
                                                                und bundesweiten Kollektivverträgen übertragenen                                             lo“): in manchen Branchen mögliche Verträge, die zu-
                                                                Regelungsbereiche, fungieren in manchen Fällen (wie                                          sätzliche produktivitätsorientierte Lohnbestandteile
                                                                im Hotel- und Gastgewerbe) als Ersatz für bundeswei-                                         und andere Regelungen nach Maßgabe des nationalen
                                                                te Abschlüsse                                                                                Kollektivvertrages vorsehen können (jedoch keine
                                                                                                                                                                                                                                                                                                             7

                                                              • Lohn- und Gehaltstabellen, enthalten in manchen                                              Doppelungen)
                                                                Fällen auch unterschiedliche Angaben über die Verwen-                                      • „Patti d’area“: territoriale regionale Entwicklungspakte
                                                                dungsgruppen, in manchen Fällen enthalten die                                              • „Contratti d’area“: lokal begrenzte Pakte zur Beschäf-
                                                                Bundeskollektivverträge bereits länderspezifische                                            tigungsförderung und Ansiedlung von Betrieben
                                                                Regelungen (etwa im Handel)                                                                  (Möglichkeit, Entlohnung in pejus zu derogieren, d. h.

AFI/IPL - DOKUMENTATION 15/2000
                                                              • Vom NAP vorgesehene territoriale Beschäftigungspakte                                         Abweichung nach unten zu vereinbaren)
                                                                                                                                                           • Tripartismus auf zentralen Feldern der Arbeitsmarkt-
                                                                                                                                                             politik
                                                                                                                                                           • Bilaterale sektorale Abkommen über bilaterale Einrich-
                                                                                                                                                             tungen

                                  Betrieb                     •   Betriebsvereinbarungen nach dem ArbVG                                                    Betriebliche Zusatzabkommen, die an die wirtschaftliche
                                                              •   Betriebskollektivvertrag                                                                 Entwicklung des Betriebs gebunden sind („contratto azien-
                                                              •   firmenbezogene Verbandskollektivverträge                                                 dale integrativo“) (keine Doppelungen) und im Zuge der
                                                              •   Regelungsmaterien: in erster Linie vom ArbVG vorge-                                      Verbetrieblichung der Arbeitsbeziehungen mit zusätzlichen
                                                                  sehen, z. T. auch vom Kollektivvertrag. Freie Betriebs-                                  Informations- und Kontrollrechten ausgestattet werden, der
                                                                  vereinbarungen regeln auch nicht vom ArbVG vorgese-                                      Rahmen wird vom nationalen Branchenkollektivvertrag
                                                                                                                                                                                                                              KOLLEKTIVVERTRAGSVERHANDLUNGEN IM TOURISMUS. TIROL UND SÜDTIROL IM VERGLEICH

                                                                  hene Bereiche.                                                                           abgesteckt.

                                  Quelle: Eigene Zusammenstellung. © AFI/IPL
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      KOLLEKTIVVERTRAGSVERHANDLUNGEN IM TOURISMUS. TIROL UND SÜDTIROL IM VERGLEICH

                         INDUSTRIELLE BEZIEHUNGEN IN DER REGION
 Die Wichtigkeit der     Die regionale Verhandlungsebene war traditionell eine der wenig
  regionalen Ebene       beachteten, die Aufmerksamkeit gilt in der Regel der überbetriebli-
                         chen (Gesamtwirtschaft/Wirtschaftsbranche) und der betrieblichen
                         Ebene (Regalia 1997: 15). Parallel zum Rückgang der makropoliti-
                         schen zentralistischen Steuerung, der Entstehung neuer Produk-
                         tionssysteme und der Zunahme der politischen Regionalisierung hat
                         auch die „mittlere“ Ebene an Relevanz gewonnen: Zuerst als bran-
                         chen(sektoren)spezifische Arena verstanden, umfasst der Ausdruck
                         „Mesoebene“ nunmehr auch die regionalen Systeme industrieller
                         Beziehungen. Insbesondere in einem Sektor wie jenem des
                         Tourismus, in dem betriebliche Vereinbarungen aufgrund der Be-
                         triebsgröße und Saisonalität eine geringe Rolle spielen, kommt der
                         regionalen Ebene eine besondere Bedeutung bei der Sicherung der
                         Arbeits- und Lebensverhältnisse der Beschäftigten zu. Darüber hin-
                         aus ist die Mesoebene ein bedeutsamer „Umschlagplatz“ für ange-
                         botskorporatistische4 Leistungen und Maßnahmen. Die Entwicklun-
                         gen in diesem Bereich sind umso wichtiger, als der Tourismus in bei-
                         den Regionen sowohl hinsichtlich der Beschäftigtenzahl als auch des
                         Bruttoinlandsproduktes eine herausragende Rolle einnimmt.
Angebotskorporatis-      Die regionale Handlungsebene spielt in Tirol eine wichtige Rolle. Zum
       mus in Tirol      einen liegt deren Bedeutung wie in den anderen österreichischen
                         Bundesländern darin, dass hier „angebotskorporatistische Dienst-
                         leistungen“ für die Politikfelder Arbeitsmarkt, Förderung des Struk-
                         turwandels, territoriale und infrastrukturelle Entwicklung, Technolo-
                         gietransfer, Ökologisierung und berufliche Ausbildung zur Verfügung
                         gestellt werden. Als permanente angebotskorporatistische Lei-
                         stung der Tiroler Sozialpartner kann deren Engagement in der beruf-
                         lichen Ausbildung gesehen werden.
Soziale Pakte in Tirol   Der Abschluss von Sozialpakten in Tirol zeigt, dass die lokale Ebene
                         auch für diese Form sozialpartnerschaftlicher Politikarrangements an
                         Bedeutung gewinnt.
                         • Der ab Jänner 2000 geltende „Pakt für Arbeit und Wirtschaft“,
                             abeschlossen im August 1999 von den Tiroler Sozialpartnern, dem
                             Land Tirol, dem AMS, Landesschulrat, Gemeindenverband und
                             Stadt Innsbruck, setzt sich eine nachhaltige Verbesserung der Be-
                             schäftigungslage zum Ziel. Zwischen Land und AMS wurde ein
                             Zusatzpakt abgeschlossen, um dauerhaft vom Arbeitsmarkt aus-
                             geschlossenen Segmenten neue Beschäftigungschancen zu eröff-
                             nen (ÖGB-Nachrichtendienst 2992: 10, Kurzdarstellung Pakte).
                         • „Regionales Beschäftigungsbündnis Tiroler Oberland und
                             Außerfern“: Dieser Pakt, der von den Sozialpartnern im Oktober
                             1997 abgeschlossen wurde, hat das Ziel, die Beschäftigungslage
                             in dieser Region zu verbessern.
    Stellenwert der      Diese Formen von „autonomer Sozialpartnerschaft“ sind jedoch in
        autonomen        den österreichischen Bundesländern im Vergleich zur Bundesebene
 Sozialpartnerschaft     weniger stark ausgeprägt (Schaller 1997: 902). Als Kontakt- und
                         Austauschmedium scheinen die informellen „Tiroler Präsidentenge-
                         spräche“ eine gewisse Rolle zu spielen.
                         4
                             Der von Franz Traxler (Traxler 1993) beschriebene Wandel vom Nachfrage- zum Angebotskorpo-
                             ratismus zeigt sich in der abnehmenden Bedeutung der keynesianisch orientierten Einkommens-
                             politik und im zunehmenden Engagement der Sozialpartner, gemeinsam Leistungen in verschie-
                             denen Bereichen (Berufsausbildung, „weiche Standortfaktoren“, Strukturpolitik) anzubieten.
                             Mittlerweile hat das Konzept in Form des Wettbewerbskorporatismus („competitive corporatism“)
                             in die internationale Wissenschaftssprache Eingang gefunden. Die Studien über den Unterschied
                             zwischen altem (keynesianischem) und neuem (wettbewerbsorientiertem) Korporatismus beru-
                             hen auf diesem Konzept (siehe aus italienischer Perspektive Carrieri 1998).

