Gymnasien und Berufsbildung: Ihre genutzten und ungenutzten Potenziale - Prof. Dr. Margrit Stamm
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Gymnasien und Berufsbildung: Ihre genutzten und ungenutzten Potenziale Dossier 21/2 Prof. Dr. Margrit Stamm
-- 2 -- Forschungsinstitut Swiss Education Prof. Dr. Margrit Stamm Professorin em. für Erziehungswissenschaften der Universität Fribourg Aeschbachweg 12 CH-5000 Aarau +41 31 311 69 69 Persönliche Assistentin: Romina Zenkluse:(079 462 92 82) www.margritstamm.ch Ihre genutzten und ungenutzten Potenziale
-- 3 -- Inhalt Vorwort ......................................................................................................................... 4 Ziele und Inhalte dieses Dossiers .................................................................................... 5 Management Summary .................................................................................................. 6 Schlüsselbotschaften ...................................................................................................... 8 Briefing Paper 1: Stärken von Gymnasien und Berufsbildung ......................................... 10 Briefing Paper 2: Achillesfersen des Bildungssystems .................................................... 12 Briefing Paper 3: An den Eltern liegts. Dieses Argument ist zu einfach! .......................... 14 Briefing Paper 4: Begabungsreserven fürs Gymnasium .................................................. 16 Briefing Paper 5: Begabungsreserven für die Berufsbildung ........................................... 20 Briefing Paper 6: Fünf Konsequenzen ............................................................................ 23 Gymnasien und Berufsbildung
-- 4 -- Vorwort Es muss nicht jeder und jede ins Gym- signifikant weniger leistungsfähige junge Men- nasium, manche wären in einer Berufs- schen zur Verfügung. lehre besser aufgehoben. Die Berufs- bildung braucht dringend leistungs- Dieses Dossier widmet sich den Begabungs- und starke Jugendliche. Talentreserven sowohl in der beruflichen Diese Argumentation ist richtig. Doch sie gilt vor Grundbildung als auch in den Gymnasien. Dabei allem für junge Menschen mit praxisorientierten geht es nicht um eine Erhöhung der gymnasialen Begabungen, die sich weniger für akademische Maturaquote, sondern um Überlegungen, wer Inhalte begeistern können oder die Matura nur ins Gymnasium gehört und wer eher in die Be- mit Ach und Krach hinkriegen. Gegenteiliges rufsbildung. Dafür gibt es verschiedene Gründe. trifft für die nahezu vergessene Gruppe der in- Erstens sind manche junge Menschen vor allem tellektuell begabten und interessierten Heran- im Gymnasium, um den Berufsentscheid aufzu- wachsenden aus einfach gestellten Familien zu. schieben. Sie wissen nicht, was sie wollen und Sie schaffen zu selten den Bildungsaufstieg ins haben eigentlich kaum akademische Interessen. Gymnasium. Solche Minoritäten hätten zwar das Zweitens setzt die Berufsbildung bei der Rekru- Potenzial für den Übertritt, bekommen aber tierung von Lernenden zu sehr auf hohe Schul- kaum angemessene Gelegenheiten dazu. abschlüsse und gute Noten und zu wenig auf unerkanntes Potenzial. Und drittens werden in- Unser Bildungssystem gilt aufgrund tellektuell begabte Kinder aus einfa- seiner Dualität und Durchlässigkeit chen Sozialschichten sowie