Krisen' und Verschwörungs theorien' in Zeiten der Corona Pandemie - Uni Trier

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‚ K R I S E N ‘ U N D ‚V E R S C H W Ö R U N G S T H E O R I E N ‘ I N Z E I T E N D E R C O R O N A - PA N D E M I E

‚Krisen‘ und ‚Verschwörungs­
theorien‘ in Zeiten der
Corona-Pandemie
Wissenssoziologische Analysen

                                                                                                                             65
                                                                                    von Sebastian Klimasch

In Zeiten der Corona-Pandemie dominieren Krisendiagnosen das Tagesgeschäft.
Zu deren zentralen Bezugspunkten zählen neben (den Folgen) der Pandemie­
bekämpfung im engeren Sinne vor allem sogenannte Verschwörungstheorien und
Verschwörungstheoretiker*innen. Zum einen mehren sich angesichts der von den
„Querdenker*innen“ initiierten „Hygiene-Demonstrationen“ Krisendiagnosen,
die in der gegenwärtigen Protestpraxis den vorläufigen Höhepunkt eines demo-
kratiezersetzenden „postfaktischen Zeitalters“ sehen. Zum anderen werden die

                                                                                                                  abstract
Gründe für diesen vermeintlichen Popularitätszuwachs von Verschwörungs-
theorien ihrerseits in der Krisenhaftigkeit der Pandemie verortet. Das Moment
der Krisenhaftigkeit wird also regelmäßig sowohl als Ursache wie auch als Folge
von Verschwörungstheorien verhandelt. Der vorliegende Beitrag gewinnt sein
Untersuchungsinteresse aus dieser prominenten diskursiven Verknüpfung von
subjektiven und gesellschaftlichen Krisen einerseits sowie Verschwörungs­
theorien andererseits. Aus der Perspektive einer phänomeno­logisch-fundierten
Wissenssoziologie will er auf eine theoretisch-­konzeptionelle Alternative zur bis-
lang öffentlich dominierenden Bestimmung dieses nicht nur gegenwärtig kultur­
bedeutsamen Phänomenbestands v­ erweisen.

Schlagwörter
Krise; Verschwörungstheorien; Phänomenologie; Konstruktivismus

SOZIOLOGIEMAGAZIN                   https://doi.org/10.3224/soz.v14i1.05                   Nichts als die Wahrheit?
‚ K R I S E N ‘ U N D ‚V E R S C H W Ö R U N G S T H E O R I E N ‘ I N Z E I T E N D E R C O R O N A - PA N D E M I E

     Von Deutungskrisen und (un­                                  ­ andlungsrichtlinien verlangt, die so-
                                                                  H
     liebsamen) Krisendeutungen                                   wohl hinreichend alltägliche (Handlungs-)
                                                                  Sicherheit gewährleisten als auch weit-
     „So viel Wissen über unser Nichtwissen                       reichende politische Maßnahmen legi-
     und den Zwang, unter Unsicherheit han-                       timieren sollen. Während der Pandemie
     deln und leben zu müssen, gab es noch                        wird so fortwährend versucht, die „Fä-
     nie.“ (Habermas, zitiert nach Schwering                      higkeit, rechtzeitig angemessen zu han-
     2020). So charakterisierte Jürgen Habermas                   deln“ (­Wagner 2020) maßgeblich über die
     die Corona-Pandemie am 7. April 2020                         Konsultation wissenschaftlicher Expertise
     in der Frankfurter Rundschau. Pande-                         (wieder)herzustellen (vgl. Hitzler 1994).
     mien scheinen genuine „Wissenskrisen“                        Schlechterdings kann dieser Anspruch
     (Mezes 2020; vgl. Wagner 2020) zu sein,                      jedoch von wissenschaftlicher Seite nur
     insofern ihr Auftreten zwar zunehmend                        selten rechtzeitig und umfassend einge-
66   wahrscheinlicher wird (Wissen), jedoch                      löst werden (vgl. Wagner 2020; P  ­ risching
     weder genaue Vorhersagen bezüglich des                       2020). Fortwährend öffentlich ausgetra-
     Orts, des Zeitpunkts und des Ausmaßes                        gene Debatten um die Belastbarkeit be-
     eines Ausbruchs noch hinsichtlich der                        reits kommunizierter Studienergebnisse
     Beschaffenheit des Erregers getroffen wer-                   kreisten insofern von Anfang an um deren
     den können (Nichtwissen). Prognosen                          Fragilität und Liquidität. Damit einherge-
     bzgl. zu erwartender Krankheits- und                        hende, wiederholte Kursjustierungen in
     Pandemieverläufe, vermeintlich erfolgsver­                  der Pandemiepolitik bieten offenkundig
     sprechender Eindämmungsmaßnahmen                            große Einfallstore für die Kritik an (natur)
     wie auch potenzieller gesamtgesellschaft-                   wissenschaftlichem Wissen als Inbegriff
     licher (Neben-)Folgenkonstellationen und                    von „Objektivität und Wahrheit“ (Kuck
     Transformationsprozesse bleiben somit                       2020: 244ff.) sowie dessen Orientierungs-
     notwendig prekär (Nichtwissen) (vgl. Me-                    potenzial für politische Entscheidungen
     zes 2020; Dörre 2020: 166f.; Rosa 2020:                     und Fragen der alltäglichen Lebensführung
     204f.; Lessenich 2020: 217f.; Block/Ernst-­                 (vgl. Anton 2020a: 15). So beobachtet
     Heidenreich 2020: 74f.).                                    ­Alexander Bogner (2020, 2021) nach einer
                                                                  ersten Phase der weithin unhinterfrag-
     Wissenschaftliches Wissen erfährt in sol-                    ten Dominanz eines naturwissenschaft-
     chen Situationen besondere Aufmerk-                          lich-medizinischen Primats eine zweite
     samkeit: Unter den Vorzeichen der Un-                        Phase des politischen Primats, mit dem
     sicherheiten und Unwägbarkeiten eines                        eine beträchtliche Erweiterung des Kreises
     diffusen Pandemiegeschehens wird nach                        relevanter Expertisen und eine Verschie-
     möglichst eindeutigen, e­ videnzbasierten                    bung von quasi-szientistisch verhandelten

