Kultur, Identität und Konflikt in Asien und Südostasien - Aurel Croissant / Christoph Trinn
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Kultur, Identität und Konflikt in Asien und Südostasien | Seite 2 Kultur, Identität und Konflikt in Asien und Südostasien Aurel Croissant / Christoph Trinn Resonsible: Malte C. Boecker, LL.M. Senior Expert International Culture Dialogue Bertelsmann Stiftung Telefon 05241 81-81368 Mobile 0172 2795994 Fax 05241 81-681368 E-Mail Malte.Boecker@bertelsmann.de www.bertelsmann-stiftung.de
Kultur, Identität und Konflikt in Asien und Südostasien | Seite 3 Inhalt 1 Einleitung ....................................................................... 4 2 Kulturelle Konflikte als Kultur thematisierende Konflikte ......................................................................... 5 3 Vom Konzept zur Empirie. Datengrundlage und Messung ........................................................................ 9 4 Eine empirische Topographie der kulturellen Konflikte in Asien seit 1945.......................................... 10 4.1 Relevanz und Formen kulturellen Konflikte ..........................10 4.2 Die Konfliktakteure ...............................................................14 4.3 Die Schwerpunktländer des regionalen Konfliktgeschehens ..............................................................18 5 Kulturelle Konflikte in Südostasien............................... 19 5.1 Die regionale Perspektive ....................................................19 5.2 Die Einzelfallperspektive ......................................................21 5.3 Gegenbeispiele: Konfliktmanagement auf regionaler Ebene und die Mediation kultureller Konflikte in Malaysia und Singapur.........................................................34 6 Fazit ............................................................................. 38 7 Literatur........................................................................ 40
Kultur, Identität und Konflikt in Asien und Südostasien | Seite 4 1 Einleitung Asien wird im Westen vor allem als ein Schauplatz wirtschaftlicher Veränderungen wahrgenom- men. Tatsächlich verfügt der Kontinent seit Jahrzehnten über einige der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften weltweit. Japan, Singapur, Südkorea und Taiwan zählen zu den wirtschaftlich am stärkten entwickelten Gesellschaften der Erde. Sie bieten ihren Bürgern ein Maß an materieller Sicherheit und Lebenschancen, das mit dem vieler westlicher Gesellschaften ver- gleichbar ist oder sogar übersteigt. In den vergangenen 15 Jahren hat sich Indien zu einer neuen Wirtschaftsmacht zu entwickeln. Schätzungen der Weltbank für das Jahr 2020 prognostizieren die Volksrepublik China als führende Weltwirtschaftsmacht. Neben dem Bild eines prosperierenden Asien und seiner Wachstumsmärkte gibt es jedoch auch eine andere Wahrnehmung asiatischer Entwicklungen. Denn viele Gesellschaften sind geprägt von dem Aufbrechen gewaltsamer innerstaatlicher Konflikte. Insbesondere seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 werden soziale Konflikte und Gewalt in Asien von den politischen Ent- scheidungsträgern und Medien im Westen mit Sorge betrachtet. Dabei ist vor allem Südostasien, Heimat von einem Fünftel der weltweit etwa 1,2 Milliarden Muslime, in den Ruf einer Brutstätte religiöser Gewalt geraten. Manche Beobachter (etwa Gunaratna 2002) sehen gar eine asiatische Zone des religiösen Extremismus von Usbekistan, Tadschikistan und Xinjiang über Afghanistan, Pakistan, Indien, Sri Lanka und Bangladesch bis nach Burma, Thailand, Malaysia, Indonesien und die Südphilippinen. Beide Wahrnehmungen haben ihre Berechtigung. Dies ist der Tatsache geschuldet, das die Län- der Asiens politisch und wirtschaftlich gravierende Unterschiede aufweisen. Demokratien stehen autokratischen Herrschaftssystemen gegenüber, einige der ärmsten Entwicklungsländer der Welt rasant wachsenden Volkswirtschaften. Die beiden bevölkerungsreichsten Länder der Welt liegen neben kleinen Ländern, die sich oftmals durch ihre Nachbarn bedroht fühlen. Auch kulturell ist die Region ausgesprochen heterogen. Südasien ist historisch und kulturell vor allem durch indisch-hinduistische, buddhistische und islamische Elemente geprägt ist. Nordost- asien wird häufig als konfuzianischer Kulturraum charakterisiert. In Südostasien vermischen sich die kulturell-historischen Einflüsse aus beiden Regionen, wobei das kontinentale Südostasien stär- ker buddhistisch und das maritime Südostasien stärker durch Islam und Katholizismus (Philippinen) beeinflusst wurden. Auch innerhalb der Länder wirken unterschiedliche kulturelle und religiöse Einflüsse. Ethnisch homogene Länder wie Japan und Korea kontrastieren mit den sprach- lich-religiös heterogenen Gesellschaften in Süd- und Südostasien. Wohl wissend um die Komplexität der historischen und aktuellen Wandlungsprozesse in Asien rückt dieser Beitrag ein Phänomen in den Mittelpunkt der Analyse, das in der jüngsten Vergangen- heit besondere Aufmerksamkeit erfahren hat: das Phänomen der kulturell imprägnierten oder thematisierten Konflikte in Asien. Kulturelle Konflikte sind solche politischen innerstaatlichen, zwischen-staatlichen oder transnatio- nalen Konflikte, in denen die beteiligten Akteure die Konfliktfelder Religion, Sprache und/oder Historizität thematisieren. Der Fokus auf „kulturelle Konflikte“ impliziert keine Hinwendung zu einer vereinfachenden konflikttheoretischen Perspektive, welche Kultur oder kulturelle Phänomen wie Religion, Sprache oder Geschichtserfahrung als Auslöser oder Ursache von Konflikten innerhalb oder zwischen Gesellschaften interpretiert.
Kultur, Identität und Konflikt in Asien und Südostasien | Seite 5 Das Adjektiv „kulturell“ verweist hier nicht auf die Motive von Akteuren in einem Konflikt, sondern auf das Thema des Konflikts. Für die Bestimmung eines Konflikts als „kulturell“ ist nicht relevant, „warum“ eine Auseinandersetzung stattfindet, sondern „worüber“ sie geführt wird. Der Schwerpunkt unserer Untersuchung liegt auf der Region Südostasien, d.h. die zehn Mitglied- staaten der Association of Southeast Asian Nations (ASEAN). Das Erkenntnisinteresse der Studie gilt der empirischen Bestandsaufnahme von Formen, Entwicklungen und Mustern kultureller Kon- flikte in Asien und Südostasien. Fünf Argumentationsschritte leiten durch unsere Ausführungen. Im ersten Schritt bestimmen wir kulturelle Konflikte. Der zweite Schritt führt von der Konzeptbildung auf die empirische Ebene. Im dritten Schritt geben wir einen gerafften Überblick zum kulturell im- prägnierten Konfliktgeschehen in Asien. Im vierten Schritt beschäftigen wir uns mit kulturellen Konflikten in Südostasien. Abschließend wird ein Fazit unserer Überlegungen gezogen. 2 Kulturelle Konflikte als Kultur thematisierende Konflikte Jede sozialwissenschaftliche Konfliktanalyse bedarf einer hinreichenden theoretischen Fundierung und klarer Begrifflichkeiten. Auf die Thematik dieser Untersuchung bezogen erfordert dies ein theo- retisch fundiertes und der empirischen Analyse zugängliches Konzept des „kulturellen Konflikts“. Wir haben ein solches Konzept an anderer Stelle ausführlich hergeleitet (Croissant et al. 2009), so dass hier einige knappe Ausführungen genügen. Den Ausgangspunkt unserer Überlegungen bildet die Annahme, dass es sich bei kulturellen Kon- flikten um eine spezifische Erscheinungsform politischer Konflikte handelt. Wie andere Formen politischer Konflikte sind auch kulturelle Konflikte letztlich nichts anderes als Kommunikationssitua- tionen zwischen zwei oder mehr Akteuren („Konfliktparteien“; vgl. Gurr 1970: 223ff.). Die Konfliktparteien sind die Kommunikationspartner, die Konfliktmaßnahmen die Kommunikationsmit- tel (Medien) und der Konfliktgegenstand ist der Kommunikationsinhalt (Thema). Als Kommunikationsmittel kommen nicht nur sprachliche Äußerungen sondern jede Form von sozialer Handlung in Frage. Politische Konflikte lassen sich in zweifacher Hinsicht differenzieren (1) im Hinblick auf die beteiligten Kommunikations- und Konfliktparteien: Innerstaatliche Konflikte zwischen nicht-staatlichen Akteuren innerhalb eines Staates oder zwischen einem Staat und einem nicht-staatlichen Akteur in diesem Staat. Zwischenstaatliche Konflikten, in denen Staaten die Konfliktparteien sind. Transnationale Konflikte zwischen nicht-staatlichen Akteuren unterschiedlicher nationaler Herkunft oder zwischen einem Staat und nicht-staatlichen Akteuren aus anderen Staaten. (2) im Hinblick auf den inhaltlichen Bezugspunkt der Konfliktkommunikation: In machtpolitischen Konflikten dreht sich die Konfliktkommunikation um den Zugang zu autoritativen Positionen in Staat und Gesellschaft oder im internationalen System („Machtverteilung“). In sozioökonomischen Konflikten bilden die Verteilung von Gütern und Rechten in oder zwischen Gesellschaften sowie die dieser Verteilung zugrunde liegenden Mechanismen den Inhalt der Auseinandersetzung („ökonomische Teilhabe“). In kulturellen Konflikten bildet Kultur den Inhalt der Kommunikation.