                                       AFI/IPL - DOKUMENTATION 15/2000
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         KOLLEKTIVVERTRAGSVERHANDLUNGEN IM TOURISMUS. TIROL UND SÜDTIROL IM VERGLEICH

Was die nicht-autonome Sozialpartnerschaft – der Einbau der                 Beiräte in Tirol
Interessenorganisationen in den politischen Entscheidungspro-
zess - auf regionaler Ebene insgesamt betrifft, so zeigt sich in Tirol
grundsätzlich dasselbe Bild wie in den anderen österreichischen
Bundesländern: Zum einen gibt es ein stark ausgeprägtes regionales
Beiratswesen, in das die Sozialpartner eingebunden sind, zum anderen
beruht die sozialpartnerschaftliche Politikakkordierung auf bundesweit
zentralen Verhandlungsstrukturen. Bedeutende Ansätze einer Regiona-
lisierung zeigen sich im Beiratswesen für Raumordnung, für
Wirtschafts- und Arbeitnehmerförderung sowie für Ausbildungswesen.
Der Einbau der Sozialpartner und anderer Institutionen erfolgt über das     Begutachtungsrecht
Begutachtungsrecht von Gesetzesvorlagen, das sowohl auf regionaler
wie auf Bundesebene in Geltung ist.
Einen Schritt zur Stärkung der regionalen Ebene bedeutet die 1994 in        Regionalisierung des
Kraft getretene Neuorganisation des Arbeitsmarktservice, die zu             AMS
einer Regionalisierung geführt hat. Nunmehr sind die Sozialpartner auf
allen Ebenen der Arbeitsmarktverwaltung vertreten: im Bund, im Land
und im Bezirk; die Entscheidungen über Programme, Richtlinien und
Durchführungsbestimmungen für die regionale Arbeitsmarktförde-
rungspolitik fallen in semiparitätischen Gremien (Schaller 1997: 905).
Grundsätzlich umfasst die bi- und tripartistische lokale Ebene in Italien   Tripartismus in
sowohl Verwaltungseinheiten wie Regionen, Provinzen und Gemein-             Südtirol: das Fehlen
den, kann sich aber auch auf verwaltungsmäßig oder kollektivvertrag-        expliziter sozialer Pakte
lich begrenzte Gebiete beziehen. Als Akteure fungieren die lokalen Ge-
werkschaftsbünde und Arbeitgeberverbände sowie die Regional-
regierungen, die Inhalte reichen von den Arbeitsbedingungen und der
Entwicklung des Arbeitsmarktes bis hin zu Fragen der institutionellen
Regionalpolitik. Auf interkonföderaler Ebene existieren in Südtirol bi-
und tripartistische Abkommen in den Bereichen Ausbildung, Betriebs-
praktika, Seniorenbetreuung und Errichtung der betrieblichen Inter-
essenvertretungen EGV/RSU. Insgesamt wird das Instrumentarium der
„concertazione“ jedoch keineswegs in vollem Ausmaß angewandt: Es
fehlen sowohl explizite Sozialpakte nach dem Muster anderer italieni-
scher Regionen mit derselben institutionellen Ausgestaltung als auch
„patti territoriali“. Dabei ist zu vermerken, dass die gesamtstaatlichen
Sozialpakte von 1996 und 1998 die Methode der Konzertierung aus-
drücklich als Regulierungsmechanismus für die Beziehungen zwischen
verschiedenen Akteuren auf allen Ebenen der industriellen Beziehun-
gen empfehlen und vorsehen. Koordiniertes Vorgehen der Sozialpar-
teien, Abstimmung und Vereinbarung von Politikformen und –inhalten
auf konzertiertem Weg erweist sich offenbar aus Sicht der Südtiroler
Interessenvertretungen als weniger effizient als die Formen nicht akkor-
dierter und direkter Einflussnahme auf politische Entscheidungen.
Somit wird dem öffentlichen Akteur die Regulierung der Beziehungen
zu den Interessenverbänden überlassen.
Wird die Struktur und Logik des italienischen kollektiven Verhandlungs-     Beiratswesen in
systems als Maßstab angelegt, gehören die institutionalisierten tri-        Südtirol
partistischen Kommissionen und Beiräte in Südtirol ebenso zur
„contrattazione territoriale interconfederale“. Sie sind in den meisten
Fällen per Landesgesetz errichtet und betreffen in erster Linie die
Bereiche Arbeitsmarkt und Ausbildung. Nachdem Südtirol im Bereich
der Berufsausbildung und Arbeitsmarktverwaltung sowohl über primä-
re als auch sekundäre Zuständigkeiten verfügt, gibt es einen Spielraum
für die institutionelle Ausgestaltung der Kommissionen und Beiräte.
Grundsätzlich sind diese jedoch der Nachvollzug gesamtstaatlicher
und europäischer Vorgaben. Eine herausragende Rolle nimmt die
Landesarbeitskommission mit ihren Unterkommissionen ein.

