Konsumenten heute: allzeit und überall vernetzt - BVM - Kongress der deutschen MarKtforschung 19. und 20. Mai 2014

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Konsumenten heute: allzeit und überall vernetzt - BVM - Kongress der deutschen MarKtforschung 19. und 20. Mai 2014
BVM

49. Kongress der Deutschen Marktforschung
19. und 20. Mai 2014

Konsumenten heute: allzeit
und überall vernetzt
Best Paper 2014
Beiträge aus dem Wettbewerb zum Best Paper
Konsumenten heute: allzeit und überall vernetzt - BVM - Kongress der deutschen MarKtforschung 19. und 20. Mai 2014
49. Kongress der Deutschen Marktforschung
19. und 20. Mai 2014

Konsumenten heute: allzeit
und überall vernetzt
Best Paper 2014
Beiträge aus dem Wettbewerb zum Best Paper
Konsumenten heute: allzeit und überall vernetzt - BVM - Kongress der deutschen MarKtforschung 19. und 20. Mai 2014
Inhalt
Stephan Naumann, MediaCom Agentur für Media-Beratung, und Christian von den Brincken, Ströer Media
Deutschland checkt sich ein! Mobilität und Lokalität als Treibstoff für Social Media                                 4

Siegfried Högl und Konstanze Fichtner, GfK Consumer Experiences Germany
Generation overload: Konsumenten zwischen Experience-Seeking und Reizüberflutung.
Fünf Herausforderungen an unsere Branche im digitalen Zeitalter                                                      6

Anna Cremers, nugg.ad
Consumer-Targeting 2.0: Cross-Channel-Zielgruppenansprache                                                           9

Tom Kedor und Anja Decker, MOTOR-TALK
Die Motor-Talk-Insight-Communitys. Über den Weg der Marken zur Automobil-Forschung 3.0
im „Agilen Diskurs” mit der Motor-Talk-Community                                                                    11

Dr. Thomas Liehr, Dr. Markus Eberl und Bernd Großerohde, TNS Infratest
Ein Blick in die Zukunft von Choice Modelling                                                                       15

Jens Lönneker und Sarah Mergelsberg, rheingold salon, sowie Dr. Stefan Dahlem und Alexander Potgeter,
ZMG Zeitungs Marketing Gesellschaft
Indepth-Screening – eine neuartige Kombination von intelligenter Websoftware und
Tiefenexploration                                                                                                   19

Jan Schreier, ADAC, Frank Drewes und Dr. Thomas Rodenhausen, Harris Interactive
Verbraucherbefragungen und Expertentests – Nicht alle Informationen liegen auf der Straße                           24

Dr. Matthias Rothensee, eye square, und Gerald Neumüller, SevenOne Media
Wie schauen Zuschauer heute Fernsehen? Eine ethnografische Studie zum Fernsehabend
in Zeiten des Second Screens                                                                                        27

Sabrina Gottschalk und Alexander Mafael, Marketing Department, Freie Universität Berlin
Wie schlagen sich Konsumenten durch den Bewertungsdschungel?
Eine Analyse von Strategien zum Umgang mit Electronic Word-of-Mouth                                                 30

Impressum
Programmkomitee Best Paper 2014
Leitung: Dr. Ulrike Schöneberg, BVM-Vorstand
Dr. Michael Bartl, Hyve AG und BVM-Vorstand
Dr. Florian Bauer, Vocatus AG und BVM-Vorstand
Norbert Dube, TNS Infratest
Dr. Dieter Korczak, GP Forschungsgruppe und ESOMAR-Präsident ex-Officio
Joachim Rittchen, Roche Pharma AG und ESOMAR-Repräsentant, Deutschland
Dr. Thomas Rodenhausen, Harris Interactive AG und BVM-Fachbeirat

Herausgeber:                        Lektorat
BVM Berufsverband                   Dr. Gisela Hack-Molitor
Deutscher Markt- und
Sozialforscher e.V.                 Gestaltung:
Friedrichstraße 187                 Stephan Hasselbauer
10117 Berlin                        Design Büro, Fürth
Tel.: +49 (0)30 49 90 74 20
Fax: +49 (0)30 49 90 74 21          Bildmaterial:
info@bvm.org                        Diverse Bildarchive und               Verantwortlich für den Inhalt sind
www.bvm.org                         Bildmaterial der Autoren              die Autoren der Beiträge.

                                                                                                               BVM Best Paper 2014 3
Konsumenten heute: allzeit und überall vernetzt - BVM - Kongress der deutschen MarKtforschung 19. und 20. Mai 2014
gewinner Best Paper 2014

          Deutschland checkt sich ein! Mobilität und
          Lokalität als Treibstoff für Social Media
          Stephan Naumann, Group Head Science, MediaCom Agentur für Media-Beratung, und Christian
          von den Brincken, Ströer Media

          Mobilität ist einer der wichtigsten Content-Treiber für Social Media. Millionen von Smart-
          phones und Tablets beschleunigen aktuell die Verschmelzung von Mobilität – also dem „unter-
          wegs oder an einem Ort sein” – und Social Media – also dem „ich teile meinen Freunden etwas
          über digitale Kanäle mit”. Noch vor zehn Jahren wurde im Internet nur eine sehr kleine Menge
          an Inhalten geteilt, die draußen stattfand. Im Jahr 2014 sind die Timelines der Nutzer voll mit
          Urlaubs-Fotos an Flughäfen, Fotos beim Einkaufen in Fußgängerzonen, Fotos beim Sightsee-
          ing in Berlin oder Status-Updates von der Reise mit dem ICE. Das Internet wird damit zum Ou-
          ternet! Was früher die Postkarte aus Papier war, das ist heute die digitale Postkarte in Social
          Media. Eine digitale Postkarte inklusive Foto, Text und Ortsangabe geteilt auf Facebook.

          Ortbasierte Dienste via Social Media sind ein wach-                 Sowohl für Ströer als auch für MediaCom sind daher
          sender Markt: Hierunter fallen Services wie Facebook                Ergebnisse zum Zusammenhang von Mobilität auf der
          Places, Instagram, Twitter, Foursquare oder auch Goog-              einen Seite und Kommunikation via Social Media auf der
          le Places und Yelp. Orte wie der Frankfurter Flughafen              anderen Seite von großer Bedeutung. Das Ziel der Stu-
          verfügen allein auf Facebook über 1,7 Millionen aktive              die „Deutschland checkt sich ein!” sind die Darstellung
          User-Check-ins (Stand: Sept. 2014) – Tendenz rasant                 eines breiten und tiefen Überblicks zur User-Kommuni-
          steigend. Studien zum Phänomen der Mobilität und                    kation rund um das Thema Mobilität in Deutschland und
          Location-Check-ins in Social Media gab es jedoch in                 Erkenntnisse zur Netzkultur im Kontext von Mobilität
          Deutschland bis dato keine.                                         in Social Media. Mit Hilfe quantitativer und qualitativer
                                                                              Ergebnisse vermittelt die Studie ein detailliertes Ver-
          Aus diesem Grund haben im Jahr 2013 die Mediaagen-                  ständnis von Social-Media-Inhalten rund um Mobilität
          tur MediaCom Agentur für Media-Beratung GmbH und                    sowie zu Touchpoints, Nutzertypen und Plattformen.
          die Ströer Media AG das innovative Studienprojekt                   Die Ergebnisse der Studie liefern vor allem für Location-
          „Deutschland checkt sich ein!” durchgeführt. Ströer                 based Advertising-Kampagnen spannende Insights.
          gehört einerseits zu den größten Vermarktern für Au-
          ßenwerbung und andererseits auch zu den größten                     So hat MediaCom im Rahmen der Studie über 44 Mil-
          Vermarktern von Onlinewerbung in Deutschland. Ströer                lionen Check-ins auf Facebook an 1.000 unterschiedli-
          vereint somit die Themen Lokalität und Online. Media-               chen Orten in Deutschland erhoben und ausgewertet.
          Com ist Deutschlands größte Full-Service-Mediaagen-                 Nirgends in den Social Media werden mehr ortsbasier-
          tur und platziert millionenschwere Werbekampagnen in                te Informationen ausgetauscht als auf Facebook. Ein
          Out-of-Home.                                                        Location-Check-in auf Facebook Places ist eine aktive

                            Stephan Naumann                                                      Christian von den Brincken
                            Group Head Social Media Research, Media-                              Christian von den Brincken, Geschäftsführer
                            Com Agentur für Media-Beratung GmbH,                                  Business Development, Ströer Media AG,
                            Düsseldorf, studierte Kommunikationswis-                              Düsseldorf, studierte Geographie, Touristik-
                            senschaft, BWL und Marketing. Nach mehr-                              Management und internationale politische
                            jähriger Tätigkeit als Social Media Analyst bei                       Beziehungen und arbeitete nach Stationen
          MediaCom hat er seit 2012 als Gruppenleiter die Gesamtverant-       bei Nielsen Single Source und der Initiative Media acht Jahre für
          wortung für die Social-Media-Research-Abteilung.                    MediaCom, bevor er bei Ströer tätig wurde.