     Nichts als die Wahrheit?                                                                   SOZIOLOGIEMAGAZIN
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Fragen hin zu (be)wert(ungs)bezogenen                       deutlich hervor: Zwar werden sogenannte
Grundsatzkontroversen einhergegangen                        verschwörungstheoretische Deutungsange-
sei (vgl. Bogner 2021: 20ff.). Durch die                    bote ebenso wie die entsprechende Sozial-
Pandemie vorangetriebene Aushandlungs-                      figur des/der Verschwörungstheoretiker*in
und Bewertungsprozessen von Expertise                       regelmäßig ins Lächerliche gezogen, ja
innerhalb von, zwischen wie auch quer zu                    „ridikülisiert“ (Schetsche/Schmied-Knittel
gesonderten Wissensbereichen vermitteln                     2018a: 15). Gleichwohl wird ihre gegen-
so das Bild einer inflationären Verviel­                    wärtig erhöhte Sichtbarkeit mittlerweile
fältigung von Expertise bei einer gleich-                   auch in der Bundesrepublik vermehrt als
zeitigen Diagnose seiner epistemischen                      ernstzunehmendes Krisensymptom ge-
Vorläufigkeit und Prekarität. Mehr oder                     handelt. Neben Analysen, die die hohe
weniger generalisierte Verlustanzeigen der                  Aufmerksamkeit für die Corona-Proteste
Vertrauenswürdigkeit (natur)wissenschaft-                   als Resultat „mediale[r] Verdrehung“, als
lichen Wissens avancierten vor diesem                       „self-fulfilling prophecy“ (Welzer 2020)                    67
Hintergrund zum zentralen Topos des                          i. S. einer regelrechten „Verschwörungs­
„Widerstands“ (Menzel 2020) und Protests                     (theorie)­panik“ (Butter 2019) einordnen,
gegen die Unverhältnismäßigkeit pande-                       ist mittlerweile ebenso häufig nachzulesen,
miepolitischer Maßnahmen in Gestalt von                      dass „[d]ie Pandemie […] weltweit Angst
„Hygiene-Demonstrationen“ (vgl. Mezes                        und Unsicherheit [schürt] – der ideale
2020; Nachtwey et al. 2020: 54ff.).                          Nährboden für konspiratives Denken.“
                                                             (Staas/Ullrich 2020: 15). In diesem Sinne
Die aktuell mit Blick auf die Corona-Pro-                    funktionierten „Verschwörungstheorien
teste geführten Debatten zeichnen sich                       […] in der gegenwärtigen Krise perfekt,
mithin vor allem durch die Problemati-                       da sie scheinbar klare Antworten auf die
sierung alternativer Wirklichkeitsbestim-                    Unsicherheit geben“, so Michael Butter (zi-
mungen aus, die zumeist unter dem Begriff                    tiert nach Werner/Flohr2020: 111). Damit
der ‚Verschwörungstheorie‘ subsumiert                        greift er seine bereits im Jahre 2016 ver-
werden. Und zwar auch dann, „wenn die                        tretene Position wieder auf, denn: „[d]iese
damit bezeichnete Argumentation gar                         ­Theorien erklären die Welt. Das heißt,
keine Verschwörungsbehauptung enthält“                       sie schaffen Sinn und lösen Chaos auf.
(Anton 2020a: 18). Mit Andreas Anton lässt                   […] Diese These […] ist auch sehr zutref-
sich insofern festhalten: „Die Aussage, dass                 fend, weil in Krisenzeiten Erklärungsnot
Verschwörungstheorien derzeit Hochkon-                       herrscht. Und Verschwörungstheorien
junktur haben, hat derzeit Hochkonjunk-                      bieten Erklärung und Sinnhaftigkeit an.“
tur.“ (ebd.: 12) Dabei tritt während der                     (Butter, zitiert nach Stoppel 2016). Aus
Pandemie eine grundlegende Ambivalenz                        dieser Perspektive scheint also die These

SOZIOLOGIEMAGAZIN                                                                          Nichts als die Wahrheit?
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     "
              Als Ursache für den vermeintlichen Popularitäts­
           zuwachs von als verschwörungstheoretisch bezeich-
            neten Deutungsangeboten wird die in Krisenzeiten
             gesteigerte „Erklärungsnot“ gehandelt. Verschwö-
             rungstheorien kommen dann vor allem als indivi-
               duelle Krisenbewältigungsstrategie in den Blick.

     generalisierbar zu sein: „Wenn die Welt                     Lamberty/Knäble 2020; vgl. Menzel 2020;
     aus den Fugen gerät, blühen Verschwö-                       Anton 2020a: 18f.). Sinnbildlich hierfür
     rungstheorien.“ (Staas/Ullrich 2020: 6)                     steht die dieser Tage von der Weltgesund-
                                                                 heitsorganisation (WHO) wirkmächtig
68   Als Ursache für den vermeintlichen Po-                      etablierte metaphorische Übertragung
     pularitätszuwachs von als verschwörungs-                    des Pandemie-Geschehens auf die mit
     theoretisch bezeichneten Deutungsange-                      diesem einhergehenden selbstverständlich-
     boten wird die in Krisenzeiten gesteigerte                  keits-, vertrauens- und wissensbezogenen
     „Erklärungsnot“ gehandelt. Verschwö-                        Ero­sions­prozesse als „infodemic“ (WHO
     rungstheorien kommen dann vor allem                         2020; vgl. Mezes 2020; Anton 2020a: 12).
     als individuelle Krisenbewältigungsstra­                    Entsprechend häufen sich Krisendiagnosen
     tegie in den Blick. Entsprechend werden                     mit Blick auf die Akzeptanz und Anerken-
     Verschwörungstheorien im Kontext der                        nung von journalistischen, wissenschaft-
     Corona-Pandemie mittlerweile sowohl                         lichen oder politischen Expertisen. Dass
     von politischer Seite als auch im öffent-                   sogenannten Verschwörungstheorien und
     lichen Diskurs – dominant (sozial-)psy-                     denjenigen, die sie propagieren, erheb­
     chologisch informiert – unter Verweis auf                   liches Irritations-, Desorientierungs- und
     „Verschwörungsmentalitäten“ (etwa in: LpB                   Desintegrations-, ja Krisenpotenzial für
     BW 2020; BpB 2020) mit individuellen,                       demo­kratische Gegenwartsgesellschaften
     persönlichkeits- bzw. charakterstruktur-                    zugeschrieben wird, setzt dabei voraus, dass
     bedingten Neigungen bzw. Tendenzen                          diese nicht von einer Mehrheit, sondern
     zusammengebracht. Dabei werden sie nicht                    nur von einer bedrohlichen Minderheit
     selten a priori zu einer illegitimen, also                  geteilt werden. Die forcierte Markierung
     einer kognitiv wie normativ unhaltbaren                     eines – gerade auch dadurch – gegenwärtig
     Form der Krisenbewältigung erklärt und                      an Sichtbarkeit gewinnenden Typus krisen­
     zunehmend selbstverständlich als poli­                      bewältigenden Denkens und Wissens als
     tische Gefahr problematisiert (etwa in:                     „Verschwörungstheorie“ in Medien und

     Nichts als die Wahrheit?                                                                   SOZIOLOGIEMAGAZIN
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Politik verweist dabei auf den antizipierten                Zur Diffusion alltagsweltlicher
Verlust der eigenen Wirklichkeitsautorität                  Begriffsverwendungen in die
(vgl. Anton 2020a: 18).                                     Soziologie

Der vorliegende Beitrag befasst sich mit                    Verschwörungstheorien firmieren diszi­
diesem vielfach bearbeiteten Phänomen-                      plinen­ü bergreifend in mannigfachen
bestand von Krisen und Verschwörungs­                       theoretischen Varianten als „Krisenbe-
theorien aus der Perspektive der phänome-                   wältigungsstrategie“ (vgl. Groh 1992: 296;
nologisch fundierten Wissenssoziologie am                   Groh 2001; Ruch 2010: 9; Pfahl-Traughber
Beispiel der Corona-Pandemie. Er versteht                   2004: 55; Fenster 2008: 90). Gemein ist
sich insofern als Versuch, die These des Er-                diesen Ansätzen – so ­Sascha Pommrenke
starkens sogenannter Verschwörungstheo-                     (2014: 310) –, dass sie als „wesentlichen
rien und theoretiker*innen in Krisenzeiten                  Begründungszusammenhang von Ver-
pluralistischer, der Selbstbeschreibung                     schwörungsdenken […] das Bedürfnis                          69
nach liberal-demokratisch verfasster Ge-                    nach (Welt-)Orientierung, besonders nach
sellschaften am Fall der Corona-Pandemie                    Krisen“ sehen. Diese populäre These findet
aus einer solchen Perspektive einzuordnen.                  sich jedoch bis heute meist in hartnäckiger
Hierzu wird ein argumentativer Drei-                        Frontstellung zwischen zwei Positionen
schritt unternommen, der – ausgehend                        eingebettet, die eine „wissenschaftliche
von einer Problematisierung der Diffusion                   Spiegelung des lebensweltlichen Ver-
alltagsweltlicher Begriffsverwendungen in                   ständnisses des Begriffes [Verschwörungs­
die Soziologie – eine analytische Spezifi-                  theorie, SK]“ (Anton/Schetsche 2020:
zierung der Phänomene ‚Krise‘ und ‚Ver-                     91) genährt hat und weiterhin nährt. So
schwörungstheorie‘ im Anschluss an die                      zeigt Oliver Kuhn (2014: 327f.) auf, dass
phänomenologisch fundierte Sozialtheorie                    sich infolge der paradigmatischen Texte
Alfred Schütz’ und Thomas Luckmanns                         von Richard ­Hofstadter (The Paranoid
(2017) sowie die (allgemeine) Wissens­                      Style in American Politics (1996)) und
soziologie Peter L. Bergers und Luckmanns                   Karl Popper (Die offene Gesellschaft und
(2018) vorschlägt. Vor diesem Hintergrund                   ihre Feinde (2003)) zwei Diskursstränge
werden schließlich Implikationen einer                      seit den 1990er Jahren mehr oder min-
politisch-soziologischen Neubestimmung                      der unabhängig von­e inander kontinu-
des Phänomens „Verschwörungstheorie“                        ieren: Charakteristisch für die bisherige
skizziert.                                                  wissenschaftliche Auseinandersetzung
                                                            mit Verschwörungstheorien seien ent-
                                                            weder „repressiv“ oder „permissiv“
                                                            verein­s eitigende Perspektiven. Erstere

