Lebenslagen und Zukunftschancen von (armen) Kindern und Jugendlichen in Deutschland - 15 Jahre AWO-ISS-Studie
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Lebenslagen und Zukunftschancen von (armen) Kindern und Jugendlichen in Deutschland 15 Jahre AWO-ISS-Studie
Impressum Herausgeber: Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e. V. Zeilweg 42 60429 Frankfurt am Main Frankfurt am Main, November 2012 ISS-Aktuell 23 / 2012 Autorinnen: Gerda Holz Claudia Laubstein Evelyn Sthamer Druck: arago-consulting GmbH, Frankfurt a. M. Fotonachweis: Thinkstock, ISS, photocase
15 Jahre AWO-ISS-Studie im Überblick 1 Wir danken der GlücksSpirale (www.gluecksspirale.de) für die finanzielle Förderung des Forschungs- vorhabens. Inhalt Die Zielsetzung und das Design ............................................................................................... 2 Der Forschungsansatz.................................................................................................................5 1. Das mehrdimensionale Forschungsverständnis...........................................................5 2. Das kindbezogene Armutskonzept...............................................................................6 3. Zur Operationalisierung..................................................................................................7 4. Zur Repräsentativität....................................................................................................10 Die vier Forschungsphasen und zentrale Ergebnisse..............................................................12 1. Erststudie: Armut in Vorschulalter (1997 bis 2000)......................................................12 2. Vertiefungsstudie: Armut im frühen Grundschulalter (2000 bis 2002).......................13 3. Wiederholungsstudie: Armut bis zum Ende der Grundschulzeit (2003 bis 2005).....15 4. Wiederholungsstudie: Armut am Ende der Sekundarstufe I (2009 bis 2012)............17 5. Handlungsempfehlungen der Studie.......................................................................... 21 Zwei (ehemals) arme KiTa-Kinder und ihre Lebensgeschichten............................................. 25 Die Studie – Viele haben sich engagiert................................................................................... 28 Die Studie – Alle Berichte im Überblick................................................................................... 32
2 15 Jahre AWO-ISS-Studie im Überblick Die Zielsetzung und das Design Das gesellschaftliche Problem der Armut und Den Startpunkt der AWO-ISS-Studie bildete 1997 sozialen Ausgrenzung benachteiligter Bevölke- eine bundesweite Befragung aller AWO-Ein- rungsgruppen stellt ein zentrales Handlungsfeld richtungen, um erste Informationen über die der fachlichen und politischen Arbeit der Arbei- Anzeichen und den Umfang von Kinderarmut terwohlfahrt (AWO) auf nationaler und internati- in Deutschland zu erhalten. Daraus ergab sich, onaler Ebene dar. dass diese Problematik ganz besonders in den Kindertagesstätten Relevanz hatte, verbunden Im Kontext der allgemeinen Analyse und Be- mit deutlichem wissenschaftlichem Erkenntnis- richterstattung über Armut und Reichtum in defizit gerade zu den jüngsten Altersgruppen. So Deutschland nimmt das AWO-Engagement spe- wurde die Notwendigkeit sichtbar, sich zunächst ziell im Bereich der Kinder- und Jugendarmut ei- intensiv mit der Frage „Armut im Vorschulalter“ nen wichtigen Platz ein. Dazu haben auch die zu befassen: Bundesweit wurden in 60 Tages- vom AWO-Gesamtverband in Auftrag gegebe- einrichtungen für Kinder (KiTa) der AWO Daten nen Forschungsarbeiten und die damit verbun- zu rund 1.000 im Jahr 1993 geborenen Jungen denen Verbandsaktivitäten beigetragen. und Mädchen erhoben. Ein zentrales Element ist die seit 1997 durchge- Diese zunächst als einmalige Befragung an- führte Grundlagenforschung des Instituts für So- gelegte Studie wurde aufgrund des hohen Er- zialarbeit und Sozialpädagogik e. V. (ISS-Frank- kenntnisgewinns zu einer Langzeitstudie über furt a. M.) zu „Lebenslagen und Zukunftschan- kindbezogene Armutsfolgen in Kindheit und Ju- cen von (armen) Kindern und Jugendlichen“ gend ausgeweitet. Sie umfasst aktuell vier For- (kurz: AWO-ISS-Studie). schungsschwerpunkte (vgl. Abb. 1): Erststudie „Armut im Vorschulalter“ (1997 bis 2000), Ver- tiefungsstudie „Armut im frühen Grundschulal- Worauf begründet sich die Studie? ter“ (2000 bis 2002), Wiederholungsstudie „Ar- mut bis zum Ende der Grundschulzeit“ (2003 bis Anliegen war und ist es, durch die Forschungs- 2005) und Wiederholungsstudie „Armut am En- ergebnisse eine fundierte empirische Grundla- de der Sekundarstufe I“ (2009 bis 2012). ge für das Engagement sozialer Organisationen, besonders der AWO, zu schaffen, mit den Zie- Sowohl in der dritten als auch in der vierten Stu- len: die konnten jeweils rund 50 % der ehemaligen KiTa-Kinder wieder befragt werden. fachliche Weiterentwicklung der Praxis So- zialer Arbeit mit (armen) Kindern und Ju- gendlichen, Qualifizierung der Verbandsarbeit und Einflussnahme auf die Fach- und Sozialpo- litik.
15 Jahre AWO-ISS-Studie im Überblick 3 Abb. 1: Die bisherige AWO-ISS-Studie im Überblick Quelle: Eigene Darstellung
4 15 Jahre AWO-ISS-Studie im Überblick Warum heißt die Studie eigentlich Das ISS-Frankfurt a. M. entwickelte sowohl AWO-ISS-Studie? das theoretische Konzept als auch das Ver- fahren und die unterschiedlichen Instru- mente, die dem empirischen Erhebungsde- Der Name weist auf die besondere Projektstruk- sign zugrunde liegen. Es war zudem für die tur hin: Die Forschungsarbeit des ISS-Frank- Datenbearbeitung, -auswertung, die um- furt a. M. wurde in Kooperation mit der AWO fangreiche Berichtslegung und den vielfälti- als Gesamtverband (das heißt Bundesverband, gen Theorie-Praxis-Transfer zuständig. 29 Gliederungen und Bundesjugendwerk) und mit einer klar abgegrenzten Aufgabenteilung zwi- Ein interdisziplinär besetztes Forschungs- schen beiden umgesetzt. team mit jeweils spezifischen Arbeits- schwerpunkten setzte das Design um. Die AWO stellte zum einen ihre Verbands- Das Team arbeitete dabei stets mit ei- strukturen sowie ihre Einrichtungen als Ort nem Beraterkreis1 zusammen. Gemein- und Mittel der Befragung von Fachkräften, sam wurde über theoretische, methodi- Eltern und jungen Menschen zur Verfügung. sche und Auswertungsfragestellungen in- Zum anderen waren im Weiteren die sozi- tensiv beraten und diese wurden dann alpädagogischen Fach- und Leitungskräfte entsprechend umgesetzt. der KiTas die Feldforscher/innen der Studie. Über dieses praxisnahe Design gelang es Genauso waren die Gremien „Steuerungs- immer wieder, viele Familien selbst nach gruppe“ und „AWO-Ansprechpartner/in- Jahren erneut zu befragen sowie einen nen“ und „Fachbeirat“ weitere wichtige Ak- sehr guten Zugang zu den ansonsten in em- teure über alle Forschungsphasen hinweg. pirischen Studien allgemein als schwer er- Sie erfüllten drei Funktionen: die Steuerung reichbar geltenden Zielgruppen zu schaffen. des Vorhabens, die inhaltliche Reflexion des Forschungsdesigns und der eingesetzten Den Feldforscher/innen ist es mit viel En- Instrumente sowie die Diskussion und kriti- gagement und sehr differenzierten Such- sche Bewertung der Ergebnisse. und Befragungsstrategien hervorragend gelungen, immer wieder viele armutsbe- Die Grundstruktur der Gremien wurde stets troffene und/oder sozial benachteiligte jun- beibehalten, doch änderte sich die Zusam- ge Menschen zu befragen. Das lässt er- mensetzung orientiert am Fokus der jewei- kennen, welche Langzeitwirkung die Be- ligen Forschungsphase. So konnte sowohl ziehung zwischen den KiTas und „ihren“ eine Kontinuität über 15 Jahre hinweg si- Kindern beziehungsweise den Eltern hat, chergestellt, als auch die Möglichkeit eröff- und wie sehr andere Einrichtungen in Fra- net werden, auf die komplexen und hete- gen des Beziehungsaufbaus von den KiTas rogenen Fragestellungen flexibel und dem lernen können. Über die Art und Weise des Gegenstand angemessen einzugehen. Einsatzes dieser Feldforscher/innen lieferte die Studie zugleich ein erfolgreiches Erhe- bungsdesign, um in der Forschung alle so- zialen Gruppen zu erreichen. 1 Zu den Gremien siehe Seite 30 ff.