4 BVM Best Paper 2014
Konsumenten heute: allzeit und überall vernetzt - BVM - Kongress der deutschen MarKtforschung 19. und 20. Mai 2014
Freigabe der GPS-basierten Standortbestimmung durch         Verständnis der jungen und mobilen Zielgruppe, ihrer
einen Nutzer auf ebendieser Plattform. Ein Check-in ist     Out-of-Home-Aktivitäten und -Inhalte eröffnen der
ein Indikator für die aktive Nutzung von Social Media via   Mediaplanung und Content-Kreation im Kontext von
mobiler Devices im öffentlichen Raum. Daneben haben         crossmedialen Kampagnen neue Möglichkeiten.
Analysten 94.000 Fotos mit Hashtags rund um Mobili-
tät wie zum Beispiel #bahnfahren oder #busfahren auf        Die Studie „Deutschland checkt sich ein!” setzt sich
Instagram – dem weltweit größten Netzwerk für Foto-         nicht nur mit einem neuartigen Themenfeld ausein-
Sharing – beobachtet. Die Analyse der Instagram-Fotos       ander, sondern ist auch in ihrer Form in Deutschland
zeigt, mit welchen Marken und Stars sich die zumeist        bislang einmalig und kombiniert innovative Monitoring-
jugendlichen User identifizieren.                           Technologien und -Methoden bei der Erhebung und
                                                            Interpretation von Social-Media-Daten. „Deutschland
Die Location mit der absolut höchsten Zahl an Check-        checkt sich ein!” ist die erste Grundlagenstudie, die
ins ist zum Zeitpunkt der Datenerhebung der Ort             zeigt, dass Mobilität auch Content schafft.
„Berlin – the place to be”. Diese Location verzeichne-
te im November 2013 bereits 1,4 Millionen Check-ins.        Kunden von Ströer und MediaCom profitieren bereits
Im März 2014 waren es über 1,6 Millionen Check-ins          heute von der Facebook-Location-Check-in-Datenbank
und im September 2014 bereits mehr als 1,7 Millionen        bei der Planung von Out-of-Home-Kampagnen mit
Check-ins. Auf den drei folgenden Plätzen finden sich       Social-Media-Elementen. „Deutschland checkt sich
die drei größten deutschen Flughäfen. Orte wie der          ein!” liefert ein tiefes Touchpoint- und Zielgruppen-
Frankfurter Flughafen verfügen allein auf Facebook          Verständnis. 
über fast 1,7 Millionen aktive User-Check-ins (Stand:
September 2014). Unter den Locations mit den meis-
ten Check-ins in Deutschland findet sich aber auch eine
Überraschung: Der „Europa-Park Rust” schneidet mit
insgesamt 462.876 Check-ins sogar besser ab als die
Touristen-Location „München”. Die Art der Top-Orte
zeigt, dass Informationen zum eigenen Standort von
den Nutzern vor allem in Freizeit-Situationen freigege-
ben werden. Besondere, nicht alltägliche, von der Norm
abweichende Inhalte haben es auf Facebook leichter
als immergleiche Informationen, zum Beispiel über den
täglichen Arbeitsplatz.

MediaCom hat für jede Location auch die Anzahl der von
Usern hochgeladenen Fotos erhoben. Und hier liegt der
„Europa-Park” national sogar auf Platz 2 mit 1.853.921
Fotos. Als Vergleich: Im Durchschnitt verfügen die
Top-1.000-Locations auf Facebook Places über 31.784
Foto-Uploads. Das heißt, der „Europa-Park” generiert
58-mal mehr Foto-Uploads als der Durchschnittsort –
also ein perfekter Ort für eine Out-of-Home-Kampagne,
die das Teilen von Fotos durch Besucher mit einbezieht.
Die Foto-Uploads zeigen einen sehr hohen Grad an In-
volvement der User an einem Ort an. Freizeitparks bie-
ten die Möglichkeit, absolut einzigartige und emotionale
Inhalte in den Social Media auszutauschen. Dies trägt
zu ihrem großen Erfolg in den Social Media bei.

Allein die enorme Datenmenge von 44 Millionen un-
tersuchten Check-ins unterstreicht die Relevanz des
Themas für die Markenkommunikation. Ein gutes

                                                                                                      BVM Best Paper 2014 5
Konsumenten heute: allzeit und überall vernetzt - BVM - Kongress der deutschen MarKtforschung 19. und 20. Mai 2014
Nominiert für das Best Paper 2014

          Generation overload: Konsumenten
          ­zwischen Experience-Seeking und Reiz­
           überflutung. Fünf Herausforderungen an
           unsere Branche im digitalen Zeitalter
          Siegfried Högl und Konstanze Fichtner, GfK Consumer Experiences Germany

          Das digitale Zeitalter stellt die Marktforschungsbranche vor grundlegende neue Herausforde-
          rungen. Konsumenten sind heute mobiler denn je und jederzeit und überall vernetzt. Abneh-
          mer von Marktforschung sehen sich einer immer größer werdenden Informationsflut einerseits
          und einem steigenden Bedarf nach holistischem Erkenntnisgewinn andererseits ausgesetzt.
          Diese neue Komplexität führt zu einem neuen Modus Vivendi von Marktforschung, dem sich
          die Branche stellen muss, will sie auch zukünftig relevant bleiben.

          Generation overload – die Extraktion des Wesentli-                  die Kommunikation zunehmend über digitale Kanäle
          chen als Herausforderung                                            erfolgt, steigt im privaten Bereich das Bedürfnis nach
          Das digitale Zeitalter verändert nicht nur die Art, wie wir         nachhaltigen Erlebnissen (Experience Seeking). Die zu-
          arbeiten und einkaufen. Kommunikation verlagert sich                nehmende Bedeutung von Social Sharing (Teilen von Er-
          zunehmend in digitale Kanäle. Immer mehr Informatio-                lebnissen online) verstärkt diesen Trend, so dass Erleb-
          nen strömen auf Verbraucher ein bzw. stehen zum Ab-                 nisse zum Bindeglied zwischen analoger und digitaler
          ruf zur Verfügung. Hieraus resultiert ein zunehmender               Welt werden. Eine Veränderung, die insbesondere die
          „Information Overload”, der die Verbraucher vor die He-             Digital Natives betrifft.
          rausforderung stellt, Inhalte zu selektieren. Gleichzeitig
          wachsen Misstrauen und Verunsicherung der Verbrau-                  Auch die Abnehmer von Marktforschungsinformationen
          cher, trotz der steigenden Menge an verfügbaren Infor-              sehen sich einer zunehmenden Informationsflut ausge-
          mationen.                                                           setzt. Digitale Vernetzung führt zu einem immer schnel-
                                                                              leren Turn-around von Informationen. Hierbei wird es
          Im Gegenzug beobachten wir ein verstärktes Bedürf-                  zunehmend schwieriger, die wirklich entscheidungsre-
          nis nach emotionalen (analogen) Erlebnissen. Während                levanten Informationen zu selektieren (s. Abbildung 1).

