Land mit Zukunft Neue Ideen vom Runden Tisch

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Land mit Zukunft Neue Ideen vom Runden Tisch
Land mit Zukunft
            Neue Ideen vom Runden Tisch

e Lösungsansätze für ihren Ort +++ ein Kooperationsprojekt der Landesstiftung „Miteinander in Hessen“ und der Herbert Quandt-Stiftung +++ ganzheitlicher A
übertragen +++ Kommunen können freiwillig Engagierte unterstützen +++ Ehrenamt braucht Ansprechpartner +++ Bürgerinnen und Bürger können viel bewege
                                                                                                                                Berlin-Institut 79
Land mit Zukunft Neue Ideen vom Runden Tisch
Über das Berlin-Institut                                                  Über die Landesstiftung „Miteinander in Hessen“

   Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung ist ein unab-         Die Stiftung „Miteinander in Hessen“ wurde Ende 2011 von der Hes-
   hängiger Thinktank, der sich mit Fragen regionaler und globaler           sischen Landesregierung gegründet. Vorsitzender des Kuratoriums
   demografischer Veränderungen beschäftigt. Das Institut wurde              ist der Hessische Ministerpräsident Volker Bouffier. „Miteinander in
   2000 als gemeinnützige Stiftung gegründet und hat die Aufgabe, das        Hessen“ fördert und unterstützt bürgerschaftliches Engagement und
   Bewusstsein für den demografischen Wandel zu schärfen, nachhaltige        private Initiativen in Hessen. Freiwillig übernommene Mitverant-
   Entwicklung zu fördern, neue Ideen in die Politik einzubringen und        wortung festigt den Zusammenhalt der Gesellschaft und ist heute
   Konzepte zur Lösung demografischer und entwicklungspolitischer            wichtiger denn je. Die Landesstiftung leistet Starthilfe für Projekte,
   Probleme zu erarbeiten.                                                   von denen die Gemeinschaft profitiert, sie ist Kooperationspartner
                                                                             der Bürger und stärkt so das Miteinander in Hessen.
   In seinen Studien, Diskussions- und Hintergrundpapieren bereitet das
   Berlin-Institut wissenschaftliche Informationen für den politischen       www.miteinander-in-hessen.de
   Entscheidungsprozess auf.

   Weitere Informationen, wie auch die Möglichkeit, den kostenlosen
   regelmäßigen Newsletter „Demos“ zu abonnieren, finden Sie unter
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80 Land mit Zukunft
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Land mit Zukunft
Neue Ideen vom Runden Tisch
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Impressum

Originalausgabe
Februar 2018

© Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Sämtliche, auch auszugsweise Verwertung
bleibt vorbehalten.

Herausgegeben von
Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung
Schillerstraße 59
10627 Berlin
Telefon: (030) 22 32 48 45
Telefax: (030) 22 32 48 46
E-Mail: info@berlin-institut.org
www.berlin-institut.org

Das Berlin-Institut finden Sie auch bei Facebook und Twitter (@berlin_institut)

Design: Jörg Scholz (www.traktorimnetz.de)
Layout und Grafiken: Christina Ohmann (www.christinaohmann.de)
Druck: Laserline Berlin

Fotos: Jörg Zank (Homberg), Heinrich Kowalski (Waldeck), Gemeinden

Einige thematische Landkarten wurden auf Grundlage des Programms EasyMap
der Lutum+Tappert DV-Beratung GmbH, Bonn, erstelllt.

ISBN: 978-3-946332-96-1

Die Autoren

Manuel Slupina, 1979, Studium der Volkswirtschaftslehre an der
Universität zu Köln. Ressortleiter Demografie Deutschland am Berlin-Institut
für Bevölkerung und Entwicklung.

Sabine Sütterlin, 1956, Diplom an der Abteilung Naturwissenschaften
ETH Zürich. Freie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berlin-Institut für
Bevölkerung und Entwicklung.

Das Berlin-Institut dankt der Herbert Quandt-Stiftung und der Landesstiftung
„Miteinander in Hessen“ für die Finanzierung des Projekts.
Land mit Zukunft Neue Ideen vom Runden Tisch
INHALT
Vorwort: Wie der ländliche Raum seine Zukunft gestalten kann......................................................4

Das Wichtigste in Kürze: Was will „Land mit Zukunft“ und was hat das Programm erreicht?.....6

1 | DEMOGRAFISCHER WANDEL UND ENGAGEMENT IN HESSEN..............................................8

              1.1 Starkes Gefälle....................................................................................................................8

              1.2 Porträts der sechs Gemeinden.......................................................................................12

              1.3 Einordnung innerhalb Hessens...................................................................................... 17

              1.4 Demografischer Wandel braucht freiwilliges Engagement...................................... 20

2 | „LAND MIT ZUKUNFT“................................................................................................................. 34

              2.1 Die erste Befragung......................................................................................................... 34

              2.2 Das Programm................................................................................................................. 44

              2.3 Die zweite Befragung...................................................................................................... 57

3 | WIE WEITER?.................................................................................................................................. 59

              3.1 Die Lehren aus dem Programm „Land mit Zukunft“.................................................. 59

              3.2 Welche Erkenntnisse lassen sich daraus ableiten?.....................................................62

              3.3 Wo Bürger aktiv werden..................................................................................................67

Quellen.....................................................................................................................................................72

                                                                                                                                                                 Berlin-Institut   3
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WIE DER LÄNDLICHE RAUM
SEINE ZUKUNFT GESTALTEN KANN
    Im Bundesland Hessen lässt sich seit der          Einkaufsmöglichkeiten oder medizinischen         Ohnehin lässt sich mit Geld allein keine Regi-
    Nachkriegszeit eine klare Zweiteilung beob-       Diensten kaum noch auf klassische Art und        on stabilisieren. Der wichtigste Rohstoff sind
    achten: Während der Süden mit dem Rhein-          Weise organisieren und finanzieren lassen        die Menschen mit ihrer Tatkraft – gerade in
    Main-Ballungsraum, mit seinen Banken und          und immer weiter ausdünnen. Attraktiver          ländlichen Gebieten. Sie wissen am ehesten,
    forschungsintensiven Industrieunternehmen         werden die Gebiete durch diese Entwicklung       woran es fehlt. Sie sind die Experten, wenn
    eine hohe Wirtschaftskraft aufweist, zu den       nicht. Die Menschen, die dort leben, fühlen      es um die Entwicklung ihrer Heimat geht.
    wohlhabendsten Regionen Europas gehört            sich teilweise benachteiligt und ungerecht       Maßgeblich dafür, dass die Bewohner vor Ort
    und entsprechend viele Arbeitskräfte an-          behandelt.                                       eine Perspektive für sich sehen und nicht ab-
    zieht, finden sich die Vorzüge der Mitte und                                                       wandern, ist das, was sie für sich selbst und
    des Nordens von Hessen auf anderer Ebene.         Fehlt es an Geld oder an Ideen?                  ihre Umgebung erreichen können.
    Dort liegt die Attraktivität eher in mittelgro-
    ßen Städten und in kleineren Orten mit histo-     Der Staat ist angesichts der Unterschiede        Wo die „von unten“ organisierte Zivilgesell-
    rischer Bausubstanz sowie einer vielfältigen      zwischen boomenden Metropolregionen und          schaft mit ihren Vereinen, Initiativen und
    Landschaft. Als waldreichstes Bundesland          peripheren Gebieten per Grundgesetz dazu         kirchlichen Organisationen funktioniert, ist
    bietet Hessen Erholungsgebiete für Millionen.     angehalten, für eine „Gleichwertigkeit der Le-   sie zu Recht der Stolz der Region. Das Enga-
                                                      bensverhältnisse“ zu sorgen. Auch wenn das       gement zeigt den Menschen, was sie leisten
    Zu diesen Unterschieden, die eher als Reiz        Gesetz nicht definiert, was damit gemeint        können, es vermittelt ein Gefühl der Selbst-
    denn als Nachteil des Bundeslandes zu ver-        ist, geschweige denn von einer „Gleichheit“      wirksamkeit. Alles, was sie erreichen können,
    stehen sind, gesellen sich seit einiger Zeit      spricht, so versuchen doch die EU, der Bund      begründet Selbstverständnis und Selbstwert-
    größere Herausforderungen: der demografi-         und die Landesregierungen mit verschie-          gefühl der Orte. Hinter dem Ruf nach mehr zi-
    sche und der Strukturwandel. Beide Prozesse       densten Ausgleichs- und Fördermaßnahmen          vilem Engagement auf dem Land verbirgt sich
    sind kaum zu beeinflussen und lassen sich         einem Abgehängtsein bestimmter Regionen          deshalb kein Versagen des Staates, der vor
    auf keinen Fall umkehren. So hat sich die         vorzubeugen.                                     seinen eigenen Aufgaben kapituliert, sondern
    Arbeitswelt grundlegend verändert. Neue                                                            die Anerkennung bürgerlicher Fähigkeiten.
    Jobs in wissensintensiven Gesellschaften          Doch dabei stellt sich stets die wichtige
    entstehen überwiegend dort, wo es eine            Frage: Was bringt die Unterstützung? Denn        Das Engagement der Bürgerinnen und Bür-
    kritische Masse an kreativen Unternehmen,         fördern sollte man nur, was auch Erfolg ver-     ger befreit den Staat allerdings nicht von
    Forschungszentren und klugen Köpfen gibt.         spricht und zu einer Verbesserung der Lage       seinen Aufgaben. Er muss die Menschen
    Deshalb wachsen – im Übrigen weltweit – die       in den betroffenen Gebieten beiträgt. Sonst      dabei unterstützen, die Dinge selbst in die
    Metropolen, während entlegenere Landestei-        wäre das Geld anderenorts besser eingesetzt.     Hand zu nehmen. Er muss einen bürokratie-
    le insbesondere junge Bewohner verlieren.         Spätestens seit sich herumgesprochen hat,        armen Rahmen für ihre Arbeit schaffen und
    Orte, die jenseits der Pendeldistanz zu den       dass ein Autobahnanschluss nicht notwen-         den Engagierten Freiräume lassen. Er sollte
    angesagten Metropolen liegen, altern deshalb      digerweise die Ansiedelung erfolgreicher         beratend zur Seite stehen und finanzielle Un-
    stark und erleben einen schleichenden Bevöl-      Unternehmen und einen wirtschaftlichen           terstützung gewähren und eingestehen, dass
    kerungsschwund. Mitunter entsteht dadurch         Aufschwung nach sich zieht, ist dieser Zu-       er keine Patentlösungen für die Probleme des
    eine Abwärtsspirale, weil sich die Versor-        sammenhang bekannt.                              ländlichen Raumes hat.
    gung mit Infrastrukturen wie Nahverkehr,