Kultur, Identität und Konflikt in Asien und Südostasien | Seite 6 Politische Konflikte sind Kommunikationssituationen. Sie lassen sich unterscheiden nach Kom- munikationsakteur (nicht staatlich, staatlich, transnational) und nach Kommunikationsinhalt (Macht, Ressourcen, Kultur). Kultur wird als ein Bedeutungsgewebe verstanden, das zur Hervorbringung und Wahrung der Iden- tität eines Kollektivs konstituiert wird (Geertz 1994: 9). Alles, was von einer Gesellschaft zur Hervorbringung und Wahrung der kollektiven Identität konstruiert und sodann von den Akteuren in einer Kommunikationssituation als Kontext aufgebaut wird, gehört zum Bereich des Kulturellen1. Dabei ist Kultur stets bedeutungsbezogen, wie bereits Max Weber (1988: 180) festgestellt hat: „Kultur ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens“. Mit der Eingrenzung auf den Identitäts- und Bedeutungsbereich wird ein Kulturbegriff mittlerer Reichweite gewählt. Er grenzt sich ab von dem engen soziologischen Kulturbegriff (Kultur als Komplex aus Standards, Werten und Normen und ihren Symbolisierungen) und von dem weiten ethnologischen Kulturbegriff (Kultur als Inbegriff menschlicher Lebensweise) abgrenzt. Der Vor- zug des identitätsbezogenen Kulturbegriffs mittlerer Reichweite liegt in seiner Praktikabilität: Er nimmt exakt jenen Ausschnitt der Wirklichkeit in den Blick, der im aktuellen Diskurs von Interesse ist: Identitäten. Politischer Konflikt als Kommunikation ist stets in einem strukturellen Kontext verortet. Dieser Kon- text bildet den Rahmen der Kommunikation und standardisiert sie, da er bestimmte Themen und den Einsatz bestimmter Medien zu bestimmten Zeiten durch bestimmte Akteure wahrscheinlicher macht, als entsprechend denkbare Alternativen (Krallmann / Ziemann 2001: 249; Hansen 2000: 39; Billington et al. 1991: 5). Für die Beschäftigung mit kulturellen Konflikten ist in erster Linie der soziokulturelle (Teil-)Kontext von Bedeutung. Er kann differenziert werden in den gesellschaftlichen (institutionell-prozedurale politische sowie ökonomischen und demografischen Strukturen) und den kulturellen Kontext (d. h.: Kultur). Jeder politische Konflikt nimmt als Kommunikation Bezug auf seinen Kontext. Kulturelle Konflikte stechen durch eine Besonderheit hervor: Kulturelle Konflikte nehmen nicht einfach Bezug auf den kulturellen Kontext – in kulturellen Konflikten wird der kulturelle Kontext selbst zum Gegenstand des Konflikts. Die besondere Brisanz kultureller Konflikte liegt darin, dass sie nicht primär über einen eindeutig bestimmbaren, interessengeleiteten (und damit prinzipiell verhandelbaren) Ge- genstand geführt werden, sondern dass die Akteure eine fundamentale Differenz hinsichtlich des Rahmens, in dem Kommunikation stattfindet, wahrnehmen oder behaupten: Es besteht nicht mehr nur ein Gegensatz hinsichtlich der Interessen, sondern Akteur A erkennt oder glaubt zu erkennen, dass Akteur B im Kernbereich seiner Identität, in seinem Denken, Fühlen und Handeln von einem (weil kulturell und identitätsbezogen) grundlegend anderen Kontext geprägt ist als er selbst. 1 „Identität“ ist das Ergebnis selbstreferenzieller Bedeutungszuweisung, also das „Selbstverständnis“, das aus dem Zusammenspiel von Kohärenz der bestimmenden Merkmale („Identität im engeren Sinne) und Differenz als Abgren- zung gegenüber dem Anderen („Alterität) hervorgeht (Gleason 1983).
Kultur, Identität und Konflikt in Asien und Südostasien | Seite 7 In herkömmlichen Konflikten bezieht sich die konfrontative Kommunikation auf einen thematischen Konfliktgegenstand („conflict issue“), der im Regelfall in expliziten Forderungen als eindeutig ab- grenzbares, interessengeleitetes Konfliktgut („conflict item“) formuliert wird. Im Unterschied dazu geht es in kulturellen Konflikten nicht um Interessen, sondern um Identität. Der Konfliktgegenstand bestimmt sich nicht danach, was die Akteure wollen oder zu wollen vorgeben, sondern was sie sind oder zu sein glauben. Auch wenn herkömmliche Konfliktgüter fast immer eine zusätzliche Rol- le spielen, konzentriert sich die Kommunikation in einem kulturellen Konflikt auf ein oder mehrere nicht explizit formulierte, identitätsbezogene Themen („conflict fields“). Kulturelle Konflikte nehmen nicht einfach Bezug auf den kulturellen Kontext – in kulturellen Kon- flikten wird der kulturelle Kontext selbst zum Gegenstand des Konflikts: Der Rahmen der Kommunikation wird zum Thema. Kulturelle Konflikte sind politische Konflikte zwischen nicht- staatlichen und/oder staatlichen Akteure, in denen die Akteure Kultur thematisieren. Die Kommunikation in einem kulturellen Konflikt bezieht sich auf ein oder mehrere nicht explizit for- mulierte, identitätsbezogene Themen. Kulturelle Konflikte sind Identitätskonflikte. Der Begriff „conflict field“ versucht, neben den „harten“, in der öffentlichen Diskussion meist klar benannten Ansprüchen auch „weichere“ und zugleich tiefergehende Konfliktgegenstände zu be- rücksichtigen. Zu beachten ist, dass Konfliktfelder Themen darstellen, nicht Motive: Sie drücken aus, worum es in dem Konflikt geht, worüber kommuniziert wird, nicht warum der Konflikt geführt wird, was also seine Ursachen sind (Seul 1999: 564). Die Befassung mit thematischen Konfliktge- genständen lässt außerdem offen, ob Akteure diese Themen authentisch ansprechen oder für nicht (öffentlich) genannte Zwecke instrumentalisieren. Als Konfliktfelder kommen drei Domänen oder Facetten von Kultur in Betracht: Religion, Sprache und Historizität („Geschichtlichkeit“). Sie lassen sich mittels der folgenden Indikatoren operationali- sieren, also empirisch erfassbar machen: Tabelle 1: Operationalisierung der Konfliktfelder Religion, Sprache und Historizität2 Konfliktfeld Indikator Beispiel Religion Verbaler oder aktiver Verweis auf ein Besuch eines Tempels durch den Re- religiöses Symbol (Person oder Ge- gierungschef oder Attentat auf einen genstand), der als Thematisierung von religiösen Führer. Religion verstanden wird. Sprache Verbaler oder aktiver Verweis auf ein Verbot einer Sprache an den Universi- sprachliches Symbol (Person oder Ge- täten oder linguistische Separierung genstand), der als Thematisierung von von Dialekten. Sprache verstanden wird. 2 Im historizitären Konfliktfeld hat auch die Problematisierung der Hautfarbe und Physiognomie ihren Platz – also das, was im angelsächsischen Raum als „Rassenzugehörigkeit“ diskutiert wird. Die Hautfarbe „eignet“ sich aufgrund des langsamen Schwindens der Distinktheit besonders zur symbolischen Vergegenwärtigung von Herkunftsgeschicht- lichkeit. Der hier verwendete Historizitätsbegriff unterscheidet sich von seiner Verwendung in der Geschichts- wissenschaft, die unter „Historizität“ die Faktizität historischen Geschehens versteht.
