Land mit Zukunft Neue Ideen vom Runden Tisch
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Land mit Zukunft Neue Ideen vom Runden Tisch e Lösungsansätze für ihren Ort +++ ein Kooperationsprojekt der Landesstiftung „Miteinander in Hessen“ und der Herbert Quandt-Stiftung +++ ganzheitlicher A übertragen +++ Kommunen können freiwillig Engagierte unterstützen +++ Ehrenamt braucht Ansprechpartner +++ Bürgerinnen und Bürger können viel bewege Berlin-Institut 79
Über das Berlin-Institut Über die Landesstiftung „Miteinander in Hessen“ Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung ist ein unab- Die Stiftung „Miteinander in Hessen“ wurde Ende 2011 von der Hes- hängiger Thinktank, der sich mit Fragen regionaler und globaler sischen Landesregierung gegründet. Vorsitzender des Kuratoriums demografischer Veränderungen beschäftigt. Das Institut wurde ist der Hessische Ministerpräsident Volker Bouffier. „Miteinander in 2000 als gemeinnützige Stiftung gegründet und hat die Aufgabe, das Hessen“ fördert und unterstützt bürgerschaftliches Engagement und Bewusstsein für den demografischen Wandel zu schärfen, nachhaltige private Initiativen in Hessen. Freiwillig übernommene Mitverant- Entwicklung zu fördern, neue Ideen in die Politik einzubringen und wortung festigt den Zusammenhalt der Gesellschaft und ist heute Konzepte zur Lösung demografischer und entwicklungspolitischer wichtiger denn je. Die Landesstiftung leistet Starthilfe für Projekte, Probleme zu erarbeiten. von denen die Gemeinschaft profitiert, sie ist Kooperationspartner der Bürger und stärkt so das Miteinander in Hessen. In seinen Studien, Diskussions- und Hintergrundpapieren bereitet das Berlin-Institut wissenschaftliche Informationen für den politischen www.miteinander-in-hessen.de Entscheidungsprozess auf. Weitere Informationen, wie auch die Möglichkeit, den kostenlosen regelmäßigen Newsletter „Demos“ zu abonnieren, finden Sie unter www.berlin-institut.org. Über die Herbert Quandt-Stiftung Unterstützen Sie die unabhängige Arbeit des Berlin-Instituts Die Herbert Quandt-Stiftung (gegr. 1980) ist eine private gemeinnüt- zige Stiftung mit Sitz in Bad Homburg v. d. Höhe. Die Stiftung ist nach Das Berlin-Institut erhält keinerlei öffentliche institutionelle Unter- einer strategischen Neuausrichtung seit 2017 ausschließlich fördernd stützung. Projektförderungen, Forschungsaufträge, Spenden und auf den Gebieten Kunst, Kultur, Wissenschaft und Bürgerschaftliches Zustiftungen ermöglichen die erfolgreiche Arbeit des Instituts. Das Engagement tätig und führt keine operativen Projekte mehr durch. Berlin-Institut ist als gemeinnützig anerkannt. Spenden und Zustiftun- gen sind steuerlich absetzbar. www.herbert-quandt-stiftung.de Im Förderkreis des Berlin-Instituts kommen interessierte und enga- gierte Privatpersonen, Unternehmen und Stiftungen zusammen, die bereit sind, das Berlin-Institut ideell und finanziell zu unterstützen. Informationen zum Förderkreis finden Sie unter http://www.berlin- institut.org/foerderkreis-des-berlin-instituts.html Bankverbindung: Bankhaus Hallbaum IBAN DE50 2506 0180 0020 2864 07 BIC/SWIFT HALLDE2H 80 Land mit Zukunft
Impressum Originalausgabe Februar 2018 © Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Sämtliche, auch auszugsweise Verwertung bleibt vorbehalten. Herausgegeben von Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung Schillerstraße 59 10627 Berlin Telefon: (030) 22 32 48 45 Telefax: (030) 22 32 48 46 E-Mail: info@berlin-institut.org www.berlin-institut.org Das Berlin-Institut finden Sie auch bei Facebook und Twitter (@berlin_institut) Design: Jörg Scholz (www.traktorimnetz.de) Layout und Grafiken: Christina Ohmann (www.christinaohmann.de) Druck: Laserline Berlin Fotos: Jörg Zank (Homberg), Heinrich Kowalski (Waldeck), Gemeinden Einige thematische Landkarten wurden auf Grundlage des Programms EasyMap der Lutum+Tappert DV-Beratung GmbH, Bonn, erstelllt. ISBN: 978-3-946332-96-1 Die Autoren Manuel Slupina, 1979, Studium der Volkswirtschaftslehre an der Universität zu Köln. Ressortleiter Demografie Deutschland am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Sabine Sütterlin, 1956, Diplom an der Abteilung Naturwissenschaften ETH Zürich. Freie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Das Berlin-Institut dankt der Herbert Quandt-Stiftung und der Landesstiftung „Miteinander in Hessen“ für die Finanzierung des Projekts.
INHALT Vorwort: Wie der ländliche Raum seine Zukunft gestalten kann......................................................4 Das Wichtigste in Kürze: Was will „Land mit Zukunft“ und was hat das Programm erreicht?.....6 1 | DEMOGRAFISCHER WANDEL UND ENGAGEMENT IN HESSEN..............................................8 1.1 Starkes Gefälle....................................................................................................................8 1.2 Porträts der sechs Gemeinden.......................................................................................12 1.3 Einordnung innerhalb Hessens...................................................................................... 17 1.4 Demografischer Wandel braucht freiwilliges Engagement...................................... 20 2 | „LAND MIT ZUKUNFT“................................................................................................................. 34 2.1 Die erste Befragung......................................................................................................... 34 2.2 Das Programm................................................................................................................. 44 2.3 Die zweite Befragung...................................................................................................... 57 3 | WIE WEITER?.................................................................................................................................. 59 3.1 Die Lehren aus dem Programm „Land mit Zukunft“.................................................. 59 3.2 Welche Erkenntnisse lassen sich daraus ableiten?.....................................................62 3.3 Wo Bürger aktiv werden..................................................................................................67 Quellen.....................................................................................................................................................72 Berlin-Institut 3