15 Jahre AWO-ISS-Studie im Überblick 5 Der Forschungsansatz 1. Das mehrdimensionale Nicht zuletzt durch diese Ressourcenperspekti- Forschungsverständnis ve und verbunden mit dem Anspruch der Studie, der AWO als freiem Träger von Sozialen Diens- Von Beginn an wurde in der AWO-ISS-Studie ten und als jugend- und sozialpolitischem Akteur der Anspruch formuliert, einen erweiterten, praktische Hilfen an die Hand zu geben, erfolgte kindgerecht(er)en Armutsbegriff zu entwickeln die Verknüpfung mit dem ursprünglich gesund- und empirisch umzusetzen. Infolgedessen wur- heitswissenschaftlich orientierten, salutogeneti- de ein kindbezogenes Armutskonzept formu- schen Konzept von Antonovsky (1997). liert, das nicht nur die materielle Lage des Haus- haltes respektive der Familie in den Blick nimmt, Hierbei stehen Coping und Resilienz im Fokus. sondern auch und vor allem die Lebenssituation Wie bewältigen Kinder und Jugendliche Armut des Kindes in seinen zentralen Dimensionen er- und was brauchen sie, um Resilienz aufzubau- fasst. en? Die Leitfrage lautete dabei: Was kommt (unter Im Rahmen der Langzeitbetrachtung (seit Armutsbedingungen) beim Kind an2? 2003/04) wurden zudem die Lebensverläufe der beteiligten Mädchen und Jungen untersucht. Um diese Leitfrage beantworten zu können, Mit Blick auf die Einordnung der aktuellen Le- wurde ein akteurszentrierter Lebenslagean- benssituation des jungen Menschen in seine satz im Sinne von Neurath (1931) und Weisser bisherige Biografie und seine weitere Entwick- (1956) definiert, der die Situation des jungen lung wurde der Untersuchungsansatz um die an Menschen aus seiner Perspektive anhand von die kind- beziehungsweise jugendspezifischen Lebenslagen multidimensional erfasst. Entwicklungsphasen angelegte Lebensverlaufs- perspektive erweitert. Die AWO-ISS-Studie geht zwar hauptsächlich, nicht aber ausschließlich vom Lebenslagenan- Besonders die Übergänge, als besondere Anfor- satz aus. Zum einen liegt ihr ein mehrdimensi- derungen der jeweiligen Altersphase, standen onales Armutsverständnis, das heißt Ressour- im Fokus, so die Übergänge von der KiTa in die cen- und Lebenslagenkonzept zur Bestimmung Grundschule, von der Grundschule in die Sekun- von Armut, zugrunde. Zum anderen werden die darstufe I (SEK I) und von der SEK I in die SEK II individuellen Ressourcen, über die der junge beziehungsweise in den Beruf. Die Leitfrage lau- Mensch verfügt, um seine familiäre Armut be- tete hier: wältigen zu können, analysiert. Wie gestaltet sich der Lebensverlauf der ar- Dazu wurden die Ansätze von Bourdieu (1983) men im Vergleich zu den nicht armen jungen und Coleman (1988), besonders das aktuelle be- Menschen? Welche Perspektiven eröffnen sich ziehungsweise potentielle Kapital an kulturellen wem? und sozialen Ressourcen der Kinder und Jugend- lichen, in den Blick genommen. 2 Das heißt: Welche Ressourcen stehen dem Kind bzw. Jugendlichen vor dem Hintergrund familiärer Einkommens- armut zur Verfügung und bilden das materielle, kulturelle, soziale und gesundheitliche Kapital seiner Entwicklung?
6 15 Jahre AWO-ISS-Studie im Überblick 2. Das kindbezogene Armutskonzept ten Armutsgrenzen – bildet den Ausgangs- punkt, um von Armut zu sprechen und de- ren Folgen anhand der Lebenslagen von Um Armutsfolgen für Kinder beziehungswei- Kindern und Jugendlichen zu untersuchen. se Jugendliche untersuchen zu können, war zunächst eine Neuformulierung des Armuts- Dies erfolgte in einem Vergleich von Kindern be- begriffs notwendig, der die spezifischen Rah- ziehungsweise Jugendlichen aus einkommens- menbedingungen, Handlungsmöglichkeiten und armen Familien mit ökonomisch besser gestell- -grenzen sowie die altersspezifische Entwick- ten (vgl. Abb. 2). lung in Kindheit und Jugend berücksichtigt. Zu den Grundbedingungen eines „kindgerechten“, Die Einschätzung der Lebenssituation orientier- mehrdimensionalen Armutsbegriffes gehören: te sich an vier zentralen Lebenslagedimensionen, das heißt an der Die Definition von Armut muss vom jungen Menschen ausgehen (kind-/jugendzentrier- (a) materiellen, te Sichtweise). Das heißt, die spezielle Le- (b) sozialen, benssituation der untersuchten Altersgrup- (c) gesundheitlichen und pe, die jeweils anstehenden Entwicklun- (d) kulturellen Lage der jungen Menschen. gen, aber auch die subjektive Wahrneh- mung sind zu berücksichtigen. Über eine Reihe von Items wurde ermittelt, ob und inwieweit verhaltens- und verhältnisbezoge- Gleichzeitig müssen der familiäre Zusam- ne Einschränkungen in jeder Dimension vorlie- menhang und die Gesamtsituation des gen. Abgebildet wurden so Indikatoren zur Ver- Haushaltes bedacht werden, da Kinder und sorgung, zu Kompetenzen, zum Verhalten und Jugendliche in ihren Lebensbedingungen zum Wohlbefinden der jungen Menschen. stark von der Lebenslage der Eltern abhän- gig sind. Die Auswahl der jeweiligen Indikatoren erfolgte nach den für die jeweilige Altersphase typischen Eine rein auf das (Familien)Einkommen be- Ressourcen und Entwicklungsmöglichkeiten. zogene Armutsdefinition geht jedoch an der Lebenswelt der jungen Menschen vor- Im Weiteren wurde das Spektrum der vielfälti- bei. Daher müssen auch Dimensionen) ein- gen, empirisch vorzufindenden Lebenslagen bezogen werden, die geeignet sind, etwas von armen wie nicht armen jungen Menschen in über die Entwicklung und Teilhabechancen drei Lebenslagetypen zusammengefasst. Diese der betroffenen jungen Menschen auszu- wurden als „Wohlergehen“, „Benachteiligung“ sagen (z.B. Mitgliedschaft in einem Verein, und „Multiple Deprivation“ benannt. Nutzung von kind-/jugendspezifischen An- geboten). Von Wohlergehen wird gesprochen, wenn in Bezug auf die zentralen (Lebenslage)Di- Armut von Kindern beziehungsweise Ju- mensionen aktuell keine „Auffälligkeiten“ gendlichen ist trotz dieses mehrdimensio- festzustellen sind, das Wohl des Kindes be- nalen Blicks jedoch nicht als Sammelbegriff ziehungsweise Jugendlichen also gewähr- für benachteiligende Lebenslagen von jun- leistet ist und von einer positiven Zukunfts- gen Menschen zu verwenden. Die materi- entwicklung ausgegangen werden kann. elle Mangellage der Familie – nach definier-
15 Jahre AWO-ISS-Studie im Überblick 7 Abb. 2: Das kindbezogene Armutskonzept Vgl. Hock et al. 2000b: 12f. Lebenslagedimensionen Haushalt ist arm Materiell (Kleidung, Wohnen, Nahrung, Partizipation u.a.) Sozial (soziale Kompetenz, materiell Eltern/ Kind soziale Kontakte u.a.) Erwachsene kulturell sozial Gesundheitlich (physisch und psychisch) Kulturell Was kommt beim Kind an? (kognitive Entwicklung, Sprache, Bildung, kult. Kompetenzen u.a.) Lebenslagetyp Kind Wohlergehen Benachteiligung Multiple Deprivation Vgl. Hock et al. 2000b: 12 f. Eine Benachteiligung liegt gemäß Definition 3. Zur Operationalisierung dann vor, wenn in ein oder zwei Bereichen aktuell „Auffälligkeiten“ festzustellen sind. Der betroffene junge Mensch kann dann Familiäre Armut in Bezug auf seine weitere Entwicklung als benachteiligt betrachtet werden. Die 50 %-Armutsgrenze (arithmetisches Mittel, al- te OECD-Skala) bildete seit Beginn der AWO- Von Multipler Deprivation ist die Rede, wenn ISS-Studie die Grundlage zur Einteilung der teil- die Lage des Kindes beziehungsweise Ju- nehmenden Kinder. Dies war damals die gängi- gendlichen in mindestens drei der vier zen- ge europäische und wissenschaftliche Konven- tralen Lebens- und Entwicklungsbereiche tion zur Bestimmung der Armutsgrenze, heute auffällig ist. Das Kind/der Jugendliche ent- liegt diese bei 60 % des bedarfsgewichteten behrt dann in mehreren wichtigen Berei- Medianeinkommens und neuere OECD-Skala. chen die notwendigen Ressourcen, die ei- In der AWO-ISS-Studie wurde aus Gründen der ne positive Entwicklung wahrscheinlich Kontinuität die 50 %-Grenze weiter fortgeführt. machen.