4     Land mit Zukunft
Lasst doch mal die Bürger ran                    Fehler zulassen – und daraus lernen

Das Programm „Land mit Zukunft“ der Her-         Das Programm „Land mit Zukunft“ verfolgt
bert Quandt-Stiftung und der Landesstif-         einen vergleichsweise neuen Ansatz. Es
tung „Miteinander in Hessen“, das Kern der       verspricht nicht in erster Linie Geld oder
vorliegenden Untersuchung ist, nimmt diesen      große Investitionen, sondern hat erst einmal
Grundgedanken des Kümmerns um eigene             interessierte Bürgerinnen und Bürgern (in
Belange auf. Und es bietet gleichzeitige eine    sechs hessischen Kommunen) an Runden
niedrigschwellige Unterstützung vielverspre-     Tischen versammelt und grundlegende Fra-
chender Ideen. Es baut auf der Erkenntnis        gen gestellt: Welche Versorgungsangebote
auf, dass dort, wo Menschen auf Probleme         erodieren? Was sind Eure Herausforderungen
stoßen, auch Ideen entstehen, wie diese zu       im demografischen Wandel und wie wollt Ihr
bewältigen sind. Dies ist eine anthropolo-       ihnen begegnen? Erst wenn bei diesem Pro-
gische Grundkonstante. Tatsächlich kursie-       zess vielversprechende Ideen auf den Tisch
ren auch heute in den ländlichen Gebieten        kamen, gab es eine (Teil-)Förderung. Die so
Deutschlands zahllose Konzepte, wie sich         unterstützten Initiativen konnten bei be-
Dinge, die nicht mehr oder schlecht funkti-      stimmten Fragen Experten hinzuziehen und
onieren, wieder zum Laufen bringen lassen.       sie konnten von Erfahrungen anderer Orte
Wie sich etwa der ausgedünnte öffentliche        profitieren, um nicht bei jedem Problem das
Nahverkehr durch Bürgerbusse ergänzen            Rad neu erfinden zu müssen.
lässt, wie die letzte verschwundene Einkaufs-
möglichkeit durch einen multifunktionellen       In dem Programm sind einige funktionieren-
Dorfladen ersetzt oder wie aus einem leerste-    de Projekte entstanden, aber es gab auch
henden Gasthaus ein Kulturzentrum werden         Enttäuschungen und Fehlschläge. Wie stets
kann.                                            im Leben verläuft nicht alles reibungslos,
                                                 gerade wenn man Dinge zum ersten Mal aus-
Das Interessante an derartigen Projekten ist,    probiert. Deshalb haben wir in dieser Studie
dass sie nicht nur die Daseinsbedingungen        auch Misserfolge betrachtet und analysiert,
für die Bürgerinnen und Bürger verbessern,       denn aus Fehlern lässt sich am meisten ler-
sondern die Orte dergestalt aufwerten, dass      nen. Auch dieser Ansatz ist eher ungewöhn-
diese auch für Zuzügler wieder attraktiv         lich, weil große Förderprogramme lieber ihre
werden können. Das Berlin-Institut hat in ver-   Erfolge feiern als über Fehlschläge zu reden.
schiedenen Studien gezeigt, dass es in einem
Meer des demografischen Schrumpfens im-          Förderung im ländlichen Raum heißt Rah-
mer wieder Orte gibt, die stabil sind oder gar   menbedingungen zu schaffen, die den
wachsen. Bei der Suche nach den Gründen          Menschen vor Ort die Möglichkeit und den
für diesen Bruch des allgemeinen Trends hat      Freiraum geben, das Beste aus ihrer Lage
sich gezeigt, dass in diesen Orten eine be-      zu machen. Sobald die Menschen spüren,
sonders aktive Zivilgesellschaft zuhause war.    dass ihre Eigeninitiative zu Verbesserungen
Sie ist der lebende Beweis dafür, dass es sich   führt, dass dadurch andere zum Mitmachen
mitunter fern der Zentren besser, günstiger      bewegt werden und das Gemeinschaftsgefühl
und näher an den Mitmenschen leben lässt         wächst, haben sie die wichtigste Nachricht
als in Frankfurt oder Wiesbaden.                 verstanden: Das Land hat Zukunft.

                                                 Berlin, im Februar 2018

                                                 Reiner Klingholz
                                                 Direktor Berlin-Institut für
                                                 Bevölkerung und Entwicklung

