KWA Schülerliteraturwettbewerb Baden-Baden 2021 "Die Farbe von frisch gelegtem - Asphalt"

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KWA Schülerliteraturwettbewerb Baden-Baden 2021 "Die Farbe von frisch gelegtem - Asphalt"
KWA Schülerliteraturwettbewerb
       Baden-Baden 2021
       „Die Farbe von frisch gelegtem
Asphalt“

       Prämierter Beitrag
       von Michelle Erlich
Die Farbe von frisch gelegtem Asphalt
Der Kies knirschte leise unter unseren Füßen als ich schweigend neben meiner
Großmutter den Friedhof verließ. Vier Jahre war es nun schon her, seit wir denselben
schmalen Kiesweg gegangen sind und meinen Großvater begraben haben. Verstohlen
blickte ich zu ihr hinüber, doch sie schien mit ihren Gedanken ganz weit weg. Ich musste
wegschauen – die Träne, die ihr die Wange hinunterlief, war nicht für meine Augen
bestimmt.
Wir liefen nicht lange bis zur kleinen Wohnung, in der meine Großmutter schon seit über
zwanzig Jahren lebte. Ich beeilte mich die Schuhe von meinen Füßen zu streifen,
kassierte jedoch einen tadelnden Blick als ich mich anstellte nur in Socken
weiterzulaufen. “Ach Kindchen – du lernst es nie”, meinte meine Großmutter
kopfschüttelnd und hielt mir ein paar Hausschuhe hin. Während sie den Wasserkessel
aufsetzte, schlüpfte ich auf die Eckbank in der Küche und zog die Beine im Schneidersitz
zu mir hoch, wobei die Hausschuhe achtlos unter dem Esstisch verschwanden. Auf dem
Tisch lag ein einzelnes schwarz-weißes Bild, das ich interessiert zu mir zog. Es zeigte
ein junges Paar, das seriös in die Kamera schaute.
„Oma, wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt?” Die Frage entstand automatisch,
noch bevor ich mir Gedanken darüber machen konnte, ob es nicht der falsche Tag für
diese Art von Gespräch sein könnte. Nachdenklich drehte sich meine Großmutter mit
unseren zwei dampfenden Tassen zu mir um, lächelte aber sobald sie sich mir
gegenüber hingesetzt hatte.
“Weißt du, unser erstes Treffen war etwas Adrenalin geladener als es normalerweise bei
einem ersten Date sein sollte”, lachte sie. Einen kurzen Augenblick sah ich an ihren
dunkelgrau-blauen Augen, dass sie angestrengt nachdachte. In Erwartung einer
längeren Geschichte, zog ich mir die auf dem Tisch stehende Keksdose näher ran und
tunkte einen Schokoladen Keks in den Tee. “Ach Schätzelchen, dass ist schon so viele
Jahre her... Ich glaube ich könnte dir bei bestem Willen nicht alles so erzählen wie es
gewesen ist”. Plötzlich leuchteten Ihre Augen auf: “Ich weiß aber wer es kann!”, rief sie
freudig und lief aus der Küche. Erstaunt schaute ich ihr hinterher. Ich stopfte mir gerade
den zweiten Keks in den Mund als sie auch wieder mit einem alten verstaubten Karton
zurück, in die in die Küche kam. Schwungvoll stellte sie ihn auf der weißen Tischdecke
ab und rümpfte die Nase als ihr eine Ladung Staub in die Nase fuhr. Neugierig versuchte
ich in den Karton zu spähen, doch meine Oma wühlte so angestrengt darin, dass ich
nichts erkennen konnte. Plötzlich schien sie, dass zu finden was sie gesucht hatte und
holte es mit einem erleichterten Seufzer heraus. Es war ein in Leder eingebundenes
Notizbuch. “Du musst wissen, ich habe ihm immer angedroht ich würde es finden und
lesen, wenn er es nicht gut genug versteckt. Er hat damals nur gelacht...” Sie schaute zu
mir rüber und hielt mir dann das kleine Notizbuch hin: “Das ist das alte Tagebuch deines
Opas. Ich denke du würdest dich freuen die Geschichte aus seiner Sicht zu hören.” Ich
nahm ihr das Büchlein aus der Hand und machte ihr Platz damit sie sich neben mich auf
die Bank setzen konnte. “Du müsstest aber zuerst die richtige Seite finden, wo er über
mich das erste Mal schreibt,“ sagte sie, diesmal mit unversteckter Spannung in der
Stimme. Ich nahm einen Schluck vom Tee und begann zu blättern. Es war schwierig die
kleinen Zeichen drin zu entziffern, doch anhand der Daten konnte ich schnell
nachvollziehen, dass er da nur geringfügig älter als ich sein konnte. Es war schwierig
sich ihn als jungen Mann vorzustellen. Ich kannte ihn nur als gesetzten Mann, der alles
erreicht hatte, was er wollte, doch hier zwischen den Zeilen lebte ein vollkommen
anderer Mann. Einer der bestimmt nicht gedacht hätte, dass seine geniale Enkelin seine
Tagebücher lesen würde. Zweifelnd schaute ich zu meiner Oma hinüber, doch sie
wedelte nur ungeduldig mit der Hand und wies mich an weiterzusuchen. Lächelnd
blätterte ich weiter. Den Hang zum Regeln brechen, hatte ich wohl eindeutig von Ihr
geerbt. Mir viel eine Seite auf, welche am Rande viele Blumen, Farben und schöne,
geschnörkelte Muster hatte. “Hier fängt es an!”, sagte meine Großmutter und schaute
mich, den Kopf auf ihren Arm abgestützt erwartungsvoll an. “Na los ließ schon vor.”
Ich strich vorsichtig die Seiten glatt und begann vorzulesen.