SOZIOLOGIEMAGAZIN                                                                          Nichts als die Wahrheit?
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     ordneten Verschwörungstheorien unter                        ­offenkundig ­überhandnehmende norma-
     impliziter oder expliziter Bezugnahme                        tive (Ab-)Geschlossenheit aufzubrechen,
     auf ­Hofstadters Essay (1996) a ­priori der                  statt diese schlicht zu reproduzieren.
     Sphäre des „Wahnhaften“ zu oder proble-
     matisierten diese mit Verweis auf Poppers                   Dass im Zuge der Ausdeutung und Be-
     Ausführungen als Auswüchse des „Ir­                         schreibung solch weltumspannender und
     rationalen“ und suchten ihnen folglich den                  folgenreicher sozialer Prozesse wie der
     Nachweis epistem(olog)ischer Inferiorität                   Corona-Pandemie der Begriff „Krise“
     zu führen. Auf „permissiver“ Seite werde                    Konjunktur erfährt, ist wenig verwunder-
     dementgegen die Freigabe und Förderung                      lich: So scheint er bevorzugt immer dann
     verschwörungstheoretischer Wissensbe-                       zum Einsatz zu kommen, wenn Situatio-
     stände geradezu uneingeschränkt einge-                      nen der Unsicherheit, des Umbruchs, der
     fordert, da sie die Wahrscheinlichkeit                      Offenheit, des wie auch immer gearteten
70   erhöhten, „reale Verschwörungen aufzu-                      Missstands – kurz und in Anlehnung an
     decken“ (Kuhn 2014: 328f.). Abseits dieser                  Niklas Luhmann (1984): nahezu jedwe-
     Frontstellung wurden analytisch-­neutrale,                  de vorstellbare Kontingenzerfahrung –
     sozio- bzw. diskurslinguistische sowie                      beschrieben werden soll (vgl. K   ­ oselleck
     kultur- und wissenssoziologische Ansätze                    1969, 1982, 2006; Bühl 1984; H  ­ abermas
     zur Analyse von Verschwörungstheorien                       1973; Opp 1978; ­Prisching 1986; ­Preunkert
     im deutschsprachigen Raum zuletzt unter                     2011; R­ epplinger 1999; Schulze 2011; Steil
     anderem in Beiträgen von Anton (2011,                       2014; Mayr 2014; ­Oevermann 2016; An-
     2020a, 2020b), einem Sammelband von                         tony et al. 2016; Kiess 2019; Steg 2020a,
     Andreas Anton, Michael Schetsche und                        2020b). Andererseits aber bietet genau
     Michael Walter (2014), der Disserta­tions­                  dieser Umstand ein Einfallstor für die
     schrift von Kim Meyer (2018), einem                         Frage danach, welche Signale die un-
     interdisziplinären Sammelband von Sören                     hinterfragte Übernahme eines solchen
     Stumpf und David ­Römer (2020) sowie                        Krisenbegriffs in den (Sozial-)Wissen-
     der Dissertationsschrift von Alan Schink                    schaften (nicht nur) mit Blick auf den
     (2020b, siehe Beitrag in diesem Heft) vor-                  postulierten Zusammenhang mit Ver-
     gelegt. Diese Beiträge können sowohl als                    schwörungstheorien sendet. Ein dezi-
     instruktive methodologische Appelle wie                     diert wissenssoziologischer Beitrag, der
     auch als theoretisch-kon­zeptionelle (Neu-)                 sich systematisch dem Zusammenhang
     Bestimmungsversuche gelesen werden,                         von Krisen und Verschwörungstheorien
     um die in den gegenwärtigen Diskussio-                      widmet, stellt insofern ein Desiderat dar,
     nen um den vermeintlichen Königsweg                         obschon entsprechende Verknüpfungen
     im Umgang mit Verschwörungstheorien                         vielerorts zu finden sind, denn: Was –

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gerade, wenn Verschwörungstheorien als                      ­gegenwärtigen Aufmerksamkeitszuwachs
Krisenbewältigungsstrategie aufgefasst                       für verschwörungstheoretische Deutungs-
werden – soziologisch unter Krise zu                         angebote liegen kann. Zumal diese regel-
verstehen ist, und ob bzw. inwiefern sol-                    mäßig im Kontext mehr oder weniger
cherlei Wissensbestände in Krisenzeiten                      profunder, über die Corona-Pandemie
an „Plausibilitätsstrukturen“ (Berger et                     hinausreichender gesellschaftsbezogener
al. 1987: 19f.) gewinnen, bedarf einer                       Krisendiagnosen (etwa der Demokratie,
theoretisch-konzeptionellen Präzisierung.                    der politischen Kultur, des (politischen)
                                                             Vertrauens etc.) verortet werden. Diese
Diese Befunde weisen damit für das hier                      Diagnosen haben also genuin soziale (Kri-
verfolgte Anliegen auf ein zentrales Pro-                    sen-)Phänomene im Blick und können
blem hin: Den Begriffen der „Verschwö-                       – ungeachtet der Frage danach, ob oder
rungstheorie“ wie auch der „Krise“ scheint                   inwiefern sie zutreffen mögen – sozio­
ihre analytische Tragfähigkeit (für eine                     logisch weder zufriedenstellend alleine                    71
sozialkonstruktive Perspektive) dann ab-                     mit dem dieser Tage prominenten Verweis
zugehen, wenn das Fürwahrhalten ersterer                     auf intra-psychische Vorgänge verhan-
a priori als essenzialistisch verstandene                    delt werden, noch scheint eine repres-
individuelle Abweichung, eventuell gar als                   sive, permissive oder essenzialisierende
Pathologie und insofern als inferior mar-                    Betrachtungsweise für deren (wissens-)
kiert (Othering) wird. Und wenn letztere                     soziologische Analyse zielführend (vgl.
gleichermaßen inflationär benannt, dabei                     Anton 2020a: 13f.).
jedoch als nicht weiter begründungsbe-
dürftige empirische Tatsache eingeführt                     Angesichts der sich während der Corona-­
werden. Aus einer wissenssoziologischen                     Pandemie ergebenden Spezifika der
(sozialkonstruktiven) Perspektive stellt                    Diskussion um Verschwörungstheorien
sich die Frage, inwiefern darin eine an-                    erscheint daher im Anschluss an die vor-
schluss- wie tragfähige Erklärung für den                   genannten Autoren folgender ­relationaler

"
                      Aus einer wissenssoziologischen (sozial­
               konstruktiven) Perspektive stellt sich die Frage,
                inwiefern darin eine anschluss- wie tragfähige
              ­Erklärung für den gegenwärtigen Aufmerksam-
                  keits­zuwachs für verschwörungs­theoretische
                               Deutungsangebote liegen kann.