Kultur, Identität und Konflikt in Asien und Südostasien | Seite 8 Konfliktfeld Indikator Beispiel Historizität Verbaler oder aktiver Verweis auf ein Erbauung eines Kriegsdenkmals oder Symbol (Person oder Gegenstand) mit öffentlicher Diskurs über vorkoloniale Bezug zu markanten geschichtlichen Staatserfahrung. Ereignissen oder zur historischen/ historisierenden Herkunftsgeschichte, wobei dieser Verweis als Thematisie- rung von Historizität verstanden wird. Bei den identitätsbezogenen Konfliktfeldern kommt neben der reinen Mitteilung des Senders auch dem Verstehen auf Seiten des Mitteilungsempfängers Bedeutung zu3. Zusätzlich zur Handlung der Akteure muss also auch die Deutung des Geschehens durch die Akteure selbst mit in Betracht gezogen werden. Die Konfliktzuordnung erfolgt dichotom, das heißt, es wird untersucht, ob ein Kulturfeld angesprochen wird oder nicht. Daraus ergeben sich die folgenden möglichen Konfliktty- pen: Tabelle 2: Typen kultureller Konflikte Religion Sprache Historizität Konflikttypen 0 0 0 nicht-kultureller Konflikt 1 0 0 religiöser Konflikt 0 1 0 sprachlicher Konflikt 1 1 0 religiös-sprachlicher Konflikt 0 0 1 historizitärer Konflikt Um ein naheliegendes Missverständnis zu vermeiden: Dieses Konzept von „kulturellen Konflikten“ grenzt sich deutlich von anderen Konzepten wie „ethnische“, „rassische“ oder „religiöse“ Konflikte ab: „Ethnische Konflikte“ sind politische Konflikte zwischen Ethnien oder zumindest unter Beteili- gung mindestens einer Ethnie. Das definierende Merkmal ethnischer Konflikte sind die Akteure. Wer die Akteure sind, determiniert jedoch nicht, worüber sie kommunizieren. Der Inhalt der Ausei- nandersetzung, das Thema des Konflikts, bleibt weitgehend im Dunkeln. Die Annahme, dass Ethnien stets und primär um ihre Identität kämpfen, ist jedoch ein Kurzschluss. „Ethnische“ Konflik- te können auch um machtpolitische oder sozioökonomische Konfliktgüter geführt werden. Während es bei Ethnien zumindest vorstellbar ist, dass eine ethnische Gruppe als Ganzes als Ak- teur auftritt, ist dies bei Religionen oder „Rassen“ kaum plausibel. Oftmals wird als Ersatzakteur eine organisierte (meist nicht-staatliche) Konfliktpartei substituiert, die mit einer entsprechenden Religion oder „Rasse“ in Verbindung steht. Es ist nicht plausible, einen Konflikt bereits dann als „religiös“ einzustufen, weil eine der beteiligten Organisationen ausschließlich aus Hindus, Sikhs, Christen oder Muslimen besteht. 3 So wurde die Zerstörung christlicher Kirchen in Deutschland während des Zweiten Weltkriegs von Bevölkerung und Regierung nicht als Verweis auf ein religiöses Symbol verstanden (übereinstimmend mit den Absichten der Alliierten) und der Krieg somit nicht als religiöser Konflikt gedeutet.
Kultur, Identität und Konflikt in Asien und Südostasien | Seite 9 Entsprechend dem Themenfeld der Konfliktkommunikation lassen sich drei Grundformen („Ty- pen“) von kulturellen Konflikten unterscheiden: religiöse, sprachliche und historizitäre Konflikte. Konzept-logisch und empirisch sind Kombinationen („Mischtypen“) der Grundtypen möglich. Im Unterschied zu Konzepten wie „ethnisch“ oder „rassischen“ Konflikten orientiert sich diese Beg- riffssystematik nicht an den Akteuren („Ethnien“, „Rassen“) sondern wiederum an den Konfliktthemen (Religion, Sprache, Geschichtlichkeit). 3 Vom Konzept zur Empirie. Datengrundlage und Messung Theoretische und konzeptionelle Überlegungen sind ein notwendiger Schritt auf dem Weg zur wis- senschaftlichen Analyse realer Konflikte. Gleichfalls notwendig ist ein zweiter Arbeitsschritt – die Operationalisierung und Messung des Forschungskonzepts. Hierzu stützten wir uns auf das Datenmaterial der am Institut für Politische Wissenschaft der Uni- versität Heidelberg aufgebauten und gepflegten Datenbank des „Conflict Information System“ (CONIS). CONIS wertet Informationen aus ausschließlich öffentlich zugänglichen Nachrichtenquel- len qualitativ aus und bereitet sie zum Zwecke einer Ereignisdatenanalyse auf. Der CONIS- Datensatz besitzt eine Reihe von komparativen Vorteilen gegenüber anderen Datenquellen wie dem Correlates-of-War-Datensatz (vgl. Sarkees 2000) oder dem Uppsala Conflict Database Pro- ject (vgl. Urdal 2006)4. 1. CONIS erfasst für den Zeitraum 1947-2007 sowohl inner- und zwischenstaatliche Kriege und Gewaltkonflikte unterhalb der Kriegsschwelle als auch gewaltfrei ausgetragene Konflikte und ermöglicht somit eine Gesamtperspektive auf das globale Konfliktgeschehen. 2. Der CONIS-Datensatz erlaubt die Aufdeckung und Analyse von Konfliktdynamiken: angefan- gen bei der Frage, welche Phasen Konflikte durchlaufen, bis sie gewaltsam eskalieren, bis hin zur Analyse, wie lange Gewaltkonflikte dauern und wie oft der Wechsel zwischen Gewalt und Waffenstillstand bzw. Gewaltfreiheit durchlaufen wurde, bevor ein Konflikt dauerhaft beigelegt werden konnte. 3. Die CONIS-Datenbank untersucht die Entstehung von Konflikten auf unterschiedlichen Ebe- nen. Entsprechend umfasst das CONIS-Konfliktmodell insgesamt fünf Intensitätsstufen. Die erste („Disput“) markiert die Artikulation eines Interessengegensatzes, die zweite („gewaltfreie Krise“) die Drohung mit Gewalt. Die dritte Stufe („gewaltsame Krise“) beinhaltet die punktuelle Anwendung von Gewalt, in der vierten („begrenzter Krieg“) wird Gewalt geplant eingesetzt, oh- ne aber das Ziel zu verfolgen, den Gegner niederzuwerfen. Die fünfte Stufe – „Krieg“ – bedeutet die systematische Anwendung von Gewalt mit dem Ziel, den Gegner niederzuwerfen und ihm den eigenen Willen aufzuzwingen (Schwank 2008). 4. Neben Akteurskonstellationen und militärischen, ökonomischen, institutionellen und soziokultu- rellen Akteurscharakteristika erfasst CONIS vor allem Konfliktmaßnahmen, also konfliktrelevantes Handeln und konfliktrelevante Äußerungen der beteiligten Akteure. CONIS umfasst damit exakt jene Datenbestände, die für das Vorhaben dieser Untersuchung relevant sind. 4 Wie auch die anderen, gängigen Konfliktdatenbanken, basiert CONIS auf der Auswertung von open sources. Die Auswertung der Informationen erfolgt durch inhaltsinterpretatorische Verfahren.