8 15 Jahre AWO-ISS-Studie im Überblick gende Ressourcen) und dem möglichen Ma- Als zweiter Indikator von Armut wurde der Bezug ximum (auf Basis aller gültigen Antworten) von Sozialtransfers herangezogen. Die Familien, prozentual berechnet. die nach dem relativen Einkommenskonzept als nicht arm gelten, aber Leistungen nach SGB II (umgangssprachlich „Hartz-IV“), SGB XII (vor 3. Berechnung der „Auffälligkeiten“: Das Feh- 2005 BSHG) oder Asylbewerberleistungsgesetz len von Ressourcen beziehungsweise das erhalten, wurden ebenfalls der Gruppe der Ar- Vorhandensein von Risiken wurde als Auf- men zugeordnet. fälligkeit gewertet. Es wurden die „Auffäl- ligkeiten“ für jede der genannten Unterdi- Die Informationen zum Einkommen wurden mensionen einer Lebenslage ermittelt. Als 1999 über die Einkommensnachweise der El- „auffällig“ wurde definiert, wer sich im un- tern bei den KiTas ermittelt und in den Folgestu- teren Quintil (untere 20 % = 5. Quintil) der dien im Elternfragebogen erhoben. Ressourcenverteilung innerhalb der jeweili- gen Unterdimension befindet. Als auffällig gelten demnach 20 % aller befragten Kinder Lebenslagedimensionen beziehungsweise Jugendlichen mit den we- nigsten Ressourcen in einer Unterdimensi- Die (Unter)Dimensionen wurden altersspezi- on. fisch operationalisiert und anschließend durch einen Summenindex dargestellt. Anhand von Items, Variablen und Teilindizes wurde in jeder Bildung der Lebenslagetypen Dimension ermittelt, ob und wenn ja, welche (Indexbildung) Ressourcen vorhanden sind. Fehlende Ressourcen wurden als Einschränkun- Weiterhin wurde das Spektrum der vielfältigen gen verstanden, die ab einem bestimmten Aus- empirisch vorzufindenden Lebenslagen von ar- prägungsgrad als „Auffälligkeiten“ gelten. men wie nicht armen jungen Menschen in Form der drei Lebenslagetypen „Wohlergehen“, „Be- nachteiligung“ und „Multiple Deprivation“ zu- Auffälligkeiten sammengefasst. Die Ermittlung erfolgte durch drei Schritte: Zentral für die Typenbildung war die Ermittlung der zuvor beschriebenen „Auffälligkeiten“. Jede 1. Bildung von Indizes für die acht Unterdimen- der vier Lebenslagebereiche (materielle, soziale, sionen der Lebenslagebereiche: Die bei den gesundheitliche und kulturelle Lage) wurde in Kindern respektive Jugendlichen vorzufin- zwei Unterdimensionen (z. B. die kulturelle Lage denden Merkmale wurden für jede einzelne in Lern-/Erfahrungsmöglichkeiten und Bildungs-/ Unterdimension zu einem Index zusammen- Lernkompetenzen) untergliedert. gefasst. Liegt für eine der beiden Unterdimensionen 2. Verortung der einzelnen jungen Menschen eine „Auffälligkeit“ vor, dann wird von einem innerhalb der materiellen, sozialen, gesund- „Negativ“-Bereich gesprochen. Die Indexbil- heitlichen und kulturellen Lebenslage: Dazu dung erfolgt über die Anzahl der „Negativ“-Be- wurde für jeden jungen Menschen die Diffe- reiche. renz zwischen den erzielten Punkten (vorlie-
15 Jahre AWO-ISS-Studie im Überblick 9 Vergleichbarkeit des Lebenslagetyps mehrfacher Risikofaktoren möglich machen. Das über die Zeit wenige dazu vorhandene Wissen sowie die zu er- wartende große Spannbreite an Handlungswei- sen erforderte ein exploratives Vorgehen, für das Für die Beschreibung individueller Verläufe muss die qualitativen Erhebungen genutzt wurden. Da- die Vergleichbarkeit der gebildeten Lebenslagen zu begleitete die AWO-ISS-Studie den Lebens- gewährleistet sein. Vor allem war das Risiko zu weg von Kindern, die als Sechsjährige in Armut, minimieren, dass Veränderungen des Lebensla- aber in gänzlich unterschiedlichen Lebenslagen getyps das Ergebnis einer veränderten Metho- lebten sowie trotz eines gesicherten finanziellen dik sind. Deshalb wurde die Vorgehensweise Rahmens mehrfach stark benachteiligt waren. der Indexbildung in allen Studienteilen weitest- gehend beibehalten. Der Analyse liegen die Erzählungen der Mäd- chen und Jungen im Alter von acht, zwölf und Die Gefahr eines methodischen Artefakts auf- siebzehn Jahren sowie die Aussagen ihrer Eltern grund einer gravierend veränderten Stichproben- – überwiegend die der Mütter – zugrunde. zusammensetzung wird als gering eingeschätzt: Denkbar wäre, dass das Niveau des Grenzwer- Durch das offene Vorgehen werden Aspekte tes für eine „Auffälligkeit“ steigt, je weniger Ar- erfasst, die die Mädchen und Jungen und ihre me in der Stichprobe sind. Gegenüber der letz- Eltern als wichtig erachteten. Sichtbar werden ten Befragung 2003/04 hat sich der Anteil der das individuelle Zusammenspiel von Ressour- Jugendlichen, die 1999 einkommensarm waren, cen, Problemlagen, biografisch auftretenden kri- jedoch nicht wesentlich verändert. Auch die Zu- senhaften Ereignissen und den Reaktionen der sammensetzung hinsichtlich des Lebenslage- Familie darauf sowie unterschiedliche Bewälti- typs 1999, nach Geschlecht und Staatsangehö- gungswege und deren Konsequenzen. Die Fall- rigkeit, variierte gegenüber der letzten Studie im analysen zum Lebensverlauf von fünf jungen Jahre 2003/04 nicht gravierend. Eine Panelmor- Menschen bilden einen einmaligen Fundus an talität mit höheren Ausfällen von Einkommens- Erkenntnissen zum Aufwachsen unter dem Ein- armen und multipel Deprivierten in den Untersu- fluss von Armut und zum Bewältigungshandeln chungsjahren 1999 und 2003/04 ist zwar vorhan- aus der Sicht der Betroffenen selbst. den, aber nicht signifikant. Erfassung der Lebensverlaufsperspektive Erforschung von Resilienz und Bewältigungshandeln Sie erfolgte sowohl über quantitative als auch über qualitative Erhebungen (vgl. Abb. 3). Neben der Analyse der Lebenssituation und der Die Längsschnittbetrachtung ermöglicht den ungleichen Chancen armer junger Menschen Blick auf Veränderungen der Lebenssituation liefert die AWO-ISS-Studie Hinweise, wie ein der Kinder beziehungsweise Jugendlichen und gelingendes Aufwachsen trotz Armut möglich des Lebensstandards im Haushalt: Gibt es Hin- sein kann. weise darauf, dass sie dauerhaft in Armut auf- gewachsen sind oder handelte es sich um eine Unter dem Konzept „Resilienz“ werden perso- Übergangsphase? Hat sich die materielle Situati- nale, familiäre und Umweltbedingungen zusam- on des Haushalts, in dem der junge Mensch auf- mengefasst, die eine gute Entwicklung trotz wächst, verschlechtert oder verbessert?
