Krisen' und Verschwörungs theorien' in Zeiten der Corona Pandemie - Uni Trier
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‚ K R I S E N ‘ U N D ‚V E R S C H W Ö R U N G S T H E O R I E N ‘ I N Z E I T E N D E R C O R O N A - PA N D E M I E ‚Krisen‘ und ‚Verschwörungs theorien‘ in Zeiten der Corona-Pandemie Wissenssoziologische Analysen 65 von Sebastian Klimasch In Zeiten der Corona-Pandemie dominieren Krisendiagnosen das Tagesgeschäft. Zu deren zentralen Bezugspunkten zählen neben (den Folgen) der Pandemie bekämpfung im engeren Sinne vor allem sogenannte Verschwörungstheorien und Verschwörungstheoretiker*innen. Zum einen mehren sich angesichts der von den „Querdenker*innen“ initiierten „Hygiene-Demonstrationen“ Krisendiagnosen, die in der gegenwärtigen Protestpraxis den vorläufigen Höhepunkt eines demo- kratiezersetzenden „postfaktischen Zeitalters“ sehen. Zum anderen werden die abstract Gründe für diesen vermeintlichen Popularitätszuwachs von Verschwörungs- theorien ihrerseits in der Krisenhaftigkeit der Pandemie verortet. Das Moment der Krisenhaftigkeit wird also regelmäßig sowohl als Ursache wie auch als Folge von Verschwörungstheorien verhandelt. Der vorliegende Beitrag gewinnt sein Untersuchungsinteresse aus dieser prominenten diskursiven Verknüpfung von subjektiven und gesellschaftlichen Krisen einerseits sowie Verschwörungs theorien andererseits. Aus der Perspektive einer phänomenologisch-fundierten Wissenssoziologie will er auf eine theoretisch-konzeptionelle Alternative zur bis- lang öffentlich dominierenden Bestimmung dieses nicht nur gegenwärtig kultur bedeutsamen Phänomenbestands v erweisen. Schlagwörter Krise; Verschwörungstheorien; Phänomenologie; Konstruktivismus SOZIOLOGIEMAGAZIN https://doi.org/10.3224/soz.v14i1.05 Nichts als die Wahrheit?
‚ K R I S E N ‘ U N D ‚V E R S C H W Ö R U N G S T H E O R I E N ‘ I N Z E I T E N D E R C O R O N A - PA N D E M I E Von Deutungskrisen und (un andlungsrichtlinien verlangt, die so- H liebsamen) Krisendeutungen wohl hinreichend alltägliche (Handlungs-) Sicherheit gewährleisten als auch weit- „So viel Wissen über unser Nichtwissen reichende politische Maßnahmen legi- und den Zwang, unter Unsicherheit han- timieren sollen. Während der Pandemie deln und leben zu müssen, gab es noch wird so fortwährend versucht, die „Fä- nie.“ (Habermas, zitiert nach Schwering higkeit, rechtzeitig angemessen zu han- 2020). So charakterisierte Jürgen Habermas deln“ (Wagner 2020) maßgeblich über die die Corona-Pandemie am 7. April 2020 Konsultation wissenschaftlicher Expertise in der Frankfurter Rundschau. Pande- (wieder)herzustellen (vgl. Hitzler 1994). mien scheinen genuine „Wissenskrisen“ Schlechterdings kann dieser Anspruch (Mezes 2020; vgl. Wagner 2020) zu sein, jedoch von wissenschaftlicher Seite nur insofern ihr Auftreten zwar zunehmend selten rechtzeitig und umfassend einge- 66 wahrscheinlicher wird (Wissen), jedoch löst werden (vgl. Wagner 2020; P risching weder genaue Vorhersagen bezüglich des 2020). Fortwährend öffentlich ausgetra- Orts, des Zeitpunkts und des Ausmaßes gene Debatten um die Belastbarkeit be- eines Ausbruchs noch hinsichtlich der reits kommunizierter Studienergebnisse Beschaffenheit des Erregers getroffen wer- kreisten insofern von Anfang an um deren den können (Nichtwissen). Prognosen Fragilität und Liquidität. Damit einherge- bzgl. zu erwartender Krankheits- und hende, wiederholte Kursjustierungen in Pandemieverläufe, vermeintlich erfolgsver der Pandemiepolitik bieten offenkundig sprechender Eindämmungsmaßnahmen große Einfallstore für die Kritik an (natur) wie auch potenzieller gesamtgesellschaft- wissenschaftlichem Wissen als Inbegriff licher (Neben-)Folgenkonstellationen und von „Objektivität und Wahrheit“ (Kuck Transformationsprozesse bleiben somit 2020: 244ff.) sowie dessen Orientierungs- notwendig prekär (Nichtwissen) (vgl. Me- potenzial für politische Entscheidungen zes 2020; Dörre 2020: 166f.; Rosa 2020: und Fragen der alltäglichen Lebensführung 204f.; Lessenich 2020: 217f.; Block/Ernst- (vgl. Anton 2020a: 15). So beobachtet Heidenreich 2020: 74f.). Alexander Bogner (2020, 2021) nach einer ersten Phase der weithin unhinterfrag- Wissenschaftliches Wissen erfährt in sol- ten Dominanz eines naturwissenschaft- chen Situationen besondere Aufmerk- lich-medizinischen Primats eine zweite samkeit: Unter den Vorzeichen der Un- Phase des politischen Primats, mit dem sicherheiten und Unwägbarkeiten eines eine beträchtliche Erweiterung des Kreises diffusen Pandemiegeschehens wird nach relevanter Expertisen und eine Verschie- möglichst eindeutigen, e videnzbasierten bung von quasi-szientistisch verhandelten Nichts als die Wahrheit? SOZIOLOGIEMAGAZIN
‚ K R I S E N ‘ U N D ‚V E R S C H W Ö R U N G S T H E O R I E N ‘ I N Z E I T E N D E R C O R O N A - PA N D E M I E Fragen hin zu (be)wert(ungs)bezogenen deutlich hervor: Zwar werden sogenannte Grundsatzkontroversen einhergegangen verschwörungstheoretische Deutungsange- sei (vgl. Bogner 2021: 20ff.). Durch die bote ebenso wie die entsprechende Sozial- Pandemie vorangetriebene Aushandlungs- figur des/der Verschwörungstheoretiker*in und Bewertungsprozessen von Expertise regelmäßig ins Lächerliche gezogen, ja innerhalb von, zwischen wie auch quer zu „ridikülisiert“ (Schetsche/Schmied-Knittel gesonderten Wissensbereichen vermitteln 2018a: 15). Gleichwohl wird ihre gegen- so das Bild einer inflationären Verviel wärtig erhöhte Sichtbarkeit mittlerweile fältigung von Expertise bei einer gleich- auch in der Bundesrepublik vermehrt als zeitigen Diagnose seiner epistemischen ernstzunehmendes Krisensymptom ge- Vorläufigkeit und Prekarität. Mehr oder handelt. Neben Analysen, die die hohe weniger generalisierte Verlustanzeigen der Aufmerksamkeit für die Corona-Proteste Vertrauenswürdigkeit (natur)wissenschaft- als Resultat „mediale[r] Verdrehung“, als lichen Wissens avancierten vor diesem „self-fulfilling prophecy“ (Welzer 2020) 67 Hintergrund zum zentralen Topos des i. S. einer regelrechten „Verschwörungs „Widerstands“ (Menzel 2020) und Protests (theorie)panik“ (Butter 2019) einordnen, gegen die Unverhältnismäßigkeit pande- ist mittlerweile ebenso häufig nachzulesen, miepolitischer Maßnahmen in Gestalt von dass „[d]ie Pandemie […] weltweit Angst „Hygiene-Demonstrationen“ (vgl. Mezes und Unsicherheit [schürt] – der ideale 2020; Nachtwey et al. 2020: 54ff.). Nährboden für konspiratives Denken.“ (Staas/Ullrich 2020: 15). In diesem Sinne Die aktuell mit Blick auf die Corona-Pro- funktionierten „Verschwörungstheorien teste geführten Debatten zeichnen sich […] in der gegenwärtigen Krise perfekt, mithin vor allem durch die Problemati- da sie scheinbar klare Antworten auf die sierung alternativer Wirklichkeitsbestim- Unsicherheit geben“, so Michael Butter (zi- mungen aus, die zumeist unter dem Begriff tiert nach Werner/Flohr2020: 111). Damit der ‚Verschwörungstheorie‘ subsumiert greift er seine bereits im Jahre 2016 ver- werden. Und zwar auch dann, „wenn die tretene Position wieder auf, denn: „[d]iese damit bezeichnete Argumentation gar Theorien erklären die Welt. Das heißt, keine Verschwörungsbehauptung enthält“ sie schaffen Sinn und lösen Chaos auf. (Anton 2020a: 18). Mit Andreas Anton lässt […] Diese These […] ist auch sehr zutref- sich insofern festhalten: „Die Aussage, dass fend, weil in Krisenzeiten Erklärungsnot Verschwörungstheorien derzeit Hochkon- herrscht. Und Verschwörungstheorien junktur haben, hat derzeit Hochkonjunk- bieten Erklärung und Sinnhaftigkeit an.“ tur.“ (ebd.: 12) Dabei tritt während der (Butter, zitiert nach Stoppel 2016). Aus Pandemie eine grundlegende Ambivalenz dieser Perspektive scheint also die These SOZIOLOGIEMAGAZIN Nichts als die Wahrheit?