Kultur, Identität und Konflikt in Asien und Südostasien | Seite 10 4 Eine empirische Topographie der kulturellen Konflikte in Asien seit 19455 Im Weiteren erfolgt die Zuordnung empirischer Konflikte zu einem oder mehreren Konfliktfeldern auf der Grundlage der CONIS-Daten. Die Konfliktmaßnahmen werden im Rahmen des hier ver- wendeten Untersuchungsdesigns zur Einschätzung der Konfliktfelder verwendet, das heißt, ausgehend von dem, was die Akteure im Konfliktaustrag tun oder sagen, wird durch inhaltsanalyti- sche Interpretation des Geschehens bestimmt, um welches Thema der betreffende Konflikt geführt wird. Dabei nimmt die Analyse nachfolgend drei Aspekte des asiatischen Konfliktgeschehens ab 1945 in den Blick: 1. Die Relevanz und Formen kultureller Konflikte in Asien 2. Die Konfliktakteure 3. Die Schwerpunktländer des regionalen Konfliktgeschehens 4.1 Relevanz und Formen kulturellen Konflikte 4.1.1 Asien als überdurchschnittlich konfliktreiche Region Es gehört zu den gesicherten Erkenntnissen der quantitativen Konfliktforschung, dass Asien in den Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine im internationalen Vergleich besonders stark von Gewaltkonflikten geprägte Region gewesen ist. Unsere Auswertung des CONIS-Datensatzes bestätigt diese Annahme. Von 1945 bis Mitte der 60er Jahre lag der Anteil der Region an den kriegerischen Konflikten weltweit bei weit über 50 Pro- zent. In der Spitze (1950) ereigneten sich 16 von weltweit 19 Kriegen und begrenzten Kriegen in Asien. 5 Die Region Asien umfasst die folgenden 42 Staaten: Australien, Bangladesch, Bhutan, Brunei, VR China, Fidschi, Indien, Indonesien, Japan, Kambodscha, Kasachstan, Kirgisistan, Kribiti, Nord-Korea, Süd-Korea, Laos, Malaysia, Malediven, Mars-hallinseln, Mikronesien, Mongolei, Myanmar, Nauru, Nepal, Neuseeland, Ost-Timor, Pakistan, Pa- lau, Papua-Neuguinea, Philippinen, Salomonen, Samoa, Singapur, Sri Lanka, Tadschikistan, Taiwan, Thailand, Tonga, Turkmenistan, Tuvalu, Usbe-kistan, Vanuatu, Vietnam. Wir danken Nicolas Schwank für die statistischen Auswertungen der CONIS-Datenbank.
Kultur, Identität und Konflikt in Asien und Südostasien | Seite 11 Abbildung 1: Asiens Anteil an Krisen (Konfliktstufe 3), begrenzten Kriegen (4) und Kriegen (5) weltweit (1945-2007, in %). 100 Anteil der Region Asien an den 90 Konflikten mittlerer Intensität weltweit 80 Anteil der Region Asien an den 70 Konflikten hoher Intensität weltweit 60 50 40 30 20 10 0 1945 1955 1965 1975 1985 1995 2005 Mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Abflauen regionaler Spannungen Ende der 80er Jahre hat sich der Anteil Asiens an den kriegerischen Gewaltkonflikten, vor allem der hoch gewaltsamen Kriege (Konfliktstufe 5), deutlich verringert. Freilich hat sich der Trend in den letzten Jahren umge- kehrt: Gegenüber dem historischen Tiefständen von 1994 (24 Prozent) und 2000 (25 Prozent) ist der aktuelle (2007) Stand wieder auf 42 Prozent angewachsen. Auch bei den Konflikten mittlerer Intensität, d.h. Konflikten mit sporadischem, aber nicht systematischem Gewalteinsatz, verzeichnet Asien seit 1945 fast durchgängig die höchste Konfliktbelastung aller in CONIS erfassten Weltregi- onen. 4.1.2 Die Dominanz innerstaatlicher „Kleiner Kriege“ Die international vergleichende Forschung hat den Nachweis erbracht, dass es in den vergange- nen Jahrzehnten zu einer sukzessiven Verlagerung des weltweiten Konfliktgeschehens von der zwischen- auf die innerstaatliche Ebene gekommen ist. Unsere Analyse bestätigt diese Beobachtung auch für Asien. Wie in den meisten anderen Weltre- gionen liegt die Zahl der zwischenstaatlichen Konflikte seit Beginn der Datenerhebung kontinuierlich unter der Zahl der innerstaatlichen Gewaltkonflikte.
Kultur, Identität und Konflikt in Asien und Südostasien | Seite 12 Abbildung 2: Anzahl der innerstaatlichen und zwischenstaatlichen Konflikte in Asien, 1945-2007. Jedoch hat sich die Schere zwischen beiden Konfliktarten in den vergangenen Dekaden und Jah- ren immer weiter geöffnet. Die Region kann in dieser Hinsicht als repräsentativ für weltweite Entwicklungen gelten. Hervorzuheben sind insbesondere das Einfrieren kriegerischer Konflikte innerhalb von Staaten auf einem relativ hohen Niveau sowie die drastische Zunahme innerstaatli- cher gewaltsamer Krisen seit dem Ende des Kalten Krieges. So lässt sich der von anderen Konfliktforschern diagnostizierte Trend hin zu „Kleinen Kriegen“ (Daase 1999) zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Gruppen sowie nicht-staatlicher Gruppie- rungen untereinander für Asien bestätigen. Diese Konflikte „geringer“ und „mittlerer Gewaltintensität“, in denen Gewalt in begrenztem Umfang, vereinzelt oder nur sporadisch einge- setzt wird und bei denen man deshalb kaum von Kriegen sprechen kann (Schwank 2008) sind allerdings in Asien kein neues Phänomen. Im Grunde prägen sie das Konfliktgeschehen in Asien schon seit Jahrzehnten. 4.1.3 Die Zunahme von Identitätskonflikten und die besondere Relevanz historizitärer Konflikte Im globalen Konfliktgeschehen ist seit den 80er Jahren eine steigende Bedeutung von Konflikten, die kollektive Identität thematisieren, zu erkennen (Huntington 1997; Fox 2000; Croissant et al. 2009). In Asien dominieren kulturelle Konflikte das Konfliktgeschehen bereits seit 1945. Eine Zu- nahme der Identitätskonflikte ist jedoch auch in Asien seit dem Ende der 70er Jahre zu verzeichnen.