                            Siegfried Högl                                                       Konstanze Fichtner
                             CEO, GfK SE, Consumer Experiences Germany,                           Teamleiterin Insights & Consulting, GfK SE,
                             Nürnberg,                                                            Consumer Experiences Germany, Nürnberg,
                             war in der GfK Gruppe in verschiedenen                               ist seit 2006 für die GfK tätig und blickt auf
                             Positionen tätig. Unter anderem leitete er als                       eine mehrjährige Erfahrung in der Betreuung
                             Mitglied des Global Custom Research Board                            internationaler Accounts im Bereich Auto-
          in den letzten Jahren den Aufbau des GfK-Netzwerkes in Asien.       mobil und Technology zurück. Sie begann ihre Tätigkeit in der
                                                                              GfK als Analytical Consultant und war u.a. für Entwicklung und
                                                                              Weiterentwicklung von Produkten und statistischen Verfahren in
                                                                              der Marken- und Kommunikationsforschung zuständig.

6 BVM Best Paper 2014
Konsumenten heute: allzeit und überall vernetzt - BVM - Kongress der deutschen MarKtforschung 19. und 20. Mai 2014
Abb.1: Veränderte Rahmenbedingungen für die Marktforschung im digitalen Zeitalter

Research in a changing world: 5 Herausforderungen,       möglichen (z.B. Nike +). Für die Marktforschung gilt es
denen sich Marktforschung im digitalen Zeitalter         Ansätze zu entwickeln, die in der Lage sind, diese Er-
stellen muss                                             lebnisse qualitativ und quantitativ zu messen und die
Ausgehend von der zunehmenden Digitalisierung und        entsprechenden Kanäle entlang der Consumer Journey
den damit verbundenen gesellschaftlichen Veränderun-     holistisch zu erfassen (digital wie analog). Zudem muss
gen sehen wir 5 Entwicklungen, auf die Marktforschung    die Marktforschung selbst ansprechende Erlebnisse
zukünftig reagieren muss (s. Abbildung 2):               bieten, um in der Generation der „Experience-Seekers”
                                                         attraktiv zu bleiben (z.B. über Gamification, Online com-
1) The Experience Economy: Erlebnisse als Schlüssel      munities, Events, Branding).
für langfristige Markenbeziehungen
Um dem gestiegenen Bedürfnis nach emotionalen Er-        2) New ways of measurement: Mittendrin statt nur
lebnissen und Social Sharing gerecht zu werden, gilt     dabei? Bessere Daten durch neue Messansätze
es für Hersteller mehr denn je, nachhaltige Erlebnisse   Neue digitale Technologien ermöglichen neue Wege der
zu bieten, die analoge und digitale Lebenswelten ver-    Messung und eröffnen der Marktforschung vielfälti-
binden und eine langfristige Bindung an die Marke er-    ge neue Möglichkeiten, wie z.B. Drag&Drop-Lösungen,

Abb.2: Fünf zentrale Herausforderungen für die Marktforschung im digitalen Zeitalter

                                                                                                     BVM Best Paper 2014 7
Konsumenten heute: allzeit und überall vernetzt - BVM - Kongress der deutschen MarKtforschung 19. und 20. Mai 2014
Mobile Datenerhebungen, Cookie-basierte Messungen,          dierung und Insights-Management werden in dieser
          Mimik-/Gestikerkennung, Realtime Measurement. Die-          Situation zum entscheidenden Erfolgsfaktor. Die Ver-
          se neuen Formen der (passiven) Messung ermöglichen          knüpfung von Tools und Ergebnissen zu übergreifenden
          es, bessere Daten als jemals zuvor zu erhalten. Poten-      und fokussierten Lösungen – wie z.B. 360° Kampag-
          zielle Fehlerquellen aufgrund von Erinnerungslücken /       nenevaluation oder Mobile Insights (Verknüpfung von
          sozialer Erwünschtheit oder sinkender Response bzw.         Mobilfunk- und Paneldaten) – ermöglicht neben einem
          Motivation Rates können so verringert werden.               umfassenderen Blick auch eine stärkere Fokussierung
                                                                      der Erkenntnisse auf das Wesentliche. Auf diese Weise
          3) New Data, Big Data: blessing or curse? Smart Data        können Entscheidungen effizienter und effektiver ge-
          als Chance für die Marktforschung                           troffen werden.
          Neben der Messung analoger Erfahrungen und Ein-
          stellungen muss Marktforschung zukünftig auch die           How to survive in this brave new world: Innovation,
          Erfassung digitaler Kommunikation gewährleisten, z.B.       Integration und Vertrauen als Schlüssel für erfolgrei-
          über Social-Media-Monitoring. Neben den großen He-          che Marktforschung im 21. Jahrhundert
          rausforderungen, die Big Data für die Branche mit sich
          bringt (neue Wettbewerber, big but messy data), bietet      Zusammenfassend lassen sich diese Anforderungen
          Big Data Marktforschungsinstituten die Chance, die          auf drei übergreifende Paradigmen komprimieren, die
          häufig unstrukturierten Datenquellen durch intelligente     Marktforschung verfolgen muss, um im digitalen Zeit-
          Verknüpfung mit Marktforschungsdaten in Smart Data          alter erfolgreich zu sein 1. Innovation: neue Wege der
          zu überführen und diese einer inhaltlichen Interpretati-    Messung und Motivation von Befragten, 2. Integration:
          on zugänglich zu machen (z.B. Verknüpfung von Mobil-        Konsolidierung und Zusammenführung von Kerner-
          funk- und Paneldaten). Der Extraktion von zuverlässi-       gebnissen und Tools zu Lösungen, die „echte” Insights
          gen Aussagen mit Hilfe von Big Data kommt hierbei eine      generieren, 3. Trust: Der Marktforscher ist der trusted
          große Bedeutung zu – eine Kompetenz, die die Produ-         partner der Marktforschungskunden (zuverlässige Aus-
          zenten von Big Data häufig nicht ausreichend erfüllen       sagen und Qualität der Insights) und die vertrauens-
          (der Marktforscher als „trusted partner”).                  würdige Instanz für die Erhebung von Daten bei Befrag-
                                                                      ten und Konsumenten. 
          4) Quality at risk: The hunt for the last respondent?
          Datenqualität als strategischer Wettbewerbsvorteil
          im digitalen Zeitalter
          Globale Kunden benötigen global zuverlässige Markt-
          forschung. In Zeiten von Big Data wird es zunehmend
          schwieriger, die hierfür notwendige Qualität aufrecht-
          zuerhalten. Daten sind günstiger und schneller erhält-
          lich, die Qualität wird jedoch häufig nicht ausreichend
          hinterfragt. Das Thema Qualität muss damit zu einem
          zentralen Paradigma für die Marktforschung im digi-
          talen Zeitalter werden – sowohl bei der Erhebung der
          Daten als auch bei der Generierung von Insights. Zudem
          gilt es, im Hinblick auf die Motivation der Befragten und
          die Wahl der Methoden neue Wege zu gehen, die auf die
          mobile Lebenssituation und die veränderten Ansprüche
          von Konsumenten ausgerichtet sind (z.B. Gamification,
          Mobile Resarch, Insights Management).

          5) Insights & Integration: Lost in data? Insights als
          Erfolgsfaktor in einer reizüberfluteten Welt
          Für Entscheider in Unternehmen ist es oftmals nicht
          mehr das Problem, zu wenige Daten für Entscheidun-
          gen zu haben, sondern eher durch Mengen an unver-
          knüpften Informationen paralysiert zu sein. Konsoli-

8 BVM Best Paper 2014
Konsumenten heute: allzeit und überall vernetzt - BVM - Kongress der deutschen MarKtforschung 19. und 20. Mai 2014
Consumer-Targeting 2.0:
Cross-Channel-Zielgruppenansprache
Anna Cremers, Director Data Science, nugg.ad

Konsumenten zu verstehen und effektiv zu erreichen ist in einer immer mehr vernetzten
Multi-Channel-Welt eine zentrale Herausforderung. Klassische, eindimensionale Kontakt-
punkte werden seltener, der Konsument ist mittlerweile auf allen Kanälen unterwegs. Kauf-
entscheidungsprozesse werden längst nicht mehr linear durch ein Medium begleitet. Die
Herausforderung ist daher, über verschiedene Schnittstellen und Kanäle möglichst viel über
Konsumenten zu erfahren, diese Informationen datenschutzkonform zu verknüpfen und in
intelligente, datengetriebene Marketing-Kommunikation zu übertragen. Das Internet – sowohl
stationär als auch mobil – wird im Kaufentscheidungsprozess immer wichtiger, wie die Steige-
rung der Online-Werbespendings illustriert.