10 15 Jahre AWO-ISS-Studie im Überblick Abb. 3: Untersuchungsaspekte der AWO-ISS-Studie im Längsschnitt Quelle: Eigene Darstellung. Situation 1999 Situation 2003/4 Situation 2009/10 Analysebereiche Aufstieg = Verbesserung Armut Wie hat sich der Lebenslagedimensionen Jugendliche entwickelt? Konstanz Lebenslagetypen a) positiv Welche Zukunftsprognosen b) negativ Nutzung sozialer Hilfen lassen sich treffen? Abstieg =Verschlechterung Quelle: Eigene Darstellung Im Mittelpunkt standen insbesondere die Bil- Lebensverlauf Hinweise auf mögliche Schutz- dungsverläufe und der Einfluss der Armutser- faktoren von armen Jungen und Mädchen lie- fahrung unter Kontrolle anderer Merkmale, wie fern. z. B. sozialer Ressourcen. Die Betrachtung der Lebenslagetypen des Ein- 4. Zur Repräsentativität zelnen eröffnet den Blick auf Armut als Entwick- lungsrisiko und geschieht durch den Vergleich Die Zahlen der AWO-ISS-Studie sind nicht re- nach Präsenz von frühen Armutserfahrungen so- präsentativ für Deutschland, da ausschließlich wie den Vergleich der Extremgruppen (d. h. im- junge Menschen befragt wurden, die ehemals mer und niemals arme Kinder beziehungsweise AWO-KiTas besuchten und die Auswahl der Jugendliche). Stichprobe im Jahr 1999 bewusst so gezogen wurde, dass der Anteil armer Familien möglichst Leitende Fragestellung war hierbei, wie sich die hoch war. Für den KiTa-Träger AWO ist aufgrund gesamte kindspezifische Lebenslage entwickelt der hohen Befragtenzahl und des hohen Rück- hat: Welche Kinder konnten anfängliche Benach- laufes daher eher eine Repräsentativität anzu- teiligungen zu einem späteren Zeitpunkt ausglei- nehmen. chen? Wer hat Verschlechterungen seiner Res- sourcen erlebt? Wo finden sich konstant gute Weiterhin kann davon ausgegangen werden, dass oder schlechte Bedingungen über den gesamten die inhaltlichen Ergebnisse über die Auswirkun- Zeitraum von zehn beziehungsweise elf Jahren? gen und Zusammenhänge von Armut und der Le- benssituation der jungen Menschen übertragbar Der Vergleich von potentiell fördernden und sind. Dabei ist eher eine Unterschätzung als eine schädigenden Bedingungen auf personaler, fa- Überschätzung der Armutsfolgen zu vermuten. miliärer und außerfamiliärer Ebene trotz Armut sollte nicht nur im Querschnitt, sondern auch im
15 Jahre AWO-ISS-Studie im Überblick 11 Die Zahlen lassen verallgemeinerbare Tendenz- Im Folgenden werden die bisherigen vier Pha- beschreibungen und Rückschlüsse zu und die- sen der Studie skizziert und die wichtigsten Be- nen dazu, blinde Flecken aufzudecken, die in funde dargestellt. Zuletzt werden die Meilen- weiterführenden Forschungsarbeiten anhand steine der Gesamtstudie mit Blick auf die Hand- großer Datensätze vertiefend erforscht werden lungsempfehlungen zusammengefasst. sollten.
12 15 Jahre AWO-ISS-Studie im Überblick Die vier Forschungsphasen und zentrale Ergebnisse Im Folgenden werden die bisherigen vier Pha- „Armut zeigt sich grundsätzlich sen der Studie skizziert und die wichtigsten Be- mit zwei Gesichtern: materiell und funde dargestellt. Zuletzt werden die Meilen- immateriell. Je nachdem mit welchem steine der Gesamtstudie mit Blick auf die Hand- Hilfeersuchen die Kinder/Eltern an lungsempfehlungen zusammengefasst. die Beratungsstelle beziehungsweise die Schuldnerberatung herantreten, steht erst einmal die materielle oder 1. Erststudie: Armut im Vorschulalter immaterielle Armut im Vordergrund. Im (1997 bis 2000) weiteren Beratungsverlauf zeigt sich dann aber jeweils die andere Seite.“ Die Anfänge der AWO-ISS-Studie bildeten so- (Gesprächsauszug Beratungsstelle im wohl eine umfassende Literaturanalyse und Stadtteil) Literaturdokumentation zum damaligen For- schungsstand über Armut bei Kindern und Ju- Danach folgte 1999 die Erhebung aus Erziehe- gendlichen als auch eine teilstandardisierte Er- rinnensicht zu rund 1.000 sechsjährigen Kin- hebung von über 2.700 AWO-Einrichtungen. dern in 60 AWO-KiTas, bundesweit verteilt. In zwei Untersuchungsschritten – einer quantita- Durch diese war es möglich, mehr über die Ar- tiven und einer qualitativen Erhebung der Fa- beit des Verbandes in Bezug auf (arme) Kinder milien – wurden Analysen zu den Lebensla- und Jugendliche zu erfahren sowie fundierte Er- gen und den Zukunftschancen von armen Kin- kenntnisse zur Wahrnehmung von und zum Um- dern im Vorschulalter und vor dem Wechsel in gang mit Armut durch Fachkräfte in der Kinder-, die Grundschule durchgeführt. Es wurden zu- Jugend- und Familienhilfe zu gewinnen. Das Au- gleich Grundzüge einer kindzentrierten Armuts- genmerk wurde auf die „Formen und Folgen forschung skizziert. Durch die Verknüpfung von von Armut bei ausgewählten Gruppen von Kin- Denklinien der Kindheitsforschung und der Ar- dern und Jugendlichen“ gelegt. mutsforschung gelang eine konzeptionelle Er- weiterung in den beiden Bereichen. Wesentli- Die Leitfadeninterviews mit über 70 Fachkräften che Erkenntnisse der Studie sind: verschiedener Einrichtungen aus dem Bereich Kinder-, Jugend- und Familienhilfe der AWO Familiäre Armut hat bereits im Vorschulal- machten deutlich: Ein eindimensionaler, rein ma- ter bei einem großen Teil der Kinder nega- terieller Armutsbegriff ist den Fachkräften aus der tive Folgen für die kindliche Lebenssituati- Praxis Sozialer Arbeit fremd. on (vgl. Tab. 1), Armut ist ein zentrales Ent- wicklungsrisiko. „Armut“ heißt aus Sicht derer, die Soziale Arbeit und Erziehungsarbeit leisten, zwar auch mate- Neben Armut beeinflussen weitere Fakto- rielle Unterversorgung, besonders betont wer- ren die kindliche Entwicklung, insbesonde- den jedoch emotionale/seelische Defizite sowie re die Zuwendung zum Kind innerhalb der Benachteiligungen im kulturellen und sozialen Familie und das Ausmaß gemeinsamer Ak- Bereich: Armut bei Kindern und Jugendlichen tivitäten. muss mehrdimensional gesehen werden.