WIE DER LÄNDLICHE RAUM SEINE ZUKUNFT GESTALTEN KANN Im Bundesland Hessen lässt sich seit der Einkaufsmöglichkeiten oder medizinischen Ohnehin lässt sich mit Geld allein keine Regi- Nachkriegszeit eine klare Zweiteilung beob- Diensten kaum noch auf klassische Art und on stabilisieren. Der wichtigste Rohstoff sind achten: Während der Süden mit dem Rhein- Weise organisieren und finanzieren lassen die Menschen mit ihrer Tatkraft – gerade in Main-Ballungsraum, mit seinen Banken und und immer weiter ausdünnen. Attraktiver ländlichen Gebieten. Sie wissen am ehesten, forschungsintensiven Industrieunternehmen werden die Gebiete durch diese Entwicklung woran es fehlt. Sie sind die Experten, wenn eine hohe Wirtschaftskraft aufweist, zu den nicht. Die Menschen, die dort leben, fühlen es um die Entwicklung ihrer Heimat geht. wohlhabendsten Regionen Europas gehört sich teilweise benachteiligt und ungerecht Maßgeblich dafür, dass die Bewohner vor Ort und entsprechend viele Arbeitskräfte an- behandelt. eine Perspektive für sich sehen und nicht ab- zieht, finden sich die Vorzüge der Mitte und wandern, ist das, was sie für sich selbst und des Nordens von Hessen auf anderer Ebene. Fehlt es an Geld oder an Ideen? ihre Umgebung erreichen können. Dort liegt die Attraktivität eher in mittelgro- ßen Städten und in kleineren Orten mit histo- Der Staat ist angesichts der Unterschiede Wo die „von unten“ organisierte Zivilgesell- rischer Bausubstanz sowie einer vielfältigen zwischen boomenden Metropolregionen und schaft mit ihren Vereinen, Initiativen und Landschaft. Als waldreichstes Bundesland peripheren Gebieten per Grundgesetz dazu kirchlichen Organisationen funktioniert, ist bietet Hessen Erholungsgebiete für Millionen. angehalten, für eine „Gleichwertigkeit der Le- sie zu Recht der Stolz der Region. Das Enga- bensverhältnisse“ zu sorgen. Auch wenn das gement zeigt den Menschen, was sie leisten Zu diesen Unterschieden, die eher als Reiz Gesetz nicht definiert, was damit gemeint können, es vermittelt ein Gefühl der Selbst- denn als Nachteil des Bundeslandes zu ver- ist, geschweige denn von einer „Gleichheit“ wirksamkeit. Alles, was sie erreichen können, stehen sind, gesellen sich seit einiger Zeit spricht, so versuchen doch die EU, der Bund begründet Selbstverständnis und Selbstwert- größere Herausforderungen: der demografi- und die Landesregierungen mit verschie- gefühl der Orte. Hinter dem Ruf nach mehr zi- sche und der Strukturwandel. Beide Prozesse densten Ausgleichs- und Fördermaßnahmen vilem Engagement auf dem Land verbirgt sich sind kaum zu beeinflussen und lassen sich einem Abgehängtsein bestimmter Regionen deshalb kein Versagen des Staates, der vor auf keinen Fall umkehren. So hat sich die vorzubeugen. seinen eigenen Aufgaben kapituliert, sondern Arbeitswelt grundlegend verändert. Neue die Anerkennung bürgerlicher Fähigkeiten. Jobs in wissensintensiven Gesellschaften Doch dabei stellt sich stets die wichtige entstehen überwiegend dort, wo es eine Frage: Was bringt die Unterstützung? Denn Das Engagement der Bürgerinnen und Bür- kritische Masse an kreativen Unternehmen, fördern sollte man nur, was auch Erfolg ver- ger befreit den Staat allerdings nicht von Forschungszentren und klugen Köpfen gibt. spricht und zu einer Verbesserung der Lage seinen Aufgaben. Er muss die Menschen Deshalb wachsen – im Übrigen weltweit – die in den betroffenen Gebieten beiträgt. Sonst dabei unterstützen, die Dinge selbst in die Metropolen, während entlegenere Landestei- wäre das Geld anderenorts besser eingesetzt. Hand zu nehmen. Er muss einen bürokratie- le insbesondere junge Bewohner verlieren. Spätestens seit sich herumgesprochen hat, armen Rahmen für ihre Arbeit schaffen und Orte, die jenseits der Pendeldistanz zu den dass ein Autobahnanschluss nicht notwen- den Engagierten Freiräume lassen. Er sollte angesagten Metropolen liegen, altern deshalb digerweise die Ansiedelung erfolgreicher beratend zur Seite stehen und finanzielle Un- stark und erleben einen schleichenden Bevöl- Unternehmen und einen wirtschaftlichen terstützung gewähren und eingestehen, dass kerungsschwund. Mitunter entsteht dadurch Aufschwung nach sich zieht, ist dieser Zu- er keine Patentlösungen für die Probleme des eine Abwärtsspirale, weil sich die Versor- sammenhang bekannt. ländlichen Raumes hat. gung mit Infrastrukturen wie Nahverkehr, 4 Land mit Zukunft
Lasst doch mal die Bürger ran Fehler zulassen – und daraus lernen Das Programm „Land mit Zukunft“ der Her- Das Programm „Land mit Zukunft“ verfolgt bert Quandt-Stiftung und der Landesstif- einen vergleichsweise neuen Ansatz. Es tung „Miteinander in Hessen“, das Kern der verspricht nicht in erster Linie Geld oder vorliegenden Untersuchung ist, nimmt diesen große Investitionen, sondern hat erst einmal Grundgedanken des Kümmerns um eigene interessierte Bürgerinnen und Bürgern (in Belange auf. Und es bietet gleichzeitige eine sechs hessischen Kommunen) an Runden niedrigschwellige Unterstützung vielverspre- Tischen versammelt und grundlegende Fra- chender Ideen. Es baut auf der Erkenntnis gen gestellt: Welche Versorgungsangebote auf, dass dort, wo Menschen auf Probleme erodieren? Was sind Eure Herausforderungen stoßen, auch Ideen entstehen, wie diese zu im demografischen Wandel und wie wollt Ihr bewältigen sind. Dies ist eine anthropolo- ihnen begegnen? Erst wenn bei diesem Pro- gische Grundkonstante. Tatsächlich kursie- zess vielversprechende Ideen auf den Tisch ren auch heute in den ländlichen Gebieten kamen, gab es eine (Teil-)Förderung. Die so Deutschlands zahllose Konzepte, wie sich unterstützten Initiativen konnten bei be- Dinge, die nicht mehr oder schlecht funkti- stimmten Fragen Experten hinzuziehen und onieren, wieder zum Laufen bringen lassen. sie konnten von Erfahrungen anderer Orte Wie sich etwa der ausgedünnte öffentliche profitieren, um nicht bei jedem Problem das Nahverkehr durch Bürgerbusse ergänzen Rad neu erfinden zu müssen. lässt, wie die letzte verschwundene Einkaufs- möglichkeit durch einen multifunktionellen In dem Programm sind einige funktionieren- Dorfladen ersetzt oder wie aus einem leerste- de Projekte entstanden, aber es gab auch henden Gasthaus ein Kulturzentrum werden Enttäuschungen und Fehlschläge. Wie stets kann. im Leben verläuft nicht alles reibungslos, gerade wenn man Dinge zum ersten Mal aus- Das Interessante an derartigen Projekten ist, probiert. Deshalb haben wir in dieser Studie dass sie nicht nur die Daseinsbedingungen auch Misserfolge betrachtet und analysiert, für die Bürgerinnen und Bürger verbessern, denn aus Fehlern lässt sich am meisten ler- sondern die Orte dergestalt aufwerten, dass nen. Auch dieser Ansatz ist eher ungewöhn- diese auch für Zuzügler wieder attraktiv lich, weil große Förderprogramme lieber ihre werden können. Das Berlin-Institut hat in