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                                                                 "
     Zugriff fruchtbar: Ein an Berger und Luck-                               Krise entpuppt sich
     mann anschließendes wissenssoziologi-                                      als „soziologisch
     sches Verständnis von Verschwörungs-
     theorien kann insofern einen Beitrag zum
                                                                           amorph“– Krisenhaf-
     besseren Verständnis leisten, als es deren je                          tigkeit ist konstitutiv
     historisch spezifische (Il)Legitimitätsstatus                            für das Soziale und
     als „Ergebnis eines Konflikts um Geltungs­
     ansprüche“ einordnet (Kuhn 2014: 329,
                                                                           doch kaum zu fassen.
     Herv. i. O.), ohne sich sogleich entweder
     repressiver oder permissiver Absichten                      ­orthodox und legitim geltende Wirklich-
     verdächtig zu machen. Der Begriff „Ver-                     keitsbestimmungen und die entsprechen-
     schwörungstheorie“ stellt dann zunächst                     den Deutungsinstanzen. Sowohl subjektiv
     einmal nichts anderes als ein zumeist                       krisenhaftes Erleben und Erfahren wäh-
72   stigmatisierendes Label für alternative                     rend der Corona-Pandemie, sich daran
     Wirklichkeitsbestimmungen im Sinne                          womöglich anschließende Verwandlungen
     heterodoxen, illegitimen (Sonder-)Wissens                   subjektiver Wirklichkeit hin zur Über-
     dar (vgl. Anton 2011; Anton/Schetsche                       nahme von verschwörungstheoretischen
     2020; Anton et al. 2014; Meyer 2018; Butter                 Deutungsmustern i. S. eines radikal anderen
     2018; Schetsche/Schmied-Knittel 2018a,                      Strukturtypus von Weltdeutung und -orien-
     2018b; Schnettler 2018).                                    tierung einerseits wie auch dessen diskursive
                                                                 Problematisierung andererseits scheinen
     Für ein genuin wissenssoziologisches Ver-                   also konstitutiv miteinander verwoben.
     ständnis von so verstandenen Verschwö-
     rungstheorien scheint – wie eingangs ange-
     deutet – das Moment der in Krisenzeiten in                  Konturen eines phänomeno­
     besonderem Maße thematisch werdenden                        logisch-fundierten wissens­
     Fragilität sozialer Wirklichkeitskonstruk­                  soziologischen Krisenbegriffs
     tionen relevant, also die gewahr-werdende
     bzw. gewordene „Nicht-Selbstverständlich-                   Was Krise „grundsätzlich“ heißt, ist und
     keit des Selbstverständlichen“ (Endreß 2010:                bleibt in der Soziologie trotz vielfacher
     95f.). Vor diesem Hintergrund gewinnen                      Bestimmungsversuche wohl ungeklärt (vgl.
     heterodoxe Deutungsangebote in Krisenzei-                   Steg 2020a: 423, Herv. im O.). Man könnte
     ten womöglich an Plausibilität(sstrukturen)                 vielleicht sogar in Anlehnung an Max
     (Berger et al. 1987: 19f.; vgl. auch Berger/                Weber (vgl. 1985: 28) behaupten: Krise
     Kellner 1965). Ebendarin liegt offenkun-                    entpuppt sich als „soziologisch amorph“–
     dig wiederum Irritationspotenzial für als                   Krisenhaftigkeit ist konstitutiv für das

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Soziale und doch kaum zu fassen. Die                        krisenhaft gedeutet werden und welche
Schwierigkeiten einer soziologischen Be-                    Implikationen dies für im Zuge dieser
griffsbestimmung liegen in der mehrfachen                   Auslegungsprozesse angelegte Wissens-
Relationalität: Wer Krise sagt, bezeichnet                  bestände wie auch für sich damit stellende
damit typischerweise eine Abweichung von                    Handlungsprobleme aufweist. In seinem
einer wie auch immer gearteten Norma­                       auf das Jahr 1957 datierenden Manuskript
lität, spricht die Irritation einer wie auch                Strukturen der Lebenswelt bietet Schütz
immer gearteten Routine an. Ab wann                         eine Unterscheidung von problematischen
eine solche Abweichung, eine solche Ir-                     Situationen und Krisen an (vgl. ebd.: 325ff.).
ritation vorliegt, ist jedoch kontingent.                   Von problematischen Situationen ist hier
„Krise“ kann sich auf unterschiedlichste                    die Rede, wenn „[d]ie auf der Konstanz
Phänomene beziehen, ist gleichermaßen                       der Weltstruktur aufgebauten Erwartungen
„Alltagskonstruktion“ und „Konstruktion                     […] ‚explodieren‘ [mögen], das Gültige
zweiten Grades“ (Schütz 2010: 334f.) –                      zweifelhaft, das Vermögliche undurchführ-                   73
häufig wird diese Unterscheidung jedoch                     bar werden. Das vordem als fraglos-gege-
nicht gemacht und in findet in der Analyse                  ben Angesetzte wird dann zum Problem,
wenig Berücksichtigung. Dies führt auch                     einem theoretischen, praktischen oder
zur eigentümlichen Ambivalenz der ob-                       emotionalen, das formuliert, analysiert
jektiven Alltäglichkeit (Perspektive des/                   und gelöst werden muss“ (ebd.: 327), das
der Beobachter*in) von auf Außeralltäg-                     heißt, wenn dieses „Fragwürdigwerden
lichkeit abstellenden Krisendiagnosen                       des bisher Fraglosen nur einzelne Elemente
(Akteur*innenperspektive) – dem also,                       unserer lebensweltlichen Erfahrung erfasst“
was Joris Steg kürzlich auf den Begriff der                 (ebd.; Herv. S. K.). In Erweiterung dessen
„normalen Anomalie“ gebracht hat (Steg                      spricht Schütz dann von einer „Krise“,
2020a: 427ff.; Steg 2020b).                                 wenn auch „das ebenfalls als fraglos ge-
                                                            geben hingenommene Schema unserer
Für die hier verfolgten Zwecke lohnt somit                  Interpretation dieser Erfahrungen, also
ein Blick auf einen spezifischen grundsätz-                 das, was Scheler die relativ-natür­liche Welt­
lichen Bestimmungsversuch von „Krise“.                      anschauung genannt hat“ (ebd.), selbst
Aus einer an Alfred Schütz anschließenden                   als Ganzes und grundlegend in Zweifel
phänomenologischen Perspektive, die von                     gezogen wird. „Krisenlagen“ in diesem
der in der natürlichen Einstellung selbst-                  Sinne können sowohl „persönlich-indivi-
verständlich fraglos gegebenen Lebens-                      duelle[r]“, aber auch „soziale[r]“ Art sein,
welt des Alltags ausgeht (vgl. Schütz 2003:                 also „alle Arten von religiösen, ehelichen,
327), lässt sich fragen, wann S­ ituationen                 geschäftlichen, gesundheitlichen Schwierig-
und Prozesse als p­ roblematisch oder als                   keiten im Einzelleben“ meinen, oder aber