                                     AFI/IPL - DOKUMENTATION 15/2000
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       KOLLEKTIVVERTRAGSVERHANDLUNGEN IM TOURISMUS. TIROL UND SÜDTIROL IM VERGLEICH

                          Eine potenziell sozialpartnerschaftliche Landeskommission hatte von
                          1972 bis 1995 Bestand: der gesetzlich vorgesehene Landeswirt-
                          schafts- und Sozialbeirat. In ihm waren sämtliche Sozialparteien des
                          Landes vertreten, er trat zweimal im Jahr zusammen und fungierte als
                          „Verbändeparlament“ nach dem Muster des gesamtstaatlichen „Rates
                          für Arbeit und Wirtschaft“ (CNEL). Den Wandel zu einem angebotskor-
                          poratistisch orientierten Dienstleistungsbetrieb hat der Landeswirt-
                          schafts- und Sozialbeirat nicht vollzogen.
  Selektive autonome      Strukturell als „autonome Sozialpartnerschaft“, da ein freiwilliges Gre-
  Sozialpartnerschaft     mium, ansonsten ein Beispiel für einen „selektiven Korporatismus“ war
                          und ist die Sozialpartnerkommission. Diese seit Ende der 70er Jahre
                          bestehende und aktive Kommission ist ein Abstimmungs- und Ak-
                          kordierungsorgan für die deutsch- und ladinischsprachigen Verbände.
                          Die Kommission hat seit dem Beginn der 90er Jahre einen Bedeu-
                          tungsverlust erlitten und ist seit 1997 nicht mehr zusammengetreten.
                          Südtirol bewegt sich damit gegen den europäischen und gesamtstaat-
                          lichen Trend, der in den letzten Jahren einen starken Zuwachs sozialer
                          Pakte und konzertativer Methoden verzeichnet.

                          INDUSTRIELLE BEZIEHUNGEN IM TOURISMUS
       Bedeutung der      Die sektorenspezifische regionale Verhandlungsebene spielt in Tirol wie
     regionalen Ebene     in den anderen österreichischen Bundesländern in manchen Bereichen
                          eine Rolle. Insbesondere im Tourismus (und in einigen anderen wenigen
                          Bereichen) sind regionale Gehalts- und Lohntabellen üblich. Im Fall
                          des Hotel- und Gastgewerbes regeln diese neben den Entgelthöhen,
                          den Lohnsystemen auch Bereiche der Arbeitszeitverteilung.
 Regionale Lohn- und      Generell sind die für die Bundesländer vereinbarten Lohn- und Ge-
      Gehaltstabellen     haltstabellen ein Instrument, auf die regionalen Besonderheiten der
                          Wirtschaftsbranche Bezug nehmen zu können. Exemplarisch dafür steht
                          der Bundeskollektivvertrag für Arbeiter im Tourismus, der explizit be-
                          stimmt, dass Änderungen der Lohnordnung die Gültigkeit der restlichen
                          Bestimmungen des Vertrages nicht beeinträchtigen. Zudem sind auch
                          eigene, vom Kollektivvertrag prinzipiell vorgesehene und an die regiona-
                          le Ebene delegierte Regelungen im Bereich der Arbeitszeitbestimmun-
        Ersatz für die    gen möglich.5 Dass die regionale Ebene in Tirol stärker als in Südtirol
        Bundesebene       nicht nur Ergänzung, sondern geradezu Ersatz für bundesweite Ab-
                          schlüsse sein kann, wird am Beispiel des Tourismus ersichtlich. Von
                          1997 – 1998 war der Tourismus einer der konfliktträchtigen Sektoren, in
                          denen ein bundesweiter Abschluss nicht erreicht werden konnte (Gäch-
                          ter 1997 und 1998). Die regionalen Kollektivvertragsparteien schlossen
                          daraufhin bundeslandbezogene Landeskollektivverträge ab, in denen
                          sowohl ein Mindestlohn als auch Lohnerhöhungen vereinbart wurden.
                          Die „Gegenleistung“ der Gewerkschaft war eine zusätzliche Flexibilisie-
                          rung der Arbeitszeit. Seit Mai 1999 gilt wiederum ein bundesweiter
                          Kollektivvertrag.
Die regionale Ebene in    Wie es der Intention und dem „Modus Operandi“ des italienischen Sy-
               Südtirol   stems nach 1993 entspricht, bestimmt der nationale Kollektivvertrag – in
                          unserem Fall des Tourismus (§ 15) – die Bereiche, die Gegenstand für
                          nachgeordnete Verhandlungen sein können (sog. „zweistufiges“

                          5
                              Insgesamt erweist sich das Tiroler wie das gesamtösterreichische Kollektivvertrags-
                              verhandlungssystem als hoch koordiniert: Zum einen sind in einigen Branchen wie dem
                              Tourismus jährliche Abschlüsse auf regionaler Ebene möglich, wodurch die Kollektiv-
                              vertragsparteien die Möglichkeit haben, eng an die Entwicklung des Sektors gebundene
                              Vereinbarungen zu treffen, zum anderen durchlaufen sowohl die Forderungen wie die tatsäch-
                              lichen Abschlüsse mehrere Mechanismen, die dem Ziel dienen, die gesamtwirtschaftliche
                              Vereinbarkeit zu steigern (Traxler 1999).