ver- Erfolge feiern als über Fehlschläge zu reden. schiedenen Studien gezeigt, dass es in einem Meer des demografischen Schrumpfens im- Förderung im ländlichen Raum heißt Rah- mer wieder Orte gibt, die stabil sind oder gar menbedingungen zu schaffen, die den wachsen. Bei der Suche nach den Gründen Menschen vor Ort die Möglichkeit und den für diesen Bruch des allgemeinen Trends hat Freiraum geben, das Beste aus ihrer Lage sich gezeigt, dass in diesen Orten eine be- zu machen. Sobald die Menschen spüren, sonders aktive Zivilgesellschaft zuhause war. dass ihre Eigeninitiative zu Verbesserungen Sie ist der lebende Beweis dafür, dass es sich führt, dass dadurch andere zum Mitmachen mitunter fern der Zentren besser, günstiger bewegt werden und das Gemeinschaftsgefühl und näher an den Mitmenschen leben lässt wächst, haben sie die wichtigste Nachricht als in Frankfurt oder Wiesbaden. verstanden: Das Land hat Zukunft. Berlin, im Februar 2018 Reiner Klingholz Direktor Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung Berlin-Institut 5
DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE: WAS WILL „LAND MIT ZUKUNFT“ UND WAS HAT DAS PROGRAMM ERREICHT? „Bürgerinnen und Bürger können viel bewe- Die Daseinsvorsorge der öffentlichen Hand Starkes Gefälle und gen. Sie sind Experten, wenn es darum geht, stößt hier häufig an Grenzen. Die Zivilgesell- Aufklärungsbedarf die Probleme und Bedürfnisse vor Ort zu ana- schaft kann zwar nicht alle Lücken füllen, lysieren und kreative Lösungsansätze für das aber einiges dazu beitragen, die Lebensqua- Um das Programm „Land mit Zukunft“, seine Gemeinwesen zu entwickeln“ – mit diesen lität vor Ort zu verbessern und den sozialen Ergebnisse und seine Bedeutung einordnen Worten umschreiben die Landesstiftung „Mit- Zusammenhalt zu stärken. Diese Überzeu- zu können, gehen wir in Kapitel 1 zunächst einander in Hessen“ und die Herbert Quandt- gung bildete den Ausgangspunkt für das Pro- der Frage nach, wie sich der demografische Stiftung den Ansatz ihres gemeinsamen Pro- gramm „Land mit Zukunft“. Die Idee: Die Bür- Wandel in den ländlichen Gegenden Nordhes- gramms „Land mit Zukunft – Demografischer ger selbst sollten sagen, wo sie den größten sens auswirkt, was bereits geschieht, um den Wandel und Bürgergesellschaft in Hessen“. Bedarf sehen, um dann darauf zugeschnit- Herausforderungen zu begegnen und welche tene innovative Projekte zu entwickeln und Rahmenbedingungen für bürgerschaftliches In ländlichen Gemeinden, die von sinkenden umzusetzen. Das Angebot des Programms Engagement es hier gibt. Geburtenzahlen, Abwanderung, Alterung und bestand darin, ein Forum für eine solche Dis- Mangel an Arbeitsplätzen in nächster Umge- kussion zu schaffen, den Prozess zu mode- Während die meisten Gemeinden im Süden bung betroffen sind, sehen sich die Bewohner rieren und zu begleiten sowie bei Bedarf ex- des Bundeslandes Hessen, im Rhein-Main- vor ganz praktische Fragen gestellt: Wie lässt terne Experten oder Berater hinzuzuziehen. Gebiet, wachsen, schwindet die Bevölkerung sich der Alltag organisieren, wenn Geschäf- Dafür und für die Verwirklichung der Projekte abseits der Städte im Norden bereits seit eini- te schließen, der Bus seltener fährt und es in stellten die beiden Stiftungen Fördermittel gen Jahren teilweise rapide. Und eine Trend- der Nähe keinen Arzt mehr gibt? Wie kann von bis zu 60.000 Euro pro Gemeinde für ei- wende scheint nicht in Sicht. Die Folgen sind das Lebensgefühl verbessert werden, wenn nen Zeitraum von drei Jahren bereit. mancherorts schon heute sichtbar: Leerste- leer stehende Häuser das Stadtbild beein- hende Ladenlokale, baufällige Wohnhäuser trächtigen und am Selbstbewusstsein krat- Die Suche nach geeigneten Kommunen er- und geschlossene Gaststätten zeugen vom zen? Wie lässt sich das Miteinander stärken, folgte unter nordhessischen Gemeinden zwi- Einwohnerschwund. Auch der Rückzug der wenn Vereine, Parteien oder Kirchgemeinden schen 3.000 und 15.000 Einwohnern, die Versorgungsangebote aus der Fläche ist in in der Fläche nicht mehr präsent sein können besonders ausgeprägt vom demografischen vielen Kleinstädten und Dörfern bereits zu und ihre Angebote deutlich einschränken Wandel betroffen sind. Die Wahl fiel schließ- spüren. müssen? lich auf sechs Kommunen, „die zwar vor großen Herausforderungen stehen, in denen es aber viele aktive Bürgerinnen und Bürger gibt, die etwas verändern wollen“, so Staats- minister Axel Wintermeyer, der damalige Vorstandsvorsitzende der Landesstiftung und jetzige Vorsitzende des Stiftungsrates.1 6 Land mit Zukunft
In diesen Orten sind es dann häufig tat- Die Engagementlandschaft Vom Frühsommer 2015 an haben Mitarbeiter kräftige Bürger, die mit kreativen Ideen die und ein neuer Ansatz der beiden Stiftungen engagierte Bürger in Lebensqualität erhalten. Das Land Hessen Bad Karlshafen, Homberg (Efze), Schlitz, Son- bietet dabei sehr gute politische Rahmenbe- Eine erste Befragungsrunde hat ergeben, tra, Tann (Rhön) und Waldeck dabei begleitet, dingungen für freiwilliges Engagement – aber dass es in den sechs Gemeinden insgesamt Ideen für Projekte zu entwickeln. Was dabei gerade in den abgelegenen ländlichen Regio- gut bestellt ist um das freiwillige Engage- entstanden ist und welche Erfahrungen die nen, die den demografischen Wandel bereits ment und die Bürger bereit sind, nach neuen Menschen vor Ort mit dem Förderansatz von verstärkt erleben, kommen die vielen Pro- Lösungen zu suchen. Entsprechend gut fiel „Land mit Zukunft“ gemacht haben, was sie gramme und Projekte, Service-Angebote und die Resonanz auf die Einladung aus, am Pro- als hilfreich und zielorientiert empfunden ha- Anreizsysteme bislang nur spärlich an. Dieses gramm „Land mit Zukunft“ mitzuwirken. ben oder was ihnen die Arbeit erschwert hat, Bild zeigte sich zumindest in den sechs unter- stand im Mittelpunkt der zweiten Befragung suchten „Land mit Zukunft“-Kommunen. zum Ende des Programms im Herbst 2017. Die Ergebnisse beschreibt die vorliegende Studie in Kapitel 2. Zusammengefasst lässt sich sagen: Dass die Bürger nicht nur betei- ligt, sondern von der Bedarfsanalyse bis zur Projektentwicklung auch begleitet wurden, Die sechs „Land mit Zukunft“-Gemeinden bewerteten die Befragten überwiegend als ei- nen gelungenen Ansatz. Einen weiteren Plus- punkt sahen sie im gezielten Wissenstransfer Bad Karlshafen von Experten oder von freiwillig Engagierten, die bereits eine ähnliche Projektidee reali- siert haben. Viele rechtliche oder organisato- rische Fragen konnten so zügig beantwortet und Hürden aus dem Weg geräumt werden. Doch auch beim Programm „Land mit Zu- Kassel kunft“ zeigte sich: Kein Pilotprojekt ist ohne Verbesserungsbedarf. So sind nicht in allen Waldeck Gemeinden tragfähige Projekte entstan- den. Und der Wechsel der Projektleitung zur Halbzeit, sowie Unklarheiten bei den För- Homberg derrichtlinien und den Organisationsformen (Efze) Sontra brachten einige Vorhaben zwischenzeitlich ins Stocken. Ziel der Studie war daher auch zu untersu- Marburg chen, was sich daraus lernen und auf ande- re Regionen oder Kommunen übertragen lässt. Die Befunde, Handlungsempfehlungen Schlitz und modellhafte Beispiele sind in Kapitel 3 Gießen Tann nachzulesen. (Rhön) Fulda Berlin-Institut 7