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     „­Naturkatastrophen, Krieg, Zusammen-                       aus phänomenologischer Perspektive also,
     brüche[] des ökonomischen oder sozialen                     dass eine „Fundamentalangst, die mit dem
     Systems im Leben der Gruppe“ (ebd.).                        Wissen um den eigenen Tod verbunden
                                                                 ist“, die „In-Frage-Stellung des Alltags“
     Auch wenn Schütz zu verstehen gibt, dass                    (ebd.: 629) keineswegs außer Kraft setzt,
     es ihm nicht primär um die Auseinander-                     sondern – ganz im Gegenteil – schlechter-
     setzung mit so verstandenen „Krisen“ des                    dings motiviert. In und nach solchermaßen
     täglichen Lebens geht (vgl. ebd.), legt seine               als existenzbedrohend wahrgenommenen
     Charakterisierung den Fokus doch gerade                     Situationen kann es somit zu einer Aufhe­
     unter handlungs- und wissensanalytischen                    bung der Geltungsansprüche kommen, mit
     Gesichtspunkten auf das Erodieren von                       denen die Lebenswelt des Alltags in der
     Vertrautheiten und Selbstverständlichkeiten                 natürlichen Einstellung bislang erlebt und
     sowie auf sich damit einstellende hand-                     erfahren wurde (vgl. ebd.: 629f.). Dergestalt
74   lungspraktische Probleme. Krisen in diesem                  als krisenhaft begreifbare Erlebnisse bzw.
     Sinne betreffen des täglichen Lebens geht                   Erfahrungen können dann zu „‚Verwer-
     (vgl. ebd.), legt seine Charakterisierung                   fung[en]‘ des Sinnkonstitu­tionsprozesses“
     den Fokus doch gerade unter handlungs-                      führen (Endreß 2018: 51), die gerade nicht
     und wissensanalytischen Gesichtspunkten                     in der natürlichen Einstellung aufgefangen
     auf das Erodieren von Vertrautheiten und                    werden können, denn ihre Funktion als
     Selbstverständlichkeiten sowie auf sich                     unbefragter Boden der Selbstverständ-
     damit einstellende handlungspraktische                      lichkeit wird schließlich in ihren Grund-
     Probleme. Krisen in diesem Sinne betreffen                  festen erschüttert und müsste zuerst selbst
     nicht nur, aber insbesondere die „Großen                    wiederhergestellt werden. Folglich wird
     Transzendenzen“ im Sinne Schütz’ und                        die von Schütz und Luckmann erläuterte
     Luckmanns: Gerade jene Erfahrungen,                         theoretische Einstellung schrittweise und/
     die auf die letzte Grenze des eigenen Le-                   oder teilweise eingenommen, wodurch das
     bens – den (auch: „sozialen“ (Pommrenke                     alltäglich Selbstverständ­liche als – zumin-
     2014: 313)) Tod – verweisen, können zum                     dest zeitweise in seinen Grundfesten – zu
     zumindest zeitweiligen Außerkraftsetzen                     Bezweifelndes in den Blick genommen
     der grundlegenden alltagsweltlichen Ideali-                 werden muss. Dies geschieht zunächst im
     sierungen führen und den stets nur bis auf                  Sinne einer „vortheoretischen Verwand-
     Weiteres gegebenen Selbstverständlichkeits­                 lung[] der natürlichen Einstellung“ (ebd.:
     charakter ebendieser gleichsam ex negativo                  631) angesichts der soeben angesprochenen
     zutage fördern (vgl. Schütz/Luckmann                        „Fundamentalangst“ und kann später –
     2017: 628f.). Charakteristisch für solch                    von dieser befreit – in die theoretische
     schwere Krisen des ­täglichen Lebens ist                    Einstellung übergehen, in der erst das die

     Nichts als die Wahrheit?                                                                   SOZIOLOGIEMAGAZIN
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„Fundamentalangst“ evozierende Wis-                          Hinsichtlich der analytischen Tragfähigkeit
sen um den eigenen (auch sozialen) Tod                       eines solchen Krisenbegriffs ergibt sich
in objektive Deutungszusammenhänge                           vorderhand das Problem, wie Krisen nun
eingeordnet werden kann. Hierbei ver-                        von alltäglichen Handlungsproblemen
liert das für die natürliche Einstellung der                 zu unterscheiden sind. Aus einer phäno-
Lebenswelt des Alltags charakteristische                     menologisch-fundierten wissenssozio-
pragmatische Motiv notwendigerweise                          logischen Perspektive kann festgehalten
vorübergehend an Relevanz, da „für die                       werden: Krisenhaftigkeit erscheint nicht
Zeit des in dieser Einstellung vollzogenen                   als bestimmten Ereignissen a priori zu-
Denkens also sogar das eigene Selbst in                      kommende Qualität, sondern dieser Sinn
seiner Leiblichkeit und Endlichkeit einer                    konstituiert sich erst durch und in Deu-
Epoché [verfällt]“ (vgl. ebd.: 631f.). Inso-                 tungsprozessen und Handlungsvollzügen.
fern erfahren die im Rahmen der natür­                       Das heißt: Bis auf Weiteres unproblema-
lichen Einstellung wirksamen und für die                     tische Situationen werden genau dann                       75
Aufrechterhaltung der Handlungs- und                         zu problematischen und problematische
Interaktionsfähigkeit unverzichtbaren, bis                   Situationen werden genau dann zu Krisen,
auf Weiteres gültigen Idealisierungen des                    „wenn sich Handelnde in spezifischer Art
Und-so-weiter, des Ich-kann-immer-wieder                     und Weise gegenüber diesen Situationen
(vgl. ebd.: 34) und der Reziprozität der                     verhalten“, wie Alexander Antony, Gerd
Perspektiven (vgl. ebd.: 99f.) eine massive                  Sebald und Frank Adloff betonen (2016:
Erschütterung. Als präreflexiv-fungieren-                    8, Herv. i. O.). Wenn also routinisierte
de wie auch routinisiert-habitualisierte                     Deutungs- und Handlungsoptionen (zu-
Ausklammerungen der immerwährenden                           mindest temporär) nicht mehr greifen,
potentiellen Krisenhaftigkeit jeglichen Er-                  so schlagen Antony, Sebald und Adloff
lebens und Erfahrens und damit jeglichen                     vor, kann die Rede von der (subjektiven)
Wissens, Deutens und Handelns werden                         „Erfahrung der Unbewältigbarkeit bzw.
sie in Krisen thematisch und damit ihres                     eines Sinnzusammenbruchs“ (vgl. ebd.:
fungierenden Charakters zeitweilig beraubt.                  8) sein: Als Krise ließe sich aus dieser
So verstandene Krisen werden dann – auch                     Perspektive die „spezifische Qualität des
wenn soziologischerseits deren ­objektive                   bedeutungsvollen Erfahrens bzw. Erlebens
Alltäglichkeit im Sinne einer Konstruktion                  ­von Handlungs- und Interaktionssitua­
zweiten Grades (vgl. Schütz 2010 [1953]:                     tionen fassen, deren Bedeutungshaftigkeit
334 f.) sicherlich zu konstatieren ist – typi-               sich paradoxerweise in ihrer (zumindest
scherweise eben gerade nicht als „normale                    temporären) senselessness manifestiert“
Anomalien“ (Steg 2020a: 428; vgl. auch                       und (vorübergehend) praktisch nicht-­
Steg 2020b) alltagspraktisch wirkmächtig.                    beantwortbar ist (ebd.: 8 ff., Herv. i. O.).