Für die Betrachtung von crossmedialen Effekten lassen               Multi-Channel-Modeling: Werbekontaktoptimierung
sich zwei Richtungen grob voneinander abgrenzen:                    für TV und Online
                                                                    Online wird im Media-Mix immer relevanter. Insbeson-
 	Für einen optimalen Marketing-Budget-Einsatz ist                 dere Video- und Rich-Media-Formate gewinnen enorm
   die zentrale Frage, wie der perfekte Media-Mix zwi-              an Bedeutung. Daher liegt es nahe, neue Werbekonzep-
   schen einzelnen Kanälen aussieht. Hierfür muss man               te zu entwickeln, die Online- und Offline-Bewegtbild-
   Wechselwirkungen und Mediastrategien über einzel-                Kanäle für eine optimale Werbeaussteuerung gemein-
   ne Kanäle verstehen und aufeinander abstimmen. Es                sam berücksichtigen.
   müssen Methoden und Technologien weiterentwi-
   ckelt werden, die eine crossmediale Ansprache über               Hierbei gibt es grundsätzlich zwei Optimierungsstrate-
   diverse Kanäle hinweg ermöglichen.                               gien:
                                                                     	Ansprache von Nutzern, die über TV notorisch
 	Konsumenten bzw. Zielgruppen müssen in verschie-                    schlecht erreichbar sind
   denen Kanälen auf die gleiche Weise ansprechbar                   	Die gezielte Wiederansprache von Zielgruppen in
   sein. Hierfür sind einheitliche Zielgruppendefinitio-               beiden Kanälen
   nen unabdingbar. Auch Personas, die für bestimmte
   Kanäle entwickelt wurden, wie z.B. die Sinus-Mili-               Für die Weiterentwicklung dieses „TV Optimiser”-Ver-
   eus®, müssen für alle Kanäle verfügbar sein.                     fahrens bedarf es Datengrundlagen aus beiden Kanälen
                                                                    und neuer Media-Steuerungsmechanismen.
Für die genannten Aspekte crossmedialer Konsumen-
tenforschung und darauf aufbauender Zielgruppen-An-                 Das Konzept der Zielgruppenansprache hat sich im TV
sprache hat nugg.ad Konzepte entwickelt, die es ermög-              durchgesetzt, auch online ist dies z.B. mit Predictive
lichen, diese Wege besser zu beschreiten.                           Targeting möglich. Den „Missing Link” zwischen den

                Anna Cremers
                Director Statistics & Insights, nugg.ad AG, Berlin, verantwortet die Bereiche Statistik und Research bei nugg.ad.
                Die studierte Statistikerin ist ausgewiesene Spezialistin für Data-Mining und -Modelling.

                                                                                                                          BVM Best Paper 2014 9
Konsumenten heute: allzeit und überall vernetzt - BVM - Kongress der deutschen MarKtforschung 19. und 20. Mai 2014
Kanälen gilt es, mit durchdachten Datenkonzepten zu         ermöglichen es erstmals, eine komplexe Typologie direkt
           füllen. Hierfür eignen sich Datenquellen, die auf Single-   über verschiedene Kanäle hinweg anzusprechen.
           Source-Konzepten basieren und es ermöglichen, Nutzer
           zwischen zwei Kanälen direkt zu verlinken und diese In-     Ausblick
           formation datenschutzkonform als Stichproben-Grund-         Eine grundlegende Änderung der letzten Jahre ist der
           lage für die weitere Ansprache zu nutzen.                   immer stärker vernetzte Konsument 2.0, für den Kon-
                                                                       zepte und Modelle entwickelt werden müssen, die
           Eine weitere Möglichkeit zur Multi-Channel-Ansprache        dessen Lebenswirklichkeit abbilden. Neben den be-
           ist zum Beispiel, die Nutzung des Komplementär-Me-          schriebenen Ansätzen kommen in der Praxis weitere
           diums (in diesem Fall TV) marktforschungsbasiert zu         Methoden zum Einsatz, um z.B. die Vereinheitlichung
           erfragen und darauf aufbauend statistische Modelle          von Online- und Mobile-/ oder Dialogmarketingziel-
           zu entwickeln, die sender- oder zeitzonenbasierte Nut-      gruppen voranzubringen.
           zung abbilden.
                                                                       Wichtigste Bestandteile hierbei sind die Aufhebung von
           Multiple Channels – One Target: Beispiel Digitale           Medienbrüchen und die Etablierung von Konsumenten-
           Sinus-Milieus®                                              und Zielgruppenkonzepten, die einen holistischen Blick
           Für einen holistischen Blick auf Konsumenten ist eine       erlauben – von der Konsumentenforschung bis hin zur
           essenzielle Bedingung, dass in allen Betrachtungs- und      -ansprache. Ideal eignen sich Modelle, die Medien und
           Ansprachekanälen die gleichen Zielgruppen und Seg-          Zielgruppen in ein einheitliches Universum übersetzen.
           mente vorliegen. Nur so kann eine sinnvolle Betrach-        Wichtigste Bedingung dafür ist eine Datenbasis, die
           tung, Evaluation und Ansprache für immer agilere und        Medienkanäle direkt oder indirekt miteinander verbin-
           weniger linear entscheidende Konsumenten erfolgen.          den und diese Daten anhand statistischer Modelle in
                                                                       generische Ableitungen und Ansprachemöglichkeiten
           Für klassische, soziodemographische Merkmale ist dies       übersetzen kann.
           sicherlich der Fall, schwieriger wird es bei Merkmalen
           wie Einstellungen oder Interessen. Die größte Heraus-       Eine umfassende, vereinheitlichte Bereitstellung von
           forderung besteht jedoch an dem Punkt, an dem nicht         Zielgruppen in unterschiedlichen Kanälen ist das not-
           nur einzelne Merkmale betrachtet werden, sondern ein        wendige Schlüsselelement, damit die medienübergrei-
           eigener Forschungs- und Betrachtungsansatz zugrun-          fende Planung, Realisierung und Evaluation von Mar-
           de liegt, wie zum Beispiel bei den Sinus-Milieus®.          ketingmaßnahmen auf einer gemeinsamen Grundlage
                                                                       stattfinden kann. Bewährte, etablierte Zielgruppen-
           Die Sinus-Milieus® sind ein wissenschaftlich fundiertes     standards können damit besser crossmedial eingesetzt
           und international anerkanntes Zielgruppenmodell, das        werden. Die neuen Ansätze haben das Potenzial, die
           die realen Lebenswelten der Menschen betrachtet und         Komplexität der Multichannel-Kommunikation zu redu-
           diese nach ihrer Grundhaltung und Lebensweise grup-         zieren und die Werbeeffizienz auf eine neue Qualitäts-
           piert. Die Ansprache dieser Milieus war bislang auf klas-   stufe zu bringen. 
           sische Medienkanäle begrenzt – ein Hindernis für eine
           erfolgreiche Cross-Channel-Ansprache.

           Gemeinsam haben das Sinus-Institut und nugg.ad einen
           Ansatz entwickelt, Digitale Sinus-Milieus® für Online-
           Mediaplanung und -forschung verfügbar zu machen.
           Hierfür wurden Indikator-Fragen in Onlinebefragungen
           integriert. Sobald eine ausreichende Menge an Fällen ge-
           sammelt wurde, konnte die Sinus-Milieu-Bildung durch
           das Sinus-Institut vorgenommen werden. Diese Informa-
           tionen wurden nugg.ad zur Verfügung gestellt, die darauf
           aufbauend Targeting-Modelle entwickelten. Die Modelle
           werden von nugg.ad und dem Sinus-Institut kontinu-
           ierlich evaluiert. Nach erfolgreichen Tests stehen diese
           Zielgruppen-Modelle nun auch online zur Verfügung und

10 BVM Best Paper 2014
Die Motor-Talk-Insight-Communitys
Tom Kedor und Anja Decker, MOTOR-TALK, über den Weg der Marken zur Automobil-­
Forschung 3.0 im „Agilen Diskurs” mit der Motor-Talk-Community

Europas größte Automobil-Community möchte mit der Etablierung seiner Insight-Communitys
das kollektive Wissen der bislang selbstreferenziell kommunizierenden Diskussionsforen für
Automobilhersteller nutzbar machen. Für alle Beteiligten bedeutet dies ein Umdenken. Es er-
öffnet aber auch neue, ungeahnte Chancen.