15 Jahre AWO-ISS-Studie im Überblick 13 Tab. 1: Lebenslagen der Sechsjährigen nach Armut – 1999 Anteil der Sechsjährigen mit „Auffälligkeiten“ Lebenslagedimension Arm Nicht arm Materielle Lage 1) 40 % 15 % Soziale Lage 2) 36 % 18 % Gesundheitliche Lage 3) 31 % 20 % Kulturelle Lage4) 36 % 17 % 1) n = arm: 200, nicht arm: 588; 2) n = arm: 219, nicht arm: 618; 3) n = arm: 225; nicht arm: 640; 4) n = arm: 223, nicht arm: 614; gerundete Pro- zentangaben. Quelle: „Armut im Vorschulalter 1999“, eigene Berechnung. Es gibt keinen Automatismus zwischen Ar- 2. Vertiefungsstudie: Armut im frühen mut und kindlicher Entwicklung. Aufwach- Grundschulalter (2000 bis 2002) sen unter Armutsbedingungen führt nicht zwangsläufig zu multipler Deprivation. Der Ansatz der ersten Studie wurde konsequent fortgesetzt, indem Grundlagenforschung in ei- Für arme Kinder, die im Wohlergehen nem engen Theorie-Praxis-Transfer stattfand, aufwachsen, erwiesen sich folgende um die neuen Erkenntnisse – basierend auf Pra- Faktoren als förderlich: xiswissen – zeitnah und umsetzungsorientiert in den konkreten Arbeitsalltag Sozialer Arbeit rück- (a) Deutschkenntnisse mindestens eines fließen zu lassen. Elternteils bei nicht deutschen Eltern, (b) das Freisein von Überschuldung, Forschungsschwerpunkte waren (a) das Bewälti- (c) ausreichender Wohnraum sowie gungshandeln der Kinder, (b) mögliche Ressour- (d) regelmäßige gemeinsame familiäre Ak- cen und Kompetenzen sowie (c) Fragen zur Res- tivitäten. ilienz von Kindern bei Armut. Soziale Hilfen erhalten die KiTa-Kinder und Erhoben wurden durch eine Kinder- und Eltern- ihre Eltern durchaus, aber die Passgenau- befragung Daten zu 184 Kindern (etwa 20 % der igkeit, also wer welche Unterstützung nutzt Erstbefragung) in drei Kontrastgruppen: beziehungsweise nutzen kann, ist eher ge- ring. Arme Kinder, die trotz familiärer Armut kei- ne offensichtlichen, nachweisbaren Benach- Armut hat ein spezifisches Kindergesicht, teiligungen oder Beeinträchtigungen aufwie- dieses lässt sich als kindliche Lebenslage sen, weder im materiellen noch im immate- auch empirisch nachweisen. riellen Bereich (arm, im Wohlergehen).
14 15 Jahre AWO-ISS-Studie im Überblick Arme Kinder, die massive Auffälligkeiten und des Vaters, Nutzung von sozialen Einrichtun- beziehungsweise Beeinträchtigungen in gen) beinhalten, die die Herausbildung der Res- verschiedenen Bereichen aufwiesen (arm, sourcen und Kompetenzen des Kindes beein- multipel depriviert). flussen. Ebenso müssen außerfamiliäre Förder- angebote und Sozialisationsinstanzen wie KiTa Nicht arme Kinder, die massive Auffällig- und Schule als entscheidende Einflussfaktoren keiten beziehungsweise Beeinträchtigun- betrachtet werden, die durch ihre Arbeitsansät- gen in verschiedenen Bereichen aufwiesen ze, die Qualität ihrer Aktivitäten, das Angebots- (nicht arm, multipel depriviert). spektrum usw. die Kinder gezielt fördern und stärken (sollen) und damit Schutzfaktoren für ei- Herzstück der Vertiefungsstudie war die quali- ne positive kindliche Entwicklung sein können. tative Analyse der Lebenssituation der nun acht- jährigen Kinder und ihrer Familien anhand von Aus den umfangreichen Fallanalysen ergaben 27 Fallbeispielen. Dabei wurden die Ressour- sich folgende zentrale Erkenntnisse: cen sowie Bewältigungskapazitäten (Coping) der Teilnehmenden herausgearbeitet. Es sollten Frühe und anhaltende familiäre Armut be- positive Ansatzpunkte für die Arbeit mit armen stimmt wesentlich die Lebenssituation der beziehungsweise multipel deprivierten Kindern Mädchen und Jungen und wirkt sich in al- und ihren Familien gefunden werden. len Lebenslagen aus. Besonders deutlich sind die Folgen in der materiellen und kul- Damit erfolgte ein grundlegender Paradigmen- turellen Lage sichtbar. Auswirkungen sind wechsel von einem traditionellen Ansatz der ebenso in den familiären und sozialen Be- Kindheitsforschung – mit seiner Orientierung an ziehungen sowie durch Einschränkungen in Risikofaktoren und Belastungen – hin zu einem den Erlebnis- und Erfahrungsräumen gege- modern(er)en Verständnis mit der Erforschung ben. von „Schutzfaktoren“ und Bewältigungsmecha- nismen. Über welche individuellen, sozialen und Das Ausmaß von Armutsfolgen bei Kindern kulturellen Ressourcen ein Mensch bereits im im frühen Grundschulalter wird zum einen frühen Kindesalter beziehungsweise im Grund- durch die konkreten Belastungen der Fami- schulalter verfügt und welche Handlungsstrate- lien und das elterliche Bewältigungsverhal- gien respektive welches Bewältigungshandeln ten geprägt. Zum anderen wirken vorhan- von Kindern bei Belastungen entwickelt werden, dene außerfamiliäre Unterstützungssyste- rückt auch in Deutschland ins Zentrum von For- me. schung und Praxis. Die Überwindung einer Armutssituation ge- Eine besondere Beachtung muss dabei Kin- lingt den Eltern nur, wenn sie über zentra- dern in Armut zukommen. Daneben zeigen die le arbeitsmarktrelevante Ressourcen ver- Ergebnisse der Kindheits-, Sozialisations- und fügen, die vor allem in so genannten Mul- Familienforschung, dass die familiären und au- tiproblemfamilien meist nicht vorhanden ßerfamiliären Ressourcen auf die (früh)kindliche sind. Entwicklung einwirken und eine Vielzahl von in- tervenierenden Variablen (z. B. Erziehungsstil, Komplexe Belastungen der Familien, die soziale Kompetenz, elterliche Problembewälti- die Eltern subjektiv als nicht mehr kontrol- gungs- und Alltagskompetenz, Rolle der Mutter lierbar oder beeinflussbar erleben und die