‚ K R I S E N ‘ U N D ‚V E R S C H W Ö R U N G S T H E O R I E N ‘ I N Z E I T E N D E R C O R O N A - PA N D E M I E " Als Ursache für den vermeintlichen Popularitäts zuwachs von als verschwörungstheoretisch bezeich- neten Deutungsangeboten wird die in Krisenzeiten gesteigerte „Erklärungsnot“ gehandelt. Verschwö- rungstheorien kommen dann vor allem als indivi- duelle Krisenbewältigungsstrategie in den Blick. generalisierbar zu sein: „Wenn die Welt Lamberty/Knäble 2020; vgl. Menzel 2020; aus den Fugen gerät, blühen Verschwö- Anton 2020a: 18f.). Sinnbildlich hierfür rungstheorien.“ (Staas/Ullrich 2020: 6) steht die dieser Tage von der Weltgesund- heitsorganisation (WHO) wirkmächtig 68 Als Ursache für den vermeintlichen Po- etablierte metaphorische Übertragung pularitätszuwachs von als verschwörungs- des Pandemie-Geschehens auf die mit theoretisch bezeichneten Deutungsange- diesem einhergehenden selbstverständlich- boten wird die in Krisenzeiten gesteigerte keits-, vertrauens- und wissensbezogenen „Erklärungsnot“ gehandelt. Verschwö- Erosionsprozesse als „infodemic“ (WHO rungstheorien kommen dann vor allem 2020; vgl. Mezes 2020; Anton 2020a: 12). als individuelle Krisenbewältigungsstra Entsprechend häufen sich Krisendiagnosen tegie in den Blick. Entsprechend werden mit Blick auf die Akzeptanz und Anerken- Verschwörungstheorien im Kontext der nung von journalistischen, wissenschaft- Corona-Pandemie mittlerweile sowohl lichen oder politischen Expertisen. Dass von politischer Seite als auch im öffent- sogenannten Verschwörungstheorien und lichen Diskurs – dominant (sozial-)psy- denjenigen, die sie propagieren, erheb chologisch informiert – unter Verweis auf liches Irritations-, Desorientierungs- und „Verschwörungsmentalitäten“ (etwa in: LpB Desintegrations-, ja Krisenpotenzial für BW 2020; BpB 2020) mit individuellen, demokratische Gegenwartsgesellschaften persönlichkeits- bzw. charakterstruktur- zugeschrieben wird, setzt dabei voraus, dass bedingten Neigungen bzw. Tendenzen diese nicht von einer Mehrheit, sondern zusammengebracht. Dabei werden sie nicht nur von einer bedrohlichen Minderheit selten a priori zu einer illegitimen, also geteilt werden. Die forcierte Markierung einer kognitiv wie normativ unhaltbaren eines – gerade auch dadurch – gegenwärtig Form der Krisenbewältigung erklärt und an Sichtbarkeit gewinnenden Typus krisen zunehmend selbstverständlich als poli bewältigenden Denkens und Wissens als tische Gefahr problematisiert (etwa in: „Verschwörungstheorie“ in Medien und Nichts als die Wahrheit? SOZIOLOGIEMAGAZIN
‚ K R I S E N ‘ U N D ‚V E R S C H W Ö R U N G S T H E O R I E N ‘ I N Z E I T E N D E R C O R O N A - PA N D E M I E Politik verweist dabei auf den antizipierten Zur Diffusion alltagsweltlicher Verlust der eigenen Wirklichkeitsautorität Begriffsverwendungen in die (vgl. Anton 2020a: 18). Soziologie Der vorliegende Beitrag befasst sich mit Verschwörungstheorien firmieren diszi diesem vielfach bearbeiteten Phänomen- plinenü bergreifend in mannigfachen bestand von Krisen und Verschwörungs theoretischen Varianten als „Krisenbe- theorien aus der Perspektive der phänome- wältigungsstrategie“ (vgl. Groh 1992: 296; nologisch fundierten Wissenssoziologie am Groh 2001; Ruch 2010: 9; Pfahl-Traughber Beispiel der Corona-Pandemie. Er versteht 2004: 55; Fenster 2008: 90). Gemein ist sich insofern als Versuch, die These des Er- diesen Ansätzen – so Sascha Pommrenke starkens sogenannter Verschwörungstheo- (2014: 310) –, dass sie als „wesentlichen rien und theoretiker*innen in Krisenzeiten Begründungszusammenhang von Ver- pluralistischer, der Selbstbeschreibung schwörungsdenken […] das Bedürfnis 69 nach liberal-demokratisch verfasster Ge- nach (Welt-)Orientierung, besonders nach sellschaften am Fall der Corona-Pandemie Krisen“ sehen. Diese populäre These findet aus einer solchen Perspektive einzuordnen. sich jedoch bis heute meist in hartnäckiger Hierzu wird ein argumentativer Drei- Frontstellung zwischen zwei Positionen schritt unternommen, der – ausgehend eingebettet, die eine „wissenschaftliche von einer Problematisierung der Diffusion Spiegelung des lebensweltlichen Ver- alltagsweltlicher Begriffsverwendungen in ständnisses des Begriffes [Verschwörungs die Soziologie – eine analytische Spezifi- theorie, SK]“ (Anton/Schetsche 2020: zierung der Phänomene ‚Krise‘ und ‚Ver- 91) genährt hat und weiterhin nährt. So schwörungstheorie‘ im Anschluss an die zeigt Oliver Kuhn (2014: 327f.) auf, dass phänomenologisch fundierte Sozialtheorie sich infolge der paradigmatischen Texte Alfred Schütz’ und Thomas Luckmanns von Richard Hofstadter (The Paranoid (2017) sowie die (allgemeine) Wissens Style in American Politics (1996)) und soziologie Peter L. Bergers und Luckmanns Karl Popper (Die offene Gesellschaft und (2018) vorschlägt. Vor diesem Hintergrund ihre Feinde (2003)) zwei Diskursstränge werden schließlich Implikationen einer seit den 1990er Jahren mehr oder min- politisch-soziologischen Neubestimmung der unabhängig vone inander kontinu- des Phänomens „Verschwörungstheorie“ ieren: Charakteristisch für die bisherige skizziert. wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Verschwörungstheorien seien ent- weder „repressiv“ oder „permissiv“ vereins eitigende Perspektiven. Erstere SOZIOLOGIEMAGAZIN Nichts als die Wahrheit?