1 DEMOGRAFISCHER WANDEL UND ENGAGEMENT IN HESSEN 1.1 STARKES GEFÄLLE Wir werden weniger, älter und vielfältiger – nicht nur demografisch, sondern auch bei den Ausbau des Flughafens Frankfurt und diese Kurzformel für den demografischen der Wirtschaftskraft, der Infrastruktur und die Stärkung Frankfurts als Finanzstandort. Wandel stimmt nicht mehr ganz: Deutsch- der Versorgung. Das demografische Gefälle Der „Hessenplan“, den die Landesregierung lands Bevölkerung hat zwar zwischenzeitlich zeigt sich besonders ausgeprägt innerhalb 1951 aufsetzte, war ein ambitioniertes Inves- zu schrumpfen begonnen, nachdem sie im Hessens: Die Metropolregion im Süden platzt titions- und Entwicklungsprogramm für die Jahr 2002 den vorläufigen Höchststand von gleichsam aus den Nähten, während die Bereiche Wirtschaft, Infrastruktur und Sozia- 82,5 Millionen Einwohnern erreicht hatte. In ländlichen Gebiete im Norden Einwohner les. Er hatte in erster Linie die Integration der den letzten Jahren werden wir aber wieder verlieren. Vertriebenen in Arbeit und Gesellschaft zum mehr, was einzig und allein der hohen Zuwan- Ziel.4 Die Vertriebenen, die im Rahmen des derung aus dem Ausland zu verdanken ist. Flüchtlinge prägen die Nachkriegszeit Bundes-Umsiedlungsprogramms zusätzlich Die Eurokrise, die Bemühungen, ausländi- nach Hessen kamen, wurden gezielt in den sche Fachkräfte ins Land zu locken sowie Finanzplatz, Flughafen, Forschung – vieles, Süden gelenkt. Aber auch jene, die sich der der Zustrom an Flüchtlingen in jüngster Zeit wofür Hessen bekannt ist, konzentriert sich Wohnungsnot wegen zunächst in den ländli- haben zu hohen Wanderungsgewinnen ge- im Süden. Mit dem international bedeuten- chen Regionen Nordhessens niedergelassen führt. Die meisten Neuankömmlinge zieht den Luftverkehrsknotenpunkt in Frankfurt hatten, sollten umsiedeln, als sich Wirtschaft es dabei in die Großstädte und Ballungs- und dem Autobahnkreuz von A3 und A5, und Arbeitsmarkt in Südhessen positiv zentren. Das Angebot an Arbeitsplätzen und dem Regierungs- und Verwaltungssitz Wies- entwickelten. So nahm der Hessenplan Ein- sozialer Infrastruktur dort lockt allerdings baden sowie dem Wissenschaftsstandort fluss auf die Bevölkerungsverteilung in den nicht nur Zuwanderer aus dem Ausland an, Darmstadt ist die Region attraktiv für Un- Landesteilen. Gleichzeitig sah er vor, auch in sondern auch viele junge Menschen aus den ternehmen und Arbeitnehmer und somit ein strukturschwachen Regionen Arbeitsplätze ländlichen Regionen Deutschlands, wenn wichtiger Wirtschaftsmotor und Arbeitgeber und Wohnraum zu schaffen, um diese attrak- sie eine Ausbildung beginnen, ein Studium für das ganze Land. tiv und lebenswert zu machen.5 aufnehmen oder ins Berufsleben einsteigen.2 In jüngster Zeit berichten Medien verstärkt Das war nicht immer so. Das heutige Bun- Teilung und Strukturwandel darüber, dass es wieder mehr Menschen aufs desland Hessen, von der amerikanischen setzen Nordhessen zu Land zieht. Allerdings deuten die bisherigen Militärregierung 1946 aus den ehemaligen Wanderungsstatistiken nicht auf eine allge- preußischen Provinzen Kurhessen und Nas- Besonders der östliche Teil Nordhessens* meine Trendwende hin, die auch entlegene sau sowie dem rechtsrheinischen Teil des benötigte Unterstützung. Mit der deutschen ländliche Regionen erfassen könnte. Eher „Volksstaates“ Hessen zusammengefügt, Teilung war er plötzlich von Thüringen ab- scheint es so, dass in einigen Großstädten stand in seinen Anfängen vor gewaltigen He- geschnitten. Damit waren auch die zuvor der steigende Wachstumsdruck nun stärker in rausforderungen. Neben dem Wiederaufbau deren ländliches Umland ausstrahlt. der kriegszerstörten Städte galt es allein bis 1950 rund 720.000 Flüchtlinge und Vertrie- * Im Rahmen dieser Studie ist mit „Nordhessen“, wo In vielen ländlichen Regionen der Bundesre- bene aus den Ostgebieten zu integrieren.3 nicht anders vermerkt, immer der Regierungsbezirk Kas- publik geht die Bevölkerung seit langem zu- Wichtige Impulse für den Erfolg der Rhein- sel gemeint, da die Kommunen im Programm „Land mit rück und die Gesellschaft altert dort stärker Main-Region kamen aus den weitreichenden Zukunft“ alle hier liegen – mit Ausnahme von Schlitz: Die Gemeinde gehört zwar zum Regierungsbezirk Gießen, als im Rest des Landes. Längst zeigt sich ein Investitionsprogrammen der 1950er und also zu Mittelhessen, sie grenzt jedoch auf drei Seiten an erhebliches Gefälle zwischen Stadt und Land, -60er Jahre sowie den Entscheidungen für den Regierungsbezirk Kassel. 8 Land mit Zukunft
gepflegten engen Beziehungen zwischen Grenze auflöste und in nächster Zeit weitere Der Süden wächst, Unternehmen beider Regionen gekappt. Wäh- aufgeben wird. Das kostet Arbeitsplätze und der Norden schrumpft rend in einigen strukturschwachen Regionen der regionalen Wirtschaft geht Kaufkraft Vertriebene für einen gewissen Aufschwung verloren. Im Großraum Frankfurt, in der Landeshaupt- sorgten, indem sie ihre zurückgelassenen stadt Wiesbaden und in Darmstadt leben Unternehmen neu aufbauten, wurden die Mittlerweile erweisen sich die Lage in der heute fast zwei Drittel der Bevölkerung Hes- Randlagen zum Schauplatz des Kalten Krie- Mitte Deutschlands und Europas wie auch die sens.11 Zwar gibt es mit Gießen und Marburg ges. Entlang des Eisernen Vorhangs bezogen günstige Verkehrsanbindung Nordhessens als in Mittelhessen, Fulda im Osten und der Nato-Truppen Stellung. Während Südhessen Vorteil: Einige große Logistik- und Spediti- Großstadt Kassel ganz im Norden noch einige prosperierte und Sonderzüge von 1955 an onsunternehmen haben sich hier angesiedelt. größere Städte mit teils urbanem Umland, jeden zweiten Wochentag dringend benötig- Insgesamt zählt die Mobilitätswirtschaft, doch Richtung Norden wird es ruhiger und te Arbeitskräfte aus Italien nach Frankfurt traditionell in der Region ansässig, zu den leerer. Nordhessen nimmt rund 40 Prozent brachten, ließen sich Unternehmen im Nor- vier Schlüsselbranchen