begabte als besonders erfolgreich. Doch es Knaben zu häufig in die Berufsbil- gibt zu denken, dass die Berufsbil- dung abgelenkt, auch wenn sie aka- dung vor allem von Jugendlichen demische Interessen haben und ei- aus nicht-akademischen Elternhäu- gentlich ins Gymnasium gehören sern in Anspruch genommen wird, würden. während Gymnasien in erster Linie von Jugendlichen aus akademisch Beide Bildungswege sollten sich von gebildeten Familien besucht wer- der alleinigen Konzentration auf No- den. Das ist kein zukunftsträchtiger tendurchschnitte und Prüfungen Zustand. Persönliche Interessen und wegbewegen hin zur Suche nach Po- Fähigkeiten sollten den Ausschlag zur Bildungs- tenzialen und Stärken. Allerdings und Berufswahl geben und nicht die soziale Her- kann ein solcher Fokus nicht dadurch gewähr- kunft, private Förderressourcen und die Wün- leistet werden, indem man Begriffe wie «Bega- sche der Eltern. Dann wären in der Berufsbil- bung» oder «Talent» inflationär gebraucht, wäh- dung mehr leistungsstarke Jugendliche aus gut rendem die traditionellen Selektions- und Rekru- situierten Familien vertreten, in den Gymnasien tierungsprozeduren beibehalten werden und mehr intellektuell begabte Kinder aus Arbeiter- andere Einflussfaktoren unberücksichtigt blei- und benachteiligten Migrantenfamilien – aber ben. auch mehr Knaben. Das vorliegende Dossier leistet einen Beitrag zu Gymnasien und Berufsbildung werden oft ge- einer kritischen Diskussion der Thematik. Meine geneinander ausgespielt. Das ist problematisch. Assistentin, Romina Zenklusen, hat wie bei den So hört man immer wieder, die Gymnasien seien bisherigen Dossiers auch, wichtige Recherchear- schuld, dass der Berufsbildung die leistungsstar- beiten übernommen. Dafür danke ich ihr herz- ken Lernenden fehlen, weshalb sie das Verliere- lich. rimage bekommen würden. Aber ist das Gymna- sium wirklich der Prügelknabe? Eher nicht, denn gute Lernende fehlen nicht deshalb, weil sie sich fürs Gymnasium entscheiden. Nach wie vor Prof. Dr. Margrit Stamm wählen gleich viel Jugendliche als bisher das Professorin em. der Universität Fribourg Forschungsinstitut Swiss Education Gymnasium, aber etwas mehr eine Fachmittel- schule. Der Berufsbildung stehen somit nicht Aarau, im Dezember 2021 Ihre genutzten und ungenutzten Potenziale
-5- Ziele dieses Dossiers Das Dossier widmet sich den Begabungsreser- folgende Dossiers erschienen, die gratis von der ven für Berufsbildung und Gymnasien und wirft Website heruntergeladen werden können den Blick auf genutzte und ungenutzte Potenzia- ⚫ Talentmanagement in der beruflichen le. Obwohl beide Bildungswege über manche Grundbildung. Dossier 12/2. Universität Leuchtturm-Institutionen zur Potenzial- und Ta- Fribourg: Departement Erziehungswissen- lentförderung verfügen, fehlt nach wie vor die schaften. systematische Suche nach begabten Lernenden ⚫ Migranten mit Potenzial. Begabungsreser- und begabten Gymnasiastinnen und Gymnasias- ven in der Berufsbildung ausschöpfen. ten mit den jeweils erforderlichen Interessen – Dossier 12/4. Bern: Forschungsinstitut vor allem, wenn es um soziale Herkunft, Ethnie Swiss Education. und Geschlecht geht. Die Suche nach solchen ⚫ Lehrlingsmangel. Strategien für die Rekru- begabten Minoritäten ist eine besondere Her- tierung des Nachwuchses. Dossier 13/2. ausforderung, denn Begabungen, Talente und Bern: Forschungsinstitut Swiss Education. Potenziale sind nicht per se an guten Schulnoten ⚫ Nur (k)eine Berufslehre. Eltern als Rekru- oder bestandenen Prüfungen erkennbar. Viel- tierungspool. Dossier 14/4. Bern: For- mehr müssen sie spezifisch gesucht, erkannt, schungsinstitut Swiss Education. anerkannt und gefördert werden. ⚫ Praktische Intelligenz: Ihre missachtete Das Dossier verfolgt zwei Ziele: Erstens verweist Rolle in der beruflichen Ausbildung. Dossi- es auf die Anteile von Zeitgeist und Bildungssys- er 15/2. Bern: Forschungsinstitut Swiss tem an der zumindest tendenziellen Selektivität Education. von Berufsbildung und Gymnasien. Deshalb ⚫ Die Top 200 des beruflichen Nachwuchses: werden junge Menschen oft nicht ihren Mög- Was hinter Medaillengewinnern an Be- lichkeiten entsprechend gefördert, manche so- rufsmeisterschaften steckt. Dossier 17/1. gar überfördert und überfordert. Zweitens be- Bern: Forschungsinstitut Swiss Education. legt es anhand empirischer Studien, wo die ver- ⚫ Die Berufslehre hat ein Geschlecht. Wes- deckten Potenziale sind und wie sie entdeckt halb es weibliche Talente schwer haben. und gefördert werden können. Unter Mitarbeit von Dr. Michael Nieder- hauser. Dossier 18/1. Bern: Forschungs- Die bestehenden Strukturen unseres Bildungs- institut Swiss Education. systems werden in diesem Dossier nicht zur Dis- kussion gestellt. Weder braucht es eine höhere ⚫ Top und Flop an der Lehrabschlussprü- Gymi-Quote noch ausschliesslich grosse finanzi- fung. Qualifikationsverfahren unter der Lupe. Dossier 19/1. Aarau: Forschungs- elle Anstrengungen für den Versuch, verdeckte institut Swiss Education. Potenziale zu finden und Bildungsungerechtig- keiten etwas zu neutralisieren. Nicht die Höhe ⚫ Die SwissSkills 2018 als Sprungbrett? Teil- der nationalen Bildungsausgaben spielt die nehmende, Erfolg, Auswirkungen. Dossier 20/1. Aarau: Forschungsinstitut Swiss Edu- zentrale Rolle (die Schweiz nimmt diesbezüglich cation. einen internationalen Spitzenplatz ein), sondern Haltungen und Einstellungen von Leitungsgre- ⚫ Psychologie der Elternerwartungen. Wa- mien sowie Lehr- und Fachkräften in Schulen rum zu hohe Erwartungen den Schulerfolg bremsen können. Dossier 21/1. Aarau: und Ausbildungsbetrieben. Deshalb plädiert die- Forschungsinstitut Swiss Education. ses Dossier für bescheidene und kostengünstige Varianten, die im Hier und Jetzt umsetzbar sind. Alle bisher erschienenen Dossiers sind auf der Website margritstamm.ch gratis herunterlad- bar. Mit Bezug auf Themen wie Berufsbildung, Gymnasium, Begabung und Talent sind bisher Gymnasien und Berufsbildung
-6- Management Summary Briefing Paper 1: Stärken von Gymnasien Hochleistungsgesellschaft geworden. Zu seinen und Berufsbildung Achillesfersen gehören der Trend zur Akademi- Auf der Sekundarstufe II gibt es sowohl an sierung, die Vorstellung des optimierbaren Kin- Gymnasien als auch in der Berufsbildung man- des, die Illusion der leistungsgerechten Selektion che Leuchttürme der Begabungs- und Ta- sowie die für bestimmte Gruppen (solche aus lentförderung. In den letzten fünfzehn Jahren benachteiligten Familien sowie Knaben) vor- hat sich in dieser Richtung viel getan. herrschenden Ablenkungsprozesse in die Be- Briefing Paper 1 Seite 10 rufsbildung. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich das Briefing Paper 3: An den Eltern liegts. Die- Gymnasium enorm gewandelt. Heute bietet es ses Argument ist zu einfach! attraktive Programme für eine intellektuell an- Geht es um Fähigkeiten von jungen Menschen, spruchsvolle Bildung. Seit längerem werden so sind Mama und Papa nicht einfach die ehr- überregional und innerhalb der einzelnen Insti- geizigen Schuldigen, welche ihre Kinder ins tutionen besondere Wege der Begabungs- und Gymnasium pushen und die Berufslehre links Talentförderung beschritten. Diese Tatsache ist liegen lassen. Das Bildungssystem spielt eine ebenso bedeutsame Rolle. gleichzeitig zu einem Dilemma geworden, weil Beliebtheit und Prestige des Gymnasiums die Briefing Paper 3 Seite 14 Herausforderung vergrössern, gegenüber den eigenen anspruchsvollen Normen nicht zurück- Viele gut gebildete Väter und Mütter praktizie- zubleiben. ren das, was die Bildungspolitik seit mehr als zwei Jahrzehnten von ihnen erwartet: eine bil- Auch die Berufsbildung hat sich stark entwickelt. dungsbeflissene Elternschaft. Deshalb bemühen International geniesst sie einen hervorragenden sie sich darum, dass der Nachwuchs von Anfang Ruf, obwohl sie einen Spagat bewältigen muss: an im Vergleich zu anderen Kindern gleiche oder leistungsschwache Jugendliche in die berufliche bessere Chancen hat. Dahinter mag eine gewis- Grundbildung zu integrieren und leistungsstarke se Bildungspanik stecken, auf die mit kontinuier- Auszubildende für eine anspruchsvolle Berufs- lichem Optimierungsstreben reagiert wird. Dazu ausbildung zu gewinnen. Leider ist die Durchläs- kommt der «Elterndeterminismus», d.h. die sigkeit unseres Berufsbildungssystems der brei- Vorstellung, dass die Leistungsfähigkeit des Kin- teren Öffentlichkeit zu wenig bekannt. Gleiches des und die Fähigkeit seiner Eltern, gute Eltern gilt für die häufig vergessene höhere Berufsbil- zu sein, unmittelbar kausal verknüpft sind. Zei- dung. gen sich Probleme, sind Väter – und vor allem Auf der Basis des Berufsbildungsgesetzes ist die Mütter – schuld. Ist ein Kind hingegen hochleis- Förderung von Talenten zu einer wichtigen be- tungsfähig, gilt dies als Verdienst der Eltern. rufspädagogischen Aufgabe geworden. Heute Weil Eltern schon früh mit dem leistungsorien- gibt es viele Projekte, Initiativen und Austausch- tierten Bildungssystem konfrontiert werden, praktika für talentierte Lernende. Einer breite- kontrollieren sie den kindlichen Aufwachspro- ren Öffentlichkeit ist die berufliche Talentförde- zess auch strategisch. Manche entscheiden sich rung jedoch erst mit den SwissSkills begegnet. bereits in den ersten Schuljahren für das Gym- nasium und versuchen dann mit entsprechen- Briefing Paper 2: Achillesfersen des Bil- dem Engagement, diesen Entscheid auch umzu- dungssystems setzen. Die Berufslehre bleibt zweite Wahl. Die Passung zwischen individuellen Fähigkei- ten, Interessen sowie Neigungen und der Wahl Briefing Paper 4: Begabungsreserven fürs des Ausbildungswegs funktioniert nicht so wie Gymnasium erhofft. Briefing Paper 2 Seite 12 Es gibt verschiedene Begabungsreserven fürs Gymnasium. Zwei Reservoirs stechen hervor: Begabte Kinder aus einfach gestellten Familien Für manche gilt das Gymnasium als Königsweg und das männliche Geschlecht. der Ausbildung. Solche Überzeugungen werden oft angeprangert, doch dahinter stecken Achil- Briefing Paper 4 Seite 16 lesfersen, die ihren Ursprung im Bildungssystem Noch immer entscheidet nicht in erster Linie der haben. Dieses wiederum ist ein Abbild unserer Grips, wer es ins Gymnasium schafft, sondern Ihre genutzten und ungenutzten Potenziale