‚ K R I S E N ‘ U N D ‚V E R S C H W Ö R U N G S T H E O R I E N ‘ I N Z E I T E N D E R C O R O N A - PA N D E M I E ordneten Verschwörungstheorien unter offenkundig überhandnehmende norma- impliziter oder expliziter Bezugnahme tive (Ab-)Geschlossenheit aufzubrechen, auf Hofstadters Essay (1996) a priori der statt diese schlicht zu reproduzieren. Sphäre des „Wahnhaften“ zu oder proble- matisierten diese mit Verweis auf Poppers Dass im Zuge der Ausdeutung und Be- Ausführungen als Auswüchse des „Ir schreibung solch weltumspannender und rationalen“ und suchten ihnen folglich den folgenreicher sozialer Prozesse wie der Nachweis epistem(olog)ischer Inferiorität Corona-Pandemie der Begriff „Krise“ zu führen. Auf „permissiver“ Seite werde Konjunktur erfährt, ist wenig verwunder- dementgegen die Freigabe und Förderung lich: So scheint er bevorzugt immer dann verschwörungstheoretischer Wissensbe- zum Einsatz zu kommen, wenn Situatio- stände geradezu uneingeschränkt einge- nen der Unsicherheit, des Umbruchs, der fordert, da sie die Wahrscheinlichkeit Offenheit, des wie auch immer gearteten 70 erhöhten, „reale Verschwörungen aufzu- Missstands – kurz und in Anlehnung an decken“ (Kuhn 2014: 328f.). Abseits dieser Niklas Luhmann (1984): nahezu jedwe- Frontstellung wurden analytisch-neutrale, de vorstellbare Kontingenzerfahrung – sozio- bzw. diskurslinguistische sowie beschrieben werden soll (vgl. K oselleck kultur- und wissenssoziologische Ansätze 1969, 1982, 2006; Bühl 1984; H abermas zur Analyse von Verschwörungstheorien 1973; Opp 1978; Prisching 1986; Preunkert im deutschsprachigen Raum zuletzt unter 2011; R epplinger 1999; Schulze 2011; Steil anderem in Beiträgen von Anton (2011, 2014; Mayr 2014; Oevermann 2016; An- 2020a, 2020b), einem Sammelband von tony et al. 2016; Kiess 2019; Steg 2020a, Andreas Anton, Michael Schetsche und 2020b). Andererseits aber bietet genau Michael Walter (2014), der Dissertations dieser Umstand ein Einfallstor für die schrift von Kim Meyer (2018), einem Frage danach, welche Signale die un- interdisziplinären Sammelband von Sören hinterfragte Übernahme eines solchen Stumpf und David Römer (2020) sowie Krisenbegriffs in den (Sozial-)Wissen- der Dissertationsschrift von Alan Schink schaften (nicht nur) mit Blick auf den (2020b, siehe Beitrag in diesem Heft) vor- postulierten Zusammenhang mit Ver- gelegt. Diese Beiträge können sowohl als schwörungstheorien sendet. Ein dezi- instruktive methodologische Appelle wie diert wissenssoziologischer Beitrag, der auch als theoretisch-konzeptionelle (Neu-) sich systematisch dem Zusammenhang Bestimmungsversuche gelesen werden, von Krisen und Verschwörungstheorien um die in den gegenwärtigen Diskussio- widmet, stellt insofern ein Desiderat dar, nen um den vermeintlichen Königsweg obschon entsprechende Verknüpfungen im Umgang mit Verschwörungstheorien vielerorts zu finden sind, denn: Was – Nichts als die Wahrheit? SOZIOLOGIEMAGAZIN
‚ K R I S E N ‘ U N D ‚V E R S C H W Ö R U N G S T H E O R I E N ‘ I N Z E I T E N D E R C O R O N A - PA N D E M I E gerade, wenn Verschwörungstheorien als gegenwärtigen Aufmerksamkeitszuwachs Krisenbewältigungsstrategie aufgefasst für verschwörungstheoretische Deutungs- werden – soziologisch unter Krise zu angebote liegen kann. Zumal diese regel- verstehen ist, und ob bzw. inwiefern sol- mäßig im Kontext mehr oder weniger cherlei Wissensbestände in Krisenzeiten profunder, über die Corona-Pandemie an „Plausibilitätsstrukturen“ (Berger et hinausreichender gesellschaftsbezogener al. 1987: 19f.) gewinnen, bedarf einer Krisendiagnosen (etwa der Demokratie, theoretisch-konzeptionellen Präzisierung. der politischen Kultur, des (politischen) Vertrauens etc.) verortet werden. Diese Diese Befunde weisen damit für das hier Diagnosen haben also genuin soziale (Kri- verfolgte Anliegen auf ein zentrales Pro- sen-)Phänomene im Blick und können blem hin: Den Begriffen der „Verschwö- – ungeachtet der Frage danach, ob oder rungstheorie“ wie auch der „Krise“ scheint inwiefern sie zutreffen mögen – sozio ihre analytische Tragfähigkeit (für eine logisch weder zufriedenstellend alleine 71 sozialkonstruktive Perspektive) dann ab- mit dem dieser Tage prominenten Verweis zugehen, wenn das Fürwahrhalten ersterer auf intra-psychische Vorgänge verhan- a priori als essenzialistisch verstandene delt werden, noch scheint eine repres- individuelle Abweichung, eventuell gar als sive, permissive oder essenzialisierende Pathologie und insofern als inferior mar- Betrachtungsweise für deren (wissens-) kiert (Othering) wird. Und wenn letztere soziologische Analyse zielführend (vgl. gleichermaßen inflationär benannt, dabei Anton 2020a: 13f.). jedoch als nicht weiter begründungsbe- dürftige empirische Tatsache eingeführt Angesichts der sich während der Corona- werden. Aus einer wissenssoziologischen Pandemie ergebenden Spezifika der (sozialkonstruktiven) Perspektive stellt Diskussion um Verschwörungstheorien sich die Frage, inwiefern darin eine an- erscheint daher im Anschluss an die vor- schluss- wie tragfähige Erklärung für den genannten Autoren folgender relationaler " Aus einer wissenssoziologischen (sozial konstruktiven) Perspektive stellt sich die Frage, inwiefern darin eine anschluss- wie tragfähige Erklärung für den gegenwärtigen Aufmerksam- keitszuwachs für verschwörungstheoretische Deutungsangebote liegen kann. SOZIOLOGIEMAGAZIN Nichts als die Wahrheit?