                                        AFI/IPL - DOKUMENTATION 15/2000
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              KOLLEKTIVVERTRAGSVERHANDLUNGEN IM TOURISMUS. TIROL UND SÜDTIROL IM VERGLEICH

Vertragsmodell). Er legt im Einklang mit dem Abkommen von 19936 fest,
dass in den Betrieben ab 15 Beschäftigten Betriebsverhandlungen mög-
lich sind, wobei für kleinere Betriebe „Landeszusatzabkommen“ ab-
geschlossen werden können. Für die lokale Verhandlungsebene werden
folgende Gegenstände bestimmt: Aus- und Weiterbildungsprogramme,
Wiederqualifizierungsprogramme, Überprüfung der Ausbildungs-
verträge, Lage der Arbeitszeit, Lehrlingswesen und zusätzliche (produk-
tivitätsorientierte) Lohnbestandteile.
Das Südtiroler Zusatzabkommen Tourismus – dem der Rahmen durch                                    Landeszusatzvertrag
den nationalen Kollektivvertrag gesetzt wird – regelt somit Aspekte des                           Tourismus
Lehrlingswesens, Ferialverträge, Saisonszulage, befristete Arbeits-
verträge und eine Reihe weiterer Materien, auf die in den Übersicht-
stabellen eingegangen wird. Ein typisches Element von Zusatzverträgen
fehlt zurzeit noch im Südtiroler Vertrag: die Bezugnahme auf ein produk-
tivitäts- und qualitätsorientiertes Entgeltsystem. Aufgrund der techni-
schen Schwierigkeiten fehlt bisher in Italien im Tourismussektor ein ter-
ritoriales Abkommen mit einer diesbezüglichen Regelung, an dem sich
die Südtiroler Regelung orientieren könnte.
Eine der interessanten Entwicklungen im Bereich der regionalen und sek-                           Die Südtiroler
torspezifischen Arbeitsbeziehungen stellt die „Tourismuskasse“ dar. Als                           Tourismuskasse
bilaterale Körperschaft kollektivvertraglichen Ursprungs ist die
Einrichtung – die es in geänderter Form in anderen Regionen und Sek-
toren gibt – ein herausragendes Beispiel für angebots- und wettbewerbs-
korporatistische Vereinbarungen in Südtirol. Die bilateralen Körper-
schaften erfüllen sektorenspezifische Aufgaben auf regionaler Ebene und
entlasten damit sowohl die Politik wie die öffentlichen Haushalte. Der
nationale Kollektivvertrag Tourismus selbst bestimmt die Aufgaben und
delegiert die genauen Modalitäten der Errichtung an die regionale Ebene.
Die Südtiroler Körperschaft7 besteht seit dem Jahr 1993. Statutarisch hat
sich die Körperschaft drei Hauptaufgaben gegeben, die sie komple-
mentär zu den bereits bestehenden zuständigen Institutionen (z.B. Be-
rufsausbildung) ausübt: Berufsbildung und die Organisation von Kursen,
finanzielle Unterstützungen für Arbeitnehmer, die von vorübergehender
Arbeitslosigkeit betroffen sind, finanzielle Stützung der Saisonsbeschäf-
tigten, die an Berufsbildungskursen teilnehmen.
Finanziert wird die Körperschaft von den Arbeitgebern und Arbeitneh-                              Modernisierung
mern, allerdings nicht zu gleichen Teilen. Während Erstere – zusammen-                            industrieller
geschlossen im HGV (Hoteliers- und Gastwirteverband mit einem Orga-                               Beziehungen
nisationsgrad von 92%) – 0,30% der Bruttoentlohnung des Arbeitneh-
mers einzahlen, macht der Beitrag jedes in diesen Betrieben beschäf-
tigten Arbeitnehmers 0,10 aus. Die Gremien sind paritätisch zusammen-
gesetzt, die Spitzenfunktionen wechseln im Zweijahresrythmus.
Das Finanzvolumen beträgt pro Jahr circa 517.000 Euro. Die Tätig-
keitsbereiche beziehen sich in erster Linie auf die umfassende Ausbil-
dung der im Tourismus Tätigen, wobei neben beruflichen Fähigkeiten,
Persönlichkeitsbildung auch Veranstaltungen über die arbeitsrechtli-
chen Besonderheiten des Sektors durchgeführt werden.
Den „bilateralen Körperschaften“ kommt potenziell eine wichtige
Rolle bei der Schaffung moderner regionaler und sektorenspezifischer
industrieller Beziehungen zu. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass
die in der Vergangenheit oft festgestellte Unzulänglichkeit – nicht so-
zialpartnerschaftlich akkordierter Druck eines Verbandes auf die
Regierung – einer stärkeren Konzertierung Platz macht.
6
    Das Abkommen vom 23. Juli 1993 kann als „Verfassung“ der industriellen Beziehungen
    Italiens gelten. Mit dem Abkommen wurde ein zweistufiges Vertragsmodell formalisiert. Siehe
    dazu ausführlicher in deutscher Sprache Giovannacci/Pramstrahler (1999: 44).
7
    Begründet mit lokalem Abkommen vom 18. Juni 1993.