Nordhessens: Neben der Landesfläche ein, hat aber nur knapp 20 den nur mithilfe gezielter Förderung ansie- großen Arbeitgebern wie Volkswagen in Prozent der Bevölkerung. Mit lediglich 146 deln und halten.6 Baunatal, Daimler und Bombardier in Kassel Menschen je Quadratkilometer ist die Region sowie Continental in Korbach finden sich eher dünn besiedelt und ländlich geprägt.12 Nach der Wiedervereinigung erlebte Nord- auch etliche kleine und mittelständische Fir- hessen einen kurzen Boom. Doch etliche men. Weitere bedeutende Wirtschaftszweige Während die Bevölkerung in Südhessen Unternehmen im ehemaligen „Zonenrandge- sind erneuerbare Energie, Gesundheit und (Regierungsbezirk Darmstadt) von 2006 biet“ überlebten den Wegfall der staatlichen Tourismus.9 Von 2000 bis 2010 hat sich die bis 2015 um vier Prozent gewachsen ist, Unterstützung aus der Vorwendezeit nicht. sozialversicherungspflichtige Beschäftigung schrumpfte sie im Rest des Landes: in Mit- Andere wiederum verlegten ihren Standort in Nordhessen sogar besser entwickelt als im telhessen (Regierungsbezirk Gießen) um 1,7 wenige Kilometer ostwärts nach Thürin- Landesdurchschnitt.10 Der starke Rückgang Prozent, in Nordhessen (Regierungsbezirk gen, wo die Löhne niedriger waren und die der Arbeitslosigkeit in dem Zeitraum ist aller- Kassel) sogar um 2,5 Prozent.13 Es über- Förderquoten für die neuen Bundesländer dings zum Teil auch dem Bevölkerungsrück- rascht daher kaum, dass von den zehn hessi- galten.8 Die Arbeitslosenzahlen stiegen, die gang und damit dem gesunkenen Angebot an schen Gemeinden mit den größten Bevölke- Wirtschaft schwächelte. Hinzu kam, dass die freier Arbeitskraft zuzuschreiben. Der Fach- rungsverlusten acht in Nordhessen liegen. Bundeswehr im Zuge ihrer Umstrukturie- kräftemangel zeichnet sich schon als nächste Spitzenreiter bei diesem Negativtrend ist rung Militärstandorte entlang der einstigen Herausforderung ab. Frankenau: Die Gemeinde hat innerhalb der in Prozent Zensusknick Zwischenhoch durch Zuwanderung 120 In der Nachkriegszeit hatte Hessen nicht nur durch Südhessen Vertriebene an Bevölkerung gewonnen, sondern 115 auch durch die Anwerbung von Arbeitskräften aus Südeuropa und später aus der Türkei. Diese kamen 110 Hessen nach der ersten Ölkrise 1973 jedoch in deutlich Mittelhessen geringerer Zahl oder gingen zurück in ihre Heimat. Bis zum Fall des Eisernen Vorhangs schrumpfte die 105 Bevölkerung Nordhessens bereits fast kontinuierlich und deutlicher als jene Mittel- und Südhessens. Nordhessen Spätaussiedler aus der zerfallenden Sowjetunion, 100 Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien und Zuzügler aus der früheren DDR sorgten in den 1990er 95 Jahren für ein demografisches Zwischenhoch, das jedoch in Nordhessen nicht lange anhielt. 90 Bevölkerungsentwicklung 1973 bis 2015, Basisjahr 2003 2005 2009 2007 1973 1975 1981 1991 1989 1977 1993 1997 1999 1983 1985 2015 1979 1995 2001 1987 2013 1973 = 100 Prozent 2011 (Datengrundlage: Hessisches Statistisches Landesamt17, Statistisches Bundesamt18, eigene Berechnungen) Berlin-Institut 9
unter 50 unter -15 Dörfer schrumpfen am stärksten 50 bis unter 150 -15 bis unter -10 150 bis unter 250 -10 bis unter -5 Während die meisten Gemeinden der Metropolregion im Süden wachsen, schwindet die Bevölkerung ab- 250 bis unter 350 -5 bis unter 0 seits der Städte im Norden bereits seit einigen Jahren 350 und mehr 0 bis unter 5 teilweise rapide. Als entlegene Wachstumsinsel im Kassel 5 bis unter 10 Norden fällt Schwarzenborn im Schwalm-Eder-Kreis aus dem Rahmen: Die nach Zahl der Einwohner kleins- 10 und mehr Kassel te Stadt Hessens hat auf dem Gelände des aufge- lösten Bundeswehr-Truppenübungsplatzes ab 2014 einige hundert Flüchtlinge untergebracht. Von dieser Ausnahme abgesehen, dürfte sich aber die Hoffnung Marburg Marburg einiger ländlicher Regionen, dank der gestiegenen Zuwanderung wieder auf den Wachstumspfad zu Fulda Gießen Fulda gelangen, nicht erfüllen. Denn viele Neuankömmlinge dürften mit der Zeit eher zu neuen Stadt- als Landbe- Gießen wohnern werden.19 Bevölkerungsdichte der hessischen Gemeinden 2015, in Einwohnern je Quadratkilometer (links) Wiesbaden Frankfurt Wiesbaden Frankfurt Bevölkerungsentwicklung der hessischen Gemeinden zwischen 2006 und 2015, in Prozent (rechts) Darmstadt (Datengrundlage: Hessisches Statistisches Landesamt20) Darmstadt vergangenen zehn Jahre 15 Prozent ihrer ur- Prozent weniger Menschen leben werden Städtchen. Doch bei näherem Hinsehen sprünglich 3.439 Einwohner verloren. Zu den als noch 2014. Südhessen hingegen hat mit offenbaren leerstehende Ladenlokale, baufäl- zehn Schlusslichtern zählt auch eine der Ge- einem geschätzten Wachstum von über acht lige Wohnhäuser und geschlossene Gaststät- meinden im Programm „Land mit Zukunft“: Prozent zu rechnen. ten, dass die Region vom demografischen Waldeck hat zwischen 2006 und 2015 10,4 Wandel stark betroffen ist. Der Rückzug der Prozent seiner Bevölkerung eingebüßt.14 Südhessen ist mit einem Durchschnittsalter Versorgungsangebote aus der Fläche ist man- von 42,8 Jahren auch jünger als Nordhes- cherorts bereits zu spüren. Die Regionen, die jetzt schon schrumpfen, sen, das auf fast zwei Jahre mehr kommt. Bis dürften künftig weitere Verluste zu verkraften 2030 liegt das Durchschnittsalter in Süd- Am deutlichsten zeigt sich das beim täglichen haben. Nach der aktuellen Bevölkerungsvor- hessen leicht über dem heutigen Wert für Einkauf: Discounter und Supermärkte auf der ausberechnung des Hessischen Statistischen Nordhessen, wo es dann bereits 47,4 Jahre grünen Wiese, mit großzügigen Parkflächen Landesamts aus dem Jahr 2016 wird die Ein- beträgt. Im Werra-Meißner-Kreis könnte es versehen, haben das Lädchen im Dorf längst wohnerzahl Nordhessens zwischen 2014 und den Vorausberechnungen zufolge bis 2030 abgelöst. Für Pendler, die nach der Arbeit 2030 um knapp zwei Prozent schwinden.15 In bereits auf 49,3 Jahre, im Vogelsbergkreis noch schnell mit dem Auto einkaufen können, diese Berechnung sind die hohen Zuwander- sogar auf 50,7 Jahre geklettert sein.16 Dann ist das praktisch. Für Ältere oder Dorfbewoh- erzahlen der jüngsten Zeit bereits eingeflos- wäre mehr als ein Drittel der Bevölkerung in ner ohne Auto wird es jedoch zur Heraus- sen.* Nordhessen schrumpft demnach nicht dem mittelhessischen Landkreis 65 oder älter forderung, die alltäglichen Besorgungen zu so stark wie Mittelhessen, wo 2030 etwa drei und nur noch die Hälfte im erwerbsfähigen erledigen. Angesichts der fortschreitenden Alter. Alterung der Gesellschaft auf dem Land dürf- * te es den Menschen künftig wichtiger wer- Eine Studie der Hessen Agentur aus dem Jahr 2015 geht von einem noch gravierenderen Rückgang aus: Sie Wo die Bevölkerung schwindet, den, dass Einkaufsmöglichkeiten, Poststellen, sagt für Nordhessen Einwohnerverluste von über sechs dünnt die Versorgung aus Bankfilialen und Arztpraxen fußläufig oder Prozent bis zum Jahr 2030 voraus, bis 2050 sogar von mit attraktiven öffentlichen Verkehrsmitteln fast 20 Prozent gegenüber den Zahlen von 2013. Am Nordhessen besticht auf den ersten Blick erreichbar sind. Zudem fehlt mit dem Laden schwersten dürfte es demnach den Werra-Meißner-Kreis treffen. Hier stehen die Prognosen auf einem Minus von vor allem durch seine idyllischen Landschaf- in der Dorfmitte ein Ort, wo man sich trifft fast 13 Prozent bis 2030 und 30 Prozent bis 2050.7 ten, weiten Wälder und malerischen alten und soziale Kontakte pflegt. 10 Land mit Zukunft