Kultur, Identität und Konflikt in Asien und Südostasien | Seite 13 Abbildung 3: Anzahl der kulturellen und nicht-kulturellen Konflikte in Asien (alle Konfliktstufen), 1945-2007. Von den verschiedenen thematischen Typen kultureller Konflikte sind die historizitären Konflikte in Asien am häufigsten. Rein sprachliche Konflikte gibt es hingegen nur wenige. Die Entwicklung je- ner Konflikte, die sowohl Sprache als auch Religion thematisieren, ähnelt im Entwicklungsmuster dem der rein religiösen Konflikte. Deren Zahl nimmt in Asien (ähnlich wie in anderen Regionen) deutlich zu. Die Zahl religiös-sprachlicher Konflikte stagniert in Asien, d.h. „ethnisch“ gefärbte Kon- flikte verlieren an Bedeutung gegenüber religiös-ideologisch ausgerichteten Konflikten. Abbildung 4: Zahl der inner- und zwischenstaatlichen Konflikte nach Konflikttyp (alle Konfliktstu- fen), 1945-2007. 4.1.4 Kulturelle Konflikte in Asien sind primär innerstaatliche Konflikte Stärker noch als in anderen Weltregionen sind kulturelle Konflikte in Asien primär ein innerstaatli- ches Phänomen: 9 von 10 kulturellen Konflikten in Asien sind innerstaatlicher Art (92% im Vergleich zu 81% weltweit). Zum anderen thematisieren zwei von drei innerstaatlichen Konflikten (68%) in der ein oder anderen Form Kultur (weltweit: 56 Prozent).
Kultur, Identität und Konflikt in Asien und Südostasien | Seite 14 4.2 Die Konfliktakteure Welche Akteure oder Gruppen von Akteuren sind an kulturellen Konflikten in Asien beteiligt? Zu vermuten ist, dass aufgrund der hohen Zahl an kulturellen und innerstaatlichen Konflikten in der Region primär kulturelle nichtstaatliche Akteure das Konfliktgeschehen tragen. Tatsächlich ver- weist die quantitative und qualitativ vergleichende Konfliktforschung zu Asien auf die besondere Bedeutung von drei Akteursgruppen in der Region: Weltanschaulich linksgerichtete Konfliktakteure, die in sogenannten „Anti-Regime-Kriegen“ das innerstaatliche Konfliktgeschehen vor allem in Kontinentalasien und dem maritimen Südost- asien in den Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geprägt haben. Sie waren die Träger innerstaatlicher, nicht-kultureller Konflikte in Asien. Ethnische Aufstands- oder Sezessionsgruppen, die in horizontalen Konflikten zwischen kom- munalistischen Gruppen oder in vertikalen Konflikten gegen die Zentralregierung für kulturelle oder politische Selbstbestimmung oder um eine Neuverteilung ökonomischer Rechte kämpfen. Sie, so eine weitverbreitete These in der Literatur, prägen das Konfliktgeschehen vor allem in den 80er und 90er Jahren. Sie waren und sind die Träger innerstaatlicher, kultureller Konflikte. Religiös definierte, transnational agierende Organisationen oder Gruppen, die sich vorwiegend terroristischer Methoden des Konfliktaustrags bedienen. Ihre Bedeutung – so die in der regional spezialisierten Forschung stark umstrittene These – ist in den letzten etwa eineinhalb Dekaden stark gewachsen. Sie tragen das kulturelle, transnationale Konfliktgeschehen. Der CONIS-Datensatz eignet sich auch zur Überprüfung dieser Annahmen. Auf der Grundlage der Forschungssystematik der CONIS-Datenbank lassen sich verschiedene Kategorien von Konfliktak- teuren unterscheiden: Zu den „nicht-kulturellen“ Akteuren zählen (1) links- sowie (2) rechtsgerichtete politische Grup- pierungen, (3) auf die Demokratisierung eines Regimes zielende Akteure, (4) anti-koloniale bzw. nationalistische Gruppen sowie (5) staatsverbundene Akteure auf sub- oder supranationa- ler Ebene.6 Die kulturellen Akteure können in Anlehnung an die drei Domänen des Kulturellen in (1) religiös, (2) sprachlich und (3) historizitär definierten Akteuren unterschieden werden, wobei in die letzte Kategorie vor allem Gruppen fallen, die mit Transmigration, also Herkunftsgeschichte befasst sind, sowie traditionale Akteure.7 Innerhalb der beiden Ausrichtungen „kulturell“ bzw. „nicht-kulturell“ können die Kategorien kombi- niert werden. Hierdurch ergeben sich realiter 13 verschiedene Kategorien. Dementsprechend veranschaulicht die folgende Abbildung die Verteilung der verschiedenen, an politischen Konflikten in Asien beteiligten nicht-staatlichen Akteure, geordnet nach der jeweils maximalen Intensität eines Konflikts. 6 Zu den linksgerichteten Gruppen zählen beispielsweise die Maoisten in Nepal, zu den pro-demokratisch eingestellten Akteuren die Reformasi-Bewegung in Malaysia. 7 Zu den religiösen Gruppen gehören beispielsweise Jemaah Islamiah (JI) und der indonesische Laskar Dschihad, zu den sprachlich-religiös definierten Akteuren die Islamische Bewegung Ost-Turkestan (ETIM) im chinesischen Xinji- ang.
Kultur, Identität und Konflikt in Asien und Südostasien | Seite 15 Abbildung 5: Häufigkeit der Beteiligung unterschiedlicher Kategorien nichtstaatlicher Akteure an politischen Konflikten in Asien nach jeweils maximal erreichter Intensität. 250 Krieg 200 begrenzter Krieg 150 gewaltsame Krise gewaltlose Krise 100 Disput 50 0 pro-democracy historicitary &historitary left-wing right-wing anti-colonial/ colonial/nationalist supranational linguistic & linguistic & linguistic religious linguistic & historitary pro-democracy & colonial/nationalist subnational/ religious nationalist religious left wing & anti- anti- Auf der Grundlage dieser deskriptiv-empirischen Bestandsaufnahme lassen sich fünf markante Charakteristika der Akteurslandschaft in asiatischen Konflikten und insbesondere in kulturellen Konflikten benennen. 4.2.1 Die Dominanz sprachlich-religiöser („ethnischer“) Akteure Nicht-staatliche Akteure, die durch gleichermaßen sprachliche und religiöse Merkmale definiert sind und die aufgrund ihrer Charakteristika in der bisherigen Forschung häufig als „ethnische“ Ak- teure bezeichnet werden, waren in insgesamt 219 Konfliktfällen beteiligt. Es folgen mit deutlichem Abstand religiöse Akteure (38 Fälle) und links-ideologische Akteure (34) wie die bis 1997 aktiven Roten Khmer in Kambodscha. Zu nennen sind schließlich auch zum einen historizitäre Akteure, d.h. vor allem traditionale Akteure oder solche Akteure, die, wie bspw. die Bengalis in den Chitta- gong Hill Tracts von Bangladesch, einen Bezug zu Transmigation aufweisen (29 Fälle), sowie zum anderen Gruppierungen, die Demokratisierungsforderungen gegenüber Staat und herrschenden Eliten in ihren Ländern artikulieren, z.B. die Demokratiebefürworter in Hongkong (28 Fälle). 4.2.2 Die besonders häufige Beteiligung von sprachlich-religiösen („ethnischen“) Akteu- ren an Gewaltkonflikten Sprachlich-religiöse („ethnische“) Akteure, sind nicht nur absolut am häufigsten an Konflikten betei- ligt. Sie treten auch überproportional häufig in gewaltsam ausgetragenen Konflikten auf. Konflikte, an denen rein religiös definierte Gruppen beteiligt sind, werden zwar ebenfalls häufig gewaltsam ausgetragen. Zumindest in Asien haben diese Konflikte bislang jedoch nicht die Schwelle vom be- grenzten zum vollumfänglichen Krieg überschritten. Hingegen zeigen Konflikte mit ideologisch links orientierten Gruppen eine ähnliche Kriegsneigung wie Konflikte mit sprachlich-religiöser Akteursbe- teiligung.