                                                 AFI/IPL - DOKUMENTATION 15/2000
VERGLEICHENDE ANALYSE DER GESETZLICHEN
UND KOLLEKTIVVERTRAGLICHEN REGELUNGEN
DER ARBEITSVERHÄLTNISSE IM HOTEL- UND
GASTGEWERBE
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         KOLLEKTIVVERTRAGSVERHANDLUNGEN IM TOURISMUS. TIROL UND SÜDTIROL IM VERGLEICH

Während sich der erste Teil der Studie mit den Regelungsinstanzen
und –formen beschäftigt hat, konzentriert sich der zweite Teil auf die
Regelungen im Tourismus. Zugleich liefert dieser Abschnitt ein
Raster, mit dem gesetzliche und kollektivvertragliche Bestimmungen
in den beiden Regionen Tirol und Südtirol komparativ dargestellt wer-
den können. Damit fungiert diese Studie als Grundlage sowohl für
weitere Vergleiche in anderen Sektoren als auch für eine vertiefte Aus-
einandersetzung mit den Arbeitsbedingungen in Tirol und Südtirol.
Im Folgenden werden die Kollektivverträge und die abschließenden
Parteien sowohl auf gesamtstaatlicher wie auf regionaler Ebene auf-
gezählt. Es folgt eine vergleichende Darstellung der Regelungen in
ausgewählten Bereichen des Arbeitsverhältnisses:
• Entgelt,
• Arbeitszeit, Ruhzeiten, Ferien und Feiertagsregelung,
• Abfertigung,
• Entgeltfortzahlung,
• Mutterschaft und Elternkarenz,
• Gleichbehandlung und
• Bildungskarenz.

                                    AFI/IPL - DOKUMENTATION 15/2000
Kollektivverträge und Vertragsparteien im Hotel- und Gastgewerbe in beiden Ländern
                                                                                ÖSTERREICH                                                                            ITALIEN
                                                                          Arbeiter                              Angestellte                         einheitlicher Kollektivvertrag für Arbeiter und Angestellte
                                  Vertragsbezeichnung        Kollektivvertrag für Arbeiter im      Kollektivvertrag für die Angestellten Nationaler Branchenkollektivvertrag für die Beschäftigten in den Tourismus-
                                                             Gastgewerbe                           im Hotel-, Gast- und Schankgewerbe betrieben („contratto collettivo nazionale di lavoro per i dipendenti da azien-
                                                                                                                                         de del settore turismo“)

                                  Geltungsdauer und -be- Stand: 1982, gültig ab 1. Mai 2000        Stand: 1995, gültig ab 1. Mai 2000        national für die Mitglieder der abschließenden Vertragsparteien
                                  reich                  Geltungsbereich: bundesweit, Fach-        Geltungsbereich: bundesweit, Fach-        Vertrag vom 22. Jänner 1999
                                                         verband Gastronomie und Fach-             verband Gastronomie und Fach-             „normativer“ Teil: 4 Jahre
                                                         verband Hotellerie der Wirtschafts-       verband Hotellerie der Wirtschafts-       „entgeltbezogener“ Teil: 2 Jahre
                                                         kammer Österreich, Bundessektion          kammer Österreich, Bundessektion
                                                         Tourismus und Freizeitwirtschaft,         Tourismus und Freizeitwirtschaft,
                                                         Fachverband Gastronomie und Fach-         Fachverband Gastronomie und Fach-
                                                         verband Hotellerie; angeschlossene        verband Hotellerie; angeschlossene
                                                         Betriebe                                  Betriebe
                                                         gilt in der Regel ein Jahr in Bezug auf   gilt in der Regel ein Jahr in Bezug auf
                                                         die Lohnordnung                           die Gehaltsordnung
                                                                                                                                                                                                                                                                                                       14

                                  Vertragsparteien

                                  • Arbeitnehmer-            ÖGB, Gewerkschaft Hotel, Gastge- ÖGB, GPA, Sektion Handel, Verkehr, • FILCAMS – CGIL: Federazione Italiana Lavoratori Commercio, Turismo e

AFI/IPL - DOKUMENTATION 15/2000
                                    organisationen           werbe, Persönlicher Dienst       Vereine und Fremdenverkehr           Servizi
                                                                                                                                 • FISASCAT – CISL: Federazione Italiana Sindacati Adetti Servizi
                                                                                                                                   Commerciali Affini e del Turismo
                                                                                                                                 • UILTUCS: Unione Italiana Lavoratori Turismo Commercio e Servizi

                                  • Arbeitgeber-             Bundessektion Tourismus und Freizeitwirtschaft, Fachverband Gastronomie • Federalberghi: Federazione della Associazioni Italiane Alberghi e Turismo
                                    organisationen           und Fachverband Hotellerie der Wirtschaftskammer Österreich             • Fipe: Federazione italiana Pubblici Esercizi
                                                                                                                                     • Fiavet: Federazione Italiana delle Associazioni delle Imprese di Viaggio e
                                                                                                                                       Turismo
                                                                                                                                     • Faita: Federazione delle Associazioni Italiane de Complessi Turistico-
                                                                                                                                                                                                                        KOLLEKTIVVERTRAGSVERHANDLUNGEN IM TOURISMUS. TIROL UND SÜDTIROL IM VERGLEICH