                                                          Freitag, der 5. September 1959

Endlich Freitag und das erste Wochenende nach dem Beginn der Vorlesungen ist in
unmittelbarer Nähe. Heute musste ich das erste Mal den Zug nehmen, um nach
Jekaterinburg zu kommen. Das Ticket sollte fünf Rubel kosten! Damit hatte ich nicht
gerechnet. Ich kann es mir nicht leisten so viel für ein Ticket zu bezahlen. Besonders so
oft wie ich die Strecke nehmen musste. Unschlüssig stand ich dann am Bahnsteig und
wusste nicht was ich tun sollte. Da kam mir ein für den ehrlichen Bürger erschreckender
Gedanke: Sollte ich vielleicht Schwarz fahren? Ich konnte mir auch bei bestem Willen
nicht vorstellen, dass all die Studenten, die dort neben mir auf den Zug warteten, so viel
für die Tickets bezahlen. Mehr als die Hälfte muss schwarzfahren. Und ich dachte mir,
dass wenn sie es hinkriegen – ich es auch hinbekomme. Gerade als ich meine
Entscheidung getroffen hatte, kam auch schon der Zug. „Vorsicht, die Türen schließen“,
sagte der Lautsprecher. An diesen Geruch der Hitze und der alten Holzbänke, der mir
beim Einsteigen in die Nase fuhr werde ich wohl nie vergessen. Ich suchte mir einen
leeren Platz am Fenster und ließ mich auf die vor Schmutz klebende Holzbank fallen.
Die Landschaft raste an mir vorbei und doch regte sich kein Lufthauch im fast leeren
Abteil. Da wurde ich stutzig – wo waren all die jungen Leute, die auf diesen Zug gewartet
haben?
Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. „Guten Abend junger Mann, ihre
Karte bitte“. Ich spürte wie mir das Blut in den Kopf schoss und drehte mich um. Vor mir
stand die Zugkontrolleurin. Im verzweifelten Versuch wenigsten einen Nutzen aus der
doppelten Menge Blut in meinem Gehirn zu ziehen, versuchte ich mich herauszureden:
„Ähm ja gleich warten sie bitte einen Moment, ich muss das Ticket noch kurz rausholen.“
In diesem Moment glaube ich habe ich in meinem Kopf alle möglichen Szenarien meiner
Handlungen abgespielt. Und keine schien brauchbar. Der Blick, den die Frau an mich
geheftet hatte, erinnerte mich sehr stark an den meiner Mathelehrerin aus der
Grundschule, wenn ich gesagt habe, dass ich die Hausarbeit verloren habe. Dies
brachte mich auf eine Idee und ich entschied mich mein Glück zu versuchen: „Oh nein!
Ich glaube ich habe das Ticket verloren!“ sagte ich mit all meinem theatralischen Können
und setzte dabei fleißig Gestik und Mimik ein. Die Frau sah mich nur an, gab mir einen
kleinen Zettel in die Hand und sagte mit der Stimme meiner Mathelehrerin: „Steig bitte
bei der nächsten Haltestelle raus.“ Tja, ich glaube, das mit der Begabung zum
darstellenden Spiel muss ich noch mal überdenken.
Aber da ich schon sowieso die Strafe bekommen habe, wollte ich jetzt umso mehr bis
nach Jekaterinburg fahren. Nachdem ich mir sicher war, dass die Kontrolleurin mich
nicht mehr sehen konnte ging ich ein paar Wagons nach hinten.
Im hinteren Wagon fand ich schließlich die Studenten wieder die ich in meinem Abteil
vermisst habe - es gab kaum einen freien Platz. Und atmen viel hier noch schwerer, dort
war die Luft noch dicker als im ersten Wagon. Als ich endlich einen Platz gefunden habe,
setzte ich mich hin und begann den Strafzettel zwischen meinen Fingern zu drehen und
nachzudenken. Es war auch so schon schwierig genug in der Nachkriegszeit zu
studieren und wenn ich dies nicht tue, dann kann ich keinen guten Job bekommen, von
dem ich und meine Familie dann leben könnten. Und jetzt auch noch die
ungeheuerlichen Fahrtkosten. Ich schäumte innerlich vor Wut, als ich plötzlich
angesprochen wurde. „Na, wurdest du etwa erwischt?“, sagte eine helle freundliche
Stimme. Ich hob den Blick und schaute in das Gesicht einer mir gegenübersitzenden
jungen Frau. Ich nickte nur verstimmt und stopfte den Strafzettel in meine Hosentasche.
Sie grinste breit und schaute mich belustigt an: „Bist du neu hier? Wenn du willst, kann
ich dir beibringen, wie es richtig geht. Das Schwarzfahren muss auch gelernt sein“.
Erstaunt über ihre Offenheit sah ich mir die junge Frau etwas genauer an. Sie war
hübsch, doch am beeindrucktesten waren ihre Augen. Sie hatten die Farbe vom frisch
gelegten Asphalt. „Wie machst du das?“. Sie grinste noch breiter und beugte sich
verschwörerisch zu mir hinüber und nahm einen geschäftlichen Ton an: „Also doch neu,
das ist ganz einfach, wenn man das System der Kontrolleure verstanden hat. Hör, du
musst immer ein Ticket kaufen, aber das günstigste, das für 40 Pfenning, dann kannst
du in den Zug einsteigen, dich umschauen und ausfindig machen, wo der Kontrolleur
sich gerade befindet. Wenn er im hinteren Teil des Wagons ist, dann musst du nach
ganz vorne gehen. Du sollst darauf achten das du dann rechtzeitig wieder aus dem Zug
kommst und im hintersten Teil des Zuges wieder reinkommst, so begegnest du keinem
Kontrolleur auf deiner Fahrt.“. Ich bin von der Idee jede Woche schwarz zu fahren nicht
sehr begeistert, ich würde sogar sagen mehr beängstigt, aber wenn ich etwas anderes
als Kartoffeln essen möchte, habe ich ehrlichgesagt auch keine andere Wahl. Ich hätte
mich gerne noch weiter mit ihr unterhalten, aber da sie bereits bei der nächsten
Haltestelle raus musste blieb uns nur die Zeit die ´Namen auszutauschen. Helena – das
ist ihr Name gewesen.