SOZIOLOGIEMAGAZIN                                                                          Nichts als die Wahrheit?
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     Im Sinne einer idealtypischen Unterschei-                   lautet vielmehr wie, sprich „auf welche Art
     dung ließen sich also aus einer an Schütz                   und Weise Handelnde Krisensituationen
     (und Luckmann) anschließenden Per-                          als solche für Mithandelnde anzeigen und
     spektive für die hier verfolgten Zwecke                     kommunizieren bzw. wie diese sich in
     analytisch bis auf Weiteres unproblema­                     ihrem Tun dokumentieren“ (ebd.: 10).
     tische Situationen von – „[d]ie alltäglichen                Hier sehen Antony et al. ein Kontinuum
     Selbstverständlichkeiten unseres Lebens-                    zwischen der expliziten Verwendung der
     vollzugs [ggf.; S. K.] fundamental“ (Block/                 Krisen­semantik und Fällen, in denen sich
     Ernst-Heidenreich 2020: 73) irritierenden                   krisenhafte Situationen auf weniger ex-
     – problematischen Situationen unterschei-                   plizite Weise dokumentieren (vgl. ebd.:
     den (vgl. auch Ernst-Heidenreich 2019),                     10f.). Auch hier ist also letztlich von einer
     wie auch diese wiederum von „alltäg-                        „Relativität und Kontingenz“ der Darstel-
     liche Gewissheiten“ ggf. grundsätzlich                      lung einer Situation als Krise auszugehen
76   und nachhaltig erodierenden krisenhaften                    (vgl. ebd.: 11).
     Situationen unterschieden werden können.
                                                                 Die somit vorgeschlagene Betrachtungs­
     Aus der Perspektive „distanzierter Beob-                    weise von Handlungs- und Interaktions­
     achter:innen“ erscheinen Krisen damit                       krisen postuliert damit weder eine beobach-
     immer als doppelt relationale Abweichung,                   tungsunabhängige Phänomenklasse ‚Krise‘,
     und zwar zum einen von einer wie auch im-                   noch eine distinkte Unterscheidung ver-
     mer gearteten, unterstellten Normal- bzw.                   schiedener Ebenen des Sozialen, da somit
     Kontrastfolie und zum anderen mit Blick                     sowohl „körperliche Routinen, auftretende
     darauf, ab wann eine solche Abweichung                      Emotionen, das subjektive Bewusstsein
     vorliegt. Krisen kommen demnach als das                     oder das material-gegenständliche Umfeld“
     vonseiten der Beobachtenden identi­fizierte                 wie auch „semantische Ordnungsstruk­
     – je relativ zu sozio-historisch, sozio-kultu-              turen (etwa Leitbilder oder Diskurse), […]
     rell und sozio-politisch spezifischen, unter-               Institutionen oder Organisationen“ und
     stellten Kontrast­folien – Außeralltägliche                 „verschiedene gesellschaftliche Funktions-
     in den Blick (vgl. ­Antony et al. 2016: 9f.).               bereiche“ als miteinander verwoben gedacht
     Und aus einer an die Ethnomethodologie                      werden können (ebd. 2016: 12). Krisen
     anschließenden, auf Teilnehmer*­innen-                      zeigen insofern „das Zusammenwirken
     Darstellungen und -Konstruktionen ab-                       von gesellschaftlichen Strukturierungen
     zielenden Perspektive schließlich werden                    in der alltäglichen Lebenswelt“ ex negativo
     Krisen „nicht per se in der Erfahrung der                   auf und können so in methodolo­gischer
     Unbewältigbarkeit bzw. des Sinnzusam-                       Hinsicht den Blick auf die ansonsten
     menbruchs ­identifiziert“, sondern die Frage                nicht-thematisierte oder auf Nachfrage

     Nichts als die Wahrheit?                                                                   SOZIOLOGIEMAGAZIN
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gar nicht-­explizierbare, „historisch-kul-                  ­ ährend der Corona-Pandemie nun gleich
                                                            w
turell variierende Geltung verschiedener                    in doppelter Hinsicht die Dominanz ei­
Ordnungsniveaus, Normalitäten und Ra-                       ner der beiden Möglichkeiten subjektiver
tionalitäten“ (ebd. 2016: 13) lenken.                       Wirklichkeitsabsicherung beobachten. Statt
                                                            Routinen, die für die derzeitige Lage grosso
In Krisenzeiten werden also typischerweise                  modo nicht zur Verfügung stehen, gilt es,
latent gehaltene Fragilitäten des Sozialen                  die Krisenhaftigkeit zu bewältigen, die
manifest, gewöhnlich mehr oder weniger                      besonders in Grenzsituationen – wie etwa
präreflexiv-fungierende sowie routinisierte                 drohendem (sozialen) Tod oder durch
und habitualisierte Dimensionen des So-                     Kontakte mit konkurrierenden Wirklich-
zialen thematisch. Krisen werden insofern                   keitsbestimmungen, die die routinemäßige
von (soziologischen) Beobachter*innen                       subjektive Wirklichkeitsabsicherung ge-
ganz im Sinne ihrer etymologischen Ur-                      fährden – auf den Plan treten kann und
sprünge als mit Handlungsdruck versehene                    Bewältigungsstrategien sowie Gegenmaß-                      77
Entscheidungssituationen unter Unsicherheit                 nahmen hervorruft (vgl. Berger/Luckmann
konzipiert – allerdings gerade nicht im                     2018: 158).
Sinne eines beobachtungsunabhängigen
Phänomens, das einen solchen Entschei-                      Bezeichnenderweise bringt nun die Corona-­
dungsdruck per se mit sich brächte, und                     Pandemie offenkundig die beiden hier an-
ohne dass die vermeintlich adäquate Ent-                    gesprochenen Typen von Grenzsituationen
scheidung zwischen Handlungsalterna-                        mit sich: Zum einen den grundsätzlich nur
tiven den Involvierten angesichts der als                   mittelbar über andere erfahrbaren, jedoch
Krise gedeuteten Prozesse und Situationen                   plötzlich in umfassender Weise thematisch
damit bereits selbstevident gegeben wäre                    und relevant gewordenen Tod in Gestalt des
(vgl. O
      ­ evermann 2016 [2008]: 44 ff.; 63                    Virus sowie sich daraus ergebende weit-
f.). Solcherlei Situationen erscheinen aus                  reichende (politisch auferlegte) Restruk-
der Perspektive der Deuten- und Handeln-­                   turierungen des gewohnten alltäglichen
Müssenden also gerade nicht als „normale                    gesellschaftlichen Lebens (vgl. zu einer
Anomalien“ (vgl. Steg 2020a: 428, 2020b).                   möglichen Rahmung dieser pandemie­
                                                            induzierten Krisen (in) der Lebenswelt
                                                            des Alltags einen gemeinsam mit Martin
Zur doppelten Krisenhaftigkeit                              Endreß formulierten Kommentar: Endreß/
der Corona-Pandemie                                         Klimasch 2020; vgl. für eine instruktive
                                                            autoethnographische Perspektive auf die
Mit Schütz (und Luckmann) sowie B
                                ­ erger                     mit der Corona-Pandemie sich einstel-
und Luckmann gesprochen lässt sich                          lende „Erosion alltäglicher Gewissheiten“

SOZIOLOGIEMAGAZIN                                                                          Nichts als die Wahrheit?
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     auch Pierburg 2021). Zum anderen aber                       wohl kaum etwas „so sehr zur Verbreitung
     auch die Konfrontation mit an Plausibi-                     von Heterodoxien bei, wie deren laut­
     lität und Popularität vermeintlich ge-                      starke Verurteilung durch die Orthodoxie“
     winnenden fundamental abweichenden                          (Schetsche/Schmied-Knittel 2018a: 18):
     Wirklichkeitsbestimmungen in Form von
     Verschwörungstheorien – und damit die                          Was wir in den Leitmedien bis heu­
     Notwendigkeit, sich sowohl privat wie auch                     te etwa über Verschwörungstheorien,
     öffentlich zu diesen verhalten zu müssen,                      alternative Heilmethoden oder auch
     was wiederum seinerseits als krisenhaft er-                    paranormale Erfahrungen lesen, hören
     fahren und/oder dargestellt werden kann.                       und sehen können, liefert empirische
     Diese sich auf Deutungsebene gleich in                         Nachweise für den Einsatz und auch die
     zweierlei Hinsicht vollziehende „Auflö-                        Wirksamkeit der klassischen, bereits von
     sung […] der routinierten gesellschaft­                        Berger und Luckmann ange­sprochenen
78   lichen Normalität“ (Endreß/Zillien 2014:                       Abwehr- und Nihilierungsstrate­gien
     14) hin zu einer Außeralltäglichkeit des                       gegenüber heterodoxem Wissen.
     gegenwärtigen Lebenszusammenhangs                              (­Schetsche/Schmied-Knittel 2018a: 19)
     beschreibt die doppelte Krisenhaftigkeit
     der Corona-Pandemie: pandemieinduzier­                      Die in Krisenzeiten offenkundig gestei-
     ten Krisen (in) der Lebenswelt des Alltags                  gerte Wirkmächtigkeit von Verschwö-
     werden flankiert von pandemieinduzierten                    rungstheorien lässt sich somit in zweierlei
     Wirklichkeitskrisen, die die Bindungskraft                  wechselseitig verschränkter Hinsicht wis-
     orthodoxer Bestimmungen der Pandemie                        senssoziologisch einordnen. Zum einen:
     infrage stellen.                                            Wenn sozial bedeutsame Geschehnisse,
                                                                 Ereignisse oder Situationen als erklärungs-
     Werden orthodoxe Wirklichkeitsbestim-                       bedürftig angesehen werden, können sol-
     mungen im Zuge des zuvor beschriebenen,                     che Situationen und Prozesse eben ­gerade
     krisenhaft gedeuteten Prozesses womöglich                   dann als krisenhaft gedeutet werden,
     ihres Selbstverständlichkeitscharakters                     wenn ‚nicht-verschwörungs­theoretische‘
     beraubt und existieren daneben – diese                      Deutungsangebote je standort­abhängig
     Pluralität ist für demokratische Gesell-                    schlicht nicht (mehr) plausibel schei-
     schaften wohl als konstitutives, struktu-                   nen wollen. Dies bedeutet jedoch weder,
     rell ambivalentes Merkmal zu verstehen                      dass orthodoxe Wissensbestände nicht
     (vgl. Endreß 2020b: 50) – auch heterodoxe                   erlaubten, das Geschehene plausibel zu
     Wirklichkeitsbestimmungen (im Sinne von                     deuten (vgl. Anton/Schetsche 2020: 103),
     Bergers und Luckmanns Charakterisie-                        noch dass die Demonstrierenden auf-
     rung von Wirklichkeitskrisen), dann trägt                   grund psychischer Dispositionen nicht