Not macht erfinderisch sogar Taxi fahren, wenn sich keine passende ländlichen Regionen die Versorgung bald Verbindung findet. Zwischen Angebot und ausdünnen könnte, so im Werra-Meißner- Im Vogelsbergkreis ist die Versorgung mit Nachfrage vermittelt die NVV über eine Inter- Kreis, im Landkreis Hersfeld-Rotenburg und Lebensmittelmärkten zwischen 1997 und netplattform, per Telefon oder über die Mobi- im Vogelsbergkreis.28 2010 deutlich zurückgegangen. Im Werra- litätszentrale in Eschwege.24 Ein ähnliches in- Meißner-Kreis konnten einer Analyse aus dem tegriertes Mobilitätskonzept setzt seit Herbst Wie überall in Deutschland haben es auch in Jahr 2011 zufolge nur noch 45 Prozent der 2017 die Odenwald-Regional-Gesellschaft Hessen Landärzte schwer, Nachfolger für ihre Bevölkerung innerhalb von 15 Minuten eine im ländlichen südhessischen Odenwaldkreis Praxis zu finden, wenn sie in Rente gehen. Einrichtung der Nahversorgung zu Fuß errei- um: Über eine digitale Plattform vermittelt Denn jüngere Ärzte lassen sich lieber im städ- chen.22 Mancherorts stellen sich engagierte „Garantiert mobil!“ Fahrten nach Bedarf in al- tischen Umfeld nieder, wo es Teilzeitstellen Dorfbewohner diesem Trend entgegen und len zur Verfügung stehenden Verkehrsmitteln und Angestelltenverhältnisse gibt und eine treiben die Eröffnung von Dorfläden voran, zum Einheitstarif.25 urbane Infrastruktur, von der Kita bis zum die zusätzliche Dienstleistungen wie Café- Kino, zur Verfügung steht. Das Hessische So- Ecke, Paket- oder Reinigungsannahme anbie- Auch Ärzte altern zialministerium versucht seit 2012 mit einem ten (siehe S. 71). „Gesundheitspakt“ gegenzusteuern. Dieser Bislang mangelt es in Hessen nicht an Haus- beinhaltet ein Bündel von Maßnahmen, Anstrengungen gibt es auch zur Verbesse- ärzten. Das Land erreicht fast flächendeckend neben Anreizen für Medizinstudenten, die rung des öffentlichen Personennahverkehrs Versorgungsgrade von über 100 Prozent. Arbeit auf dem Land kennenzulernen, und Zu- (ÖPNV), dessen Angebot in manchen länd- Eine knapp ausreichende oder Unterversor- schüssen für die Ansiedlung einer Landpraxis lichen Gebieten auf den Schülertransport gung ist allenfalls in Teilen Südhessens und etwa auch die Förderung von ehrenamtlichen zusammengeschrumpft ist. In Kirchheim im im Nordwesten festzustellen.26 Allerdings Fahr- und Begleitdiensten für Patienten und Landkreis Hersfeld-Rotenburg betreiben Eh- stehen viele Hausärzte kurz vor dem Ruhe- den Aufbau regionaler Gesundheitsnetze, in renamtliche den ersten Bürgerbus Hessens. stand. 2014 war fast ein Drittel der hessi- denen neue, sektorenübergreifende Versor- Er verbindet die zwölf Kirchheimer Ortstei- schen Hausärzte über 60 Jahre alt, deutlich gungsformen ihren festen Platz haben. Mit le untereinander und mit einigen Ortsteilen mehr als ein Drittel zwischen 50 und 59.27 Ausnahme des Landkreises Kassel gelten in der Nachbargemeinden Breitenbach sowie Aus dem Verhältnis von jungen zu älteren nie- der Vereinbarung alle nordhessischen Land- Oberaula im Schwalm-Eder-Kreis. Und er dergelassenen Ärzten lässt sich schon heute kreise als „grundsätzlich förderfähig“.29 sorgt für eine gute Anbindung an die Kreis- ablesen, dass vor allem in den entlegeneren stadt Bad Hersfeld. Den Fahrplan und die Strecken haben die Bürger selbst festgelegt. 1985 als Modellversuch des Landes begon- 100 Fortschreitende Alterung nen, ist der Kirchheimer Bürgerbus heute 16 17 Zwischen 1975 und 1995 ist in Nordhessen der Anteil eine feste Einrichtung unter dem Schirm 90 22 29 der unter 20-Jährigen zwar schon um acht Prozent- der beiden Landkreise und des regionalen punkte zurückgegangen, gleichzeitig wuchs aber der 80 ÖPNV-Unternehmens.23 Bevölkerungsanteil im Erwerbsalter – eine günstige Ausgangslage für Wirtschaftswachstum. In den 70 darauffolgenden 20 Jahren gab es keine allzu großen Im Werra-Meißner-Kreis hat der Verkehrs- Verschiebungen. Die bevorstehenden Veränderun- verbund Nordhessen (NVV) gemeinsam mit 60 gen sind dafür umso gravierender. Der Anteil der dem Kreis die Initiative für ein „Projekt zur 55 61 60 Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter sinkt bis 2030 aktiven Selbsthilfe für die Menschen“ ergrif- 50 54 voraussichtlich unter den Wert von 1975. Allerdings dürfte der Anteil der nachrückenden Generation dann fen: Unterstützt und finanziert vom Land im Vergleich zu den 1970er Jahren um rund 12 Pro- 40 Hessen, testet er seit 2013 in zwei Pilotre- zentpunkte geschrumpft sein, während gleichzeitig gionen das bundesweit einmalige Modell 30 jener der Älteren um ungefähr diesen Wert wächst. „Mobilfalt“. Dabei können die Bewohner der Bevölkerungsanteile nach Altersgruppen in Nord- Gemeinde Witzenhausen und des interkom- 20 hessen für die Jahre 1975, 1995, 2015 und 2030 munalen Zweckverbandes Sontra/Nenters- 29 (prognostiziert), in Prozent hausen/Herleshausen neben dem klassischen 10 21 18 (Datengrundlage: Hessisches Statistisches Landesamt21) 17 ÖPNV-Angebot auch Mitfahrgelegenheiten 65 Jahre und mehr 0 in privaten PKW zum normalen Tarif nutzen. 20 bis unter 65 Jahre 2030 1995 2015 1975 Gegen einen geringen Aufschlag können sie unter 20 Jahre Berlin-Institut 11