Kultur, Identität und Konflikt in Asien und Südostasien | Seite 16 Tatsächlich scheint es so, dass ideologische Akteure, d.h. diesseitig ausgerichtete Weltanschau- ungsgemeinschaften, eher bereit scheinen, einen Krieg „bis zum bitteren Ende“ mit allem damit für die Bevölkerung einhergehenden Leid zu führen, als religiöse Akteure, also jenseitig orientierte Weltanschauungsgemeinschaften. Unterstreicht der religiöse Unterschied hingegen eine ohnehin schon sprachlich hervorstechende und womöglich historisch begründete Differenz zwischen Be- völkerungsgruppen, handelt es sich mithin um ethnonationalistische Akteure, ist der (defensive oder offensive) häufig im „mikro-nationalen“ Bereich zu beobachtende „Wir-gegen-sie“-Antrieb of- fenbar stark genug, eine Eskalation bis zum Äußersten in Kauf zu nehmen. 4.2.3 Die Bedeutung religiös definierter Akteure nimmt zu, während die Zahl der „ethni- schen“ Konfliktakteure relativ konstant bleibt Betrachtet man die Beteiligung der unterschiedlichen Akteursgruppen an den verschiedenen Ty- pen kulturellen Konflikts8 (alle fünf Intensitätsstufen), zeigt sich, dass religiöse Gruppen – wie zu erwarten – am häufigsten an religiösen Konflikten beteiligt sind. Ihre Beteiligung hat insbesondere seit 1998 dramatisch zugenommen (vgl. Abb. 6). Dies korrespondiert mit dem Befund, dass die Zahl religiöser Konflikte seit dem gleichen Beobachtungsjahr deutlich zugenommen hat. Unsere Ergebnisse deuten demnach auf eine tatsächliche Bedeutungszunahme religiös definierter Akteure und der von ihnen getragenen religiösen Thematiken hin. Abbildung 6: Beteiligung nichtstaatlicher Akteure an religiösen Konflikten nach Akteurskategorie, 1945-2007. 30 religious 25 linguistic & religious 20 others 15 10 5 0 1945 1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 Anmerkung: Die Kategorie „Andere“ umfasst anti-kolonial/nationalistische, historizitäre, linksgerich- tete, pro-demokratische, rechtsgerichtete und subnational/supranationale Akteure. Am zweithäufigsten ist die Beteiligung sprachlich-religiöser („ethnischer“) Akteure an Religionskon- flikten. Auch dies überrascht kaum. Bedeutsam ist jedoch, dass die Zahl dieser Akteure – anders 8 Auf die Diskussion sprachlich-religiöser, sprachlicher und historizitärer Konflikte wird hier aus Platzgründen verzich- tet. In politischen Konflikten, in denen Sprache das primäre Konfliktthema ist, sind im Allgemeinen Gruppen präsent, die durch alle drei Kulturmerkmale definiert werden: Sprache, Religion und Historizität. Deutlich am häufigsten an historizitären Konflik-ten beteiligt sind sprachlich-religiöse („ethnische“) Akteure. Geschichtsbezogene Konflikte wer- den somit in erster Linie von „ethnisch“ geprägten Gruppen geführt.
Kultur, Identität und Konflikt in Asien und Südostasien | Seite 17 als im Falle der religiösen Akteure – seit Beginn der 80er Jahre relativ unverändert geblieben ist. Akteure, die als „ethnisch“ bezeichnet werden können, nehmen damit seit nunmehr 25 Jahren zu- mindest in Asien nicht verstärkt an religiösen Konflikten teil. Würde man, wie zumeist geschieht, den Begriff des ethnischen Konflikts über die Beteiligung ethnischer Akteure definieren, so lautet der entsprechende Befund: die Bedeutung „ethnischer Konflikte“ in religiösen Kontexten hat in A- sien seit Anfang der 80er Jahre weder zu- noch abgenommen. 4.2.4 „Ethnische“ Akteure dominieren auch das nicht-kulturelle Konfliktgeschehen, wäh- rend linksgerichtete Gruppierungen an Bedeutung verloren haben Bemerkenswertes liefert die Analyse des Akteursspektrums in nicht-kulturellen Konflikten. Wieder- um überwiegen hier die sprachlich-religiösen Akteure. Seit Mitte der 70er Jahre dominieren diese „ethnischen“ Akteure auch das nicht-kulturelle Konfliktgeschehen in Asien. Abbildung 7: Beteiligung nichtstaatlicher Akteure an nicht-kulturellen Konflikten in Asien nach Ak- teurskategorie, 1945-2007. 25 linguistic & religious pro- 20 democracy left-wing others 15 10 5 0 1945 1955 1965 1975 1985 1995 2005 Anmerkung: Die Kategorie „Andere“ umfasst anti-kolonial/nationalistische, historizitäre, linksgerich- tete & anti-kolonial/nationalistische, rechtsgerichtete, religiöse und subnational/supranationale Akteure. In der Region werden also politische Konflikte um interessengeleitete, zumeist machtpolitische oder ökonomische Güter häufig von zumeist in „mikro-nationaler“ Perspektive agierenden Gruppen geführt. Die nicht-kulturellen Konflikte in Asien weisen demnach oftmals einen in kulturellen Erfah- rungen und Konzepten gründenden Interessenshorizont auf: Das Interesse an der Machtverteilung in einem Staat oder an der Verteilung von Ressourcen oder Wohlstand ist in diesen Fällen regio- nal-partikularistisch rückgebunden. Demgegenüber ist die ehedem große Bedeutung linksgerichteter Gruppierungen seit Mitte der 70er Jahre rückläufig – lange vor dem Ende des Kalten Krieges waren viele Konfrontation ausge- fochten, andere Fronten verhärtet (vgl. Abb. 7). Zwar suggerieren die nackten Daten seit Ende der 90er Jahre eine „Renaissance“ in der Konfliktbeteiligung zu beobachten. Dieser Trend lässt sich
Kultur, Identität und Konflikt in Asien und Südostasien | Seite 18 jedoch geographisch eingrenzen: Er betrifft fast ausschließlich den indischen Subkontinent. Für das übrige Asien hingegen hält der Niedergang linksrevolutionärer Gruppierungen bislang an. 4.3 Die Schwerpunktländer des regionalen Konfliktgeschehens Schlüsselt man diese Zusammenhänge noch einmal in geographischer Hinsicht auf, so ergibt sich eine Kerngruppe von vier asiatischen Ländern – Myanmar, Indonesien, Indien sowie Tadschikistan –, die historisch betrachtet in besonderem Maße von kulturellen Kriegen und begrenzten Kriegen betroffen sind. Abbildung 8: Staaten in Asien mit der höchsten Belastung durch kulturelle Konflikte N = 42; Der Konfliktbelastungsindex gibt die relative Belastung einzelner Länder durch Konflikte mittlerer Intensität (Konfliktstufe 3) und hoher Intensität (Konfliktstufen 4 und 5) an. Ein Belas- tungswert von 1 drückt aus, dass ein Staat in jedem Jahr seiner Existenz mindestens einen Konflikt der jeweiligen Kategorie aufweist, der Wert 0 steht dafür, dass in keinem einzigen Jahr ein solcher Konflikt beobachtet werden konnte. Ein ähnliches Bild ergibt sich auch für kulturelle gewaltsame Krisen; allerdings erweitert sich dies- bezüglich die Gruppe der besonders betroffenen Staaten um Bangladesch, Pakistan, Philippinen, Ost-Timor, Thailand und Usbekistan (vgl. Annex 1).