Seit 2001 tauschen sich auf Motor-Talk.de, der größ-              Nutzerinitiierte Themen können ein Innovationspo-
ten deutschsprachigen Online-Community im Auto-                   tenzial enthalten, das mit vorab beschlossenen Erhe-
mobilsektor, Autofahrer und Autointeressierte aus.                bungsinstrumenten der klassischen Marktforschung
Das Forum bietet mit fast 2,5 Mio. Mitgliedern, 4,3 Mio.          womöglich nicht abgebildet worden wäre. So schlägt
Unique-Usern und monatlich 16 Mio. Besuchern einen                der Nutzer adasaga in einem Thread nicht ganz ernst
Querschnitt durch ganz „Autodeutschland”: von Gele-               gemeint vor, Fahrzeuge in Anlehnung an die Dokusoap
genheitsnutzern und Hilfesuchenden über Autoexper-                „Frauentausch” temporär zweckbezogen zu tauschen
ten bis hin zu Kaufinteressierten.                                (siehe Abbildung 1). Im Verlauf der 32 geposteten Ant-
                                                                  worten entspinnt sich in diesem Diskurs der Funke ei-
Unter der Devise „Motor-Talk forscht” fördert die Web-            ner nicht ganz abwegigen Geschäftsidee, Autos für be-
site seit 2009 den Austausch zwischen Automobilinte-              stimmte Zwecke vorübergehend zu tauschen.
ressierten und Automobilherstellern. Kundenfeedback
soll dort ankommen, wo es etwas bewirken kann: bei                In die Insight-Communitys eingeladene Nutzer beste-
den Herstellern. Zu diesem Zweck werden Insight-Com-              chen durch ihre intrinsisch motivierte Kommunikation.
munitys ins Leben gerufen.                                        Sie nehmen an einer Diskussion teil, weil sie das Thema
                                                                  interessiert und weil sie mit Gleichgesinnten interagie-
Das Erbe der Online-Community darf dabei nicht in Ver-            ren können, um Wissen zu teilen oder zu erlangen. Die
gessenheit geraten. Es bedarf eines „Agilen Diskurses”,           wichtigsten Incentives der Insight-Communitys sind
bei dem der Kunde zum Kooperationspartner wird. Das               eine interessant formulierte Frage und möglichst nütz-
heißt, dass er sowohl Gewohnheiten und Etikette der               liche Antworten. Diese Tendenz zum selbstreferenziel-
Community achtet als auch deren nonverbale Kom-                   len System können sich Insight-Communitys zunutze
munikationsformen adaptiert. Sinnhaftigkeit wird hier             machen. Es bedarf dann keiner extrinsischen Beloh-
keinesfalls kontextfrei unterstellt, vielmehr wird eine           nungsmechanismen.
Community-spezifische Hermeneutik entwickelt.

                  Tom Kedor                                                          Anja Decker
                    Geschäftsführer, MOTOR-TALK GmbH, Berlin,                           Leiterin der Forschungsabteilung, MOTOR-
                    begann seine Karriere im „Dot-Com-Hype”                             TALK GmbH, Berlin, hat nach ihrem Studium
                    der ersten Stunde – in Berlin, damals wie                           der Soziologie in Wien und Berlin mehr
                    heute Dreh- und Angelpunkt der Internetsze-                         als zehn Jahre bei der GfK gearbeitet. Sie
                    ne. Er kennt sowohl den Agentur- als auch                           gründete und leitete dort den analytischen
den Unternehmensblickwinkel der „New Economy” und war             Bereich für Marktforschung. Während dieser Tätigkeit entwi-
viele Jahre als Technischer Direktor bei der Multimediaagentur    ckelte sie zahlreiche Conjoint-Ansätze. Ab Januar 2012 war Anja
Aperto AG und danach bei der optivo tätig. Kedor ist Dozent an    Decker in der LDB Gruppe in leitender Position im Bereich bi/
der Social Media Akademie.                                        statistics tätig. Seit März 2014 baut sie die Forschungsabtei-
                                                                  lung der MOTOR-TALK aus und entwickelt hier Strategien für
                                                                  Forschungsansätze und -methoden zwischen der Automobil­
                                                                  industrie und den Autofahrern.

                                                                                                                     BVM Best Paper 2014 11
Abbildung 1: Diskurs zum Thema „Autotausch à la Frauentausch” auf Motor-Talk

                                                                  Unterstützt wird die selbstreferenzielle Kommunika-
                                                                  tionsdynamik von erlebnisorientierten Offline-Events
                                                                  einer Marke. So öffnet sich die ansonsten geschlosse-
                                                                  ne kommunikative Welt der Insight-Communitys für
                                                                  äußere Stimuli. Das ermöglicht Automobilherstellern,
                                                                  gemeinsam mit den Nutzern für weitere Kommunika-
                                                                  tion im Sinne eines lebendigen Diskurses zu sorgen.
                                                                  Diesen Zweck erfüllen z.B. Car-Camps oder moderierte
                                                                  Besuche einer Vertragswerkstatt, eines Designlabs oder
                                                                  einer Forschungseinrichtung wie der Mercedes-Benz-
                                                                  Kältekammer.

                                                                  Die Kommunikation auf Motor-Talk erscheint Ungeüb-
                                                                  ten wie eine eigene Sprache, weil sie nicht immer klaren
           Abbildung 2: Kommunikationstypen auf Motor-Talk        Regeln folgt. Es sind weniger spezielle Begriffe, Abkür-

           Abbildung 3: Beispiel für intersubjektiv kontextabhängig variierende Nutzungen
           nonverbaler Mittel

12 BVM Best Paper 2014
Abbildung 4: Smileys transportieren Stimmungen und sind bekannte Synonyme in der
Motor-Talk-Sprachwelt

zungen oder orthografische Fehler, die eine Reduktion     oder Freundlichkeit, oder sie stehen, wie das zweite
der Komplexität für außenstehende Beobachter er-          Smiley in Abbildung 4, für ein Synonym, den „Freundli-
schweren. Es sind vielmehr intersubjektiv kontextab-      chen”. Hiermit etikettieren Motor-Talker den Servicebe-
hängig variierende Nutzungen nonverbaler Mittel, wie      rater einer KfZ-Werkstatt.
z. B. Smileys.
                                                          Die Dynamik, mit der Themen von Motor-Talkern ge-
In den Zitaten in Abbildung 3 und 4 transportieren Smi-   startet und beantwortet werden, ähnelt natürlichen
leys entweder unterschiedliche Stimmungen wie Ironie      Wachstumsprozessen, so dass deren Ausbreitungs-

Abbildung 5: Ausbreitungsgeschwindigkeit von Inhalten auf Motor-Talk

                                                                                                     BVM Best Paper 2014 13
geschwindigkeit modelliert und damit prognostiziert
           werden kann. Die Exponentialfunktion in Abbildung 5
           vermittelt eine Vorstellung darüber, welche Unmengen
           wertvollen Wissens in der Community seit Marktein-
           führung des Golf VI diskursiv erarbeitet wurden. Und
           wie gut es wäre, dieses Wissen in die Entwicklung von
           Folgemodellen einfließen zu lassen. Schwellenwer-
           te kritischer Massen bzw. der Zeitpunkt, ab wann die
           Ausbreitung imageschädigender Inhalte unkontrollier-
           bar wird, lassen sich vorhersagen und damit präventiv
           steuern, indem Hersteller ggf. moderierend in Diskussi-
           onen eingreifen.

           Motor-Talk liefert mit seinen Insight-Communitys ein
           lebendiges Beispiel dafür, dass Automobilhersteller der
           wachsenden Bedeutung unstrukturierter Textdaten im
           Web 3.0, dem semantic web, gerecht werden wollen. Die
           interaktive Vernetzung der Konsumenten über mobi-
           le Endgeräte sorgt für eine permanente Verfügbarkeit
           kollektiven Wissens in Echtzeit und beeinflusst heute
           Kaufentscheidungen sowohl in der Online- wie auch in
           der Offline-Welt. Wollen Marken die Dynamik der Er-
           zeugung kollektiven Wissens in Online-Communitys für
           sich nutzen, müssen sie mit den Nutzern in den Agilen
           Diskurs treten.