1.2 PORTRÄTS DER SECHS GEMEINDEN Die Umgebung lädt zum Radfahren, Wandern gibt es in der Gemeinde nur noch einen grö- und Paddeln ein. Kurgästen und Touristen ßeren Arbeitgeber, die Schleifscheibenfabrik bieten die beiden Ortsteile zudem eine Reihe Krebs & Riedel mit rund 200 Mitarbeitern. von Sehenswürdigkeiten. So stehen in Hel- Viele Arbeitnehmer aus Bad Karlshafen pen- marshausen Reste eines Benediktinerklos- deln nach Hofgeismar, Kassel oder Baunatal. ters aus dem 10. Jahrhundert, das weitherum Das ehemalige Kreiskrankenhaus Helmars- für seine Buchmalkunst berühmt war. Über hausen schloss Ende 2014. Ein privates Un- dem Ortskern mit seinen Fachwerkhäusern ternehmen hat es gepachtet und gestaltet es aus dem 16. bis 18. Jahrhundert thront die schrittweise zu einem Pflegezentrum um.36 Krukenburg aus dem 12. Jahrhundert.35 Die Im Herbst 2016 stellte der Supermarkt in der Bad Karlshafen Kernstadt Karlshafen zeichnet sich durch Kernstadt den Betrieb ein. Als Nahversorger Kreis: Landkreis Kassel eine weitgehend erhalten gebliebene barocke bleiben zurzeit nur ein Discounter und im Stadtanlage aus. Sie wurde 1699 von dem Ortsteil Helmarshausen ein kleiner Lebens- Ortsteile: 2 Landgrafen Karl von Hessen-Kassel gegrün- mittelmarkt, außerdem Bäckereien und Fläche: 14,85 km2 det, um hugenottische Glaubensflüchtlinge Metzger.37 Einwohner (30.09.2016) :* 30 3.824 anzusiedeln. Der hohe Leerstand fällt ins Auge. Im Orts- Bevölkerungsentwicklung -8,1 Prozent 2006 bis 2015**:31 Der Hafen, um den die Häuser und Höfe teil Karlshafen reiht sich in der einstigen symmetrisch angeordnet sind, war Teil einer Einkaufsstraße ein leeres Ladenlokal an das Vorausschätzung -10,9 Prozent damals geplanten, aber nie vollendeten Was- andere. Am Weserufer zerfällt das frühe- Bevölkerungsentwicklung 2015 bis 2030***:32 serstraße bis nach Kassel. Das Hafenbecken re Freibad, am Ortseingang rottet ein lange lag jedoch seit langem trocken und bot einen stillgelegtes Gasthaus vor sich hin. Auch in Bevölkerung ab 25,3 Prozent tristen Anblick. Pläne zur Wiedereröffnung jüngster Zeit schlossen mehrere Restaurants 65 Jahren 2015:33 waren umstritten. Anfang 2016 hat eine sehr und Hotels. In Helmarshausen stehen vor Bevölkerung unter 12,9 Prozent knappe Mehrheit der Bürger dafür votiert, allem Wohnhäuser leer, sogar denkmalwerte 15 Jahren 2015:34 den historischen Hafen wieder mit der We- Fachwerkgebäude. ser zu verbinden und mit Wasser zu füllen. Die nördlichste Gemeinde Hessens be- Wenn die Bauarbeiten wie geplant Anfang Die Gemeinde ist hoch verschuldet und steht aus der Kernstadt Karlshafen und dem 2019 abgeschlossen sind, wird sich zeigen, steht unter dem hessischen Kommunalen 1972 eingemeindeten Städtchen Helmars- ob die Hoffnungen berechtigt waren, ein at- Schutzschirm.38 Es gibt Überlegungen, aus hausen. Dank einer Solequelle, die vor 200 traktiveres Stadtbild könnte Karlshafen als Spargründen Teile der Verwaltung mit dem Jahren entdeckt wurde, darf sich Karlshafen Wohnort aufwerten und auch mehr Touristen benachbarten Trendelburg zusammenzule- seit 1977 den Zusatz „Bad“ geben. Seit 2004 anziehen. gen. Die Stadt kann nicht in dringend not- sprudelt das heilende Wasser in der „Weser- wendige Sanierungsarbeiten investieren. So Therme“. Unmittelbar daneben befindet sich In der Kernstadt können Kinder nach der hat sie auch die Unterstützungsbeiträge für das „Carolinum“, eine Fachklinik für Orthopä- Grundschule auf die Gesamtschule im be- Jugendarbeit, Feiern und Veranstaltungen die, Neurologie, Geriatrie und Rehabilitation nachbarten Gebäude wechseln, die den 5. bis gestrichen, mit denen die Sport-, Musik- und mit angeschlossenem Altenheim. 10. Jahrgang abdeckt. Das Einzugsgebiet der Heimatvereine einst rechnen konnten. Gesamtschule umfasst nicht nur den Land- * Die Quellenangaben für die Daten gelten für alle sechs kreis Kassel, sondern auch die benachbarten Zwischen den beiden Ortsteilen herrscht eine Gemeinden. nordrhein-westfälischen und niedersächsi- gewisse Rivalität. Die Karlshafener empfin- ** Einschließlich der Korrektur durch den Zensus 2011. schen Landkreise im Dreiländereck. den eher urban, während die Helmarshäuser *** Kleinräumige mittel- und langfristige Bevölkerungs- eine gewachsene Dorfgemeinschaft bilden. vorausschätzungen werden als Fortschreibung der Herausforderungen: Manche von ihnen bedauern bis heute die Zu- Entwicklung in der Vergangenheit ermittelt. Wegen Abgesehen von der Rehaklinik Carolinum und sammenlegung mit dem historisch jüngeren ausgeprägter Schwankungen beim Wanderungsverhal- ten sind sie mit hohen Unsicherheiten behaftet. dem städtischen Eigenbetrieb Weser-Therme Karlshafen. 12 Land mit Zukunft
sind, vom Akkordeonensemble bis zur Dorf- „Soziale Stadt“ hat die Gemeinde seit 2004 gemeinschaft „Wir Holzhäuser“. Dazu zählen große Anstrengungen unternommen, das Ge- lokale Parteiorganisationen, Bürgerinitiati- biet aufzuwerten und den Zusammenhalt der ven und Burschenschaften, Fördervereine Bewohner zu stärken. Als Leuchtturmprojekt und Freiwillige Feuerwehren, Wandergrup- entstand dabei im ehemaligen Gaswerk an pen und Wohlfahrtsverbände. den Efzewiesen das Jugendzentrum, dessen Einrichtung und Angebot unter Einbeziehung Die Bevölkerung weist einen relativ hohen der jetzigen Nutzer gestaltet wurde. Hier hat Anteil an unter 15-Jährigen auf. Das dürf- auch der Stadtjugendpfleger sein Büro. te damit zusammenhängen, dass es in der Homberg (Efze) Gemeinde insgesamt neun Schulen gibt, Die Kernstadt wirkt auf den ersten Blick sehr Kreis: Schwalm-Eder- darunter ein Gymnasium, eine Berufsschule gepflegt und gut erhalten. Selbst am Markt- Kreis sowie mehrere besondere Förderschulen.41 platz stehen jedoch Ladengeschäfte leer. Ortsteile: 21 Für die Interessen der jungen Menschen Und in der zweiten Reihe zeigen viele Häuser setzt sich die Stadtjugendvertretung ein. Die Zeichen des Zerfalls. Die Initiative „Bürger Fläche: 99,99 km2 Belange der älteren Menschen vertritt ein für Homberg“ (siehe S. 49) setzt sich für den Einwohner (30.09.2016): 13.906 Seniorenbeirat. Erhalt, die sachgerechte Renovierung und Bevölkerungsentwicklung -4,9 Prozent energetische Sanierung der Fachwerkge- 2006 bis 2015: Herausforderungen: bäude ein. Es scheint jedoch schwierig, eine Homberg ist zwar Kreisstadt, hat aber in- Nutzung zu finden, welche die Stadt wieder Vorausschätzung -1,8 Prozent Bevölkerungsentwicklung nerhalb des Kreises Konkurrenten: Die etwa mit Leben erfüllt. 