‚ K R I S E N ‘ U N D ‚V E R S C H W Ö R U N G S T H E O R I E N ‘ I N Z E I T E N D E R C O R O N A - PA N D E M I E " Zugriff fruchtbar: Ein an Berger und Luck- Krise entpuppt sich mann anschließendes wissenssoziologi- als „soziologisch sches Verständnis von Verschwörungs- theorien kann insofern einen Beitrag zum amorph“– Krisenhaf- besseren Verständnis leisten, als es deren je tigkeit ist konstitutiv historisch spezifische (Il)Legitimitätsstatus für das Soziale und als „Ergebnis eines Konflikts um Geltungs ansprüche“ einordnet (Kuhn 2014: 329, doch kaum zu fassen. Herv. i. O.), ohne sich sogleich entweder repressiver oder permissiver Absichten orthodox und legitim geltende Wirklich- verdächtig zu machen. Der Begriff „Ver- keitsbestimmungen und die entsprechen- schwörungstheorie“ stellt dann zunächst den Deutungsinstanzen. Sowohl subjektiv einmal nichts anderes als ein zumeist krisenhaftes Erleben und Erfahren wäh- 72 stigmatisierendes Label für alternative rend der Corona-Pandemie, sich daran Wirklichkeitsbestimmungen im Sinne womöglich anschließende Verwandlungen heterodoxen, illegitimen (Sonder-)Wissens subjektiver Wirklichkeit hin zur Über- dar (vgl. Anton 2011; Anton/Schetsche nahme von verschwörungstheoretischen 2020; Anton et al. 2014; Meyer 2018; Butter Deutungsmustern i. S. eines radikal anderen 2018; Schetsche/Schmied-Knittel 2018a, Strukturtypus von Weltdeutung und -orien- 2018b; Schnettler 2018). tierung einerseits wie auch dessen diskursive Problematisierung andererseits scheinen Für ein genuin wissenssoziologisches Ver- also konstitutiv miteinander verwoben. ständnis von so verstandenen Verschwö- rungstheorien scheint – wie eingangs ange- deutet – das Moment der in Krisenzeiten in Konturen eines phänomeno besonderem Maße thematisch werdenden logisch-fundierten wissens Fragilität sozialer Wirklichkeitskonstruk soziologischen Krisenbegriffs tionen relevant, also die gewahr-werdende bzw. gewordene „Nicht-Selbstverständlich- Was Krise „grundsätzlich“ heißt, ist und keit des Selbstverständlichen“ (Endreß 2010: bleibt in der Soziologie trotz vielfacher 95f.). Vor diesem Hintergrund gewinnen Bestimmungsversuche wohl ungeklärt (vgl. heterodoxe Deutungsangebote in Krisenzei- Steg 2020a: 423, Herv. im O.). Man könnte ten womöglich an Plausibilität(sstrukturen) vielleicht sogar in Anlehnung an Max (Berger et al. 1987: 19f.; vgl. auch Berger/ Weber (vgl. 1985: 28) behaupten: Krise Kellner 1965). Ebendarin liegt offenkun- entpuppt sich als „soziologisch amorph“– dig wiederum Irritationspotenzial für als Krisenhaftigkeit ist konstitutiv für das Nichts als die Wahrheit? SOZIOLOGIEMAGAZIN
‚ K R I S E N ‘ U N D ‚V E R S C H W Ö R U N G S T H E O R I E N ‘ I N Z E I T E N D E R C O R O N A - PA N D E M I E Soziale und doch kaum zu fassen. Die krisenhaft gedeutet werden und welche Schwierigkeiten einer soziologischen Be- Implikationen dies für im Zuge dieser griffsbestimmung liegen in der mehrfachen Auslegungsprozesse angelegte Wissens- Relationalität: Wer Krise sagt, bezeichnet bestände wie auch für sich damit stellende damit typischerweise eine Abweichung von Handlungsprobleme aufweist. In seinem einer wie auch immer gearteten Norma auf das Jahr 1957 datierenden Manuskript lität, spricht die Irritation einer wie auch Strukturen der Lebenswelt bietet Schütz immer gearteten Routine an. Ab wann eine Unterscheidung von problematischen eine solche Abweichung, eine solche Ir- Situationen und Krisen an (vgl. ebd.: 325ff.). ritation vorliegt, ist jedoch kontingent. Von problematischen Situationen ist hier „Krise“ kann sich auf unterschiedlichste die Rede, wenn „[d]ie auf der Konstanz Phänomene beziehen, ist gleichermaßen der Weltstruktur aufgebauten Erwartungen „Alltagskonstruktion“ und „Konstruktion […] ‚explodieren‘ [mögen], das Gültige zweiten Grades“ (Schütz 2010: 334f.) – zweifelhaft, das Vermögliche undurchführ- 73 häufig wird diese Unterscheidung jedoch bar werden. Das vordem als fraglos-gege- nicht gemacht und in findet in der Analyse ben Angesetzte wird dann zum Problem, wenig Berücksichtigung. Dies führt auch einem theoretischen, praktischen oder zur eigentümlichen Ambivalenz der ob- emotionalen, das formuliert, analysiert jektiven Alltäglichkeit (Perspektive des/ und gelöst werden muss“ (ebd.: 327), das der Beobachter*in) von auf Außeralltäg- heißt, wenn dieses „Fragwürdigwerden lichkeit abstellenden Krisendiagnosen des bisher Fraglosen nur einzelne Elemente (Akteur*innenperspektive) – dem also, unserer lebensweltlichen Erfahrung erfasst“ was Joris Steg kürzlich auf den Begriff der (ebd.; Herv. S. K.). In Erweiterung dessen „normalen Anomalie“ gebracht hat (Steg spricht Schütz dann von einer „Krise“, 2020a: 427ff.; Steg 2020b). wenn auch „das ebenfalls als fraglos ge- geben hingenommene Schema unserer Für die hier verfolgten Zwecke lohnt somit Interpretation dieser Erfahrungen, also ein Blick auf einen spezifischen grundsätz- das, was Scheler die relativ-natürliche Welt lichen Bestimmungsversuch von „Krise“. anschauung genannt hat“ (ebd.), selbst Aus einer an Alfred Schütz anschließenden als Ganzes und grundlegend in Zweifel phänomenologischen Perspektive, die von gezogen wird. „Krisenlagen“ in diesem der in der natürlichen Einstellung selbst- Sinne können sowohl „persönlich-indivi- verständlich fraglos gegebenen Lebens- duelle[r]“, aber auch „soziale[r]“ Art sein, welt des Alltags ausgeht (vgl. Schütz 2003: also „alle Arten von religiösen, ehelichen, 327), lässt sich fragen, wann S ituationen geschäftlichen, gesundheitlichen Schwierig- und Prozesse als p roblematisch oder als keiten im Einzelleben“ meinen, oder aber SOZIOLOGIEMAGAZIN Nichts als die Wahrheit?