15 Jahre AWO-ISS-Studie im Überblick 15 das Gefühl der Überlastung erzeugen, wir- cen: Die Armutsfolgen fallen jetzt drama- ken sich negativ auf das Erziehungsverhal- tischer aus als am Ende der Kindergarten- ten der Eltern und die Förderung der Kin- zeit. Als dominierender Faktor erweist sich der aus. die finanzielle Lage der Familie. Insgesamt betrachtet ist zwischen 1999 und 2003/04 Grundschulkinder aus armen Familien nei- eine große Bewegung in beide Richtungen gen eher zu einem problemvermeidenden (zu Verbesserung oder Verschlechterung) zu Bewältigungsverhalten. Die Bewältigungs- beobachten. muster zeigen bereits geschlechtsspezifi- sche Prägungen. Die Lebenswelt von armen und nicht ar- men Kindern geht immer weiter auseinan- Das professionelle Hilfesystem weist gro- der. Für arme Kinder zeigt sich vermehrt ein ße Lücken in der Unterstützung und Hilfe Verlauf des „Fahrstuhl nach unten“, wäh- für arme und belastete Grundschulkinder rend für nicht arme eher der Verlauf mit ei- respektive deren Familien auf. nem „Fahrstuhl nach oben“ gilt. Nicht sel- ten haben beide Gruppen im Alltag kaum mehr etwas miteinander zu tun. 3. Wiederholungsstudie: Armut bis zum Ende der Grundschulzeit (2003 Die Entwicklung der Kinder zeigt sich sehr bis 2005) differenziert, es gibt keine Automatismen zwischen familiärer Armut und kindlichen In der Wiederholungsbefragung sollten alle Defiziten, aber enge Verbindungen. Es kann 1999 letztendlich einbezogenen 893 Kinder be- nicht automatisch der Schluss gezogen fragt werden. Davon nahmen 500 erneut in Form werden „einmal arm – immer arm“ oder einer Kinder- und Elternbefragung teil. Zehn jun- „einmal multipel depriviert – immer multi- ge Menschen und ihre Eltern standen wieder für pel depriviert“. Die Lebensentwicklung von die vertiefenden Fallanalysen zur Verfügung. armen Kindern vollzieht sich vielfältiger und komplexer. Forschungsschwerpunkte waren (a) die Erfassung der Lebenslage der jetzt Zehnjährigen, (b) der Armut ist ein großer und weitreichender Ri- Entwicklungsverlauf aller Kinder bis zum Ende sikofaktor für die kindliche Entwicklung. Ar- der Grundschule und vor dem Übergang zu den me Kinder verfügen aber auch über Schutz- weiterführenden Schulen sowie (c) die Bewälti- faktoren (z. B. im Bereich des Wohlbefin- gung der Armutssituation durch Kinder und El- dens des Kindes, des Bildungshintergrun- tern. Diese drei Fokusse, in der 1. oder 2. Studie des der Eltern, des schulischen Umfelds, entwickelt, wurden nun zusammen- und fortge- der Netzwerke und Familienaktivitäten), die führt. – je umfangreicher sie vorhanden sind und genutzt werden können – einen positiven Wesentliche Ergebnisse waren folgende: Lebensverlauf mit prägen. Je früher und je länger Kinder unter Armuts- bedingungen aufwachsen, desto größer sind die negativen Auswirkungen auf ihren Entwicklungsverlauf und die Zukunftschan-
16 15 Jahre AWO-ISS-Studie im Überblick Ein positives Aufwachsen trotz Armut wird gefördert durch folgende Faktoren: Keine Armut in der Familie Individuelle Faktoren • Ausreichendes Einkommen • Kognitive Fähigkeiten • Keine Überschuldung • Selbstachtung, Selbstsicherheit, Selbst- wirksamkeit • Individuelle soziale Kompetenzen Innerfamiliale Faktoren Außerfamiliale Faktoren • Stabile und gute emotionale Beziehung zu • Unterstützung durch Dritte den Eltern in den ersten Jahren (Familie, Freunde, Nachbarschaft) • Positives Familienklima • Erholungsräume für Kinder und Eltern • Regelmäßige gemeinsame Familienakti- • Vertraute Institutionen/Fachkräfte, die vitäten professionelle Hilfen eröffnen • Kindzentrierter Alltag • Möglichkeit zum Erproben, Lernen und zur personalen Entwicklung von Kompetenzen • Frühe Eigenverantwortung, aber Eltern als (Vereine, Jugendhilfe) „moralische Instanz“ • Früher KiTa-Besuch • Problemlösungskompetenz der Eltern • Gelingende schulische Integration • Gefühl der Eltern, ihre (Armuts)Situation zu bewältigen • Schulische Förderung und Erfolge • Berufstätigkeit der Eltern • Gelingende soziale Integration in Peers Quelle: Armut im frühen Grundschulalter 2001; Armut im späteren Grundschulalter 2003/04. Schutzfaktoren sind zum Beispiel enge reiche Schulkarriere zu ermöglichen. Aber emotionale Beziehungen zu mindestens auch bei einem guten Bildungsniveau ar- einer Bezugsperson, ein hohes Ausmaß mer Eltern sind ihre Kinder im Vergleich zu wahrgenommener sozialer Unterstützung, nicht armen Schüler/innen weniger erfolg- Freundschafts- und Verwandtschaftsnetz- reich hinsichtlich guter Noten und des ge- werke sowie das Erleben von Erfolg und lungenen Übergangs auf weiterführende Leistung in der Schule und/oder durch sozi- Schulen. Bei gleich gutem Bildungsniveau ale Aktivitäten, die Verantwortung und Kre- der Mutter (das heißt mindestens Real- ativität fördern. schulabschluss) sind die Chancen nicht ar- mer Kinder mehr als viermal höher als die Die armen Eltern haben ein deutlich gerin- Chancen armer Kinder, auf ein Gymnasi- geres Bildungsniveau, womit größere psy- um zu kommen. Bei gleich schlechtem Bil- chosoziale und materielle Schwierigkeiten dungsniveau der Mutter (das heißt maximal verbunden sind, den Kindern eine erfolg- Hauptschulabschluss) sind die Chancen nicht armer Kinder mehr als doppelt so gut.