2015 bis 2030: gleich großen Gemeinden Fritzlar und Mel- Bevölkerung ab 22,1 Prozent sungen sowie Schwalmstadt, die mit rund Die Gemeinde hat kaum finanziellen Spiel- 65 Jahren 2015: 18.000 Einwohnern größte Gemeinde des raum, da sie hoch verschuldet ist und unter Kreises, verlieren weniger ausgeprägt an Be- dem Kommunalen Schutzschirm steht: Das Bevölkerung unter 13,4 Prozent 15 Jahren 2015: völkerung und an Infrastruktur.42 So wurde Land nimmt ihr einen Teil der Altschulden das Homberger Amtsgericht 2006 aufgelöst, ab, wenn sie bis 2020 einen ausgeglichenen während es in Schwalmstadt, Melsungen und Haushalt vorlegt. Unter anderem hat sie daher Als Kreisstadt des Schwalm-Eder-Kreises Fritzlar weiterhin Amtsgerichte gibt. Die einst auch kommunale Immobilien abgestoßen und ist Homberg (Efze) die einwohnerstärkste drei Kreiskrankenhäuser in Schwalmstadt, so 2016 erstmals einen Haushalt ohne Aufla- unter den sechs Kommunen im Programm Melsungen und Homberg hat Anfang 2007 gen genehmigt bekommen.43 Jetzt muss sie „Land mit Zukunft“. Die Kernstadt, auf einer alle ein privates Unternehmen übernommen, aber dringend in ihr Abwassersystem und den Anhöhe über dem Tal des Flüsschens Efze das jedoch im September 2010 die Klinik in Bau eines neuen Kindergartens investieren. gelegen, gilt als „Fachwerkkleinod Nordhes- Homberg schloss. Nur die Kreisverwaltung ist Das vom Zerfall bedrohte Traditionsgasthaus sens“.39 Die mittelalterliche Anlage mit dem geblieben. „Krone“ konnte die Stadt 2014 nur retten, Marktplatz und der mächtigen gotischen weil der Erwerb zu 70 Prozent aus dem Städ- Kirche im Zentrum ist weitgehend erhalten Viele Homberger pendeln zu dem gut 30 tebauförderprogramm des Bundes gedeckt geblieben. Überragt wird sie von der Ruine Kilometer entfernten Volkswagenwerk in war und der Verein „Bürger für Homberg“ den der namengebenden Hohenburg. Baunatal. Ein weiterer großer Arbeitgeber in städtischen Eigenanteil durch eine Spenden- der Region ist der Stammsitz des weltweit ar- aktion aufbrachte.44 Engagierten Bürgern Zu der Gemeinde gehören aber auch 20 beitenden Medizintechnikherstellers B. Braun verdankt sich auch der Erhalt der Stadthalle Stadtteile, in der Selbstdarstellung „kleine, in Melsungen. Fritzlar verfügt über einen im hangabwärts gelegenen neueren Teil der lebendige Dörfer, die sich ihren eigenen Cha- Heeresflugplatz. Homberg hingegen hat mit Stadt: Das Jugendstilgebäude aus dem Jahre rakter bewahrt haben und mit einem aktiven der Aufgabe der Ostpreußenkaserne 1993 1911 war lange Zeit als Lagerhalle für einen Vereins- und Kulturleben aufwarten“.40 Tat- und der endgültigen Auflösung des Bundes- Landhandel genutzt worden. Als der Plan sächlich führt die kommunale Internetplatt- wehrstandortes 2005 sowohl Kaufkraft als aufkam, es zu einem Supermarkt umzubauen, form gut 200 Gruppierungen auf, in denen auch Arbeitsplätze verloren. In den leer ste- gründete sich eine Bürgerinitiative zur Ret- viele der rund 14.000 Einwohner organisiert henden Wohnblöcken des „Bahnhofsviertels“ tung des Hauses als Veranstaltungs- und Ver- ließen sich seit den 1990er Jahren Spätaus- sammlungsort. 1991 war Einweihung, 2016 siedler nieder. Mithilfe des Förderprogramms feierte die Stadt das 25-jährige Jubiläum. Berlin-Institut 13
mit Wald bestanden und mehr als ein Drittel wird landwirtschaftlich genutzt.46 Im ländlichen Raum des Regierungsbezirks Gießen fungiert Schlitz als Grundzentrum.47 Die Kernstadt verfügt über mehrere Kinder- tagesstätten, eine Grundschule und eine Gesamtschule, die alle Schularten bis zur 10. Klasse abdeckt. Auch die erste Landesmusik- akademie hat hier seit 2003 ihren Sitz. Rund Schlitz hundert Vereine listet die Gemeinde allein in Sontra Kreis: Vogelsbergkreis den Bereichen Kultur, Musik, Sport und Tiere Kreis: Werra-Meißner- auf. Kreis Ortsteile: 17 Ortsteile: 16 Fläche: 142,09 km2 Von Ende des 18. bis Mitte des 19. Jahrhun- derts hatte Schlitz dank seiner Leinen- und Fläche: 111,29 km2 Einwohner (30.09.2016): 9.764 Damastwebereien eine wirtschaftliche Blüte Einwohner (30.09.2016): 7.665 Bevölkerungsentwicklung -5,0 Prozent 2006 bis 2015: erlebt. Nach dem Niedergang dieses Hand- Bevölkerungsentwicklung -9,8 Prozent werkszweigs galt das Schlitzerland als Not- 2006 bis 2015: Vorausschätzung -5,1 Prozent standsgebiet.48 Heute bieten der Tourismus, Bevölkerungsentwicklung Vorausschätzung -7,7 Prozent 2015 bis 2030: das örtliche Gewerbe – darunter als größter Bevölkerungsentwicklung Arbeitgeber ein Onlinehändler für Leuchten 2015 bis 2030: Bevölkerung ab 21,4 Prozent 65 Jahren 2015: mit 150 Beschäftigten und drei Webereien – Bevölkerung ab 24,4 Prozent knapp 2.000 Arbeitsplätze. Im Mittel der ver- 65 Jahren 2015: Bevölkerung unter 13,1 Prozent gangenen 15 Jahre übersteigt jedoch die Zahl 15 Jahren 2015: Bevölkerung unter 12,3 Prozent der Auspendler jene der Einpendler um mehr 15 Jahren 2015: als das Dreifache.49 Anno 812 wurde Schlitz erstmals urkund- lich erwähnt, als der Mainzer Erzbischof auf Herausforderungen: Die ersten urkundlichen Erwähnungen des dem Hügel „Slitese“ eine Kirche weihte. Ihre heutigen Stadtteils Ulfen wie auch der Kern- malerische Silhouette verdankt die Kernstadt Die historische Kernstadt ist zwar umfassend stadt Sontra gehen auf das 8. Jahrhundert zu- den mittelalterlichen Burgen und dem „Hin- saniert worden. Dennoch stehen viele Laden- rück. Sontra gehörte zum Handels- und Städte- terturm“ auf dem Hügel. Die komplett erhal- geschäfte in der Altstadt leer, während sich bund der Hanse. Seit dem 15. Jahrhundert ist tene historische Altstadt ist nur durch zwei entlang der Straße zwischen den Ortsteilen die Gewinnung von Kupferschiefer nachgewie- Tore zugänglich und von Fachwerkhäusern Schlitz und Hutzdorf etliche Supermärkte sen. Als diese Tradition in den 1930er Jahren geprägt. Seit 1961 darf sich die Kernstadt mit und Gewerbebetriebe aneinander reihen. In erneut auflebte, zogen so viele Bergleute zu, dem Prädikat „staatlich anerkannter Erho- den Dörfern des Schlitzerlandes gibt es we- dass die Zahl der Einwohner binnen kurzem lungsort“ schmücken.45 Bekannt ist Schlitz nig bis keine Nahversorgung. Zum Einkau- von 2.200 auf 5.500 stieg. Durch die An- auch für sein Trachtenfest, das alle zwei Jahre fen wie auch zum Arbeiten orientieren sich siedlung von Flüchtlingen und Vertriebenen Besucher anlockt, und für das Autorennen viele Bewohner nach dem nur 20 Kilometer wuchs die Stadt nach dem Ende des Zweiten „Hessen Rallye Vogelsberg“. Fahrstrecke entfernten Fulda. Vom dortigen Weltkrieges abermals auf fast 7.000 Einwoh- ICE-Bahnhof gelangen Pendler aus Schlitz in ner. Mitte der 1950er Jahre war der Bergbau Seit der hessischen Gemeindegebietsreform einer knappen Stunde sogar ins Rhein-Main- jedoch unrentabel geworden. In der Folge besteht die Stadt aus der Kernstadt und 16 Gebiet. wanderten viele Bergleute wieder ab. Orten, die als „Schlitzerland“ bezeichnet wer- den. Die rund 9.800 Einwohner verteilen sich Von den heute rund 7.700 Einwohnern Son- dabei auf der drittgrößten Gemeindefläche tras leben gut 4.600 in der Kernstadt. Die üb- Hessens nach Frankfurt am Main und Wies- rigen verteilen sich auf 15 Stadtteile. Linden- baden. Allerdings ist über die Hälfte davon au als kleinster zählt lediglich 11 Bewohner. 14 Land mit Zukunft
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