                                                                                                                                       Ricettivo dell’Aria Aperta
                                                                                                                                     • Confcommercio: Conferderazione Italiana Generale del Commercio,
                                                                                                                                       Turismo e Servizi
TIROL                                                                         SÜDTIROL
                                                                               Arbeiter                              Angestellte                        einheitlicher Kollektivvertrag für Arbeiter und Angestellte
                                  Vertragsbezeichnung           Zusatzkollektivvertrag Arbeiter für das Gehaltsordnung für die Angestellten Territoriale Abkommen für die Betriebe im Bereich Tourismus und Gaststätten
                                                                Bundesland Tirol                        in der Tiroler Hotellerie und Gastrono- „accordi territoriali delle aziende del settore turismo e pubblici esercizi“
                                                                Lohnordnung für die Arbeiter/innen in mie
                                                                der Tiroler Hotellerie und Gastronomie
                                  Geltungsdauer      und    - ab 1. Mai 2000                            ab 1. Mai 2000                          Autonome Provinz Bozen – Südtirol, abgeschlossen am 1. Juli 1999;
                                  bereich                     Bundesland Tirol, Fachgruppe Ga-          Bundesland Tirol, Fachgruppe Ga- Vertragsdauer: 31. Oktober 2001
                                                              stronomie sowie der Fachgruppe            stronomie sowie der Fachgruppe
                                                              Hotellerie in der Sektion Tourismus       Hotellerie in der Sektion Tourismus
                                                              und Freizeitwirtschaft der Wirt-          und Freizeitwirtschaft der Wirt-
                                                              schaftskammer Tirol angeschlosse-         schaftskammer Tirol angeschlosse-
                                                              ne Betriebe                               ne Betriebe
                                                              gilt in der Regel ein Jahr in Bezug auf   gilt in der Regel ein Jahr in Bezug auf
                                                              die Lohnordnung                           die Gehaltsordnung

                                  Vertragsparteien
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                   15

                                  • Arbeitnehmer-               • Gewerkschaft Hotel, Gastgewer- • ÖGB, GPA, Sektion Handel, • AGB/CGIL; LHFD (Allgemeiner Südtiroler Gewerkschaftsbund, Gewerk-
                                    organisationen                be, Persönlicher Dienst Tirol,   Verkehr, Vereine und Fremden-   schaft Angestellte im Handel, Fremdenverkehr und Dienstleistungen)
                                                                  Landessekretariat Tirol und      verkehr, Landesleitung Tirol  • ASGB (Autonomer Südtiroler Gewerkschaftsbund)
                                                                  Vorarlberg                                                     • SGB/CISL: FISASCAT (Südtiroler Gewerkschaftsbund)

AFI/IPL - DOKUMENTATION 15/2000
                                                                                                                                 • SGK/UIL: UILTUCS (Südtiroler Gewerkschaftskammer)

                                  • Arbeitgeber-                Fachgruppe Gastronomie sowie Fachgruppe Hotellerie in der Sektion Hotelier- und Gastwirteverband Südtirols, Mitglied der „Federalberghi“ und
                                    organisationen              Tourismus und Freizeitwirtschaft der Wirtschaftskammer Tirol      der „FIPE“, die wiederum der „Unione Albergatori e Pubblici Esercenti“ der
                                                                                                                                  „Confcommercio“ angeschlossen sind, besonderer Status als provinziale
                                                                                                                                  Vereinigung

                                  Während die österreichischen Kollektivverträge spezifisch sind (Hotel-, Gast- und Schankgewerbe), ist der italienische Kollektivvertrag im Bereich Tourismus ein sektorenübergreifendes
                                                                                                                                                                                                                                    KOLLEKTIVVERTRAGSVERHANDLUNGEN IM TOURISMUS. TIROL UND SÜDTIROL IM VERGLEICH

                                  Abkommen, das die Arbeitsbedingungen einer Reihe von Arbeitnehmern in den Bereichen Camping, Strand- und Badebetriebe, Gast- und Beherbergungsgewerbe, Cafés und Reisebüros regelt.
                                  Der persönliche Geltungsbereich der österreichischen Kollektivverträge und Lohntabellen unterscheidet zwischen Arbeitern und Angestellten. In Italien gelten Kollektivverträge für Arbeiter und
                                  Angestellte, was zudem durch die einheitliche Einstufung der beiden Arbeitnehmergruppen noch verstärkt wird.
Entgelt
                                                                                                  TIROL                                                                                     SÜDTIROL
                                  Bezeichnung           Entgelt, Lohn (Arbeiter), Gehalt (Angestellte)                                                italienisches Pendant: retribuzione

                                  Regelungsquellen      •   § 1152 ABGB                                                                               •   Art. 36 ital. Verfassung
                                                        •   Angestelltengesetz, (AngG) BGBl. 1996/262                                                 •   Art. 2099 Zivilgesetzbuch
                                                        •   Entgelt nach dem Ortsgebrauch bzw. Angemessenheit                                         •   nationaler Branchenkollektivvertrag Tourismus
                                                        •   Kollektivverträge                                                                         •   Landeszusatzabkommen Tourismus
                                                        •   Zusatzkollektivverträge (Lohn- und Gehaltstabellen)                                       •   Betriebsabkommen
                                                        •   Betriebsvereinbarungen und Betriebszusatzkollektivverträge

                                  Regelungsprinzipien   Obwohl in Österreich (wie in Italien) der Kollektivvertrag das typische kollektive            Der Art. 36 der italienischen Verfassung bestimmt die Prinzipien der Entlohnung:
                                                        Instrument zur Festsetzung der Entgelthöhe ist, gibt es auch andere Rechtsquellen. Der §      • Arbeitnehmer haben das Recht auf angemessene Entlohnung,
                                                        1152 ABGB bestimmt die Angemessenheit als Richtlinie für die Entgelthöhe, ebenso der          • wobei sich die Angemessenheit nach der Qualität und Quantität der Arbeit richtet.
                                                        § 6 des Angestelltengesetzes. Zunehmend wird in Österreich wie in Italien ein „weiter         • In jedem Fall muss das Entgelt ausreichen, dem Arbeitnehmer und seiner Familie
                                                        Entgeltbegriff“ verwendet, da der Arbeitsvertrag nicht bloß als Tausch von Arbeit und             eine freie und würdige Existenz zu gewährleisten.
                                                        Entgelt zu sehen ist. Entgeltleistungen sind auch dann zu entrichten, wenn keine Arbeits-
                                                        leistung erfolgen kann.