15 Jahre AWO-ISS-Studie im Überblick 17 Über die Hälfte der armen Familien hat kei- beruflichen Ausbildung oder in den Beruf, nes der abgefragten Angebote von Sozia- (c) jugendspezifische Fragestellungen mit Blick len Diensten genutzt. Selbst im Falle sicht- auf die Bewältigung der mittleren Jugend und barer multipler Deprivationserscheinungen (d) die Bewältigung der Armutssituation durch der Kinder erhalten etwa nur 60 % von ih- Jugendliche und Eltern. nen unterstützende Angebote. Die kindbe- zogenen Hilfen kommen dann am besten Neben den Analysen hinsichtlich Armut wurden bei den armen Kindern an, wenn sie auf spezifische Gruppenvergleiche zwischen armen die schulischen Belange, wie zum Beispiel Jugendlichen mit und ohne Migrationshinter- Hausaufgabenhilfe, ausgerichtet sind. grund, armen Jungen und Mädchen sowie Ju- gendlichen in SGB-II-Haushalten und „nur“ ein- Alle Aussagen der qualitativen Analyse weisen kommensarmen Familien ohne SGB-II-Bezug in eine Richtung: Konkrete soziale Hilfen im Ein- vorgenommen. zelfall sind schwer zu bekommen, haben kürze- re Laufzeiten und werden oft weniger intensiv Der Entwicklungsverlauf über zehn Jahre hin- gestaltet. Vor allem KiTas aber auch Schulen be- weg vom KiTa-Alter bis zur mittleren Jugend mühen sich, die vorhandenen Defizite auszuglei- wurde nicht nur mit Blick auf die Armutsbetrof- chen, können in der Regel jedoch weder auf ge- fenheit und Lebenslagen, sondern auch in Be- eignete Unterstützungsstrukturen, ausreichen- zug auf den Schulverlauf und auf ein Aufwach- de finanzielle Rahmenbedingungen, noch auf sen der jungen Menschen zwischen „Wohler- ein entsprechendes Normensystem zurückgrei- gehen“ und „Multipler Deprivation“ betrachtet. fen, um den Bedarf selbst oder mit Kooperati- onspartnern zu decken. Neben den Datenanalysen skizzieren Fallbe- schreibungen den Lebensweg von fünf jungen Menschen. Durch die Berichte dieser Jugendli- 4. Wiederholungsstudie: Armut am chen wird deutlich, welche komplexen Zusam- Ende der Sekundarstufe I menhänge Armut hat und welche Risikofaktoren (2009 bis 2012) wirken, aber vor allem auch, welche Schutzfak- toren bestehen. Bei der bisher letzten Untersuchung handelt es sich um eine weitere Wiederholungsbefragung Im Rahmen dieser Studienphase wurden wei- der 1999 letztendlich einbezogenen 893 Kinder terhin zwei Expertisen erstellt, die während der und deren Eltern. Daran nahmen nun 449 wie- Projektarbeit entwickelte Fragestellungen ver- der teil. Zusätzlich gelang es, alle zehn jungen tiefend aufgreifen. Zum einen wurden die Da- Menschen aus den Fallbeispielen erneut zu in- tensätze der Erhebungen 1999 und 2003/04 in terviewen, ebenso ihre Eltern. Bezug auf einen möglichen Zusammenhang von „Armut und Familienform“ ausgewertet (vgl. Forschungsthemen waren: Wüstendörfer 2011). Zum anderen wurde der Frage nach „Gestaltungsansätzen der Jugend- (a) die Erfassung der Lebenslage der jetzt hilfe zur Bildungsförderung armer Jugendlicher 16-/17-Jährigen, im Übergang Schule-Beruf“ nachgegangen (vgl. (b) der Entwicklungsverlauf aller Jugendlichen Brülle et al. 2011). seit dem Kindergartenalter und bis zum Ende der Sekundarstufe I und vor dem Übergang zur
18 15 Jahre AWO-ISS-Studie im Überblick Abb. 4: Lebenslagetypen der 16-/17-Jährigen und aktuelle Armut – 2009/10 51% 44% 39% 37% 19% 11% Arme Jugendiche Nicht arme Jugendliche Wohlergehen Benachteiligung Multiple Deprivation n = 416; nicht arme Jugendliche: 308; arme Jugendliche: 108. Quelle: AWO-ISS-Kinderarmutspanel 2009/10, eigene Berechnung. Wesentliche Ergebnisse des bisher letzten For- ben einen höheren Bildungsabschluss an schungsprojektes waren: und sie besuchen häufiger Gymnasien oder Gesamtschulen. Armut wirkt komplex auf das Leben der 16-/17-Jährigen, aber die stärksten Effekte Dies mag erstaunen: Generell stellt ein finden sich nun in Bezug auf ihre materielle „Migrationshinweis“ einen strukturellen und kulturelle Lage. Risikofaktor mit weitreichenden sozial be- nachteiligenden Folgen dar. Die gesamte Lebenssituation armer Ju- gendlicher zeichnet sich deutlich selte- Alle Erhebungen der AWO-ISS-Studie be- ner durch „Wohlergehen“ und wesentlich legen aber, dass die ökonomische Lage häufiger durch „Multiple Deprivation“ (vgl. und nicht der kulturelle Hinweis entschei- Abb. 4) aus. dend für die kindliche Lebenslage und den Lebensverlauf sind. Mit der vierten Studie Arme Jugendliche mit Migrationshinter- wird nun zusätzlich ein Hinweis gegeben, grund sind häufiger im Typ „Wohlergehen“ noch differenzierter – nämlich innerhalb der und seltener im Typ „Multiple Deprivati- armutsbetroffenen Gruppe – zu schauen, on“ zu finden als arme Deutsche: Sie kön- um bestehenden Stereotypen und Vorurtei- nen häufiger sparen, ihre Wohnumgebung len entgegenzuwirken. ist besser, sie rauchen und trinken regel- mäßig weniger, haben weniger Unfälle und Die Jugendlichen sind in einer Entwicklungs- Krankheiten, treiben mehr Sport, sind sub- phase, in der Berufs- und Familienorientierung jektiv zufriedener mit ihrer Gesundheit, stre- wichtig sind und sie wollen beides.
15 Jahre AWO-ISS-Studie im Überblick 19 Abb. 5: Armutsbetroffenheit als 6- und 16-/17-Jährige – Vergleich 1999 und 2009/10 82% 1999 Nicht arm: 77% 18% 43% 1999 57% Arm: 23% 2009/10 Arm 2009/10 Nicht arm n = 404 (nur Befragte mit gültigen Angaben für 1999 und 2009/10). Quelle: AWO-ISS-Kinderarmutspanel 2009/10, eigene Berechnung. Die eigene Familie ist im Leben der Kinder sind zehn Jahre später dreimal so 16-/17-Jährigen weiter wichtig und die El- oft multipel depriviert (arm: 30 % vs. nicht tern – besonders die Mütter – sind als Be- arm: 12 %) (vgl. Abb. 6). rater/innen und bei der Suche nach dem richtigen Beruf von herausragender Bedeu- Die Bildungsbiografien und -ergebnisse un- tung. terscheiden sich deutlich nach Armut: Ar- me Jugendliche erreichen nicht nur am Wie schon in der dritten Studie angedeu- häufigsten allenfalls ein niedriges Bildungs- tet, gilt die Aussage „einmal arm – immer niveau, sie haben auch im Verlauf ihrer arm“ nicht. 43 % der 1999 armen Familien Schulzeit häufiger und mehrfach Brüche, gelang bis 2009/10 der Ausstieg aus der Ar- Umwege und Wiederholungen erlebt. mut, aber 57 % nicht (vgl. Abb. 5). Erstaunlich ist die Prognosekraft der frü- Jedes zweite ehemals arme KiTa-Kind hen Armut auf den späteren Schulerfolg. (51 %) ist bis 2009/10 dauerhaft in Armut Arme Kinder schließen als 16-/17-Jährige aufgewachsen. Umgekehrt hat die große die Schule häufiger ohne Abschluss oder Mehrheit der 1999 ehemals nicht armen mit einem Förder- beziehungsweise Haupt- Kinder (78 %) danach keine Armut erfahren schulabschluss/ -besuch ab (arm: 41 % vs. nicht arm 27 %). Auf dem Weg zum (Fach) Je länger ein junger Mensch in Armut auf- Abitur sind 27 % der Armen und 46 % der wächst, desto geringer ist seine Chance für nicht Armen. Noch deutlicher werden die ein „Wohlergehen“ und desto größer das Zusammenhänge zwischen dem aktuellen Risiko der „Multiplen Deprivation“. Arme Lebenslagetyp und dem Bildungsniveau:
20 15 Jahre AWO-ISS-Studie im Überblick Abb. 6: Armutsbetroffenheit als 6-Jährige und Lebenslagetyp als 16-/17-Jährige – 1999 und 2009/10 12% 49% 1999 Nicht arm: 39% 77% 30% 52% 1999 Arm: 23% 18% Wohlergehen 2009/10 Benachteiligung 2009/10 Multiple Deprivation 2009/10 n = 404 (nur Befragte mit gültigen Antworten 1999 und 2009/10). Quelle: AWO-ISS-Kinderarmutspanel 2009/10, eigene Berechnung. Jugendliche im „Wohlergehen“ finden sich Die sozialen Dienste/Hilfen werden von kaum in Förder-/Hauptschulen, während der Gruppe der armen beziehungsweise sich hier Jugendliche in „Multipler Depriva- multipel deprivierten 16-/17-Jährigen und tion“ konzentrieren. ihren Familien nun häufiger genutzt als von anderen Gruppen. Auch haben fast al- In den Entwicklungsverläufen der jungen le Armutsbetroffenen im Laufe der letz- Menschen deuten sich einige Schutzfakto- ten zehn Jahre mindestens eine Hilfe in ren an, die zum einen auf die Stärkung per- Anspruch genommen. Auffallend – vor al- sönlicher Kompetenzen und zum anderen lem bei den am stärksten belasteten Grup- auf ihr Eingebunden sein in ein breites und pen – ist erneut die begrenzte Passgenau- zuverlässiges Netz abzielen. Eine herausra- igkeit sowie herausragend das Muster ei- gende Rolle haben Eltern beziehungsweise ner punktuellen und zeitlich begrenzten die Familie, aber auch außerfamiliäre An- statt einer kontinuierlichen Unterstützung. sprechpartner/innen sind von Bedeutung.
