Kraft spenden und Kraft - Pro Senectute Luzern
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Kraft spenden und Kraft Ines Frey arbeitet für die Dargebotene Hand Zentralschweiz. Die Telefonnummer 143 ist für Menschen in Not eine Kraftquelle. Sepp Hollinger begleitet als Diakon in der Pfarrei St. Urban Menschen in schwierigen Lebenssituationen. Er hat aber auch schon selbst erlebt, dass ihm die Kraft ausging. TEXTE UND FOTOS ASTRID BOSSERT MEIER Den Menschen ein offenes Ohr schenken arbeitende.» Als Familienfrau mit vier Kindern suchte Ines Frey damals einen Ausgleich und ein sinnvolles Engagement. Sie bewarb sich für die interne Ausbildung und sass schon bald selber am Telefon. «Hier ist die Nummer 143, Grüezi.» Diesen Satz hat sie wohl tausendfach gesagt. Und dabei weder gewusst, wer am anderen Ende der Leitung ist, noch mit wel- chen Sorgen sich die Menschen mel- den. Oft sind die Anrufenden emoti- onal aufgewühlt, enttäuscht, verletzt, traurig, wütend. Oder sie sehen einen riesigen Berg vor sich und wissen nicht, wie sie ihn überwinden kön- nen. Wie hilft man am Telefon bei solch schwierigen Situationen? «Wir sind einfach da», antwortet Ines Frey. «Wir können für die Anrufenden keine Probleme lösen. Aber wir kön- nen ihnen ein offenes Ohr schen- ken.» Seine Sorgen mit jemandem teilen zu können, bewirke schon viel Positives. Je nach Anliegen helfen die INES FREY, 55, GISWIL oder ein Berater am Telefon. Und Beratenden zudem, etwas Ordnung «Hier ist die Nummer 143, Grüezi.» hier hat auch Ines Frey ihr Büro. Mit ins gedankliche Chaos zu bringen, Diese Worte hört, wer sich an die einem 60-Prozent-Pensum ist die Ressourcen sichtbar zu machen und Dargebotene Hand wendet. Ob Os- psychologische Leiterin für die Be- vielleicht einen ersten Schritt in eine tern oder Weihnachten, morgens um treuung, Aus- und Weiterbildung der positive Bewältigungsstrategie zu un- drei Uhr oder während der Büro- über 60 Ehrenamtlichen der Darge- terstützen. zeiten: An 365 Tagen ist das Schwei- botenen Hand Zentralschweiz ver- Nie würden sie jedoch selber aktiv zer Sorgentelefon besetzt. Wer die antwortlich. Eingestiegen ist sie vor werden. Sie rufen weder die Polizei, Nummer 143 aus dem Kanton Lu- 20 Jahren selber als Freiwillige. noch informieren sie Angehörige – zern wählt, gelangt automatisch zur Ein kleines Inserat in der Zeitung selbst wenn die anrufende Person das Regionalstelle Zentralschweiz. Hier weckte ihre Aufmerksamkeit: «Dar- wünscht. «Das auszuhalten ist mit- sitzt rund um die Uhr eine Beraterin gebotene Hand sucht freiwillige Mit- unter das Schwierigste an unserer 12 Pro Senectute Kanton Luzern 1 | 21
PERSÖNLICHKEITEN schöpfen Arbeit», sagt Ines Frey. Noch belas- tungsinserat geschrieben hatte: «Be- Einsamkeit und Trauer sind auch bei tender ist, wenn ein Notruf eingeht. vor Sie sich das Leben nehmen, rufen Jüngeren starke Themen.» Deshalb So gibt es beispielsweise bei der Lor- Sie mich an!» Die Dienstleistung ist spielt das Alter beim Sorgentelefon zentobelbrücke in Menzingen, die bis heute gefragt. Jahr für Jahr suchen keine Rolle. «Mensch ist Mensch, für über eine tiefe Schlucht führt, eine mehr Menschen telefonischen Rat uns gibts keinen Unterschied.» Notrufsäule. Wer so verzweifelt ist, oder sie nützen die neuen digitalen Indem die Freiwilligen am Tele- dass Suizid der einzige Ausweg Angebote von Mail und Chat. fon da sind, spenden sie Menschen in scheint, wird auf Knopfdruck direkt Not Kraft. Davon ist Ines Frey über- mit der Dargebotenen Hand verbun- Einsamkeit als wichtigste Sorge zeugt. «Wir strahlen Ruhe aus, neh- den. Situationen wie diese zeigen: Im Corona-Jahr hat sich dieser Trend men Anteil, helfen mit, Schwieriges Wer für das Sorgentelefon arbeitet, noch akzentuiert, wie ein Blick auf einzuordnen, oder machen auch mal muss mit beiden Beinen auf dem Bo- die Statistik zeigt. 