                                  Entgelt               Entgelte sind sämtliche Leistungen, die der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber dafür erhält, dass er ihm seine Arbeitskraft zur Verfügung stellt. Dies bedeutet, dass Bar- und Naturalentgelt
                                                        darunter fallen, die Aufwandsersätze jedoch nicht. Neben den direkten Entlohnungsformen („retribuzione diretta“), die aus dem Tauschverhältnis resultieren, gibt es Sonderentgelte mit
                                                        Fürsorgecharakter („retribuzione indiretta“), die in der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers wurzeln.
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 16

                                  Entgeltsysteme        Für die Mitarbeiter im Hotel- und Gastgewerbe gilt ein Mindestlohn in Höhe von 909,15 Euro.   Grundsätzlich gilt im Hotel- und Gastgewerbe in Südtirol das Zeitlohnsystem. Lohn und
                                                        Die Lohntabelle für Arbeiter/innen des Bundeslandes Tirol sieht bis zum 21.12.2000 in der     Gehalt bestehen aus folgenden Elementen:
                                                        Abteilung „Service“ zwei Lohnsysteme vor:                                                     • Grundentlohnung („paga base“): kollektivvertraglicher Mindestlohn, der von der
                                                        • Der Garantielohn stellt ein gemischtes, auf Erfolgs- und Leistungslohn basierendes              Einstufung abhängig ist.
                                                             System dar. Garantielöhner haben Anspruch auf Prozentbeteiligung beim Umsatz             • Kontingenzzulage („indennità di contingenza“): automatische Anpassung an die

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                                                             und einen garantierten Mindestbruttolohn. Basis ist die Berechnung eines prozentu-           Lebenshaltungskosten, ist seit 1992 auf einem gleichbleibenden Fixbetrag einge-
                                                             ellen Aufschlages auf den Konsum des Gastes. Die Umsatzprozente werden jedem                 froren. Die Anpassung erfolgt nunmehr in zweijährigem Abstand durch die
                                                             einzelnen Arbeitnehmer nach seinen höchst persönlichen Umsätzen berechnet (sog.              Erneuerung des Entlohnungsteils der Kollektivverträge.
                                                             „Reviersystem“) oder nach den gemeinsamen Umsätzen der gesamten Abteilung                • SLE/EDR „Sonderentlohnungselement/elemento distinto della retribuzione“: Ist eine
                                                             (sog. „Tronc-System“). Die Beträge variieren je nach Betriebsgröße, wie aus der              feste Zulage, die an alle Arbeitnehmer des Privatsektors ausbezahlt wird. Sie wurde
                                                             Tabelle im Anhang ersichtlich wird. Das Garantielohnsystem wird eher abgebaut, mit           zeitgleich mit der Abschaffung der automatischen Lohnangleichung vereinbart.
                                                             der Kollektivvertragserneuerung 1998 ist im Bereich „Beherbergung“ nur mehr das          • Zulage für den vertragslosen Zustand („indennità di vacanza contrattuale“): soll
                                                             Festlohnsystem möglich.                                                                      Arbeitnehmer vor zu langen Verhandlungen schützen.
                                                        • Festlohnsystem: Das Festlohnsystem entspricht dem üblichen Zeitlohnsystem. Pro              • Regionale und betriebliche Abkommen sehen zusätzliche, an die Produktivitäts-
                                                             Abteilung kann nur ein Lohnsystem gelten.                                                    entwicklung des Sektors gebundene Entlohnungsbestandteile vor. Für Südtirol
                                                        Die Höhe des festgelegten Mindestlohnes unterscheidet sich je nach dem gewählten System.          beträgt die Summe 25,82 Euro.
                                                        Es liegt in der Natur der Sache, dass der Garantielohn niedriger ist als der Festlohn.
                                                                                                                                                      Die Südtiroler KV-Parteien verhandeln über ein produktivitäts- und qualitätsorientiertes
                                                                                                                                                                                                                                                  KOLLEKTIVVERTRAGSVERHANDLUNGEN IM TOURISMUS. TIROL UND SÜDTIROL IM VERGLEICH

                                                        Im Angestelltenbereich gilt das Festlohnsystem. Während bei den ersten beiden
                                                        Beschäftigungsgruppen keine Senioritätssprünge vorgesehen sind, differiert bei den restli-    lokales Zusatzabkommen.
                                                        chen Beschäftigungsgruppen die Höhe der Mindestentlohnung nach Dienstjahren. Auch der
                                                        Übergang von einer Verwendungsgruppe in die höhere hängt bei den Gruppen IV und V von
                                                        den Dienstjahren ab.
Dienstzeitzulagen                 Arbeiter                             Angestellte                           Einheitliche Einstufung Arbeiter - Angestellte
                                                        beschäftigte         % des             beschäftigte          % des      Der nationale Branchenkollektivvertrag sieht 6 Vorrückungen alle drei Jahre
                                                           Jahre          Mindestlohnes           Jahre         Mindestlohnes   vor, sofern ein ununterbrochenes Arbeitsverhältnis bestanden hat.
                                                             3                101,5                10                102,5      Der Betrag richtet sich nach der Einstufung und liegt zwischen Lit. 60.000
                                                             6                 103                 15                 105       bis 80.000. (30 - 41 Euro).
                                                             9                104,5                20                107,5
                                                            12                 106
                                                            15                107,5
                                                            18                 109
                                                            21                110,5
                                                            24                 112
                                  Sonderentgelte      Remunerationen:                                                           Der nationale Branchenkollektivvertrag sieht vor:
                                                      • Bei Arbeitern besteht eine Anwartschaft von 2 Monaten, bei              • dreizehntes Monatsentgelt: Weihnachtsgeld,
                                                         Angestellten fällt diese weg. Sonderregelungen für Saisonsbetriebe     • vierzehntes Monatsentgelt: fällig am 30. Juni
                                                         durch Zusammenzählung der Beschäftigungszeiten.
                                                      • Anrecht:                                                                “Superminimi”: per Kollektivvertrag vereinbarte Überzahlungen, den öster-
                                                         • Urlaubszuschuss bei Urlaubsantritt,                                  reichischen Ist-Löhnen vergleichbar.
                                                         • Weihnachtsremuneration: mit dem Novemberlohn, spätestens am
                                                            15. Dezember.                                                       •   Zusätzliche Entgeltleistungen sind
                                                                                                                                                                                                                                                                                             17