An dieser Stelle musste ich meine Lektüre kurz unterbrechen. Meine Oma war
aufgestanden und hatte sich ein Taschentuch geholt. Lächelnd zwängte sie sich wieder
zu mir auf die Küchenbank und nahm einen Schluck ihres mittlerweile kalt gewordenen
Tees. Ich nutzte die Gelegenheit für eine Frage: „Wofür musste man das billige Ticket
kaufen, Oma?“. Sie winkte ab und lächelte: „Das war reine Vorsichtsmaßnahme, für den
Fall, sollte ein Kontrolleur direkt nach deinem Einsteigen im gleichen Wagon stehen. Du
würdest es nicht rechtzeitig schaffen in ein anderes Abteil zu kommen. Aber mit diesem
Ticket kannst du bis zur nächsten Haltestelle kommen und dort dann in das richtige
Abteil einsteigen“. So wie sie mir die Kunst des Schwarzfahrens nahebrachte, mit
leuchtenden Augen und mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht, konnte ich mir
plötzlich gut vorstellen, wie sie mein Großvater an dem Tag gesehen haben musste.
„Aber ließ schon weiter – das nächste Treffen war das entscheidende für uns beide.“ Ich
nickte, blätterte weiter zum nächsten Eintrag und begann zu lesen.
Freitag, der 12. September 1959