14 BVM Best Paper 2014
Ein Blick in die Zukunft von Choice Modelling
Dr. Thomas Liehr, Dr. Markus Eberl und Bernd Großerohde, TNS Infratest, zu neuen Verfahren
der Prognose realer Kaufentscheidungen von Konsumenten

Der Konsument von heute ist über vielfältige Kanäle online und offline parallel informiert,
beeinflusst und sozial vernetzt. Damit ist er in seinem Entscheidungsverhalten einer zuneh-
menden Fülle von Einflussfaktoren ausgesetzt. Die Erkenntnisse aus dem Forschungsgebiet
Behavioural Economics (BE) zeigen, dass das rationale und nutzenmaximierende Abwägen aller
Optionen aus der klassischen Ökonomie durch die zunehmende Komplexität ein wissenschaft-
liches Artefakt darstellen muss. Die Autoren stellen neue Verfahren vor, die den Kontext von
Kaufentscheidungen auf individueller Ebene in die Untersuchungen mit einbeziehen und auf
Discrete Choice Models (DCMs) beruhen.

Der zeitgenössische Konsument: Reales Entschei-                   Die Kernaussagen dieser Arbeiten kann man grob ver-
dungsverhalten aus der Perspektive von Behavioural                einfacht in folgendem Rahmen zusammenfassen: Die
Economics                                                         Leistungen des menschlichen Gehirns sind ungemein
In der Sichtweise von BE funktioniert menschliches Ent-           beeindruckend, unterliegen aber dennoch Grenzen, was
scheidungsverhalten nicht mechanistisch abwägend,                 die Verarbeitung von Komplexität anbelangt. Relevante
sondern primär komplexitätsreduzierend – insbesonde-              Informationen in Bezug auf Kaufentscheidungssituati-
re auch im Kontext unvollständiger (weil in der Realität          onen sind aber in besonderem Maße von hoher Kom-
nicht zu bändigender) Information. Die Publikationsflut           plexität geprägt (unterschiedliche Einflussfaktoren,
im Themenfeld Behavioural Economics gibt sehr gute                multiple Informationsquellen etc.). Darüber hinaus bil-
Beispiele und Einblicke in die Mechanismen, Heuristiken           den besonders auch unvollständige Informationen (s.
und Effekte, die hierbei zum Einsatz kommen. Wohlge-              Gigerenzer, 2000) aus Sicht des Konsumenten ein Cha-
merkt handelt es sich dabei um Schlaglichter und we-              rakteristikum derartiger Situationen. Damit stellt sich
niger einen in sich abgeschlossenen und vollständigen             dem menschlichen Entscheidungsverhalten die doppel-
Theorierahmen menschlichen Entscheidungsverhal-                   te Herausforderung, in solch komplexen und informativ
tens. Als Grundlage für die vorliegende Methodeninno-             unvollständigen Situationen dennoch verlässliche Ent-
vation dienten insbesondere die Arbeiten von Gigeren-             scheidungen mit einem den Umständen entsprechend
zer, Ariely und Kahneman (siehe Literaturverzeichnis).            vertretbaren Zeit- und Arbeitsaufwand zu treffen. Die

                  Dr. Thomas Liehr                             Dr. Markus Eberl                              Bernd Großerohde
                    Senior Director                             Leiter des Bereichs                          Betreuer, Business
                    Innovation & Product                        Applied Marketing                            Solution ValueMa-
                    Development, Mitglied                       Science (AMS), TNS                           nager, TNS Infratest
                    im TNS Global IPD                           Infratest GmbH, Mün-                         GmbH, München,
                    Steering Commit-                            chen, ist promovierter                       arbeitet seit 14 Jahren
tee, TNS Infratest GmbH, München, ist       Betriebswirt und hat viele Jahre Erfahrung   in der Forschung für Innovationen und
seit über 20 Jahren in der Marketing-       in der Marktforschung und Advanced           Produktentwicklungen. Nach dem Studi-
forschung tätig und hat in dieser Zeit      Analytics. Zu seinen früheren Tätigkei-      um der Kommunikationswissenschaften
Entwicklungen in den Bereichen Data-        ten zählen unter anderem Solutions-          an der FU Berlin arbeitete er zunächst
Mining, Forecasting, Segmentierung und      Architecting-Positionen bei SPSS und IBM     mehrere Jahre als Kundenberater bei
Innovationsforschung aktiv vorangetrie-     Deutschland.                                 Research International.
ben und vielfach dazu veröffentlicht. Er
studierte Europäische Betriebswirtschaft
in Reims, Mailand und Reutlingen.

                                                                                                                      BVM Best Paper 2014 15
sich hieraus ergebenden Vereinfachungsstrategien und                   Was ergibt sich daraus für State-of-the-Art-Markt-
           Heuristiken lassen sich salopp umschreiben mit „get the                forschungsdesigns zur Abbildung realistischen Kauf-
           important bits right and the rest will follow” oder auch               entscheidungsverhaltens?
           „Mut zur Lücke”. Dabei mag das resultierende Verhalten                 Aus (markt)forscherischer Perspektive ist hier rele-
           für Außenstehende zwar irrational erscheinen, ist aber                 vant, dass dem individuellen und situativen Kontext
           dennoch keineswegs zufällig (s. besonders Ariely, 2010).               der Kaufentscheidung durch diese Erkenntnisse eine
           Vielmehr erlaubt ein tieferes Verständnis der hierbei                  zunehmende Bedeutung zukommt. Dies kann als das
           zum Einsatz kommenden Mechanismen und Effek-                           neue (BE-konforme) Paradigma der Marktforschung im
           te eine Antizipation des Entscheidungsverhaltens und                   Allgemeinen und der Modellierung von Entscheidungs-
           bietet somit auch Möglichkeiten einer entsprechenden                   verhalten (Choice Modelling) im Speziellen angesehen
           Beeinflussung.                                                         werden: Es reicht nicht aus, Einstellungen und Präfe-
                                                                                  renzen von Konsumenten zu kennen, um deren Ent-
           Dabei ist es insbesondere Gigerenzer (2000 und 2010)                   scheidungsverhalten präzise simulieren und prognos-
           ein Anliegen darauf hinzuweisen, dass derart getroffe-                 tizieren zu können. Für realistische Prognosen muss
           ne Entscheidungen sich keinesfalls als suboptimal aus                  vielmehr der Kontext der individuellen Entscheidungs-
           der Interessenslage der Betroffenen heraus darstellen                  situation direkt mit einbezogen und somit auch im Un-
           müssen. Im Gegenteil – solche Strategien haben sich als                tersuchungsdesign berücksichtigt werden. Dies ist die
           evolutorisch überaus erfolgreich erwiesen. Eine weitere                Herausforderung, der sich Methoden des Choice Model-
           Fehlinterpretation im Zusammenhang mit Behavioural                     ling der nächsten Generation stellen müssen.
           Economics geht dahin zu postulieren, alle Kaufentschei-
           dungen seien ausschließlich emotional basiert („Bauch-                 Zwar konnten auch Vertreter traditioneller Conjoint-
           gefühl”). Wie sich besonders aus Kahnemans Arbeiten                    Methoden durchaus solide Ergebnisse in der Simula-
           (2012) ablesen lässt, ist die Beteiligung von rationalen               tion von Kaufentscheidungen erzielen. Allerdings ist
           wie auch emotionalen Kriterien und Mechanismen stark                   hierfür ein großer Erfahrungsschatz für die Kalibrierung
           von der Art der Entscheidungssituation abhängig (In-                   (sprich: Anpassung des Simulationsmodells an realisti-
           volvement, Risiko etc.).                                               sche Marktbedingungen und -dynamiken) notwendig.
                                                                                  Die Behavioural-Economics-Forschung zeigt jedoch,
           Was lässt sich vor diesem Hintergrund zu Choice Mo-                    dass trotz inkrementeller Verbesserungen und Add-
           dels1 und ihrer Kompatibilität zu den Prämissen von                    ons der nächste (Quanten-)Sprung in der Abbildung
           Behavioural Economics schlussfolgern? Hier gilt es                     und Prognose realen Kaufverhaltens nur dann gelingen
           festzuhalten, dass systematische Choice-Experimente                    kann, wenn der Kontext von Kaufentscheidungen in
           ein wesentliches Mittel speziell in der BE-Literatur dar-              den Modellen konsequent umgesetzt wird. Die neuere
           stellen, um Effekte und Heuristiken aufzudecken und                    Verfahrensfamilie der Discrete Choice Models (DCMs)
           nachzuweisen (s. hierzu besonders Ariely, 2010 sowie                   bietet hierfür eine sehr solide Ausgangsbasis, da DCMs
           Kahneman, 2012). Sie können damit als keineswegs a                     selbst im BE-Umfeld entstanden sind.2 Sie basieren auf
           priori BE-inkompatibel eingestuft werden. Vielmehr                     dem Gedankengut und auf Publikationen von Daniel
           kommt es darauf an, den Kontext der Choice-Experi-                     McFadden, der hierfür im Jahr 2000 den Nobelpreis für
           mente im Sinne eines realistischen Framings vorzuneh-                  Wirtschaftswissenschaften erhalten hat. Somit werden
           men, wie wir im Folgenden zeigen werden.                               durch DCMs bereits einige der Schwächen traditioneller
                                                                                  Conjoints aus BE-Sicht vermieden.