                                                                                                 Berlin-Institut   5
DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE:
    WAS WILL „LAND MIT ZUKUNFT“ UND
    WAS HAT DAS PROGRAMM ERREICHT?
    „Bürgerinnen und Bürger können viel bewe-        Die Daseinsvorsorge der öffentlichen Hand        Starkes Gefälle und
    gen. Sie sind Experten, wenn es darum geht,      stößt hier häufig an Grenzen. Die Zivilgesell-   Aufklärungsbedarf
    die Probleme und Bedürfnisse vor Ort zu ana-     schaft kann zwar nicht alle Lücken füllen,
    lysieren und kreative Lösungsansätze für das     aber einiges dazu beitragen, die Lebensqua-      Um das Programm „Land mit Zukunft“, seine
    Gemeinwesen zu entwickeln“ – mit diesen          lität vor Ort zu verbessern und den sozialen     Ergebnisse und seine Bedeutung einordnen
    Worten umschreiben die Landesstiftung „Mit-      Zusammenhalt zu stärken. Diese Überzeu-          zu können, gehen wir in Kapitel 1 zunächst
    einander in Hessen“ und die Herbert Quandt-      gung bildete den Ausgangspunkt für das Pro-      der Frage nach, wie sich der demografische
    Stiftung den Ansatz ihres gemeinsamen Pro-       gramm „Land mit Zukunft“. Die Idee: Die Bür-     Wandel in den ländlichen Gegenden Nordhes-
    gramms „Land mit Zukunft – Demografischer        ger selbst sollten sagen, wo sie den größten     sens auswirkt, was bereits geschieht, um den
    Wandel und Bürgergesellschaft in Hessen“.        Bedarf sehen, um dann darauf zugeschnit-         Herausforderungen zu begegnen und welche
                                                     tene innovative Projekte zu entwickeln und       Rahmenbedingungen für bürgerschaftliches
    In ländlichen Gemeinden, die von sinkenden       umzusetzen. Das Angebot des Programms            Engagement es hier gibt.
    Geburtenzahlen, Abwanderung, Alterung und        bestand darin, ein Forum für eine solche Dis-
    Mangel an Arbeitsplätzen in nächster Umge-       kussion zu schaffen, den Prozess zu mode-        Während die meisten Gemeinden im Süden
    bung betroffen sind, sehen sich die Bewohner     rieren und zu begleiten sowie bei Bedarf ex-     des Bundeslandes Hessen, im Rhein-Main-
    vor ganz praktische Fragen gestellt: Wie lässt   terne Experten oder Berater hinzuzuziehen.       Gebiet, wachsen, schwindet die Bevölkerung
    sich der Alltag organisieren, wenn Geschäf-      Dafür und für die Verwirklichung der Projekte    abseits der Städte im Norden bereits seit eini-
    te schließen, der Bus seltener fährt und es in   stellten die beiden Stiftungen Fördermittel      gen Jahren teilweise rapide. Und eine Trend-
    der Nähe keinen Arzt mehr gibt? Wie kann         von bis zu 60.000 Euro pro Gemeinde für ei-      wende scheint nicht in Sicht. Die Folgen sind
    das Lebensgefühl verbessert werden, wenn         nen Zeitraum von drei Jahren bereit.             mancherorts schon heute sichtbar: Leerste-
    leer stehende Häuser das Stadtbild beein-                                                         hende Ladenlokale, baufällige Wohnhäuser
    trächtigen und am Selbstbewusstsein krat-        Die Suche nach geeigneten Kommunen er-           und geschlossene Gaststätten zeugen vom
    zen? Wie lässt sich das Miteinander stärken,     folgte unter nordhessischen Gemeinden zwi-       Einwohnerschwund. Auch der Rückzug der
    wenn Vereine, Parteien oder Kirchgemeinden       schen 3.000 und 15.000 Einwohnern, die           Versorgungsangebote aus der Fläche ist in
    in der Fläche nicht mehr präsent sein können     besonders ausgeprägt vom demografischen          vielen Kleinstädten und Dörfern bereits zu
    und ihre Angebote deutlich einschränken          Wandel betroffen sind. Die Wahl fiel schließ-    spüren.
    müssen?                                          lich auf sechs Kommunen, „die zwar vor
                                                     großen Herausforderungen stehen, in denen
                                                     es aber viele aktive Bürgerinnen und Bürger
                                                     gibt, die etwas verändern wollen“, so Staats-
                                                     minister Axel Wintermeyer, der damalige
                                                     Vorstandsvorsitzende der Landesstiftung und
                                                     jetzige Vorsitzende des Stiftungsrates.1

6     Land mit Zukunft
In diesen Orten sind es dann häufig tat-         Die Engagementlandschaft                      Vom Frühsommer 2015 an haben Mitarbeiter
kräftige Bürger, die mit kreativen Ideen die     und ein neuer Ansatz                          der beiden Stiftungen engagierte Bürger in
Lebensqualität erhalten. Das Land Hessen                                                       Bad Karlshafen, Homberg (Efze), Schlitz, Son-
bietet dabei sehr gute politische Rahmenbe-      Eine erste Befragungsrunde hat ergeben,       tra, Tann (Rhön) und Waldeck dabei begleitet,
dingungen für freiwilliges Engagement – aber     dass es in den sechs Gemeinden insgesamt      Ideen für Projekte zu entwickeln. Was dabei
gerade in den abgelegenen ländlichen Regio-      gut bestellt ist um das freiwillige Engage-   entstanden ist und welche Erfahrungen die
nen, die den demografischen Wandel bereits       ment und die Bürger bereit sind, nach neuen   Menschen vor Ort mit dem Förderansatz von
verstärkt erleben, kommen die vielen Pro-        Lösungen zu suchen. Entsprechend gut fiel     „Land mit Zukunft“ gemacht haben, was sie
gramme und Projekte, Service-Angebote und        die Resonanz auf die Einladung aus, am Pro-   als hilfreich und zielorientiert empfunden ha-
Anreizsysteme bislang nur spärlich an. Dieses    gramm „Land mit Zukunft“ mitzuwirken.         ben oder was ihnen die Arbeit erschwert hat,
Bild zeigte sich zumindest in den sechs unter-                                                 stand im Mittelpunkt der zweiten Befragung
suchten „Land mit Zukunft“-Kommunen.                                                           zum Ende des Programms im Herbst 2017.

                                                                                               Die Ergebnisse beschreibt die vorliegende
                                                                                               Studie in Kapitel 2. Zusammengefasst lässt
                                                                                               sich sagen: Dass die Bürger nicht nur betei-
                                                                                               ligt, sondern von der Bedarfsanalyse bis zur
                                                                                               Projektentwicklung auch begleitet wurden,
  Die sechs „Land mit Zukunft“-Gemeinden                                                       bewerteten die Befragten überwiegend als ei-
                                                                                               nen gelungenen Ansatz. Einen weiteren Plus-
                                                                                               punkt sahen sie im gezielten Wissenstransfer
                                                 Bad Karlshafen                                von Experten oder von freiwillig Engagierten,
                                                                                               die bereits eine ähnliche Projektidee reali-
                                                                                               siert haben. Viele rechtliche oder organisato-
                                                                                               rische Fragen konnten so zügig beantwortet
                                                                                               und Hürden aus dem Weg geräumt werden.

                                                                                               Doch auch beim Programm „Land mit Zu-
                                                      Kassel                                   kunft“ zeigte sich: Kein Pilotprojekt ist ohne
                                                                                               Verbesserungsbedarf. So sind nicht in allen
                                  Waldeck                                                      Gemeinden tragfähige Projekte entstan-
                                                                                               den. Und der Wechsel der Projektleitung zur
                                                                                               Halbzeit, sowie Unklarheiten bei den För-
                                                  Homberg                                      derrichtlinien und den Organisationsformen
                                                   (Efze)                 Sontra               brachten einige Vorhaben zwischenzeitlich
                                                                                               ins Stocken.

                                                                                               Ziel der Studie war daher auch zu untersu-
                           Marburg                                                             chen, was sich daraus lernen und auf ande-
                                                                                               re Regionen oder Kommunen übertragen
                                                                                               lässt. Die Befunde, Handlungsempfehlungen
                                                        Schlitz                                und modellhafte Beispiele sind in Kapitel 3
                        Gießen                                                 Tann            nachzulesen.
                                                                              (Rhön)