Kultur, Identität und Konflikt in Asien und Südostasien | Seite 19 5 Kulturelle Konflikte in Südostasien Von den insgesamt zehn Nationen Südostasiens rangieren vier unter den am stärksten von kultu- rellen Gewaltkonflikten betroffen Staaten in Asien. Tatsächlich ist Südostasien im Vergleich zu der Zahl der Staaten und ihrer Bevölkerungsgröße überdurchschnittlich stark von kulturellen Konflikten belastet: 4 der 13 gewaltlosen Identitätskonflikte und 7 der 33 kulturellen Konflikte mittlerer Intensi- tät Asiens in Südostasien stattfinden. Von 68 kriegerischen Kulturkonflikten wurden 29 in Südostasien ausgetragen. 5.1 Die regionale Perspektive Grundsätzlich ist die Region Südostasien mit Blick auf die quantitativ erkennbaren Muster und Trends allerdings durchaus repräsentativ für ganz Asien. Der Anteil der kulturellen Konflikte an den politischen Konflikten insgesamt und über alle Intensitätsklassen hinweg ist fast identisch. So be- trägt der Anteil der kulturellen Konflikte in Südostasien (bzw. in Asien) an den gewaltlosen Konflikten insgesamt 33 (weltweit: 38) Prozent, an den Konflikten mittlerer Intensität insgesamt 58 (weltweit: 59) Prozent und an den kriegerischen Konflikten insgesamt 59 (weltweit: 64) Prozent. Bedeutsame Abweichungen von den vorangegangenen Befunden für Asien insgesamt ergeben sich jedoch in dreierlei Hinsicht: 5.1.1 Im Unterschied zu Asien insgesamt ist in Südostasien keine deutliche Verlagerung des Konfliktgeschehens auf Identitätskonflikte zu erkennen. Anders als in Asien insgesamt geht die Schere zwischen kulturellen und nicht-kulturellen Konflikten in Südostasien nicht immer weiter auseinander, sondern beide Entwicklungslinien verlaufen relativ gleichmäßig (vgl. Abb. 9). Allein von der Mitte der 60er bis zur Mitte der 80er ist die beobachtbare Abweichung etwas größer. In dieser Zeit dominieren – untypisch für Asien als Ganzes – nicht kul- turelle sondern säkular-ideologische Konflikte, d.h. vor allem Regimekonflikte. Dieses Verhältnis hat sich schließlich zu Beginn des neuen Jahrhunderts umgekehrt. Abbildung 9: Anzahl der kulturellen und nicht-kulturellen Konflikte in Südostasien (alle Konflikte, 1945-2007).
Kultur, Identität und Konflikt in Asien und Südostasien | Seite 20 Zwar hat auch in Südostasien, wie die Grafik zeigt, die Zahl der kulturellen Konflikte mehr oder weniger kontinuierlich zugenommen und übersteigt inzwischen deutlich die Anzahl der nicht- kulturellen Konflikte. Doch von einer „dramatischen“ Zunahme speziell der kulturellen Konflikte kann keine Rede sein. Vielmehr hat die Zahl der Konflikte insgesamt über die vergangenen sechs Jahrzehnte zugenommen. Die Entwicklung der kulturellen Konflikte sticht hier nicht in besonderem Maße heraus. Ein genauerer Blick zeigt, dass die 1998 einsetzende Zunahme kultureller Konflikte nach einer Phase der relativen Stagnation zwischen 1991 und 1997 vor allem auf Identitätskonflik- te im Kontext des Demokratisierungsprozesses in Indonesien (Sulawesi, Molukken) sowie auf Konflikte mit islamistischen Vereinigungen in anderen Staaten (z.B. Kumpulan Mujahideen Malay- sia und Jemaah Islamiah) zurückzuführen ist. 5.1.2 Kulturelle Konflikte in Südostasien tendieren stärker zur Eskalation als im restli- chen Asien Betrachten wir ausschließlich die kulturellen Konflikte im Zeitverlauf, so werden deutliche Unter- schiede zwischen der Region als Ganzes und Südostasien erkennbar. In der Subregion gibt es deutlich mehr kriegerische Konflikte als gewaltsame Krisen, während dieses Verhältnis in Gesamt- asien relativ ausgeglichen ist. Anders als im restlichen Asien dominieren in Südostasien im kulturellen Bereich nach wie vor die begrenzten Kriege und Kriege, ohne dass hier ein klarer Trendumschwung zu „small wars“ feststellbar wäre. Abbildung 10: Anzahl der inner- und zwischenstaatlichen kultureller Konflikte mittlerer und hoher Intensität in Südostasien und Asien, 1945-2007. 30 kulturelle gewaltsame Krisen in 25 Südostasien kulturelle 20 begrenzte Kriege und Kriege in Südostasien 15 kulturelle gewaltsame Krisen in Asien 10 gesamt kulturelle 5 begrenzte Kriege und Kriege in Asien gesamt 0 1945 1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 Dieser Befund deutet darauf hin, dass im südostasiatischen Raum Identitäts- und kulturelle Konflik- te stärker zu Eskalation neigen als im restlichen Asien. Die Identitätskonflikte in südostasiatischen Staaten scheinen sehr tiefliegend und damit Deeskalationsstrategien häufig nur schwer zugänglich zu sein. Beispielhaft sind hier die zahlreichen Konflikte in Myanmar und der Pattani-Konflikt in Süd- thailand.
Kultur, Identität und Konflikt in Asien und Südostasien | Seite 21 5.1.3 3. Kulturelle Konflikte in Südostasien sind fast ausschließlich ein innerstaatliches Phänomen 96 Prozent der kulturellen Konflikte in Südostasien werden innerhalb von Staaten ausgetragen. Damit liegt die Subregion in dieser Hinsicht 4 Prozent vor dem gesamtasiatischen Niveau und deutliche 15 Prozent über dem weltweiten Niveau. Konflikte, in denen Kultur thematisiert wird, sind in Südostasien somit fast ausschließlich ein innerstaatliches Phänomen. Umgekehrt werden Kon- flikte zwischen Staaten nur sehr selten um kulturelle Themenstellungen ausgetragen: der Anteil nicht-kultureller Konflikte an den zwischenstaatlichen Konflikten insgesamt liegt in Südostasien bei 87 Prozent und damit 10 Prozentpunkte über dem gesamtasiatischen Niveau. Dieser Befund ist insbesondere deshalb hervorzuheben, da Südostasien eine in der Gesamtschau kulturell außeror- dentlich heterogene Region darstellt, kulturelle Konflikte zwischen Staaten also eher zu erwarten wären, als in anderen, kulturell weniger diversen Subregionen in Asien oder in anderen Weltregio- nen. Offenkundig ist es den Regierungen der Region gelungen, Mechanismen zu entwickeln, die verhindern, dass die vorhandenen kulturellen Spannungen und Konflikte innerhalb von Gesell- schaften ihr transnationales Konfliktpotential entfalten oder auf die zwischenstaatlichen Beziehungen „überspringen“. 5.2 Die Einzelfallperspektive Die stärkere Eskalationsneigung südostasiatischer Identitätskonflikte zeigt sich insbesondere in Indonesien, Myanmar und Thailand. Malaysia und Singapur sind die Kontrastfälle – hier werden Identitätskonflikte weitgehend friedlich kommuniziert. Die historische und gegenwartsbezogene Betrachtung zeigt, dass im südostasiatischen Raum In- donesien, Myanmar und Thailand mit Abstand am stärksten von kulturellen Gewaltkonflikten betroffen sind. Die verstärkte Eskalationsneigung südostasiatischer Identitätskonflikte zeigt sich gerade hier (vgl. Abb. 11). Umgekehrt stehen Malaysia und Singapur für eine weitgehend friedliche Austragung von Identitätskonflikten in der Region.