     Nichts als die Wahrheit?                                                                   SOZIOLOGIEMAGAZIN
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                                                            "
anders können. Wie die je perspektivisch                            Die Pathologisierung
gebrochen womöglich notwendig erschei-                             subjektiver Krisen der
nenden Überprüfungen und etwaige Neu­
justierungen der subjektiven Wirklichkeit
                                                                        Wirklichkeit stärkt
im oben beschriebenen Sinne ausfallen                             ebenso wie das Lächer-
und welche handlungspraktischen An-                                    lich-Machen dieser
schlüsse sich damit verbinden mögen,
hängt maßgeblich von verschiedenen
                                                                    Deutungen und ihrer
biographischen sowie sozio-historisch                              Träger(gruppen) para-
und sozio-kulturell spezifischen gesell-                          doxerweise deren Plau-
schaftlichen Umständen ab (vgl. Schütz/
Luckmann 2017: 629f.). Krisen rücken also
                                                                     sibilität(sstrukturen)
den gesellschaftlichen Wissensvorrat, ins-                          und befördert mithin
besondere die für solche Grenzsituationen                        selbst deren Popularität.                              79
verfügbaren, vorgefertigten Deutungsan-
gebote sowie deren Plausibilität(sstruk-                    ­ eren (kaum klar auszumachenden) Trä-
                                                            d
turen) und Bindungskraft in den Blick.                      ger(gruppen) in Form von andauernden
Die in Krisenzeiten offenbarte Lücke im                     pejorativen Bezugnahmen. Mit anderen
subjektiven Wissensvorrat kann dann                         Worten: Die Pathologisierung subjektiver
durch im gesellschaftlichen Wissensvorrat                   Krisen der Wirklichkeit stärkt ebenso wie
eben auch sedimentierte alternative bzw.                    das Lächerlich-Machen dieser Deutungen
heterodoxe Deutungsangebote geschlos-                       und ihrer Träger(gruppen) paradoxerweise
sen werden. Dies jedoch ist (wissens)                       deren Plausibilität(sstrukturen) und beför-
soziologisch nicht zufriedenstellend als                    dert mithin selbst deren Popularität (vgl.
individuell-essenzialistische Abweichung                    Schetsche/­Schmied-Knittel 2018a: 13ff.).
analysierbar, wie Peter L. Berger, Brigitte
Berger und Hansfried Kellner deutlich                        Die gegenwärtig beobachtbare scharfe Ab-
machen: „[J]ede Art von Bewußtsein ist                       grenzung gegenüber Verschwörungstheo­
nur unter besonderen sozialen Bedingun-                      rien und -theoretiker*innen kann insofern
gen plausibel. Diese Bedingungen nennen                      als Bewältigungsversuch, als „Normalisie-
wir eine Plausibilitätsstruktur.“ (Berger et                 rungsbemühung“ (vgl. G  ­ arfinkel 2020: 107)
al. 1987: 19f.) Und diesen Plausibilitäts-                   einer vonseiten der Orthodoxie als solche
strukturen zuträglich ist zum anderen                        gedeuteten (pandemieinduzierten) Wirklich­
die zu Zeiten der Corona-­Pandemie be-                       keitskrise im Sinne Bergers und ­Luckmanns
obachtbare fortwährende Präsenz eben-                        gefasst werden, wie auch vice versa die
dieser hetero­doxen Deutungsoptionen und                    ­Vergemeinschaftungsprozesse ­aufseiten

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     der Querdenker*innen auf ebendiese                          Implikationen einer politisch-­
     ­Sozio-Logik verweisen. Mit Blick auf die                   soziologischen Neubestimmung
      hier untersuchte Beziehung zwischen Krisen
      und Verschwörungstheorien dient dabei                      Unter den historischen Voraussetzungen
      der Topos „Krise“ zunächst dem Hand-                       einer sich als liberal-demokratisch be-
      habbar- und Kommunizierbar-­Machen                         schreibenden Gesellschaft wie auch der
      der mit der prinzipiellen Nicht-Fassbarkeit                – infolge der Erfahrungen des National-
      der allgegenwärtigen Bedrohung durch                       sozialismus – in den USA und Westeuropa
      das Virus einhergehenden fundamentalen                     vor ca. 75 Jahren einsetzenden Delegitimie-
      Verunsicherung. Die zunehmende (affir-                     rungs- und Stigmatisierungspraxis gegen-
      mative wie pejorative) Bezugnahme auf                      über Verschwörungstheorien (vgl. Butter
      die Verschwörungssemantik zielt sodann                     2018: 151 ff.) treten zentrale ­Parallelen zu
      auf die Normalisierung dieser Entwicklun-                  gegenwärtig erfolgreichen, teils quer zu
80    gen durch die Restituierung bestehender                    altbekannten politischen Lagergrenzen
      Grenzen oder gar neuer oder schärferer                     liegenden Populismen hervor (vgl. B    ­ utter
      Grenzziehungsprozesse zwischen Sinnwel-                    2018: 170ff.; Vobruba 2019: 99f.; V ­ obruba
      ten. Die insofern doppelte Krisenhaftigkeit                2020: 116; Nachtwey et al. 2020: 51ff.).
      der gegenwärtig beobachtbaren „Auflösung                   Diese können das Verhalten von Eliten
      […] der routinierten gesellschaftlichen                    immer auch verschwörungs­t heoretisch
      Normalität“ (Endreß/Zillien 2014: 14)                      deuten, müssen dies aber nicht (vgl. Butter
      vollzieht sich damit konstitutiv auf der                   2018: 173ff.). Die mit (nicht-)verschwö-
      Deutungs- und zunehmend nun auch auf                       rungstheoretisch imprägnierten Deu-
      der Handlungsebene.                                        tungsmustern einhergehende Protestpraxis
                                                                 scheint allerdings – wie auch gegenwärtig
     Mit Blick auf den hier verhandelten Phä-                    bei den „Hygiene-Demos“ zu beobachten
     nomenbestand bleibt also analytisch zwi-                    ist – demgegenüber indifferent: Die Idee
     schen mindestens zwei je als krisenhaft                     der illegitimen Oktroyierung von Corona-­
     gedeuteten Prozessen zu unterscheiden:                      Maßnahmen scheint ungeachtet spezifi-
     die –phänomenologisch gesprochen – in                       scher Erklärungsangebote für ebendieses
     der (1) Nicht-Sichtbarkeit des Virus selbst                 Elitenhandeln nicht nur spaltenden, son-
     gründende Krisenhaftigkeit (in) der pan­                    dern ganz ebenso ­integrativen Charakters
     demischen Lebenswelt des Alltags wird                       zu sein (vgl. Nachtwey et al. 2020: 14f., 52,
     dabei gewissermaßen konterkariert von der                   60f.). Alternativen Wirklichkeitsbestim-
     (2) als Wirklichkeitskrise beschreibbaren                   mungen, die die komplexe viro­logische,
     erhöhten Sichtbarkeit verschwörungstheo­                    epidemiologische, gesellschaftliche und
     retischer Deutungsangebote.                                 politische Lage ­entweder gänzlich ­negieren