                                                                  Fulda

                                                                                                                               Berlin-Institut   7
1    DEMOGRAFISCHER WANDEL
           UND ENGAGEMENT IN HESSEN
    1.1 STARKES GEFÄLLE
    Wir werden weniger, älter und vielfältiger –    nicht nur demografisch, sondern auch bei         den Ausbau des Flughafens Frankfurt und
    diese Kurzformel für den demografischen         der Wirtschaftskraft, der Infrastruktur und      die Stärkung Frankfurts als Finanzstandort.
    Wandel stimmt nicht mehr ganz: Deutsch-         der Versorgung. Das demografische Gefälle        Der „Hessenplan“, den die Landesregierung
    lands Bevölkerung hat zwar zwischenzeitlich     zeigt sich besonders ausgeprägt innerhalb        1951 aufsetzte, war ein ambitioniertes Inves-
    zu schrumpfen begonnen, nachdem sie im          Hessens: Die Metropolregion im Süden platzt      titions- und Entwicklungsprogramm für die
    Jahr 2002 den vorläufigen Höchststand von       gleichsam aus den Nähten, während die            Bereiche Wirtschaft, Infrastruktur und Sozia-
    82,5 Millionen Einwohnern erreicht hatte. In    ländlichen Gebiete im Norden Einwohner           les. Er hatte in erster Linie die Integration der
    den letzten Jahren werden wir aber wieder       verlieren.                                       Vertriebenen in Arbeit und Gesellschaft zum
    mehr, was einzig und allein der hohen Zuwan-                                                     Ziel.4 Die Vertriebenen, die im Rahmen des
    derung aus dem Ausland zu verdanken ist.        Flüchtlinge prägen die Nachkriegszeit            Bundes-Umsiedlungsprogramms zusätzlich
    Die Eurokrise, die Bemühungen, ausländi-                                                         nach Hessen kamen, wurden gezielt in den
    sche Fachkräfte ins Land zu locken sowie        Finanzplatz, Flughafen, Forschung – vieles,      Süden gelenkt. Aber auch jene, die sich der
    der Zustrom an Flüchtlingen in jüngster Zeit    wofür Hessen bekannt ist, konzentriert sich      Wohnungsnot wegen zunächst in den ländli-
    haben zu hohen Wanderungsgewinnen ge-           im Süden. Mit dem international bedeuten-        chen Regionen Nordhessens niedergelassen
    führt. Die meisten Neuankömmlinge zieht         den Luftverkehrsknotenpunkt in Frankfurt         hatten, sollten umsiedeln, als sich Wirtschaft
    es dabei in die Großstädte und Ballungs-        und dem Autobahnkreuz von A3 und A5,             und Arbeitsmarkt in Südhessen positiv
    zentren. Das Angebot an Arbeitsplätzen und      dem Regierungs- und Verwaltungssitz Wies-        entwickelten. So nahm der Hessenplan Ein-
    sozialer Infrastruktur dort lockt allerdings    baden sowie dem Wissenschaftsstandort            fluss auf die Bevölkerungsverteilung in den
    nicht nur Zuwanderer aus dem Ausland an,        Darmstadt ist die Region attraktiv für Un-       Landesteilen. Gleichzeitig sah er vor, auch in
    sondern auch viele junge Menschen aus den       ternehmen und Arbeitnehmer und somit ein         strukturschwachen Regionen Arbeitsplätze
    ländlichen Regionen Deutschlands, wenn          wichtiger Wirtschaftsmotor und Arbeitgeber       und Wohnraum zu schaffen, um diese attrak-
    sie eine Ausbildung beginnen, ein Studium       für das ganze Land.                              tiv und lebenswert zu machen.5
    aufnehmen oder ins Berufsleben einsteigen.2
    In jüngster Zeit berichten Medien verstärkt     Das war nicht immer so. Das heutige Bun-         Teilung und Strukturwandel
    darüber, dass es wieder mehr Menschen aufs      desland Hessen, von der amerikanischen           setzen Nordhessen zu
    Land zieht. Allerdings deuten die bisherigen    Militärregierung 1946 aus den ehemaligen
    Wanderungsstatistiken nicht auf eine allge-     preußischen Provinzen Kurhessen und Nas-         Besonders der östliche Teil Nordhessens*
    meine Trendwende hin, die auch entlegene        sau sowie dem rechtsrheinischen Teil des         benötigte Unterstützung. Mit der deutschen
    ländliche Regionen erfassen könnte. Eher        „Volksstaates“ Hessen zusammengefügt,            Teilung war er plötzlich von Thüringen ab-
    scheint es so, dass in einigen Großstädten      stand in seinen Anfängen vor gewaltigen He-      geschnitten. Damit waren auch die zuvor
    der steigende Wachstumsdruck nun stärker in     rausforderungen. Neben dem Wiederaufbau
    deren ländliches Umland ausstrahlt.             der kriegszerstörten Städte galt es allein bis
                                                    1950 rund 720.000 Flüchtlinge und Vertrie-       * Im Rahmen dieser Studie ist mit „Nordhessen“, wo
    In vielen ländlichen Regionen der Bundesre-     bene aus den Ostgebieten zu integrieren.3        nicht anders vermerkt, immer der Regierungsbezirk Kas-
    publik geht die Bevölkerung seit langem zu-     Wichtige Impulse für den Erfolg der Rhein-       sel gemeint, da die Kommunen im Programm „Land mit
    rück und die Gesellschaft altert dort stärker   Main-Region kamen aus den weitreichenden         Zukunft“ alle hier liegen – mit Ausnahme von Schlitz: Die
                                                                                                     Gemeinde gehört zwar zum Regierungsbezirk Gießen,
    als im Rest des Landes. Längst zeigt sich ein   Investitionsprogrammen der 1950er und            also zu Mittelhessen, sie grenzt jedoch auf drei Seiten an
    erhebliches Gefälle zwischen Stadt und Land,    -60er Jahre sowie den Entscheidungen für         den Regierungsbezirk Kassel.

8     Land mit Zukunft
gepflegten engen Beziehungen zwischen                                                       Grenze auflöste und in nächster Zeit weitere                                       Der Süden wächst,
Unternehmen beider Regionen gekappt. Wäh-                                                   aufgeben wird. Das kostet Arbeitsplätze und                                        der Norden schrumpft
rend in einigen strukturschwachen Regionen                                                  der regionalen Wirtschaft geht Kaufkraft
Vertriebene für einen gewissen Aufschwung                                                   verloren.                                                                          Im Großraum Frankfurt, in der Landeshaupt-
sorgten, indem sie ihre zurückgelassenen                                                                                                                                       stadt Wiesbaden und in Darmstadt leben
Unternehmen neu aufbauten, wurden die                                                       Mittlerweile erweisen sich die Lage in der                                         heute fast zwei Drittel der Bevölkerung Hes-
Randlagen zum Schauplatz des Kalten Krie-                                                   Mitte Deutschlands und Europas wie auch die                                        sens.11 Zwar gibt es mit Gießen und Marburg
ges. Entlang des Eisernen Vorhangs bezogen                                                  günstige Verkehrsanbindung Nordhessens als                                         in Mittelhessen, Fulda im Osten und der
Nato-Truppen Stellung. Während Südhessen                                                    Vorteil: Einige große Logistik- und Spediti-                                       Großstadt Kassel ganz im Norden noch einige
prosperierte und Sonderzüge von 1955 an                                                     onsunternehmen haben sich hier angesiedelt.                                        größere Städte mit teils urbanem Umland,
jeden zweiten Wochentag dringend benötig-                                                   Insgesamt zählt die Mobilitätswirtschaft,                                          doch Richtung Norden wird es ruhiger und
te Arbeitskräfte aus Italien nach Frankfurt                                                 traditionell in der Region ansässig, zu den                                        leerer. Nordhessen nimmt rund 40 Prozent
brachten, ließen sich Unternehmen im Nor-                                                   vier Schlüsselbranchen Nordhessens: Neben                                          der Landesfläche ein, hat aber nur knapp 20
den nur mithilfe gezielter Förderung ansie-                                                 großen Arbeitgebern wie Volkswagen in                                              Prozent der Bevölkerung. Mit lediglich 146
deln und halten.6                                                                           Baunatal, Daimler und Bombardier in Kassel                                         Menschen je Quadratkilometer ist die Region
                                                                                            sowie Continental in Korbach finden sich                                           eher dünn besiedelt und ländlich geprägt.12
Nach der Wiedervereinigung erlebte Nord-                                                    auch etliche kleine und mittelständische Fir-
hessen einen kurzen Boom. Doch etliche                                                      men. Weitere bedeutende Wirtschaftszweige                                          Während die Bevölkerung in Südhessen
Unternehmen im ehemaligen „Zonenrandge-                                                     sind erneuerbare Energie, Gesundheit und                                           (Regierungsbezirk Darmstadt) von 2006
biet“ überlebten den Wegfall der staatlichen                                                Tourismus.9 Von 2000 bis 2010 hat sich die                                         bis 2015 um vier Prozent gewachsen ist,
Unterstützung aus der Vorwendezeit nicht.                                                   sozialversicherungspflichtige Beschäftigung                                        schrumpfte sie im Rest des Landes: in Mit-
Andere wiederum verlegten ihren Standort                                                    in Nordhessen sogar besser entwickelt als im                                       telhessen (Regierungsbezirk Gießen) um 1,7
wenige Kilometer ostwärts nach Thürin-                                                      Landesdurchschnitt.10 Der starke Rückgang                                          Prozent, in Nordhessen (Regierungsbezirk
gen, wo die Löhne niedriger waren und die                                                   der Arbeitslosigkeit in dem Zeitraum ist aller-                                    Kassel) sogar um 2,5 Prozent.13 Es über-
Förderquoten für die neuen Bundesländer                                                     dings zum Teil auch dem Bevölkerungsrück-                                          rascht daher kaum, dass von den zehn hessi-
galten.8 Die Arbeitslosenzahlen stiegen, die                                                gang und damit dem gesunkenen Angebot an                                           schen Gemeinden mit den größten Bevölke-
Wirtschaft schwächelte. Hinzu kam, dass die                                                 freier Arbeitskraft zuzuschreiben. Der Fach-                                       rungsverlusten acht in Nordhessen liegen.
Bundeswehr im Zuge ihrer Umstrukturie-                                                      kräftemangel zeichnet sich schon als nächste                                       Spitzenreiter bei diesem Negativtrend ist
rung Militärstandorte entlang der einstigen                                                 Herausforderung ab.                                                                Frankenau: Die Gemeinde hat innerhalb der

in Prozent                                                                                                                      Zensusknick                                    Zwischenhoch durch Zuwanderung
120
                                                                                                                                                                               In der Nachkriegszeit hatte Hessen nicht nur durch
                                                                                                                                                                Südhessen      Vertriebene an Bevölkerung gewonnen, sondern
115
                                                                                                                                                                               auch durch die Anwerbung von Arbeitskräften aus
                                                                                                                                                                               Südeuropa und später aus der Türkei. Diese kamen
110                                                                                                                                                             Hessen         nach der ersten Ölkrise 1973 jedoch in deutlich
                                                                                                                                                                Mittelhessen   geringerer Zahl oder gingen zurück in ihre Heimat.
                                                                                                                                                                               Bis zum Fall des Eisernen Vorhangs schrumpfte die
105                                                                                                                                                                            Bevölkerung Nordhessens bereits fast kontinuierlich
                                                                                                                                                                               und deutlicher als jene Mittel- und Südhessens.
                                                                                                                                                                Nordhessen     Spätaussiedler aus der zerfallenden Sowjetunion,
100
                                                                                                                                                                               Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien und
                                                                                                                                                                               Zuzügler aus der früheren DDR sorgten in den 1990er
95                                                                                                                                                                             Jahren für ein demografisches Zwischenhoch, das
                                                                                                                                                                               jedoch in Nordhessen nicht lange anhielt.