           1C
             hoice Models als Oberbegriff für Conjoint-Verfahren und andere Choice-Experimente, wie z.B. Discrete Choice Models

           2 Discrete-Choice-Experimente unterscheiden sich von Choice-based Conjoint-Experimenten insbesondere durch die Möglichkeit, sogenannte
              alternativenspezifische Designs verwenden zu können. Alternativenspezifische Designs ermöglichen z.B. für verschiedene Produkte unter-
              schiedliche Attribute und Ausprägungen zu verwenden. Die dafür erforderlichen experimentellen Designs sind in ihrer Konzeption um ein
              Vielfaches komplexer und benötigen eine sehr viel intensivere Entwicklungsphase. Hierbei muss beachtet werden, dass durch die einzelnen
              Auswahlsituationen noch ausreichend individuelle Information erfasst wird, um mittels des Verfahrens der hierarchischen Bayes-Regression
              aussagekräftige Nutzenwerte schätzen zu können.

16 BVM Best Paper 2014
Der Einbezug des individuellen und situativen Ent-                      dadurch einen realen mentalen Kontext der Entschei-
scheidungskontextes in Choice Models                                    dungssituation ermöglichen. Für FMCG betrifft dies
Die Verwendung von DCMs in der Realität geht jedoch                     beispielsweise die Dimensionen „Auto-Pilot” vs. sorg-
nicht weit genug: In der Regel wird das zugrunde liegen-                fältigere Auswahl am Regal, das Involvement in die Ka-
de experimentelle Design zufällig gewählt und liegt spä-                tegorie oder die Offenheit und Aufmerksamkeit gegen-
testens zu Beginn des Choice-Interviews fest:                           über neuen Produkten. Für die Marktforscher bedeutet
                                                                        ein standardisiertes Set an Fragen benchmarkfähiges
1. Ein klassisches DCM-Design vernachlässigt das indi-                 Wissen über das Entscheidungsverhalten in ihrem kon-
    viduelle Relevant-Set und zeigt eine Vielzahl von Pro-              kreten Markt. Zunächst losgelöst von den Techniken der
    dukten, die für Befragte nicht relevant sind                        Choice-Modelle können wir so ermitteln, welche Rolle
                                                                        beispielsweise Preis und Marke zueinander im Markt
2. Ein klassisches DCM-Design vernachlässigt das indi-                 spielen und wie habitualisiert Kaufentscheidungen ab-
    viduelle Entscheidungsverhalten (also im FMCG-Be-                   laufen. Diese Beschreibung der Marktlandschaft und
    reich beispielsweise Marken- und Kategoriewissen,                   das In-Kontext-Setzen könnte viele Studien verbessern,
    Involvement, Bedeutung des Preises für die Kaufent-                 die auf klassischen DCM-Ansätzen basieren.
    scheidung3). Dies gilt nicht nur für die Startaufstellung
    der ersten Auswahl-Tasks: Ein klassisches DCM nutzt                 Das situative Wissen findet ganz entscheidende An-
    auch die Information über Präferenzen nicht, die der                wendung schon zur Echtzeit des Interviews. Hierfür
    Befragte durch seine Auswahlen schon während des                    wurde ein adaptiver Choice-Modelling-Algorithmus
    Interviews preisgibt.                                               neu entwickelt, der experimentelle Designs in Echtzeit
                                                                        zusammenstellt und die situativen Faktoren (wie Dis-
Der von den Autoren entwickelte Methodenansatz der                      tribution, Marken-Prädisposition sowie State-of-Mind-
nächsten Generation geht auf der Basis von DCMs einen                   Faktoren) des standardisierten Fragesets und des indi-
entscheidenden Schritt weiter, indem dem BE-Postulat                    viduellen Relevant-Sets berücksichtigt.4 Individuelles
des individuellen Entscheidungskontextes konsequent                     Relevant-Set bedeutet im konkreten Beispiel einer
Rechnung getragen wird – insbesondere durch Berück-                     Studie mit 45 Produkten und jeweils 5 Preispunkten5,
sichtigung der Faktoren „State of Mind”, „individuelles                 dass ein weiterentwickelter DCM-Ansatz statt 3,35
Relevant-Set” und „individuelles Entscheidungsverhal-                   Millionen möglichen Kombinationen nur einen „Such-
ten”.                                                                   raum” von ca. 390.000 Kombinationen umfasst. Wenn
                                                                        außerdem die Informationen über Markenbekanntheit
State of Mind bedeutet hier, dass reales Entscheidungs-                 und -treue sowie die Einstellungen gegenüber innova-
verhalten nur dann reproduziert werden kann, wenn die                   tiven Neuprodukten hinzugezogen werden, dann redu-
Befragten im Interview ihr reales Entscheidungsverhal-                  ziert sich der Suchraum nochmals beträchtlich auf nur
ten abrufen können. Das bedeutet also, dass sie sich die                noch 25.000 Konzepte. Das Choice-Modell kann somit
Kerndimensionen ihrer Kaufentscheidung in der jeweils                   mehr tatsächlich relevante und „echte” (nicht durch das
speziellen Produktkategorie vergegenwärtigen müssen.                    Interview induzierte) Informationen erfragen. Gleich-
Dafür wurden standardisierte und kategoriespezifische                   zeitig werden aber immer wieder Konzepte mit einge-
Fragensets entwickelt und getestet, die den Befrag-                     streut, die eigentlich nicht im „Consideration-Set” des
ten diese Kerndimensionen in Erinnerung rufen und                       Befragten stehen, aber besonders attraktive Angebote

3 Insbesondere ist zu beachten, dass durch das erstmalige Zeigen von Preisen für Produkte in der Auswahlsituation unter Umständen vorher
   beim Befragten gar nicht vorhandenes Preiswissen künstlich induziert wird, was zu einer verzerrten Schätzung des Preisattributs beiträgt.
   An einem konkreten Beispiel kann dies bedeuten: Wenn wir aus den State-of-Mind-Fragen gelernt haben, dass die Befragungsper-
   son nichts über das Preisniveau im Markt weiß (oder es dadurch offenbart hat, dass sie sich dabei weit verschätzt), würden wir für
   die ersten Choice-Tasks eine größere Spanne beim Preisattribut zulassen als bei Personen, die schon viel Preiswissen haben. Ana-
   log werden die ersten (und alle weiteren) Choice-Tasks auch von den anderen situativen Faktoren individuell abhängig berechnet.
   Dies wird an einem Beispiel vorgerechnet, in dem nur Produkt/Marke und Preis untersucht werden – wie es häufig in FMCG-Märkten vor-
   kommt. Analoge Aussagen können freilich auch für deutlich komplexere Choice-Szenarien getroffen werden, wie sie z.B. in Tarifoptimierungen
   der Telekommunikationsindustrie oder bei komplexen High-Involvement-Produkten der Automobilbranche vorkommen. Die Zahl der Attribute
   und Ausprägungen im Modell ist größer, die Reduktion durch die Nutzung des individuellen Relevant-Sets kann aber genauso gezeigt werden.
   Darunter sind Produkte zu verstehen, deren angenommene Nutzenwertsumme relativ groß ist und die daher für einen rationalen Entscheider
   als potenzielle Substitute infrage kommen müssten.