Kultur, Identität und Konflikt in Asien und Südostasien | Seite 22 Abbildung 11: Quote der innerstaatlichen Konflikte mittlerer und hoher Intensität in den Staaten Südostasiens, von ihrer Gründung bis 2007. 1,00 Quote 0,90 innerstaatliche Konflikte 0,80 mittlerer Intensität 0,70 0,60 Quote 0,50 innerstaatliche Kulturelle 0,40 Konflikte hoher 0,30 Intensität 0,20 0,10 0,00 ar a os a a e nd ei m s ne or di si si un na nm La la ay ne bo ap pi Br ai et ya al do ilip am ng Th Vi M M In Ph Si C Eine nähere Untersuchung der in diesen Staaten auffindbaren Konfliktstrukturen drängt sich daher gleichsam auf. Wie wir sehen konnten, kreisen kulturelle Konflikte in Südostasien vornehmlich um das Thema Geschichtlichkeit, gefolgt von rein religiösen und religiös-sprachlichen Inhalten. Wir wollen daher aus der großen Zahl der Einzelkonflikte, die in den im Blick stehenden Ländern anzu- treffen sind oder waren, aktuelle Konflikte auswählen, welche die Mechanismen kultureller Thematisierung politischer Konflikte erhellen können. In Frage kommen in besonderer Weise der religiös-sprachliche Pattani-Konflikt im Süden Thailands, der historizitäre Aceh-Konflikt in Indone- sien sowie die Gesamtkonstellation der verschiedenen historizitären Konflikte in Myanmar, die sonst zumeist als „ethnische Minderheitenkonflikte“ firmieren. 5.2.1 Der Aceh-Konflikt als historizitärer Konflikt Aceh – die nördlichste Provinz der Insel Sumatra – ist Schauplatz eines der ältesten innerstaatli- chen Konflikte in Indonesien und dem gesamten Südostasien. Der bewaffnete Konflikt im engeren Sinne, d.h. die Auseinandersetzung zwischen der Gerakan Aceh Merdeka (Bewegung Freies A- ceh, GAM) und der indonesischen Zentralregierung, beginnt 1976 mit der Gründung der GAM und der Ausrufung einer unabhängigen Republik Aceh durch die GAM. In der Konfliktforschung wird Aceh sowohl als Ressourcenkrieg wie auch als „ethno- nationalistischer“ und „ethno-religiöser“ Konflikt porträtiert (Searle 2002; Bertrand 2004; Ross 2005). Diese divergierenden Einschätzungen verweisen auf unterschiedliche Facetten des Kon- flikts und das komplexe Geflecht an Wirk- oder Ursachenfaktoren, das der Auseinandersetzung zugrunde liegt. Kulturelle Faktoren – besonders die strikte Interpretation islamischer Praktiken in Aceh, eine gemeinsame Sprache sowie die Erinnerung an das vorkoloniale Sultanat Aceh und die Rolle der Provinz im Kampf gegen die niederländische Kolonialmacht und für eine Islamische Re-
Kultur, Identität und Konflikt in Asien und Südostasien | Seite 23 publik Indonesien in der Frühphase der indonesischen Unabhängigkeit – stehen im Kern der natio- nalen Selbstdefinition der Unabhängigkeitsbewegung. Doch ökonomische Faktoren sind gleichfalls wesentlich für das Verständnis des Konflikts, fällt doch die Gründung der GAM mit dem Beginn der Ausbeutung der großen Erdöl- und Gasvorkommen in der Provinz zusammen. Tatsächlich besteht in der Konfliktforschung recht breiter Konsens darüber, dass dem Konflikt ma- terielle Missstände und Ursachen zugrunde liegen, die im strukturellen Kontext des Konflikts verortet werden können (Missbach 2005; Schulze 2006; Hadiwinata 2006). Die genauere Betrach- tung der Konfliktdynamik und Konfliktentwicklung verdeutlicht jedoch, dass der Aceh-Konflikt in den gut drei Jahrzehnten seit Ausbruch der Gewalt inzwischen deutliche Züge eines Identitätskon- flikts angenommen hat. Ursächlich für diese Entwicklung ist die kulturelle Thematisierung der genannten ökonomischen und politischen Missstände in der Provinz durch GAM und signifikante Teile der lokalen Bevölkerung. Dabei wurden real bestehende Problemlagen zum Gegenstand einer kulturell geprägten Konstruktion acehnesischer Identität (keacehan; vgl. Aspinall 2007; Mc- Carthy 2007). Mit anderen Worten: kulturelle Faktoren sind nicht primär als Konfliktursache relevant, sondern als Referenzpunkte für die Konstruktion eigener Identität im Zuge der politischen Mobilisierung der lokalen Bevölkerung durch die GAM sowie der Legitimation ihrer Ziele und Kon- fliktstrategien. Ökonomische Ungleichheit und Benachteiligung, das Fehlen politischer Teilhabemöglichkeiten sowie Repression (letztere wiederum mit einer ethnischen Komponente behaftet) schwächten die vormals starke Identifikation der acehnesischen Gesellschaft mit der Republik Indonesien. Damit wurde die Basis gelegt für den Aufstieg der GAM von einer in ihren Anfangsjahren marginalen Be- wegung zum Repräsentanten des Strebens der Provinz nach nationaler Selbstbestimmung und Bewahrung ihrer kulturellen Identität. Mehr noch: indem GAM die Unzufriedenheit in der Bevölke- rung aufgriff und zum Ausgangspunkt ihrer Konstruktion einer kulturellen („ethno-nationalen“) Identität Acehs machte, hatte sie erheblichen Anteil an der kulturellen Deutung der existierenden gesellschaftlichen Problemlagen. Der Konflikt um die Verteilung ökonomischer und politischer Rechte in der Region wurde dadurch eingebunden in den breiteren Prozess der Identitätskonstruk- tion (Aspinall 2007; Brown 2005; McCarthy 2007). Die politische Artikulation dieser Identität durch die GAM erfolgt vor allem durch Rückgriff auf kulturelle Begriffe und Symbole. Die mitunter in der Literatur vertretene Position, wonach GAM die vorhandenen Problemlagen le- diglich instrumentalisiert, indem sie kulturelle Themen als Mobilisierungsressource zur Durchsetzung ihrer „realen“ Macht- und Aneignungsinteressen missbraucht (McCulloch 2005; Missbach 2005), greift zu kurz, um den Stellenwert von Kultur im Konflikt angemessen zu erfas- sen. Zwar ist GAM keine genuin islamistische Gruppierung, da die Einführung einer islamischen Gesellschafts- und Herrschaftsordnung für die Gruppe kein organisatorisches Anliegen darstellt, sondern eine Reflexion der kulturellen Identität der Bevölkerung Acehs bedeutet (Hadiwinata 2006: 7). Schon aus Mobilisierungsgründen konnte die Organisation kaum darauf verzichten, sich mit der von ihr als Bestandteil dieser Identität thematisierten strikten Auslegung islamischer Praktiken zu identifizieren (Schulze 2004: 9). Jedoch konnte GAM nur deshalb Unterstützung für ihr Ziel der nationalen Unabhängigkeit Acehs mobilisieren, weil die vorhandenen Missstände von einem großen Teil der Bevölkerung Acehs auch als Ausdruck der Missachtung ihrer eigenen Identität wahrgenommen wurden (Bertrand 2004b: 173). Die Nicht-Anerkennung dieser Identität durch die indonesische Regierung dient als
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