90                                                                                                                                                                             Bevölkerungsentwicklung 1973 bis 2015, Basisjahr
                                                                                                               2003
                                                                                                                      2005

                                                                                                                                    2009
                                                                                                                             2007
      1973
             1975

                                  1981

                                                                     1991
                                                              1989
                    1977

                                                                            1993

                                                                                          1997
                                                                                                 1999
                                         1983
                                                1985

                                                                                                                                                         2015
                           1979

                                                                                   1995

                                                                                                        2001
                                                       1987

                                                                                                                                                  2013

                                                                                                                                                                               1973 = 100 Prozent
                                                                                                                                           2011

                                                                                                                                                                               (Datengrundlage: Hessisches Statistisches Landesamt17,
                                                                                                                                                                               Statistisches Bundesamt18, eigene Berechnungen)

                                                                                                                                                                                                                     Berlin-Institut    9
unter 50                                                unter -15                                   Dörfer schrumpfen am stärksten
     50 bis unter 150                                        -15 bis unter -10
     150 bis unter 250                                       -10 bis unter -5                            Während die meisten Gemeinden der Metropolregion
                                                                                                         im Süden wachsen, schwindet die Bevölkerung ab-
     250 bis unter 350                                       -5 bis unter 0                              seits der Städte im Norden bereits seit einigen Jahren
     350 und mehr                                            0 bis unter 5                               teilweise rapide. Als entlegene Wachstumsinsel im
                            Kassel                           5 bis unter 10                              Norden fällt Schwarzenborn im Schwalm-Eder-Kreis
                                                                                                         aus dem Rahmen: Die nach Zahl der Einwohner kleins-
                                                             10 und mehr                      Kassel     te Stadt Hessens hat auf dem Gelände des aufge-
                                                                                                         lösten Bundeswehr-Truppenübungsplatzes ab 2014
                                                                                                         einige hundert Flüchtlinge untergebracht. Von dieser
                                                                                                         Ausnahme abgesehen, dürfte sich aber die Hoffnung
                   Marburg                                                    Marburg                    einiger ländlicher Regionen, dank der gestiegenen
                                                                                                         Zuwanderung wieder auf den Wachstumspfad zu
                                       Fulda                             Gießen                  Fulda   gelangen, nicht erfüllen. Denn viele Neuankömmlinge
                                                                                                         dürften mit der Zeit eher zu neuen Stadt- als Landbe-
                         Gießen
                                                                                                         wohnern werden.19

                                                                                                         Bevölkerungsdichte der hessischen Gemeinden 2015,
                                                                                                         in Einwohnern je Quadratkilometer (links)
     Wiesbaden Frankfurt                                      Wiesbaden
                                                                                  Frankfurt              Bevölkerungsentwicklung der hessischen Gemeinden
                                                                                                         zwischen 2006 und 2015, in Prozent (rechts)
                Darmstadt                                                                                (Datengrundlage: Hessisches Statistisches Landesamt20)
                                                                          Darmstadt

 vergangenen zehn Jahre 15 Prozent ihrer ur-              Prozent weniger Menschen leben werden          Städtchen. Doch bei näherem Hinsehen
 sprünglich 3.439 Einwohner verloren. Zu den              als noch 2014. Südhessen hingegen hat mit      offenbaren leerstehende Ladenlokale, baufäl-
 zehn Schlusslichtern zählt auch eine der Ge-             einem geschätzten Wachstum von über acht       lige Wohnhäuser und geschlossene Gaststät-
 meinden im Programm „Land mit Zukunft“:                  Prozent zu rechnen.                            ten, dass die Region vom demografischen
 Waldeck hat zwischen 2006 und 2015 10,4                                                                 Wandel stark betroffen ist. Der Rückzug der
 Prozent seiner Bevölkerung eingebüßt.14                  Südhessen ist mit einem Durchschnittsalter     Versorgungsangebote aus der Fläche ist man-
                                                          von 42,8 Jahren auch jünger als Nordhes-       cherorts bereits zu spüren.
 Die Regionen, die jetzt schon schrumpfen,                sen, das auf fast zwei Jahre mehr kommt. Bis
 dürften künftig weitere Verluste zu verkraften           2030 liegt das Durchschnittsalter in Süd-      Am deutlichsten zeigt sich das beim täglichen
 haben. Nach der aktuellen Bevölkerungsvor-               hessen leicht über dem heutigen Wert für       Einkauf: Discounter und Supermärkte auf der
 ausberechnung des Hessischen Statistischen               Nordhessen, wo es dann bereits 47,4 Jahre      grünen Wiese, mit großzügigen Parkflächen
 Landesamts aus dem Jahr 2016 wird die Ein-               beträgt. Im Werra-Meißner-Kreis könnte es      versehen, haben das Lädchen im Dorf längst
 wohnerzahl Nordhessens zwischen 2014 und                 den Vorausberechnungen zufolge bis 2030        abgelöst. Für Pendler, die nach der Arbeit
 2030 um knapp zwei Prozent schwinden.15 In               bereits auf 49,3 Jahre, im Vogelsbergkreis     noch schnell mit dem Auto einkaufen können,
 diese Berechnung sind die hohen Zuwander-                sogar auf 50,7 Jahre geklettert sein.16 Dann   ist das praktisch. Für Ältere oder Dorfbewoh-
 erzahlen der jüngsten Zeit bereits eingeflos-            wäre mehr als ein Drittel der Bevölkerung in   ner ohne Auto wird es jedoch zur Heraus-
 sen.* Nordhessen schrumpft demnach nicht                 dem mittelhessischen Landkreis 65 oder älter   forderung, die alltäglichen Besorgungen zu
 so stark wie Mittelhessen, wo 2030 etwa drei             und nur noch die Hälfte im erwerbsfähigen      erledigen. Angesichts der fortschreitenden
                                                          Alter.                                         Alterung der Gesellschaft auf dem Land dürf-
 *
                                                                                                         te es den Menschen künftig wichtiger wer-
   Eine Studie der Hessen Agentur aus dem Jahr 2015
 geht von einem noch gravierenderen Rückgang aus: Sie
                                                          Wo die Bevölkerung schwindet,                  den, dass Einkaufsmöglichkeiten, Poststellen,
 sagt für Nordhessen Einwohnerverluste von über sechs     dünnt die Versorgung aus                       Bankfilialen und Arztpraxen fußläufig oder
 Prozent bis zum Jahr 2030 voraus, bis 2050 sogar von                                                    mit attraktiven öffentlichen Verkehrsmitteln
 fast 20 Prozent gegenüber den Zahlen von 2013. Am        Nordhessen besticht auf den ersten Blick       erreichbar sind. Zudem fehlt mit dem Laden
 schwersten dürfte es demnach den Werra-Meißner-Kreis
 treffen. Hier stehen die Prognosen auf einem Minus von   vor allem durch seine idyllischen Landschaf-   in der Dorfmitte ein Ort, wo man sich trifft
 fast 13 Prozent bis 2030 und 30 Prozent bis 2050.7       ten, weiten Wälder und malerischen alten       und soziale Kontakte pflegt.