                                                                                                                                •   Überstundenzuschläge,
                                                      Fremdsprachenzulage (sofern Anwendung ausdrücklich verlangt): 23,98       •   Ergebnisprämien,
                                                      Euro pro Monat/Sprache (Angestellte), 23,25 Euro (Arbeiter).              •   Gratifikationen,
                                                                                                                                •   Naturalien.
                                                      Zusätzliche Entgeltleistungen für Arbeiter und Angestellte sind

AFI/IPL - DOKUMENTATION 15/2000
                                                      • Überstundenzuschläge,                                                   Der Südtiroler Landeszusatzvertrag sieht eine generelle Saisonszulage vor,
                                                      • Nachtarbeitszuschläge,                                                  durch die Arbeitnehmer in den Genuss einer Erhöhung um 8% der kollektiv-
                                                      • Fremdsprachenzuschläge,                                                 vertraglichen Entlohnungen kommen.
                                                      • Gratifikationen,
                                                      • Naturalien.

                                  Jubiläumszuschlag   Gilt nach ununterbrochener Dienstzeit, der Bezugsbetrag ist das kollektiv- Gilt bei ununterbrochener Dienstzeit:
                                                      vertragliche Mindestentgelt.                                               • nach 10 Jahren ununterbrochenem Dienst: 1 Monatsentgelt
                                                                                                                                 • nach 15 Jahren ununterbrochenem Dienst: 1,5 Monatsentgelte
                                                      • nach 10 Jahren             1 Monatsbezug                                 • nach 20 Jahren ununterbrochenem Dienst: 2 Monatsentgelte
                                                      • nach 15 Jahren             1,5 Monatsbezüge                              • nach 30 Jahren ununterbrochenem Dienst: 3 Monatsentgelte
                                                      • nach 25 Jahren             2 Monatsbezüge
                                                                                                                                                                                                              KOLLEKTIVVERTRAGSVERHANDLUNGEN IM TOURISMUS. TIROL UND SÜDTIROL IM VERGLEICH

                                                      • nach 35 Jahren             2,5 Monatsbezüge
                                                      • nach 40 Jahren             3 Monatsbezüge
                                                      • nach 45 Jahren             4 Monatsbezüge
Die kollektivvertraglichen Mindestlöhne in Tirol und Südtirol
                                  Die Aussagekraft des Vergleiches der Entgelthöhen ergibt sich, wenn die Einstufungs- und Arbeitszeitregelungen berücksichtigt werden. Für die öster-
                                  reichischen Arbeitnehmer im Sektor Tourismus gilt ein Mindestlohn von 12.510 ATS = 909,15 Euro. (Berechnungsgrundlagen: 1 Euro = Lit. 1936,27, 1 Euro
                                  = ATS 13,76)

                                                                  Tirol                                                                                       Südtirol
                                              (Lohntabelle und Gehaltstabelle ab 1. Mai 2000)                                         (Kollektivvertragliche Mindestlöhne ab dem Jahr 2000)
                                                                          ARBEITER                                     ANGESTELLTE             EINHEITLICHE EINSTUFUNG ARBEITER UND ANGESTELLTE

                                                                                  Beherber-                andere
                                                            Service                            Küche                                 ALLGEMEINER TEIL DES SEKTORENÜBERGREIFENDEN KOLLEKTIVVERTRAGES
                                                                                    gung                 Tätigkeiten
                                      Ein-                                                                                             Ein-                 Kontingenz +   nationale Mindest-                  „Südtiroler Min-
                                                Festlohn       Garantielohn       Festlohn    Festlohn    Festlohn       Festlohn               Grundlohn                                     lokaler Zuschlag
                                    stufung                                                                                          stufung                   „SLE“           entlohnung                      destentlohnung“
                                                            Betriebe Betriebe <
                                                                                                                                       A         991,82       542,70          1534,52             25,82           1560,34
                                                           >10 Besch. 10 Besch.

                                                                                                                                       B         883,42       537,58          1421,00             25,82           1446,82
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 18

                                      1         1364,09 1241,64                   1288,15 1515,26 1041,78                1521,43       1         786,38       536,71          1323,09             25,82           1348,91

                                      2         1212,57 1138,44 1025,79 1091,56 1370,63                   985,46         1261,62       2         677,99       531,59          1209,58             25,82           1235,40

AFI/IPL - DOKUMENTATION 15/2000
                                      3         1136,99 1095,20 1003,99           969,84      1250,36     947,67         1150,43       3         612,89       528,26          1141,15             25,82           1166,97

                                      4         1068,67 1038,88       973,83      928,41      1129,36     909,15         1023,98       4         551,57       524,94          1076,51             25,82           1102,33

                                      5         1003,99     953,48    923,32      978,19      1023,25                    964,75        5         486,78       522,37          1009,15             25,82           1034,97

                                      6         947,67      909,88    909,88      947,67      947,67                                 6 geh.      450,45       520,64           971,09             25,82           996,91
                                                                                                                                                                                                                                  KOLLEKTIVVERTRAGSVERHANDLUNGEN IM TOURISMUS. TIROL UND SÜDTIROL IM VERGLEICH

                                                                                                                                       6         436,21       520,51           956,72             25,82           982,54

                                                                                                                                       7         378,38       518,45           896,83             25,82           922,65
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