15 Jahre AWO-ISS-Studie im Überblick 21 5. Handlungsempfehlungen der Studie Aufdeckung blinder Flecken Hinweise auf gesell- schaftliches Handeln zu liefern. So wurden in al- Die Studien zeigen zusammengenommen ein len Phasen Handlungsempfehlungen für Praxis, detailliertes Bild der Lebenssituation von armen Politik und Wissenschaft erstellt. Diese Empfeh- und nicht armen Sechsjährigen und deren Ent- lungen – manche wurden schon vor zwölf Jah- wicklung an den wichtigen Übergängen bis hin ren erstmals formuliert – sind noch heute hoch zum mittleren Jugendalter. Neben dem Fokus aktuell, wenngleich Schritte in die richtige Rich- auf die Armutssituation und den kindbezogenen tung getan wurden. Folgen familiärer Armut ziehen sich die Themen- schwerpunkte materielle Grundversorgung, Bil- Bereits nach der ersten Studienphase wurden dungskarriere, Schutzfaktoren sowie Soziale Hil- im Jahr 2000 folgende Empfehlungen ausgespro- fen durch alle Phasen hindurch. chen: Ein wichtiges Anliegen der AWO-ISS-Studie war es stets, aus den neuen Erkenntnissen und der xx Armutsprävention ist eine zentrale gesellschaftliche Aufgabe. Handlungsempfehlungen xx Es besteht die Notwendigkeit einer Qualifizierung und Sensibilisierung der Fachkräfte zur Armutsthematik sowie eine Vernetzung auf vertikaler und horizontaler Ebene. xx Die Weiterentwicklung und Verstärkung von Angeboten der El- tern- und Familienbildung ist erforderlich. 2000 xx Eine Verbesserung von Strukturen, wie der rechtlichen Situation der Kinder von Asylsuchenden, der Einkommenssi- tuation von Kindern und Familien, der Arbeitsmarktpolitik und beruflicher Hilfeplanung, die Verbesserung und der Ausbau au- ßerhäuslicher Betreuungsangebote, der Ausbau und die kos- tenlose Teilhabe an Freizeit- und kulturellen Angeboten, ist durchzusetzen. xx Es besteht die Notwendigkeit, auch in der Sozialberichterstat- tung gezielt darüber zu informieren, inwieweit durch vorhan- dene Maßnahmen Armut von Kindern und Jugendlichen überwunden werden kann.
22 15 Jahre AWO-ISS-Studie im Überblick Mit dem Fokus auf Schutzfaktoren und auf die Schule als fortan wichtigem Lern- und Erfahrungsort der jungen Menschen wurden in den folgenden Studien 2003/04 und 2009/10 noch weiterführende Em- pfehlungen formuliert: xx Es ist an den Ressourcen der Kinder und ihren Familien anzu- setzen. xx Der Aufbau von Präventionsketten muss gefördert werden, wonach ab der Schwangerschaft bis zum Übergang in den Be- Handlungsempfehlungen ruf eine bedürfnisgerechte Begleitung und Unterstützung von Kindern und Eltern umzusetzen ist. 2003/04 und 2009/10 xx Dabei ist eine systematische Vernetzung verschiedener Akteu- re, zum Beispiel der Kinder- und Jugendhilfe, der Familienhilfe und -bildung, der Schule, der Gesundheitsdienste sowie priva- ter und öffentlicher Anbieter von zentraler Bedeutung. xx Weiterhin wurde die Bildungspolitik mit Eintritt in die Grund- schule ein wichtiges Thema. Besonders im Bildungsbereich muss die Armutssensibilität verstärkt werden und eine Umori- entierung der bisher mittelschichtsorientierten Bildungsdiskus- sion hin zu passgenauer Förderung von sozial benachteiligten und armen Kindern erfolgen. xx Der Ausbau von ganztägigen Betreuungsangeboten und Ganz- tagsschulen ist fortzusetzen. xx Die Sicherung und Förderung der Erwerbstätigkeit beider El- tern, die flächendeckende Einführung von Mindestlöhnen so- wie eine bedarfsgerechte Kindergrundsicherung sind mögliche Lösungswege.
15 Jahre AWO-ISS-Studie im Überblick 23 Wird ein Gesamtfazit gezogen, dann muss heute dungssystems mit dem Anspruch sozia- konstatiert werden: Umfang und Folgen von Ar- ler Inklusion statt systematischer Selek- mut in Kindheit und Jugend werden nachwievor tion nach sozio-ökonomischer Lage und öffentlich und politisch unterschätzt. Bildungsherkunft, ebenso wie der Ausbau und die Weiterentwicklung der Kinder- und Es sind zum einen dringend gesellschaft- Jugendhilfe. Sie ist Interessensvertretung liche Rahmensetzungen erforderlich, die und Unterstützungsangebot für alle jungen die finanzielle Situation von armen Familien Menschen und deren Familien. verbessern. Dazu zählen arbeitsmarkt-, so- zialversicherungs-, steuerrechtliche und fa- Armutsprävention hat das Ziel der Vermeidung milienpolitische Verbesserungen. der durch die Studie so eindrücklich dargelegten (Langzeit)Folgen familiärer Armut. Dabei müs- Ebenso gehört dazu eine systematische Un- sen individuelle Förderung (also verhaltensbezo- terstützung, Entlastung und Qualifizierung gene Ansätze) und strukturelle Prävention (also der Eltern, egal ob arm oder nicht arm. Sie verhältnisbezogene Ansätze) gleichwertige Teile sind für ihr Kind existenziell wichtig als emo- eines in sich stimmigen Konzeptes sein. Ganz tionaler Rückhalt, als Vorbild, als lebensprak- besonders gefordert sind hier die Kommunen, tische Förder(er)/in und Begleiter/in, egal ob da sie der Lebensort von Kindern sind, aber ge- es sechs, acht, zehn oder 17 Jahre alt ist. nauso die Träger, Einrichtungen und Fachkräfte. Eltern wollen das Beste für ihr Kind, ob ih- Sie sind es, die noch viel stärker als bisher ar- nen das immer möglich ist, darüber ent- mutssensible und präventionsorientierte Ange- scheidet nicht zuletzt auch ihr Einkommen. bote gestalten müssen, die passgenau die Ent- wicklungs- und Lebensbedarfe vor allem der Die AWO-ISS-Studie weist aber zudem auf armen und/oder sozial benachteiligten jungen eine geschlechtsspezifische elterliche Rol- Menschen aufgreifen und ihnen damit zugleich lenverteilung und eine damit verbundene Chancen der Teilhabe sichern. ungleiche Verantwortungsübernahme zu Lasten der Mütter hin. Das gilt ganz beson- ders für die am stärksten belasteten Grup- pen, die armen und multipel deprivierten Kinder. Es sind zum anderen dringend gesellschaft- liche Rahmensetzungen erforderlich, die di- rekt auf die Situation junger Menschen ein- wirken. Dazu zählt zunächst, die kindlichen Entwicklungsbedürfnisse ernst zu neh- men und die Rechte von Kindern und Ju- gendlichen zu sichern. Was sie umfassen, gibt die UN-Kinderrechtskonvention vor. Dies muss Messlatte für eine eigene kind-/ jugendbezogene Infrastrukturentwicklung durch Bund, Länder und Kommunen sein. Dazu zählt eine Neuausrichtung des Bil-
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