‚ K R I S E N ‘ U N D ‚V E R S C H W Ö R U N G S T H E O R I E N ‘ I N Z E I T E N D E R C O R O N A - PA N D E M I E „Naturkatastrophen, Krieg, Zusammen- aus phänomenologischer Perspektive also, brüche[] des ökonomischen oder sozialen dass eine „Fundamentalangst, die mit dem Systems im Leben der Gruppe“ (ebd.). Wissen um den eigenen Tod verbunden ist“, die „In-Frage-Stellung des Alltags“ Auch wenn Schütz zu verstehen gibt, dass (ebd.: 629) keineswegs außer Kraft setzt, es ihm nicht primär um die Auseinander- sondern – ganz im Gegenteil – schlechter- setzung mit so verstandenen „Krisen“ des dings motiviert. In und nach solchermaßen täglichen Lebens geht (vgl. ebd.), legt seine als existenzbedrohend wahrgenommenen Charakterisierung den Fokus doch gerade Situationen kann es somit zu einer Aufhe unter handlungs- und wissensanalytischen bung der Geltungsansprüche kommen, mit Gesichtspunkten auf das Erodieren von denen die Lebenswelt des Alltags in der Vertrautheiten und Selbstverständlichkeiten natürlichen Einstellung bislang erlebt und sowie auf sich damit einstellende hand- erfahren wurde (vgl. ebd.: 629f.). Dergestalt 74 lungspraktische Probleme. Krisen in diesem als krisenhaft begreifbare Erlebnisse bzw. Sinne betreffen des täglichen Lebens geht Erfahrungen können dann zu „‚Verwer- (vgl. ebd.), legt seine Charakterisierung fung[en]‘ des Sinnkonstitutionsprozesses“ den Fokus doch gerade unter handlungs- führen (Endreß 2018: 51), die gerade nicht und wissensanalytischen Gesichtspunkten in der natürlichen Einstellung aufgefangen auf das Erodieren von Vertrautheiten und werden können, denn ihre Funktion als Selbstverständlichkeiten sowie auf sich unbefragter Boden der Selbstverständ- damit einstellende handlungspraktische lichkeit wird schließlich in ihren Grund- Probleme. Krisen in diesem Sinne betreffen festen erschüttert und müsste zuerst selbst nicht nur, aber insbesondere die „Großen wiederhergestellt werden. Folglich wird Transzendenzen“ im Sinne Schütz’ und die von Schütz und Luckmann erläuterte Luckmanns: Gerade jene Erfahrungen, theoretische Einstellung schrittweise und/ die auf die letzte Grenze des eigenen Le- oder teilweise eingenommen, wodurch das bens – den (auch: „sozialen“ (Pommrenke alltäglich Selbstverständliche als – zumin- 2014: 313)) Tod – verweisen, können zum dest zeitweise in seinen Grundfesten – zu zumindest zeitweiligen Außerkraftsetzen Bezweifelndes in den Blick genommen der grundlegenden alltagsweltlichen Ideali- werden muss. Dies geschieht zunächst im sierungen führen und den stets nur bis auf Sinne einer „vortheoretischen Verwand- Weiteres gegebenen Selbstverständlichkeits lung[] der natürlichen Einstellung“ (ebd.: charakter ebendieser gleichsam ex negativo 631) angesichts der soeben angesprochenen zutage fördern (vgl. Schütz/Luckmann „Fundamentalangst“ und kann später – 2017: 628f.). Charakteristisch für solch von dieser befreit – in die theoretische schwere Krisen des täglichen Lebens ist Einstellung übergehen, in der erst das die Nichts als die Wahrheit? SOZIOLOGIEMAGAZIN
‚ K R I S E N ‘ U N D ‚V E R S C H W Ö R U N G S T H E O R I E N ‘ I N Z E I T E N D E R C O R O N A - PA N D E M I E „Fundamentalangst“ evozierende Wis- Hinsichtlich der analytischen Tragfähigkeit sen um den eigenen (auch sozialen) Tod eines solchen Krisenbegriffs ergibt sich in objektive Deutungszusammenhänge vorderhand das Problem, wie Krisen nun eingeordnet werden kann. Hierbei ver- von alltäglichen Handlungsproblemen liert das für die natürliche Einstellung der zu unterscheiden sind. Aus einer phäno- Lebenswelt des Alltags charakteristische menologisch-fundierten wissenssozio- pragmatische Motiv notwendigerweise logischen Perspektive kann festgehalten vorübergehend an Relevanz, da „für die werden: Krisenhaftigkeit erscheint nicht Zeit des in dieser Einstellung vollzogenen als bestimmten Ereignissen a priori zu- Denkens also sogar das eigene Selbst in kommende Qualität, sondern dieser Sinn seiner Leiblichkeit und Endlichkeit einer konstituiert sich erst durch und in Deu- Epoché [verfällt]“ (vgl. ebd.: 631f.). Inso- tungsprozessen und Handlungsvollzügen. fern erfahren die im Rahmen der natür Das heißt: Bis auf Weiteres unproblema- lichen Einstellung wirksamen und für die tische Situationen werden genau dann 75 Aufrechterhaltung der Handlungs- und zu problematischen und problematische Interaktionsfähigkeit unverzichtbaren, bis Situationen werden genau dann zu Krisen, auf Weiteres gültigen Idealisierungen des „wenn sich Handelnde in spezifischer Art Und-so-weiter, des Ich-kann-immer-wieder und Weise gegenüber diesen Situationen (vgl. ebd.: 34) und der Reziprozität der verhalten“, wie Alexander Antony, Gerd Perspektiven (vgl. ebd.: 99f.) eine massive Sebald und Frank Adloff betonen (2016: Erschütterung. Als präreflexiv-fungieren- 8, Herv. i. O.). Wenn also routinisierte de wie auch routinisiert-habitualisierte Deutungs- und Handlungsoptionen (zu- Ausklammerungen der immerwährenden mindest temporär) nicht mehr greifen, potentiellen Krisenhaftigkeit jeglichen Er- so schlagen Antony, Sebald und Adloff lebens und Erfahrens und damit jeglichen vor, kann die Rede von der (subjektiven) Wissens, Deutens und Handelns werden „Erfahrung der Unbewältigbarkeit bzw. sie in Krisen thematisch und damit ihres eines Sinnzusammenbruchs“ (vgl. ebd.: fungierenden Charakters zeitweilig beraubt. 8) sein: Als Krise ließe sich aus dieser So verstandene Krisen werden dann – auch Perspektive die „spezifische Qualität des wenn soziologischerseits deren objektive bedeutungsvollen Erfahrens bzw. Erlebens Alltäglichkeit im Sinne einer Konstruktion von Handlungs- und Interaktionssitua zweiten Grades (vgl. Schütz 2010 [1953]: tionen fassen, deren Bedeutungshaftigkeit 334 f.) sicherlich zu konstatieren ist – typi- sich paradoxerweise in ihrer (zumindest scherweise eben gerade nicht als „normale temporären) senselessness manifestiert“ Anomalien“ (Steg 2020a: 428; vgl. auch und (vorübergehend) praktisch nicht- Steg 2020b) alltagspraktisch wirkmächtig. beantwortbar ist (ebd.: 8 ff., Herv. i. O.). SOZIOLOGIEMAGAZIN Nichts als die Wahrheit?