10 Land mit Zukunft
Not macht erfinderisch                          sogar Taxi fahren, wenn sich keine passende         ländlichen Regionen die Versorgung bald
                                                Verbindung findet. Zwischen Angebot und             ausdünnen könnte, so im Werra-Meißner-
Im Vogelsbergkreis ist die Versorgung mit       Nachfrage vermittelt die NVV über eine Inter-       Kreis, im Landkreis Hersfeld-Rotenburg und
Lebensmittelmärkten zwischen 1997 und           netplattform, per Telefon oder über die Mobi-       im Vogelsbergkreis.28
2010 deutlich zurückgegangen. Im Werra-         litätszentrale in Eschwege.24 Ein ähnliches in-
Meißner-Kreis konnten einer Analyse aus dem     tegriertes Mobilitätskonzept setzt seit Herbst      Wie überall in Deutschland haben es auch in
Jahr 2011 zufolge nur noch 45 Prozent der       2017 die Odenwald-Regional-Gesellschaft             Hessen Landärzte schwer, Nachfolger für ihre
Bevölkerung innerhalb von 15 Minuten eine       im ländlichen südhessischen Odenwaldkreis           Praxis zu finden, wenn sie in Rente gehen.
Einrichtung der Nahversorgung zu Fuß errei-     um: Über eine digitale Plattform vermittelt         Denn jüngere Ärzte lassen sich lieber im städ-
chen.22 Mancherorts stellen sich engagierte     „Garantiert mobil!“ Fahrten nach Bedarf in al-      tischen Umfeld nieder, wo es Teilzeitstellen
Dorfbewohner diesem Trend entgegen und          len zur Verfügung stehenden Verkehrsmitteln         und Angestelltenverhältnisse gibt und eine
treiben die Eröffnung von Dorfläden voran,      zum Einheitstarif.25                                urbane Infrastruktur, von der Kita bis zum
die zusätzliche Dienstleistungen wie Café-                                                          Kino, zur Verfügung steht. Das Hessische So-
Ecke, Paket- oder Reinigungsannahme anbie-      Auch Ärzte altern                                   zialministerium versucht seit 2012 mit einem
ten (siehe S. 71).                                                                                  „Gesundheitspakt“ gegenzusteuern. Dieser
                                                Bislang mangelt es in Hessen nicht an Haus-         beinhaltet ein Bündel von Maßnahmen,
Anstrengungen gibt es auch zur Verbesse-        ärzten. Das Land erreicht fast flächendeckend       neben Anreizen für Medizinstudenten, die
rung des öffentlichen Personennahverkehrs       Versorgungsgrade von über 100 Prozent.              Arbeit auf dem Land kennenzulernen, und Zu-
(ÖPNV), dessen Angebot in manchen länd-         Eine knapp ausreichende oder Unterversor-           schüssen für die Ansiedlung einer Landpraxis
lichen Gebieten auf den Schülertransport        gung ist allenfalls in Teilen Südhessens und        etwa auch die Förderung von ehrenamtlichen
zusammengeschrumpft ist. In Kirchheim im        im Nordwesten festzustellen.26 Allerdings           Fahr- und Begleitdiensten für Patienten und
Landkreis Hersfeld-Rotenburg betreiben Eh-      stehen viele Hausärzte kurz vor dem Ruhe-           den Aufbau regionaler Gesundheitsnetze, in
renamtliche den ersten Bürgerbus Hessens.       stand. 2014 war fast ein Drittel der hessi-         denen neue, sektorenübergreifende Versor-
Er verbindet die zwölf Kirchheimer Ortstei-     schen Hausärzte über 60 Jahre alt, deutlich         gungsformen ihren festen Platz haben. Mit
le untereinander und mit einigen Ortsteilen     mehr als ein Drittel zwischen 50 und 59.27          Ausnahme des Landkreises Kassel gelten in
der Nachbargemeinden Breitenbach sowie          Aus dem Verhältnis von jungen zu älteren nie-       der Vereinbarung alle nordhessischen Land-
Oberaula im Schwalm-Eder-Kreis. Und er          dergelassenen Ärzten lässt sich schon heute         kreise als „grundsätzlich förderfähig“.29
sorgt für eine gute Anbindung an die Kreis-     ablesen, dass vor allem in den entlegeneren
stadt Bad Hersfeld. Den Fahrplan und die
Strecken haben die Bürger selbst festgelegt.
1985 als Modellversuch des Landes begon-          100                                               Fortschreitende Alterung
nen, ist der Kirchheimer Bürgerbus heute
                                                           16          17                           Zwischen 1975 und 1995 ist in Nordhessen der Anteil
eine feste Einrichtung unter dem Schirm           90                               22
                                                                                               29   der unter 20-Jährigen zwar schon um acht Prozent-
der beiden Landkreise und des regionalen                                                            punkte zurückgegangen, gleichzeitig wuchs aber der
                                                  80
ÖPNV-Unternehmens.23                                                                                Bevölkerungsanteil im Erwerbsalter – eine günstige
                                                                                                    Ausgangslage für Wirtschaftswachstum. In den
                                                  70                                                darauffolgenden 20 Jahren gab es keine allzu großen
Im Werra-Meißner-Kreis hat der Verkehrs-                                                            Verschiebungen. Die bevorstehenden Veränderun-
verbund Nordhessen (NVV) gemeinsam mit            60                                                gen sind dafür umso gravierender. Der Anteil der
dem Kreis die Initiative für ein „Projekt zur              55      61          60                   Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter sinkt bis 2030
aktiven Selbsthilfe für die Menschen“ ergrif-     50                                       54       voraussichtlich unter den Wert von 1975. Allerdings
                                                                                                    dürfte der Anteil der nachrückenden Generation dann
fen: Unterstützt und finanziert vom Land                                                            im Vergleich zu den 1970er Jahren um rund 12 Pro-
                                                  40
Hessen, testet er seit 2013 in zwei Pilotre-                                                        zentpunkte geschrumpft sein, während gleichzeitig
gionen das bundesweit einmalige Modell            30
                                                                                                    jener der Älteren um ungefähr diesen Wert wächst.
„Mobilfalt“. Dabei können die Bewohner der
                                                                                                    Bevölkerungsanteile nach Altersgruppen in Nord-
Gemeinde Witzenhausen und des interkom-           20                                                hessen für die Jahre 1975, 1995, 2015 und 2030
munalen Zweckverbandes Sontra/Nenters-                     29                                       (prognostiziert), in Prozent
hausen/Herleshausen neben dem klassischen         10                   21          18               (Datengrundlage: Hessisches Statistisches Landesamt21)
                                                                                               17
ÖPNV-Angebot auch Mitfahrgelegenheiten                                                                  65 Jahre und mehr
                                                  0
in privaten PKW zum normalen Tarif nutzen.                                                              20 bis unter 65 Jahre
                                                                                        2030
                                                                1995

                                                                            2015
                                                        1975

Gegen einen geringen Aufschlag können sie                                                               unter 20 Jahre