     Nichts als die Wahrheit?                                                                   SOZIOLOGIEMAGAZIN
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oder aber für wahr halten, dann jedoch                      Geringeres geht als die gesellschaftlich
auf eine Verschwörung zurückführen und                      ausgetragene Entscheidung darüber, wer
damit einfache Feindbilder evozieren,                       die Wahrheit sagt – entsprechend treten
scheinen sich im Sinne der Charakteris-                     wenig verwunderlich auch beide Seiten
tika sozialer Deutungsmuster (vgl. Anton                    zunehmend mit Absolutheitsansprüchen
2011: 72ff.) aktuell in besonderer Weise                    auf. Anton, Schetsche und Walter formu-
zur Bewältigung anzubieten. Ihnen wird                      lieren daher:
dabei das Potenzial zugeschrieben, zum
Bedrohungsmoment des gesellschaftlichen                        Der Begriff ‚Verschwörungstheorie‘ und
Zusammenhalts wie auch der politischen                         die damit verbundenen Zuschreibungen
Ordnung werden zu können.                                      sind selbst immer auch Teil des Kampfes
                                                               um die Definitionsmacht über soziale
Eine in ihrer Bedeutung insofern wohl                          Wirklichkeit. Wenn das, was als fiktive
kaum zu unterschätzende, jedoch erst                           Verschwörung(stheorie) gilt, und das,                    81
allmählich beginnende politisch-sozio-                         was als reale Verschwörung angenom­
logische Neubestimmung des Phänomens                           men wird, durch diskursive Zuschrei­
„Verschwörungstheorien“ kann hier nicht                        bungsprozesse und Deutungskämpfe
geleistet werden. Die Überlegungen ­Bergers                    innerhalb der Gesellschaft bestimmt
und Luckmanns zum gesellschaft­lichen                          wird, lässt sich das Phänomen ‚Ver­
Umgang mit abweichenden Wirklichkeits-                         schwörungstheorien‘ wissenschaftlich
bestimmungen bieten allerdings verschie-                       nur durch eine relationale Betrach­
dene zentrale Anknüpfungs­punkte. Aus                          tungsweise adäquat fassen. (Anton et
wissenssoziologischer Perspek­t ive sind                       al. 2014: 12f.)
diejenigen sozialen Prozesse zu fokus-
sieren, in denen die Delegitimierung qua                    Dem Phänomen der Verschwörungs­
Nihilierung (vgl. Berger/Luckmann 2018:                     theorien dürfte insofern mit wechselseitig
121ff.) von als verschwörungstheoretisch                    pathologisierenden und inferiorisierenden
bezeichneten Wissensbeständen unter-                        Diffamierungen weder alltagspraktisch
nommen wird – eine Form der negativen                       noch medial oder politisch beizukom-
Legitimierung orthodoxer Wissensbestände                    men zu sein. Ebenso wenig scheint eine
und deren Trägergruppen. Die soziologisch                   solche Herangehensweise soziologisch
anschlussfähige, hochnormative Kom-                         vertretbar oder tragfähig, und zwar gerade
ponente der aktuell vor allem (sozial-)                     dann nicht, wenn der Begriff in politisch
psychologisch informierten Debatten selbst                  einigermaßen turbulenten Zeiten Kon-
wird gegenwärtig jedoch selten explizit                     junktur erfährt, indes zunehmend diffus
thematisiert, obwohl es doch um nichts                      zu werden droht und letztlich vor allem als

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     s­ tigmatisierendes Label zur Bezeichnung                   a priori ein negativer bzw. inferiorer on-
      vielfältiger unliebsamer Wirklichkeitsbe-                  tologischer Status zugeschrieben wird.
      stimmungen und devianter Verhaltens-                       Nicht nur sind ihre Theorien (epistemo-)
      weisen Verwendung findet. Gerade diese                     logisch aus der Per­spektive der sich an-
      soziologisch hochanschlussfähigen (dis-                    gegriffen sehenden und verteidigenden
      kursiven) Verschiebungen gehören somit –                   Sinnwelten nicht haltbar, sondern sie
      hier ist meines Erachtens Anton, Schetsche                 sind vor allem auch normativ unhaltbar;
      und Walter (siehe oben) zu folgen – in den                 in nuce: illegitim (vgl. ebd.: 123). Die als
      Fokus wissenssoziologischer Analysen                       solche wahrgenommene, von konkur-
      des Phänomens Verschwörungstheorien                        rierenden Wirklichkeitsbestimmungen
      in Zeiten der Corona-Pandemie gerückt.                     und deren durchaus heterogenen Träger
                                                                 (gruppe)n (vgl. Genner/Dietzsch 2020:
     Die gegenwärtig sowohl in massen­                           78ff.) ausgehende (politische) Gefahr
82   medialen, politischen und wissenschaft­                     wird so zu neutralisieren versucht, indem
     lichen Diskursen als auch in alltäglichen                   wechselseitig unterstellt wird, dass die je
     Interaktionszusammenhängen gesteigerte                      perspektivisch gebrochen als „Leugner“
     Prominenz (sozial-)psychologischer und                      zu Bezeichnenden ohnehin nicht wirk-
     teils klinisch-psychologischer Erklärungs-                  lich wissen, was sie sagen (vgl. Berger/­
     ansätze für Verschwörungstheorien deutet                    Luckmann 2018: 124). Gerade deshalb
     darauf hin, dass eine „diagnostische Me-                    muss man auch aktuell
     thodik und ein theoretisches System der
     ‚Seelenheilung‘“ (Berger/Luckmann 2018:                        nur sorgfältig auf ihre Aussagen achten,
     121), also der Therapie, bis zu einem gewis-                   die ihren Defensivcharakter und ihre
     sen Grad nachgefragt ist und für möglich                       Verlogenheit enthüllen. Was immer
     gehalten wird: Iro­nischerweise wird so-                       gesagt wird, läßt sich in Bestätigung
     wohl von orthodoxer als auch von hetero­                       der [konkurrierenden] Sinnwelt, die
     doxer Seite regelmäßig die Rückbesinnung                       äußerlich verleugnet wird, übersetzen.
     auf den „gesunden Menschenverstand“                            (ebd.: 124)
     bemüht. Andererseits: Mit Blick auf die
     hoffnungslosesten Fälle der sogenannten                     Wenngleich also gegenwärtig offenbar
     Corona-Leugner*­innen und Covidiot*­                        vorwiegend die Strategie der Nihilierung
     innen (oder eben: die „hoffnungslosesten                    wechselseitig verfolgt zu werden scheint,
     Schlafschafe“) legt sich gegenwärtig of-                    ist hier doch womöglich in Erweiterung
     fenbar eher die Strategie der Nihilierung                   der von Berger und Luckmann skizzierten
     nahe, wenn den von ihnen behaupteten                        Strategien zur Bewältigung von Wirklich-
     Phänomenen und ihren I­ nterpretationen                     keitskrisen von sich wechselseitig in ihrer

     Nichts als die Wahrheit?                                                                   SOZIOLOGIEMAGAZIN
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