‚ K R I S E N ‘ U N D ‚V E R S C H W Ö R U N G S T H E O R I E N ‘ I N Z E I T E N D E R C O R O N A - PA N D E M I E Im Sinne einer idealtypischen Unterschei- lautet vielmehr wie, sprich „auf welche Art dung ließen sich also aus einer an Schütz und Weise Handelnde Krisensituationen (und Luckmann) anschließenden Per- als solche für Mithandelnde anzeigen und spektive für die hier verfolgten Zwecke kommunizieren bzw. wie diese sich in analytisch bis auf Weiteres unproblema ihrem Tun dokumentieren“ (ebd.: 10). tische Situationen von – „[d]ie alltäglichen Hier sehen Antony et al. ein Kontinuum Selbstverständlichkeiten unseres Lebens- zwischen der expliziten Verwendung der vollzugs [ggf.; S. K.] fundamental“ (Block/ Krisensemantik und Fällen, in denen sich Ernst-Heidenreich 2020: 73) irritierenden krisenhafte Situationen auf weniger ex- – problematischen Situationen unterschei- plizite Weise dokumentieren (vgl. ebd.: den (vgl. auch Ernst-Heidenreich 2019), 10f.). Auch hier ist also letztlich von einer wie auch diese wiederum von „alltäg- „Relativität und Kontingenz“ der Darstel- liche Gewissheiten“ ggf. grundsätzlich lung einer Situation als Krise auszugehen 76 und nachhaltig erodierenden krisenhaften (vgl. ebd.: 11). Situationen unterschieden werden können. Die somit vorgeschlagene Betrachtungs Aus der Perspektive „distanzierter Beob- weise von Handlungs- und Interaktions achter:innen“ erscheinen Krisen damit krisen postuliert damit weder eine beobach- immer als doppelt relationale Abweichung, tungsunabhängige Phänomenklasse ‚Krise‘, und zwar zum einen von einer wie auch im- noch eine distinkte Unterscheidung ver- mer gearteten, unterstellten Normal- bzw. schiedener Ebenen des Sozialen, da somit Kontrastfolie und zum anderen mit Blick sowohl „körperliche Routinen, auftretende darauf, ab wann eine solche Abweichung Emotionen, das subjektive Bewusstsein vorliegt. Krisen kommen demnach als das oder das material-gegenständliche Umfeld“ vonseiten der Beobachtenden identifizierte wie auch „semantische Ordnungsstruk – je relativ zu sozio-historisch, sozio-kultu- turen (etwa Leitbilder oder Diskurse), […] rell und sozio-politisch spezifischen, unter- Institutionen oder Organisationen“ und stellten Kontrastfolien – Außeralltägliche „verschiedene gesellschaftliche Funktions- in den Blick (vgl. Antony et al. 2016: 9f.). bereiche“ als miteinander verwoben gedacht Und aus einer an die Ethnomethodologie werden können (ebd. 2016: 12). Krisen anschließenden, auf Teilnehmer*innen- zeigen insofern „das Zusammenwirken Darstellungen und -Konstruktionen ab- von gesellschaftlichen Strukturierungen zielenden Perspektive schließlich werden in der alltäglichen Lebenswelt“ ex negativo Krisen „nicht per se in der Erfahrung der auf und können so in methodologischer Unbewältigbarkeit bzw. des Sinnzusam- Hinsicht den Blick auf die ansonsten menbruchs identifiziert“, sondern die Frage nicht-thematisierte oder auf Nachfrage Nichts als die Wahrheit? SOZIOLOGIEMAGAZIN
‚ K R I S E N ‘ U N D ‚V E R S C H W Ö R U N G S T H E O R I E N ‘ I N Z E I T E N D E R C O R O N A - PA N D E M I E gar nicht-explizierbare, „historisch-kul- ährend der Corona-Pandemie nun gleich w turell variierende Geltung verschiedener in doppelter Hinsicht die Dominanz ei Ordnungsniveaus, Normalitäten und Ra- ner der beiden Möglichkeiten subjektiver tionalitäten“ (ebd. 2016: 13) lenken. Wirklichkeitsabsicherung beobachten. Statt Routinen, die für die derzeitige Lage grosso In Krisenzeiten werden also typischerweise modo nicht zur Verfügung stehen, gilt es, latent gehaltene Fragilitäten des Sozialen die Krisenhaftigkeit zu bewältigen, die manifest, gewöhnlich mehr oder weniger besonders in Grenzsituationen – wie etwa präreflexiv-fungierende sowie routinisierte drohendem (sozialen) Tod oder durch und habitualisierte Dimensionen des So- Kontakte mit konkurrierenden Wirklich- zialen thematisch. Krisen werden insofern keitsbestimmungen, die die routinemäßige von (soziologischen) Beobachter*innen subjektive Wirklichkeitsabsicherung ge- ganz im Sinne ihrer etymologischen Ur- fährden – auf den Plan treten kann und sprünge als mit Handlungsdruck versehene Bewältigungsstrategien sowie Gegenmaß- 77 Entscheidungssituationen unter Unsicherheit nahmen hervorruft (vgl. Berger/Luckmann konzipiert – allerdings gerade nicht im 2018: 158). Sinne eines beobachtungsunabhängigen Phänomens, das einen solchen Entschei- Bezeichnenderweise bringt nun die Corona- dungsdruck per se mit sich brächte, und Pandemie offenkundig die beiden hier an- ohne dass die vermeintlich adäquate Ent- gesprochenen Typen von Grenzsituationen scheidung zwischen Handlungsalterna- mit sich: Zum einen den grundsätzlich nur tiven den Involvierten angesichts der als mittelbar über andere erfahrbaren, jedoch Krise gedeuteten Prozesse und Situationen plötzlich in umfassender Weise thematisch damit bereits selbstevident gegeben wäre und relevant gewordenen Tod in Gestalt des (vgl. O evermann 2016 [2008]: 44 ff.; 63 Virus sowie sich daraus ergebende weit- f.). Solcherlei Situationen erscheinen aus reichende (politisch auferlegte) Restruk- der Perspektive der Deuten- und Handeln- turierungen des gewohnten alltäglichen Müssenden also gerade nicht als „normale gesellschaftlichen Lebens (vgl. zu einer Anomalien“ (vgl. Steg 2020a: 428, 2020b). möglichen Rahmung dieser pandemie induzierten Krisen (in) der Lebenswelt des Alltags einen gemeinsam mit Martin Zur doppelten Krisenhaftigkeit Endreß formulierten Kommentar: Endreß/ der Corona-Pandemie Klimasch 2020; vgl. für eine instruktive autoethnographische Perspektive auf die Mit Schütz (und Luckmann) sowie B erger mit der Corona-Pandemie sich einstel- und Luckmann gesprochen lässt sich lende „Erosion alltäglicher Gewissheiten“ SOZIOLOGIEMAGAZIN Nichts als die Wahrheit?