2020 haben die ein Kompliment, wenn jemand etwas den stehen, psychisch stabil sein und Freiwilligen der Regionalstelle Zent- geschafft hat. Das alles gibt den An- eine gute Resilienz haben. ralschweiz 12 140 Gespräche geführt. rufenden Kraft.» Genauso überzeugt Eine 200-stündige Ausbildung be- Sie erhielten zwölf Prozent mehr An- ist Ines Frey aber auch davon, dass reitet die ehrenamtlichen Frauen und rufe als im Vorjahr. Rund ein Viertel durch das ehrenamtliche Engage- Männer auf ihre Aufgabe vor. Im Frei- der Anrufenden – so die Schätzung – ment Kraft zurückkommt. «Zeit, die willigen-Team sind Menschen aller sind Menschen im Pensionsalter. wir uns nehmen, ist Zeit, die uns Berufsgattungen. Viele steigen kurz Gibt es altersspezifische Sorgen? «Ein- etwas gibt», zitiert Ines Frey den ös- vor oder nach der Pensionierung ein, samkeit sticht vielleicht heraus», sagt terreichischen Schriftsteller Ernst es gibt aber auch Jüngere. Die erste Ines Frey. Zudem würden Themen Festl. Oder mit ihren eigenen Worten: Telefonseelsorge der Schweiz wurde wie Trauer oder unerfüllte Erwartun- «Indem die Freiwilligen da sind für 1957 in Zürich eröffnet. Die Idee gen, beispielsweise ein ausgebliebe- andere Menschen, verrichten sie stammt von einem Pfarrer in London, ner Besuch zu Weihnachten, ältere sinnvolle Arbeit. Und daraus können der einige Jahre zuvor in einem Zei- Menschen vermehrt betreffen. «Aber sie auch selber Kraft schöpfen.» Glaubenserfahrungen möglich machen SEPP HOLLINGER, 65, ST. URBAN Nach 16 Jahren als Gemeindeleiter der Pfarrei St. Urban ging Sepp Hol- linger 2020 offiziell in Pension. Im neu geschaffenen Pastoralraum Pfaff- nerntal-Rottal-Wiggertal arbeitet der Diakon jedoch weiterhin in einem 50-Prozent-Pensum. Weshalb? Weil das Personal knapp ist. Aber auch, weil es die Berufung der Menschen sei, «unserer Bestimmung nachzuge- hen, solange wir Kraft dazu haben». Das Leben des heute 65-Jährigen ist kein gradliniger Strom. Viel eher lässt es sich mit einem mäandernden Bach vergleichen, der stets neue Landschaften erkundet und sich wei- terentwickelt, seine jeweils aktuelle Pro Senectute Kanton Luzern 1 | 21 13
PERSÖNLICHKEITEN Bestimmung sucht. «Die Frage, was meine Aufgabe ist, war für mich «Vielleicht lehrt schon immer wichtig», sagt der Seel- sorger. Und diese Frage stellt er sich uns Corona, mit auch heute noch täglich im Morgen- gebet: «Gott, ich danke dir für die dem Tod anders Ruhe der Nacht und das Licht des neuen Tages. Lass mich bereit sein für umzugehen.» dein Gebot.» So beginnt er seinen Tag – im Wissen darum, dass dies «Die Pandemie lehrt uns, einfacher, «manchmal besser und manchmal im kleineren Umkreis zu leben und weniger gut gelingt». zu wirken. Und vielleicht lehrt sie Schon während seiner Erstaus- uns auch, mit dem Tod anders um- bildung als Schreiner suchte Sepp zugehen, die Vergänglichkeit zu Hollinger die Tiefe im Leben. Er erin- akzeptieren.» nert sich an ein Pfingstlager, in wel- Wer andern Kraft spendet, muss chem ihn der Jugendseelsorger mit mit seinen eigenen Kräften sorgsam