                                                                                                                                          Berlin-Institut 11
1.2 PORTRÄTS DER SECHS GEMEINDEN
                                                            Die Umgebung lädt zum Radfahren, Wandern       gibt es in der Gemeinde nur noch einen grö-
                                                            und Paddeln ein. Kurgästen und Touristen       ßeren Arbeitgeber, die Schleifscheibenfabrik
                                                            bieten die beiden Ortsteile zudem eine Reihe   Krebs & Riedel mit rund 200 Mitarbeitern.
                                                            von Sehenswürdigkeiten. So stehen in Hel-      Viele Arbeitnehmer aus Bad Karlshafen pen-
                                                            marshausen Reste eines Benediktinerklos-       deln nach Hofgeismar, Kassel oder Baunatal.
                                                            ters aus dem 10. Jahrhundert, das weitherum    Das ehemalige Kreiskrankenhaus Helmars-
                                                            für seine Buchmalkunst berühmt war. Über       hausen schloss Ende 2014. Ein privates Un-
                                                            dem Ortskern mit seinen Fachwerkhäusern        ternehmen hat es gepachtet und gestaltet es
                                                            aus dem 16. bis 18. Jahrhundert thront die     schrittweise zu einem Pflegezentrum um.36
                                                            Krukenburg aus dem 12. Jahrhundert.35 Die      Im Herbst 2016 stellte der Supermarkt in der
      Bad Karlshafen                                        Kernstadt Karlshafen zeichnet sich durch       Kernstadt den Betrieb ein. Als Nahversorger
      Kreis:                           Landkreis Kassel     eine weitgehend erhalten gebliebene barocke    bleiben zurzeit nur ein Discounter und im
                                                            Stadtanlage aus. Sie wurde 1699 von dem        Ortsteil Helmarshausen ein kleiner Lebens-
      Ortsteile:                                        2
                                                            Landgrafen Karl von Hessen-Kassel gegrün-      mittelmarkt, außerdem Bäckereien und
      Fläche:                                 14,85 km2     det, um hugenottische Glaubensflüchtlinge      Metzger.37
      Einwohner (30.09.2016) :* 30
                                                   3.824    anzusiedeln.
                                                                                                           Der hohe Leerstand fällt ins Auge. Im Orts-
      Bevölkerungsentwicklung               -8,1 Prozent
      2006 bis 2015**:31
                                                            Der Hafen, um den die Häuser und Höfe          teil Karlshafen reiht sich in der einstigen
                                                            symmetrisch angeordnet sind, war Teil einer    Einkaufsstraße ein leeres Ladenlokal an das
      Vorausschätzung                      -10,9 Prozent    damals geplanten, aber nie vollendeten Was-    andere. Am Weserufer zerfällt das frühe-
      Bevölkerungsentwicklung
      2015 bis 2030***:32                                   serstraße bis nach Kassel. Das Hafenbecken     re Freibad, am Ortseingang rottet ein lange
                                                            lag jedoch seit langem trocken und bot einen   stillgelegtes Gasthaus vor sich hin. Auch in
      Bevölkerung ab                        25,3 Prozent
                                                            tristen Anblick. Pläne zur Wiedereröffnung     jüngster Zeit schlossen mehrere Restaurants
      65 Jahren 2015:33
                                                            waren umstritten. Anfang 2016 hat eine sehr    und Hotels. In Helmarshausen stehen vor
      Bevölkerung unter                     12,9 Prozent    knappe Mehrheit der Bürger dafür votiert,      allem Wohnhäuser leer, sogar denkmalwerte
      15 Jahren 2015:34                                     den historischen Hafen wieder mit der We-      Fachwerkgebäude.
                                                            ser zu verbinden und mit Wasser zu füllen.
    Die nördlichste Gemeinde Hessens be-                    Wenn die Bauarbeiten wie geplant Anfang        Die Gemeinde ist hoch verschuldet und
 steht aus der Kernstadt Karlshafen und dem                 2019 abgeschlossen sind, wird sich zeigen,     steht unter dem hessischen Kommunalen
 1972 eingemeindeten Städtchen Helmars-                     ob die Hoffnungen berechtigt waren, ein at-    Schutzschirm.38 Es gibt Überlegungen, aus
 hausen. Dank einer Solequelle, die vor 200                 traktiveres Stadtbild könnte Karlshafen als    Spargründen Teile der Verwaltung mit dem
 Jahren entdeckt wurde, darf sich Karlshafen                Wohnort aufwerten und auch mehr Touristen      benachbarten Trendelburg zusammenzule-
 seit 1977 den Zusatz „Bad“ geben. Seit 2004                anziehen.                                      gen. Die Stadt kann nicht in dringend not-
 sprudelt das heilende Wasser in der „Weser-                                                               wendige Sanierungsarbeiten investieren. So
 Therme“. Unmittelbar daneben befindet sich                 In der Kernstadt können Kinder nach der        hat sie auch die Unterstützungsbeiträge für
 das „Carolinum“, eine Fachklinik für Orthopä-              Grundschule auf die Gesamtschule im be-        Jugendarbeit, Feiern und Veranstaltungen
 die, Neurologie, Geriatrie und Rehabilitation              nachbarten Gebäude wechseln, die den 5. bis    gestrichen, mit denen die Sport-, Musik- und
 mit angeschlossenem Altenheim.                             10. Jahrgang abdeckt. Das Einzugsgebiet der    Heimatvereine einst rechnen konnten.
                                                            Gesamtschule umfasst nicht nur den Land-
 *
  Die Quellenangaben für die Daten gelten für alle sechs    kreis Kassel, sondern auch die benachbarten    Zwischen den beiden Ortsteilen herrscht eine
 Gemeinden.                                                 nordrhein-westfälischen und niedersächsi-      gewisse Rivalität. Die Karlshafener empfin-
 **
      Einschließlich der Korrektur durch den Zensus 2011.   schen Landkreise im Dreiländereck.             den eher urban, während die Helmarshäuser
 ***
    Kleinräumige mittel- und langfristige Bevölkerungs-                                                    eine gewachsene Dorfgemeinschaft bilden.
 vorausschätzungen werden als Fortschreibung der            Herausforderungen:                             Manche von ihnen bedauern bis heute die Zu-
 Entwicklung in der Vergangenheit ermittelt. Wegen          Abgesehen von der Rehaklinik Carolinum und     sammenlegung mit dem historisch jüngeren
 ausgeprägter Schwankungen beim Wanderungsverhal-
 ten sind sie mit hohen Unsicherheiten behaftet.            dem städtischen Eigenbetrieb Weser-Therme      Karlshafen.

12 Land mit Zukunft
sind, vom Akkordeonensemble bis zur Dorf-         „Soziale Stadt“ hat die Gemeinde seit 2004
                                                gemeinschaft „Wir Holzhäuser“. Dazu zählen        große Anstrengungen unternommen, das Ge-
                                                lokale Parteiorganisationen, Bürgerinitiati-      biet aufzuwerten und den Zusammenhalt der
                                                ven und Burschenschaften, Fördervereine           Bewohner zu stärken. Als Leuchtturmprojekt
                                                und Freiwillige Feuerwehren, Wandergrup-          entstand dabei im ehemaligen Gaswerk an
                                                pen und Wohlfahrtsverbände.                       den Efzewiesen das Jugendzentrum, dessen
                                                                                                  Einrichtung und Angebot unter Einbeziehung
                                                Die Bevölkerung weist einen relativ hohen         der jetzigen Nutzer gestaltet wurde. Hier hat
                                                Anteil an unter 15-Jährigen auf. Das dürf-        auch der Stadtjugendpfleger sein Büro.
                                                te damit zusammenhängen, dass es in der
 Homberg (Efze)                                 Gemeinde insgesamt neun Schulen gibt,             Die Kernstadt wirkt auf den ersten Blick sehr
 Kreis:                        Schwalm-Eder-    darunter ein Gymnasium, eine Berufsschule         gepflegt und gut erhalten. Selbst am Markt-
                                       Kreis    sowie mehrere besondere Förderschulen.41          platz stehen jedoch Ladengeschäfte leer.
 Ortsteile:                               21
                                                Für die Interessen der jungen Menschen            Und in der zweiten Reihe zeigen viele Häuser
                                                setzt sich die Stadtjugendvertretung ein. Die     Zeichen des Zerfalls. Die Initiative „Bürger
 Fläche:                           99,99 km2    Belange der älteren Menschen vertritt ein         für Homberg“ (siehe S. 49) setzt sich für den
 Einwohner (30.09.2016):              13.906    Seniorenbeirat.                                   Erhalt, die sachgerechte Renovierung und
 Bevölkerungsentwicklung         -4,9 Prozent
                                                                                                  energetische Sanierung der Fachwerkge-
 2006 bis 2015:                                 Herausforderungen:                                bäude ein. Es scheint jedoch schwierig, eine
                                                Homberg ist zwar Kreisstadt, hat aber in-         Nutzung zu finden, welche die Stadt wieder
 Vorausschätzung                 -1,8 Prozent
 Bevölkerungsentwicklung                        nerhalb des Kreises Konkurrenten: Die etwa        mit Leben erfüllt.
 2015 bis 2030:                                 gleich großen Gemeinden Fritzlar und Mel-
 Bevölkerung ab                  22,1 Prozent
                                                sungen sowie Schwalmstadt, die mit rund           Die Gemeinde hat kaum finanziellen Spiel-
 65 Jahren 2015:                                18.000 Einwohnern größte Gemeinde des             raum, da sie hoch verschuldet ist und unter
                                                Kreises, verlieren weniger ausgeprägt an Be-      dem Kommunalen Schutzschirm steht: Das
 Bevölkerung unter               13,4 Prozent
 15 Jahren 2015:                                völkerung und an Infrastruktur.42 So wurde        Land nimmt ihr einen Teil der Altschulden
                                                das Homberger Amtsgericht 2006 aufgelöst,         ab, wenn sie bis 2020 einen ausgeglichenen
                                                während es in Schwalmstadt, Melsungen und         Haushalt vorlegt. Unter anderem hat sie daher
    Als Kreisstadt des Schwalm-Eder-Kreises     Fritzlar weiterhin Amtsgerichte gibt. Die einst   auch kommunale Immobilien abgestoßen und
ist Homberg (Efze) die einwohnerstärkste        drei Kreiskrankenhäuser in Schwalmstadt,          so 2016 erstmals einen Haushalt ohne Aufla-
unter den sechs Kommunen im Programm            Melsungen und Homberg hat Anfang 2007             gen genehmigt bekommen.43 Jetzt muss sie
„Land mit Zukunft“. Die Kernstadt, auf einer    alle ein privates Unternehmen übernommen,         aber dringend in ihr Abwassersystem und den
Anhöhe über dem Tal des Flüsschens Efze         das jedoch im September 2010 die Klinik in        Bau eines neuen Kindergartens investieren.
gelegen, gilt als „Fachwerkkleinod Nordhes-     Homberg schloss. Nur die Kreisverwaltung ist      Das vom Zerfall bedrohte Traditionsgasthaus
sens“.39 Die mittelalterliche Anlage mit dem    geblieben.                                        „Krone“ konnte die Stadt 2014 nur retten,
Marktplatz und der mächtigen gotischen                                                            weil der Erwerb zu 70 Prozent aus dem Städ-
Kirche im Zentrum ist weitgehend erhalten       Viele Homberger pendeln zu dem gut 30             tebauförderprogramm des Bundes gedeckt
geblieben. Überragt wird sie von der Ruine      Kilometer entfernten Volkswagenwerk in            war und der Verein „Bürger für Homberg“ den
der namengebenden Hohenburg.                    Baunatal. Ein weiterer großer Arbeitgeber in      städtischen Eigenanteil durch eine Spenden-
                                                der Region ist der Stammsitz des weltweit ar-     aktion aufbrachte.44 Engagierten Bürgern
Zu der Gemeinde gehören aber auch 20            beitenden Medizintechnikherstellers B. Braun      verdankt sich auch der Erhalt der Stadthalle
Stadtteile, in der Selbstdarstellung „kleine,   in Melsungen. Fritzlar verfügt über einen         im hangabwärts gelegenen neueren Teil der
lebendige Dörfer, die sich ihren eigenen Cha-   Heeresflugplatz. Homberg hingegen hat mit         Stadt: Das Jugendstilgebäude aus dem Jahre
rakter bewahrt haben und mit einem aktiven      der Aufgabe der Ostpreußenkaserne 1993            1911 war lange Zeit als Lagerhalle für einen
Vereins- und Kulturleben aufwarten“.40 Tat-     und der endgültigen Auflösung des Bundes-         Landhandel genutzt worden. Als der Plan
sächlich führt die kommunale Internetplatt-     wehrstandortes 2005 sowohl Kaufkraft als          aufkam, es zu einem Supermarkt umzubauen,
form gut 200 Gruppierungen auf, in denen        auch Arbeitsplätze verloren. In den leer ste-     gründete sich eine Bürgerinitiative zur Ret-
viele der rund 14.000 Einwohner organisiert     henden Wohnblöcken des „Bahnhofsviertels“         tung des Hauses als Veranstaltungs- und Ver-
                                                ließen sich seit den 1990er Jahren Spätaus-       sammlungsort. 1991 war Einweihung, 2016
                                                siedler nieder. Mithilfe des Förderprogramms      feierte die Stadt das 25-jährige Jubiläum.