Heute ist wieder Freitag, eigentlich habe ich es heute nicht nötig nach Jekaterinburg zu
fahren, aber ich wollte mal die Helenas Zugfahrmethode ausprobieren und insgeheim
hoffte ich auch sie wiederzusehen. Als ich am Bahnhof ankam, war ich nicht mehr sicher,
ob ich wirklich mein Glück herausfordern sollte. Ich kaufte mir ein Ticket für 40 Pfenning
und stieg in den Zug ein. Tatsächlich sah ich einen Kontrolleur durch den Wagon gehen,
dieser war aber schon nach vorne gegangen. Da ich jetzt wusste wie das System des
Schwarzfahrens funktionierte bemerkte ich das all die anderen Stundende vom vorderen
Teil des Zuges ausstiegen und in mein Abteil reingerannt kamen. Kurz nachdem die
Ansagestimme das Schließen der Türen ankündigte, begannen die Passagiere freie
Plätze zu suchen und sich niederlassen. Jemand ließ sich schwungvoll neben mir nieder
und als ich mich umdrehte erkannte ich sie - es war Helena. Sie war genauso hübsch
wie ich sie in Erinnerung hatte. Ich habe erfahren das sie in einer benachbarten
Universität studiert, und dass sie jedes Wochenende nach Jekaterinburg fährt, um ihre
Eltern zu besuchen und vieles mehr. Plötzlich stieß jemand im Abteil einen Warnruf aus:
„Kontrolleure!“. Wir standen alle in der Absicht auf, um in ein anderes Abteil zu rennen.
Da der Zug schon zur bremsen begann hatte ich sogar die Hoffnung das wir Erfolg
haben könnten. Aber an der Tür stand ein weiterer Kontrolleur und ließ niemanden
durch. Wir saßen in der Falle. Der Zug stoppte an der Haltestelle und Helena rief mir
durch den Lärm zu, wir sollen den Fluchtweg durch die Fenster nehmen. Ich nahm ihre
Hand, um sie in dieser Menge voller Leute nicht zu verlieren und folgte ihr zu den
Fenstern. Sie öffnete eines der naheliegendsten, soweit es ging und drehte sich mit vor
Schalk blitzenden Augen zu mir um. „So Klaus, wenn du keine Strafe zahlen willst, dann
spring!“. Sie ließ meine Hand los, sprang aus dem Fenster und lief nach hinten, zu den
bereits kontrollierten Abteilen. Ohne groß darüber nachzudenken, sprang ich hinterher
und rannte Helena nach. Ich sah im hinteren Teil des Zuges ein weiteres offene Fenster
und wir steuerten nun gemeinsam darauf zu. „Hoch mit dir!“, rief Helena mir hektisch zu
als wir direkt drunter stehen blieben. Ich tat was mir gesagt wurde und kletterte durch
das Fenster in den Wagon rein. Eine Alternative gab es nicht - zu Fuß nach
Jekaterinburg zu gehen, selbst mit Helena an der Seite war keine Option. Als ich drin
war, schaute ich hinaus, um nach Helena zu sehen. Sie stand unter dem Fenster und
konnte nicht reinklettern, Ihr modischer Bleistiftrock, der ihr übrigens vorzüglich stand,
behinderte sie beim Hochklettern. Kurzerhand griff ich nach ihr und zog sie durchs
Fenster. Sie war gerade mit den Füßen auf dem Abteilboden angekommen, als der Zug
schon losfuhr. Einen Moment standen wir uns nur gegenüber und versuchten zu Atem zu
kommen. Dann prusteten wir los. Den Rest des Weges unterhielten wir uns und
verabredeten uns anschließend auf ein Eis.

Ich schloss das kleine Notizbuch und schaute zu meiner Großmutter, die sich mit dem
Taschentuch eine weitere Träne von der Wange wischte: „Nach diesen Treffen gab es
noch unzählige weitere Treffen. Kino, Theater, Restaurants und sogar Discos. Ja wir
hatten eine arme Studienzeit, aber so lernten wir uns nun mal kennen und an einem der
gemeinsamen Abende fragte mich dein Großvater schließlich, ob es eigentlich nicht
schon Zeit wäre zu heiraten.“, meine Oma lachte, “Ich antworte natürlich ‚Ja‘ und dann
ist dein Großvater aufgestanden, hat mir gesagt ich solle meinen Pass holen und wir
sind noch am selben Tag zum Standesamt gefahren und am Abend waren wir schon
Mann und Frau.“

Meine Großmutter erzählte noch sehr viel aus ihrer gemeinsamen Zeit mit meinem
Großvater und erst als alle Kekse leer gegangen sind und die Sonne den Himmel
langsam orange färbte machte ich mich los und ging heim. Als ein paar Tage später
mein Vater anmerkte, dass meine Augenfarbe die Farbe vom frischgelegten Asphalt
hätten, musste ich lächeln, denn ich wusste welche Geschichte hinter diesen Worten
steckt.
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