der Meditation bekannt machte. In Menschen Glaubenserfahrungen zu haushalten. Sepp Hollinger hat im aller Herrgottsfrühe sollten sich die ermöglichen, blieb jedoch bestehen. Verlauf seines Lebens verschiedene Jugendlichen einen Platz suchen und So bildete sich Sepp Hollinger erst Quellen der Kraft gefunden: Familie, eine Stunde lang «einfach sein». Er zum Katecheten weiter, später zum Gartenarbeit, die Natur, seine Jakobs- selber liess sich gegenüber einem Erwachsenenbildner, dann studierte schafe, Zen-Meditation oder Ikonen grossen Bauerngarten nieder. Plötz- er im bischöflichen Sonderpro- malen beispielsweise. Doch er kennt lich hörte er ein «Plopp» und sah, gramm Theologie und wurde zum auch die Situation, wenn die Kraft dass im Garten eine grosse Mohn- Diakon geweiht. ausgeht. Vor über 30 Jahren erlebte er blume ihre Blütenblätter entfaltete. Als Seelsorger ist Sepp Hollinger erstmals eine Depression. Inzwischen So langsam, dass es nur erkannte, wer für andere eine Kraftquelle. Er ist da hat er gelernt, damit umzugehen. still und achtsam war. «Seit diesem für Menschen in Trauer, in Krankheit, Und er nimmt Medikamente – auch Schlüsselerlebnis vor 50 Jahren be- in Lebenskrisen. Wie macht er das? wenn er lange suchen musste, bis er gleitet mich nicht nur die Meditation «Ich bin präsent als Mensch, mit all jene Medizin fand, die zu ihm passte. durchs Leben, sondern immer auch meinen Schwachstellen und Gren- ein Stock Mohnblumen», sagt Sepp zen.» Längst nicht immer habe er Die Bedeutung umdrehen Hollinger, der heute auch als Zen- Antworten auf Fragen wie «Warum «Blöde Medikamente!» Diesen Aus- Meditationslehrer tätig ist. ausgerechnet ich?» oder «Wie kann spruch hört Sepp Hollinger immer Gott das zulassen?». Dennoch könne wieder von Menschen, die aufgrund Theologe und Seelsorger er den Menschen beistehen, im Wis- einer Krankheit Medikamente ein- Nach seiner Erstausbildung trat Sepp sen darum, dass er ein Teil des nehmen müssen. Mit dieser Haltung Hollinger in ein Benediktinerkloster Grossen und Ganzen sei, getragen im werde die Medizin keine gute Wir- ein. Eigentlich mit dem Ziel, später in Göttlichen. kung entfalten, ist er überzeugt. Er die Mission zu gehen. Doch die Klos- In den vergangenen zwölf Co- selbst hat einen anderen Zugang tergemeinschaft gab ihm nicht jenen rona-Monaten war es noch schwieri- gefunden. Er spricht täglich ein Halt, den er sich erhofft hatte. So er- ger, für andere Menschen Kraftquelle Medikamentengebet: «Ich bitte um kannte er nach zwei Jahren, dass das zu sein. Und die Kontakteinschrän- den Segen, damit das Gute des Medi- Kloster nicht seine Berufung war. kungen dauern an. Sieht der Theo- kaments in mir wirkt und ich das Stattdessen absolvierte er eine Zweit- loge in Corona auch Chancen? Schädliche ausscheiden kann.» Erst ausbildung zum Sozialpädagogen. «Schwieriges Thema», antwortet er wenn man die Bedeutung umdrehen Und er lernte seine Frau Doris ken- nach langem Überlegen. «In den letz- könne, sei Wandlung möglich. «Jesus nen. Die beiden verliebten sich und ten Jahren haben wir oft gesagt, so hat sich vom Menschlichen zum wurden Eltern von vier inzwischen kann die Entwicklung auf unserem Göttlichen gewandelt. Und auch wir erwachsenen Kindern. Der Ruf, in Planeten nicht weitergehen.» Viel- können Wandlung immer wieder der Kirche zu wirken und anderen leicht stecke hier ein Lösungsansatz. vollziehen.» Pro Senectute Kanton Luzern 1 | 21 15
Sie können auch lesen