                                                                                                                                 Berlin-Institut 13
mit Wald bestanden und mehr als ein Drittel
                                                   wird landwirtschaftlich genutzt.46

                                                   Im ländlichen Raum des Regierungsbezirks
                                                   Gießen fungiert Schlitz als Grundzentrum.47
                                                   Die Kernstadt verfügt über mehrere Kinder-
                                                   tagesstätten, eine Grundschule und eine
                                                   Gesamtschule, die alle Schularten bis zur 10.
                                                   Klasse abdeckt. Auch die erste Landesmusik-
                                                   akademie hat hier seit 2003 ihren Sitz. Rund
   Schlitz                                         hundert Vereine listet die Gemeinde allein in    Sontra
   Kreis:                       Vogelsbergkreis    den Bereichen Kultur, Musik, Sport und Tiere     Kreis:                        Werra-Meißner-
                                                   auf.                                                                                    Kreis
   Ortsteile:                                17
                                                                                                    Ortsteile:                                 16
   Fläche:                          142,09 km2     Von Ende des 18. bis Mitte des 19. Jahrhun-
                                                   derts hatte Schlitz dank seiner Leinen- und      Fläche:                           111,29 km2
   Einwohner (30.09.2016):               9.764
                                                   Damastwebereien eine wirtschaftliche Blüte       Einwohner (30.09.2016):                 7.665
   Bevölkerungsentwicklung         -5,0 Prozent
   2006 bis 2015:                                  erlebt. Nach dem Niedergang dieses Hand-         Bevölkerungsentwicklung          -9,8 Prozent
                                                   werkszweigs galt das Schlitzerland als Not-      2006 bis 2015:
   Vorausschätzung                  -5,1 Prozent
                                                   standsgebiet.48 Heute bieten der Tourismus,
   Bevölkerungsentwicklung                                                                          Vorausschätzung                   -7,7 Prozent
   2015 bis 2030:                                  das örtliche Gewerbe – darunter als größter      Bevölkerungsentwicklung
                                                   Arbeitgeber ein Onlinehändler für Leuchten       2015 bis 2030:
   Bevölkerung ab                  21,4 Prozent
   65 Jahren 2015:
                                                   mit 150 Beschäftigten und drei Webereien –       Bevölkerung ab                  24,4 Prozent
                                                   knapp 2.000 Arbeitsplätze. Im Mittel der ver-    65 Jahren 2015:
   Bevölkerung unter               13,1 Prozent
                                                   gangenen 15 Jahre übersteigt jedoch die Zahl
   15 Jahren 2015:                                                                                  Bevölkerung unter                12,3 Prozent
                                                   der Auspendler jene der Einpendler um mehr       15 Jahren 2015:
                                                   als das Dreifache.49
     Anno 812 wurde Schlitz erstmals urkund-
 lich erwähnt, als der Mainzer Erzbischof auf      Herausforderungen:                                 Die ersten urkundlichen Erwähnungen des
 dem Hügel „Slitese“ eine Kirche weihte. Ihre                                                      heutigen Stadtteils Ulfen wie auch der Kern-
 malerische Silhouette verdankt die Kernstadt      Die historische Kernstadt ist zwar umfassend    stadt Sontra gehen auf das 8. Jahrhundert zu-
 den mittelalterlichen Burgen und dem „Hin-        saniert worden. Dennoch stehen viele Laden-     rück. Sontra gehörte zum Handels- und Städte-
 terturm“ auf dem Hügel. Die komplett erhal-       geschäfte in der Altstadt leer, während sich    bund der Hanse. Seit dem 15. Jahrhundert ist
 tene historische Altstadt ist nur durch zwei      entlang der Straße zwischen den Ortsteilen      die Gewinnung von Kupferschiefer nachgewie-
 Tore zugänglich und von Fachwerkhäusern           Schlitz und Hutzdorf etliche Supermärkte        sen. Als diese Tradition in den 1930er Jahren
 geprägt. Seit 1961 darf sich die Kernstadt mit    und Gewerbebetriebe aneinander reihen. In       erneut auflebte, zogen so viele Bergleute zu,
 dem Prädikat „staatlich anerkannter Erho-         den Dörfern des Schlitzerlandes gibt es we-     dass die Zahl der Einwohner binnen kurzem
 lungsort“ schmücken.45 Bekannt ist Schlitz        nig bis keine Nahversorgung. Zum Einkau-        von 2.200 auf 5.500 stieg. Durch die An-
 auch für sein Trachtenfest, das alle zwei Jahre   fen wie auch zum Arbeiten orientieren sich      siedlung von Flüchtlingen und Vertriebenen
 Besucher anlockt, und für das Autorennen          viele Bewohner nach dem nur 20 Kilometer        wuchs die Stadt nach dem Ende des Zweiten
 „Hessen Rallye Vogelsberg“.                       Fahrstrecke entfernten Fulda. Vom dortigen      Weltkrieges abermals auf fast 7.000 Einwoh-
                                                   ICE-Bahnhof gelangen Pendler aus Schlitz in     ner. Mitte der 1950er Jahre war der Bergbau
 Seit der hessischen Gemeindegebietsreform         einer knappen Stunde sogar ins Rhein-Main-      jedoch unrentabel geworden. In der Folge
 besteht die Stadt aus der Kernstadt und 16        Gebiet.                                         wanderten viele Bergleute wieder ab.
 Orten, die als „Schlitzerland“ bezeichnet wer-
 den. Die rund 9.800 Einwohner verteilen sich                                                      Von den heute rund 7.700 Einwohnern Son-
 dabei auf der drittgrößten Gemeindefläche                                                         tras leben gut 4.600 in der Kernstadt. Die üb-
 Hessens nach Frankfurt am Main und Wies-                                                          rigen verteilen sich auf 15 Stadtteile. Linden-
 baden. Allerdings ist über die Hälfte davon                                                       au als kleinster zählt lediglich 11 Bewohner.

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