‚ K R I S E N ‘ U N D ‚V E R S C H W Ö R U N G S T H E O R I E N ‘ I N Z E I T E N D E R C O R O N A - PA N D E M I E auch Pierburg 2021). Zum anderen aber wohl kaum etwas „so sehr zur Verbreitung auch die Konfrontation mit an Plausibi- von Heterodoxien bei, wie deren laut lität und Popularität vermeintlich ge- starke Verurteilung durch die Orthodoxie“ winnenden fundamental abweichenden (Schetsche/Schmied-Knittel 2018a: 18): Wirklichkeitsbestimmungen in Form von Verschwörungstheorien – und damit die Was wir in den Leitmedien bis heu Notwendigkeit, sich sowohl privat wie auch te etwa über Verschwörungstheorien, öffentlich zu diesen verhalten zu müssen, alternative Heilmethoden oder auch was wiederum seinerseits als krisenhaft er- paranormale Erfahrungen lesen, hören fahren und/oder dargestellt werden kann. und sehen können, liefert empirische Diese sich auf Deutungsebene gleich in Nachweise für den Einsatz und auch die zweierlei Hinsicht vollziehende „Auflö- Wirksamkeit der klassischen, bereits von sung […] der routinierten gesellschaft Berger und Luckmann angesprochenen 78 lichen Normalität“ (Endreß/Zillien 2014: Abwehr- und Nihilierungsstrategien 14) hin zu einer Außeralltäglichkeit des gegenüber heterodoxem Wissen. gegenwärtigen Lebenszusammenhangs (Schetsche/Schmied-Knittel 2018a: 19) beschreibt die doppelte Krisenhaftigkeit der Corona-Pandemie: pandemieinduzier Die in Krisenzeiten offenkundig gestei- ten Krisen (in) der Lebenswelt des Alltags gerte Wirkmächtigkeit von Verschwö- werden flankiert von pandemieinduzierten rungstheorien lässt sich somit in zweierlei Wirklichkeitskrisen, die die Bindungskraft wechselseitig verschränkter Hinsicht wis- orthodoxer Bestimmungen der Pandemie senssoziologisch einordnen. Zum einen: infrage stellen. Wenn sozial bedeutsame Geschehnisse, Ereignisse oder Situationen als erklärungs- Werden orthodoxe Wirklichkeitsbestim- bedürftig angesehen werden, können sol- mungen im Zuge des zuvor beschriebenen, che Situationen und Prozesse eben gerade krisenhaft gedeuteten Prozesses womöglich dann als krisenhaft gedeutet werden, ihres Selbstverständlichkeitscharakters wenn ‚nicht-verschwörungstheoretische‘ beraubt und existieren daneben – diese Deutungsangebote je standortabhängig Pluralität ist für demokratische Gesell- schlicht nicht (mehr) plausibel schei- schaften wohl als konstitutives, struktu- nen wollen. Dies bedeutet jedoch weder, rell ambivalentes Merkmal zu verstehen dass orthodoxe Wissensbestände nicht (vgl. Endreß 2020b: 50) – auch heterodoxe erlaubten, das Geschehene plausibel zu Wirklichkeitsbestimmungen (im Sinne von deuten (vgl. Anton/Schetsche 2020: 103), Bergers und Luckmanns Charakterisie- noch dass die Demonstrierenden auf- rung von Wirklichkeitskrisen), dann trägt grund psychischer Dispositionen nicht Nichts als die Wahrheit? SOZIOLOGIEMAGAZIN
‚ K R I S E N ‘ U N D ‚V E R S C H W Ö R U N G S T H E O R I E N ‘ I N Z E I T E N D E R C O R O N A - PA N D E M I E " anders können. Wie die je perspektivisch Die Pathologisierung gebrochen womöglich notwendig erschei- subjektiver Krisen der nenden Überprüfungen und etwaige Neu justierungen der subjektiven Wirklichkeit Wirklichkeit stärkt im oben beschriebenen Sinne ausfallen ebenso wie das Lächer- und welche handlungspraktischen An- lich-Machen dieser schlüsse sich damit verbinden mögen, hängt maßgeblich von verschiedenen Deutungen und ihrer biographischen sowie sozio-historisch Träger(gruppen) para- und sozio-kulturell spezifischen gesell- doxerweise deren Plau- schaftlichen Umständen ab (vgl. Schütz/ Luckmann 2017: 629f.). Krisen rücken also sibilität(sstrukturen) den gesellschaftlichen Wissensvorrat, ins- und befördert mithin besondere die für solche Grenzsituationen selbst deren Popularität. 79 verfügbaren, vorgefertigten Deutungsan- gebote sowie deren Plausibilität(sstruk- eren (kaum klar auszumachenden) Trä- d turen) und Bindungskraft in den Blick. ger(gruppen) in Form von andauernden Die in Krisenzeiten offenbarte Lücke im pejorativen Bezugnahmen. Mit anderen subjektiven Wissensvorrat kann dann Worten: Die Pathologisierung subjektiver durch im gesellschaftlichen Wissensvorrat Krisen der Wirklichkeit stärkt ebenso wie eben auch sedimentierte alternative bzw. das Lächerlich-Machen dieser Deutungen heterodoxe Deutungsangebote geschlos- und ihrer Träger(gruppen) paradoxerweise sen werden. Dies jedoch ist (wissens) deren Plausibilität(sstrukturen) und beför- soziologisch nicht zufriedenstellend als dert mithin selbst deren Popularität (vgl. individuell-essenzialistische Abweichung Schetsche/Schmied-Knittel 2018a: 13ff.). analysierbar, wie Peter L. Berger, Brigitte Berger und Hansfried Kellner deutlich Die gegenwärtig beobachtbare scharfe Ab- machen: „[J]ede Art von Bewußtsein ist grenzung gegenüber Verschwörungstheo nur unter besonderen sozialen Bedingun- rien und -theoretiker*innen kann insofern gen plausibel. Diese Bedingungen nennen als Bewältigungsversuch, als „Normalisie- wir eine Plausibilitätsstruktur.“ (Berger et rungsbemühung“ (vgl. G arfinkel 2020: 107) al. 1987: 19f.) Und diesen Plausibilitäts- einer vonseiten der Orthodoxie als solche strukturen zuträglich ist zum anderen gedeuteten (pandemieinduzierten) Wirklich die zu Zeiten der Corona-Pandemie be- keitskrise im Sinne Bergers und Luckmanns obachtbare fortwährende Präsenz eben- gefasst werden, wie auch vice versa die dieser heterodoxen Deutungsoptionen und Vergemeinschaftungsprozesse aufseiten SOZIOLOGIEMAGAZIN Nichts als die Wahrheit?
‚ K R I S E N ‘ U N D ‚V E R S C H W Ö R U N G S T H E O R I E N ‘ I N Z E I T E N D E R C O R O N A - PA N D E M I E der Querdenker*innen auf ebendiese Implikationen einer politisch- Sozio-Logik verweisen. Mit Blick auf die soziologischen Neubestimmung hier untersuchte Beziehung zwischen Krisen und Verschwörungstheorien dient dabei Unter den historischen Voraussetzungen der Topos „Krise“ zunächst dem Hand- einer sich als liberal-demokratisch be- habbar- und Kommunizierbar-Machen schreibenden Gesellschaft wie auch der der mit der prinzipiellen Nicht-Fassbarkeit – infolge der Erfahrungen des National- der allgegenwärtigen Bedrohung durch sozialismus – in den USA und Westeuropa das Virus einhergehenden fundamentalen vor ca. 75 Jahren einsetzenden Delegitimie- Verunsicherung. Die zunehmende (affir- rungs- und Stigmatisierungspraxis gegen- mative wie pejorative) Bezugnahme auf über Verschwörungstheorien (vgl. Butter die Verschwörungssemantik zielt sodann 2018: 151 ff.) treten zentrale Parallelen zu auf die Normalisierung dieser Entwicklun- gegenwärtig erfolgreichen, teils quer zu 80 gen durch die Restituierung bestehender altbekannten politischen Lagergrenzen Grenzen oder gar neuer oder schärferer liegenden Populismen hervor (vgl. B utter Grenzziehungsprozesse zwischen Sinnwel- 2018: 170ff.; Vobruba 2019: 99f.; V obruba ten. Die insofern doppelte Krisenhaftigkeit 2020: 116; Nachtwey et al. 2020: 51ff.). der gegenwärtig beobachtbaren „Auflösung Diese können das Verhalten von Eliten […] der routinierten gesellschaftlichen immer auch