                                                                                                                              BVM Best Paper 2014 17
darstellen,6 die dem Befragten aufzeigen, wie attraktiv    Literatur
                                                                      Ariely, Dan: Predictably Irrational, Revised: The Hidden Forces That
           Angebote außerhalb seines „Relevant-Sets” sein kön-
                                                                      Shape Our Decisions; Harper (2010)
           nen. Dadurch wird gewährleistet, dass kein Ausschluss
                                                                      Ariely, Dan: The (Honest) Truth About Dishonesty: How We Lie to Eve-
           von Produkten ohne Trade-off-Abfrage erfolgt.
                                                                      ryone - Especially Ourselves; Harpercollins UK (2013)

                                                                      Gigerenzer, Gerd: Rationality for Mortals : How People Cope with
           Durch die Berücksichtigung von individuellem State
                                                                      Uncertainty; Oxford University Press, USA (2010)
           of Mind und Relevant-Set sind die angebotenen Aus-
                                                                      Gigerenzer, Gerd; Hertwig, Ralph; Pachur, Thorsten (Herausgeber):
           wahloptionen für den Befragten von Beginn an realis-
                                                                      Heuristics: The Foundations of Adaptive Behavior; Oxford University
           tisch und damit relevant. Außerdem lernt die Metho-        Press, USA (2011)
           de die individuellen Präferenzen im Zuge der Abfrage
                                                                      Gigerenzer, Gerd; Todd , Peter M.: Simple Heuristics That Make Us
           (d.h. in Echtzeit während des Interviews!) zunehmend       Smart; Oxford University Press, USA (2000)
           genauer einzuschätzen. Hierfür wurden die bisher ver-      Kahneman, Daniel: Thinking, Fast and Slow; Penguin (2012)
           fügbaren adaptiven Algorithmen weiterentwickelt, um
                                                                      Kurz, Peter; Sikorski, Andrzej: Application Specific Communication
           für jeden einzelnen Befragungsbildschirm ein möglichst     Stack for Computationally Intensive Market Research IIS”; Procee-
           relevantes und interessantes Alternativenset für den       dings of the 14th International Conference on Business Information
           aktuell Befragten zu generieren. (Methodisch basieren      Systems; pp. 207-217 (2011)
           diese Vorhersagen auf den Antworten auf die vorherge-      McFadden, Daniel L.: Economic Choices. No. 2000-6; Nobel Prize Com-
           henden Choice Tasks, die Berechnungen gehen auf die        mittee (2000)
           Arbeiten von Toubia et al., 2003 sowie Kurz und Sikor-     Toubia, Olivier; Simester, Duncan I.; Hauser, John R.; Dahan, Ely: Fast
           ski, 2011 zurück.). Somit können die vorgelegten Aus-      Polyhedral Adaptive Conjoint Estimation; Marketing Science; Vol. 22;
                                                                      No. 3; pp. 273-303 (2003)
           wahloptionen immer besser auf die maßgeblichen Prä-
           ferenzen des Befragten angepasst werden. Dank der
           „intelligenten” und relevanten Abfrage legen die Befrag-
           ten ein sehr hohes Involvement an den Tag, Antworten
           werden realistischer und die Datenqualität nimmt bei
           kürzeren Befragungszeiten deutlich zu.

           In ihrem Vortrag beim Kongress der Deutschen Markt-
           forschung im Mai 2014 führten die Autoren außerdem
           ein Live-Beispiel eines solchen adaptiven Discrete-
           Choice-Interviews der nächsten Generation vor, um
           dem Auditorium einen Eindruck über die realitätsnahe
           Abfragesituation durch Berücksichtigung von State of
           Mind und Relevant-Set zu vermitteln. Ihr Fazit ist: Der
           Methodenansatz „Discrete-Choice-Modelle der nächs-
           ten Generation” trägt dem realen Entscheidungsverhal-
           ten des zeitgenössischen Konsumenten auf valide Art
           und Weise Rechnung. Dadurch wird das Handwerks-
           zeug unserer Branche im Einklang mit den Erkenntnis-
           sen von Behavioural Economics einen entscheidenden
           Schritt weiterentwickelt. 

18 BVM Best Paper 2014
Unbewusst im Netz: Indepth-Screening
– eine neuartige Kombination von intelli-
genter Websoftware und Tiefenexploration
Jens Lönneker und Sarah Mergelsberg, rheingold salon, sowie Dr. Stefan Dahlem und Alexander
Potgeter, ZMG Zeitungs Marketing Gesellschaft

Über unser individuelles Surfen im Internet legt sich schnell der Schleier des Vergessens. Meist
können wir uns bereits kurz danach kaum an Details unserer Internetbesuche erinnern. Die Mo-
tivation der Internetaktivitäten ist tiefenpsychologisch bisher schlecht erforscht. Mit einer von
rheingold salon entwickelten neuartigen Software lassen sich alltägliche Internetaktivitäten so
messen und „mitprotokollieren”, dass sie auch für Tiefenexplorationen zugänglich werden.

Mit Einverständnis der Probanden werden dabei deren                    fe dieser Methode ergeben viele interessante Parallelen
Online-Aktivitäten nach vereinbarten Vorgaben aufge-                   zu Tagträumen. Marketing und Kommunikation erhal-
zeichnet. Es werden Screenshots von der aufgesuch-                     ten dadurch eine deutlich verbesserte Kenntnis darüber,
ten Seite erstellt, um das Gesehene auch bei Pages mit                 wie die Nutzer wirklich „ticken” – also über Nutzungs-
wechselndem Content zu erfassen. Die Software stellt                   Motivationen, Entscheidungsprozesse und natürlich
somit ein „bebildertes” Surfprotokoll bereit, durch das                über psychologische Triggers & Barriers.
sich die Probanden wieder erinnern können. Mit einem
solchen objektiven Protokoll können auch „vergessene”                  Die bisherigen mit dem IP-Screening-Verfahren gewon-
und rationalisierte bzw. „zensierte” Aktivitäten in ihrem              nenen Erkenntnisse machen deutlich, dass die Nut-
tatsächlichen Umfang und ihrer Bedeutung zu Erleben                    zungsformen des Internets psychologische Profile mit
und Motivation exploriert werden. Die Analysen mit Hil-                eigenen Regeln und Gesetzmäßigkeiten entwickeln.

                   Jens Lönneker                                                           Dr. Stefan Dahlem
                   Managing Partner, rheingold salon GmbH und                               verantwortlich für den Bereich strategische
                   Co. KG, Köln, studierte nach einer Lehre zum                             Beratung in der Geschäftsleitung, ZMG
                   Bankkaufmann Psychologie. Er war Mitbe-                                  Zeitungs Marketing Gesellschaft mbH & Co.
                   gründer und für lange Jahre Geschäftsführer                              KG, Frankfurt am Main, studierte Publizistik-
                   von rheingold Institut für qualitative Markt-                            und Kommunikationswissenschaften und
und Medienanalysen, bevor er zusammen mit Ines Imdahl den              arbeitete danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut
rheingold salon gründete. Daneben hat er Lehraufträge an der           für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Universität der Künste in Berlin und der Business School Pots-
dam (BSP) und ist Gastreferent an der Universität St. Gallen.                              Alexander Potgeter
                                                                                         Mitglied der Geschäftsleitung ZMG, Frankfurt,
                   Sarah Mergelsberg                                                     absolvierte an der Universität Mannheim sein
                    Projektleiterin, rheingold salon, Köln, studier-                     Studium der Sozialwissenschaften mit den
                    te Medienökonomie in Köln und absolvierte                            Schwerpunkten Soziologie und Ökonometrie.
                    anschließend eine Ausbildung in morphologi-                          Berufliche Stationen waren Projektleiter bei
                    scher Psychologie. Nach Tätigkeiten für Kom-                         die media und Research Director bei Aegis
                    munikationsagenturen und das rheingold             Media Resolutions mit den Schwerpunkten Zielgruppen, Marken-
                    Institut wechselte sie zum rheingold salon.        und Werbewirkungsforschung.
Die Projektleiterin für qualitative Markt- und Medienforschung
entwickelte dort zusammen mit Jens Lönneker ein neuartiges
Indepth-Screening-Tool.

                                                                                                                            BVM Best Paper 2014 19
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