verschwörungst heoretisch Normalität“ (Endreß/Zillien 2014: 14) deuten, müssen dies aber nicht (vgl. Butter vollzieht sich damit konstitutiv auf der 2018: 173ff.). Die mit (nicht-)verschwö- Deutungs- und zunehmend nun auch auf rungstheoretisch imprägnierten Deu- der Handlungsebene. tungsmustern einhergehende Protestpraxis scheint allerdings – wie auch gegenwärtig Mit Blick auf den hier verhandelten Phä- bei den „Hygiene-Demos“ zu beobachten nomenbestand bleibt also analytisch zwi- ist – demgegenüber indifferent: Die Idee schen mindestens zwei je als krisenhaft der illegitimen Oktroyierung von Corona- gedeuteten Prozessen zu unterscheiden: Maßnahmen scheint ungeachtet spezifi- die –phänomenologisch gesprochen – in scher Erklärungsangebote für ebendieses der (1) Nicht-Sichtbarkeit des Virus selbst Elitenhandeln nicht nur spaltenden, son- gründende Krisenhaftigkeit (in) der pan dern ganz ebenso integrativen Charakters demischen Lebenswelt des Alltags wird zu sein (vgl. Nachtwey et al. 2020: 14f., 52, dabei gewissermaßen konterkariert von der 60f.). Alternativen Wirklichkeitsbestim- (2) als Wirklichkeitskrise beschreibbaren mungen, die die komplexe virologische, erhöhten Sichtbarkeit verschwörungstheo epidemiologische, gesellschaftliche und retischer Deutungsangebote. politische Lage entweder gänzlich negieren Nichts als die Wahrheit? SOZIOLOGIEMAGAZIN
‚ K R I S E N ‘ U N D ‚V E R S C H W Ö R U N G S T H E O R I E N ‘ I N Z E I T E N D E R C O R O N A - PA N D E M I E oder aber für wahr halten, dann jedoch Geringeres geht als die gesellschaftlich auf eine Verschwörung zurückführen und ausgetragene Entscheidung darüber, wer damit einfache Feindbilder evozieren, die Wahrheit sagt – entsprechend treten scheinen sich im Sinne der Charakteris- wenig verwunderlich auch beide Seiten tika sozialer Deutungsmuster (vgl. Anton zunehmend mit Absolutheitsansprüchen 2011: 72ff.) aktuell in besonderer Weise auf. Anton, Schetsche und Walter formu- zur Bewältigung anzubieten. Ihnen wird lieren daher: dabei das Potenzial zugeschrieben, zum Bedrohungsmoment des gesellschaftlichen Der Begriff ‚Verschwörungstheorie‘ und Zusammenhalts wie auch der politischen die damit verbundenen Zuschreibungen Ordnung werden zu können. sind selbst immer auch Teil des Kampfes um die Definitionsmacht über soziale Eine in ihrer Bedeutung insofern wohl Wirklichkeit. Wenn das, was als fiktive kaum zu unterschätzende, jedoch erst Verschwörung(stheorie) gilt, und das, 81 allmählich beginnende politisch-sozio- was als reale Verschwörung angenom logische Neubestimmung des Phänomens men wird, durch diskursive Zuschrei „Verschwörungstheorien“ kann hier nicht bungsprozesse und Deutungskämpfe geleistet werden. Die Überlegungen Bergers innerhalb der Gesellschaft bestimmt und Luckmanns zum gesellschaftlichen wird, lässt sich das Phänomen ‚Ver Umgang mit abweichenden Wirklichkeits- schwörungstheorien‘ wissenschaftlich bestimmungen bieten allerdings verschie- nur durch eine relationale Betrach dene zentrale Anknüpfungspunkte. Aus tungsweise adäquat fassen. (Anton et wissenssoziologischer Perspekt ive sind al. 2014: 12f.) diejenigen sozialen Prozesse zu fokus- sieren, in denen die Delegitimierung qua Dem Phänomen der Verschwörungs Nihilierung (vgl. Berger/Luckmann 2018: theorien dürfte insofern mit wechselseitig 121ff.) von als verschwörungstheoretisch pathologisierenden und inferiorisierenden bezeichneten Wissensbeständen unter- Diffamierungen weder alltagspraktisch nommen wird – eine Form der negativen noch medial oder politisch beizukom- Legitimierung orthodoxer Wissensbestände men zu sein. Ebenso wenig scheint eine und deren Trägergruppen. Die soziologisch solche Herangehensweise soziologisch anschlussfähige, hochnormative Kom- vertretbar oder tragfähig, und zwar gerade ponente der aktuell vor allem (sozial-) dann nicht, wenn der Begriff in politisch psychologisch informierten Debatten selbst einigermaßen turbulenten Zeiten Kon- wird gegenwärtig jedoch selten explizit junktur erfährt, indes zunehmend diffus thematisiert, obwohl es doch um nichts zu werden droht und letztlich vor allem als SOZIOLOGIEMAGAZIN Nichts als die Wahrheit?
‚ K R I S E N ‘ U N D ‚V E R S C H W Ö R U N G S T H E O R I E N ‘ I N Z E I T E N D E R C O R O N A - PA N D E M I E s tigmatisierendes Label zur Bezeichnung a priori ein negativer bzw. inferiorer on- vielfältiger unliebsamer Wirklichkeitsbe- tologischer Status zugeschrieben wird. stimmungen und devianter Verhaltens- Nicht nur sind ihre Theorien (epistemo-) weisen Verwendung findet. Gerade diese logisch aus der Perspektive der sich an- soziologisch hochanschlussfähigen (dis- gegriffen sehenden und verteidigenden kursiven) Verschiebungen gehören somit – Sinnwelten nicht haltbar, sondern sie hier ist meines Erachtens Anton, Schetsche sind vor allem auch normativ unhaltbar; und Walter (siehe oben) zu folgen – in den in nuce: illegitim (vgl. ebd.: 123). Die als Fokus wissenssoziologischer Analysen solche wahrgenommene, von konkur- des Phänomens Verschwörungstheorien rierenden Wirklichkeitsbestimmungen in Zeiten der Corona-Pandemie gerückt. und deren durchaus heterogenen Träger (gruppe)n (vgl. Genner/Dietzsch 2020: Die gegenwärtig sowohl in massen 78ff.) ausgehende (politische) Gefahr 82 medialen, politischen und wissenschaft wird so zu neutralisieren versucht, indem lichen Diskursen als auch in alltäglichen wechselseitig unterstellt wird, dass die je Interaktionszusammenhängen gesteigerte perspektivisch gebrochen als „Leugner“ Prominenz (sozial-)psychologischer und zu Bezeichnenden ohnehin nicht wirk- teils klinisch-psychologischer Erklärungs- lich wissen, was sie sagen (vgl. Berger/ ansätze für Verschwörungstheorien deutet Luckmann 2018: 124). Gerade deshalb darauf hin, dass eine „diagnostische Me- muss man auch aktuell thodik und ein theoretisches System der ‚Seelenheilung‘“ (Berger/Luckmann 2018: nur sorgfältig auf ihre Aussagen achten, 121), also der Therapie, bis zu einem gewis- die ihren Defensivcharakter und ihre sen Grad nachgefragt ist und für möglich Verlogenheit enthüllen. Was immer gehalten wird: Ironischerweise wird so- gesagt wird, läßt sich in Bestätigung wohl von orthodoxer als auch von hetero der [konkurrierenden] Sinnwelt, die doxer Seite regelmäßig die Rückbesinnung äußerlich verleugnet wird, übersetzen. auf den „gesunden Menschenverstand“ (ebd.: 124) bemüht. Andererseits: Mit Blick auf die hoffnungslosesten Fälle der sogenannten Wenngleich also gegenwärtig offenbar Corona-Leugner*innen und Covidiot* vorwiegend die Strategie der Nihilierung innen (oder eben: die „hoffnungslosesten wechselseitig verfolgt zu werden scheint, Schlafschafe“) legt sich gegenwärtig of- ist hier doch womöglich in Erweiterung fenbar eher die Strategie der Nihilierung der von Berger und Luckmann skizzierten nahe, wenn den von ihnen behaupteten Strategien zur Bewältigung von Wirklich- Phänomenen und ihren I nterpretationen keitskrisen von sich wechselseitig in ihrer Nichts als die Wahrheit? SOZIOLOGIEMAGAZIN
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