-7- vor allem die soziale Herkunft. Deshalb geht un- die Leistungsspitze zu gelangen, ist ebenso eine serer Gesellschaft jedes Jahr ein Reservoir an in- Kombination von überfachlichen Kompetenzen tellektuellem Potenzial begabter Minoritäten (Stressresistenz, Durchsetzungsfähigkeit, Hart- verloren. Dazu gehört auch die Gruppe begabter näckigkeit und Frustrationstoleranz) und familiä- Knaben, die den Sprung ins Gymnasium deutlich re sowie betriebliche und berufsschulische Un- seltener als Mädchen schafft. terstützung notwendig. Darüber hinaus sind sig- nifikante Andere in vielen Fällen entscheidend Gute Noten sind nach wie vor die Übertrittsbe- für Ausbildungserfolg und Bildungsaufstieg. dingung Nummer eins. Doch es wird kaum be- rücksichtigt, wie sie zustande kommen. Sicher Ferner lassen unsere SwissSkills-Ergebnisse mit formulieren Primarschullehrkräfte ihre Empfeh- Blick auf die Begabungsreserven junger Frauen lungen nach sorgfältiger Erwägung. Doch neben darauf schliessen, dass das weibliche Geschlecht den Noten und der Einschätzung kognitiver Fä- stärker zur Teilnahme ermutigt werden sollte higkeiten fliessen auch weitere Faktoren ein wie und zwar jenseits der Bemühungen, die Ge- Motivation, Ausdauer, Anstrengungsbereit- schlechtsspezifik der Berufswahlentscheide ab- schaft, angepasstes Verhalten oder die Fähigkeit zubauen. zum selbstregulierten Lernen – genauso wie die erwartete Unterstützung durch das Elternhaus. Briefing Paper 6: Fünf Konsequenzen Solche Möglichkeiten haben Kinder aus einfa- Fähigkeiten und Neigungen sollten stärker die chen Sozialschichten nicht. Dazu kommt, dass individuelle Ausbildungswahl lenken, damit be- die Mehrheit der sozial einfach gestellten Fami- stimmte Gruppen chancengerechtere Möglich- lien dem gymnasialen Bildungsweg aus ver- keiten bekommen, ihre Fähigkeiten unter Be- schiedenen Gründen eher skeptisch gegenüber- weis zu stellen. Fünf Konsequenzen. steht und vor den erwarteten Investitionskosten Briefing Paper 6 Seite 23 zurückschreckt. Migrantenfamilien sind hinge- gen oft bildungsambitionierter. Welche machbaren Veränderungen sind not- Dass Knaben den Übertritt ins Gymnasium sel- wendig, damit zukünftig stärker Neigungen, Fä- tener schaffen und auch seltener die Matura higkeiten und Interessen bei der Wahl des Bil- machen als Mädchen, ist eine empirische Tatsa- dungsweges eine Rolle spielen und nicht die so- che. Allerdings unterscheiden sich die Ge- ziale Herkunft, ein bestimmter kultureller Hin- schlechter kaum in ihren kognitiven Fähigkeiten. tergrund oder das Geschlecht? Dies ist die ar- Warum Knaben trotzdem weniger erfolgreich gumentationsleitende Frage für die Formulie- sind, wenn es um den Gymi-Übertritt geht, wird rung von fünf Konsequenzen. Sie basieren auf allgemein mit folgenden Faktoren erklärt: Min- dem Prinzip der Chancengerechtigkeit, definiert derleistung, weniger gewissenhaftes Arbeiten als Ermöglichung und Unterstützung fairer für die Schule und nonkonformeres Verhalten Chancen bei der Überwindung von Nachteilen sowie langsamere Reifung. Oft wird auch die und die Ausrichtung auf die Entdeckung von Po- Feminisierung der (Primar-)Schule als Ursache tenzialen. Es sind dies: genannt. Sie bestätigt sich empirisch aber nicht. ⚫ Konsequenz 1: Objektive und vergleichende Information zu beiden Bildungswegen erar- Briefing Paper 5: Begabungsreserven für beiten. die Berufsbildung ⚫ Konsequenz 2: Mehr intellektuell interes- Begabungsreserven können kaum ausschliess- sierten benachteiligten Kindern den Weg lich mittels Schulnoten und Leistungstests er- ans Gymnasium ebnen. kannt werden. Auch das Niveau eines Schulab- schlusses sagt wenig aus über Entwicklungspo- ⚫ Konsequenz 3: Intellektuell begabten Kna- tenziale. ben mehr Chancen für den Übertritt ins Gymnasium ermöglichen. Briefing Paper 5 Seite 20 ⚫ Konsequenz 4: Neue Potenziale für die Be- rufsbildung suchen und aufbauen. Überdurchschnittliche Leistungsverläufe setzen nicht zwingend hohe Schulabschlüsse, gute ⚫ Konsequenz 5: Nach chancengerechteren Rekrutierungspraxen für die Berufsbildung Schulnoten und gradlinige Schullaufbahnen vo- suchen. raus. Auch kognitive Fähigkeiten sind offenbar keine hinreichende Voraussetzung, um beson- ders ausbildungserfolgreich zu werden. Um an Gymnasien und Berufsbildung
-8- Schlüsselbotschaften Briefing Paper 1: Stärken von Gymnasien ⚫ Noten sind nach wie vor die Übertrittsbe- und Berufsbildung dingung Nummer eins. Doch auch andere Faktoren fliessen ein wie Anstrengungsbe- ⚫ Das Gymnasium bietet attraktive Program- reitschaft, angepasstes Verhalten, die Fä- me für eine intellektuell anspruchsvolle Bil- higkeit zum selbstregulierten Lernen - so- dung an und beschreitet besondere Wege wie vorausgesetzte Unterstützungsmöglich- der Begabungs- und Talentförderung. keiten des Elternhauses. Gleichzeitig vergrössert sein Prestige die Herausforderung, gegenüber den eigenen Briefing Paper 5: Begabungsreserven für anspruchsvollen Normen nicht zurückzu- die Berufsbildung bleiben. ⚫ Begabungsreserven können kaum aus- ⚫ Die Berufsbildung geniesst auch internatio- schliesslich mittels Schulnoten und Leis- nal einen hervorragenden Beruf. Trotzdem tungstests erkannt werden. Auch das Ni- muss sie den Spagat bewältigen, leistungs- veau eines Schulabschlusses sagt wenig aus schwache Jugendliche zu integrieren und über Entwicklungspotenziale. leistungsstarke Auszubildende für eine an- spruchsvolle Berufsausbildung zu gewinnen. ⚫ Auf dem Weg an die Leistungsspitze ist vor allem eine Kombination von überfachlichen Briefing Paper 2: Achillesfersen des Bil- Kompetenzen und familiärer sowie betrieb- dungssystems licher und berufsschulischer Unterstützung notwendig. ⚫ Die Passung zwischen individuellen Fähig- keiten, Interessen sowie Neigungen und der Briefing Paper 6: Fünf Konsequenzen Wahl des Ausbildungswegs funktioniert nicht so wie erhofft. ⚫ Fähigkeiten und Neigungen sollen stärker die Ausbildungswahl lenken, damit be- ⚫ Das Bildungssystem sowie unsere Optimie- stimmte Gruppen chancengerechtere Mög- rungsgesellschaft spielen hierfür eine lichkeiten bekommen, ihre Fähigkeiten un- Hauptrolle. Achillesfersen sind der Trend ter Beweis zu stellen. zur Akademisierung, die Vorstellung des op- timierbaren Kindes, die Illusion der leis- ⚫ Fünf Konsequenzen: (1) Objektive und ver- tungsgerechten Selektion wie auch die für gleichende Information zu beiden Bil- bestimmte Gruppen vorherrschenden Ab- dungswegen erarbeiten. (2) Mehr intellek- lenkungsprozesse in die Berufsbildung. tuell interessierten, benachteiligten Kindern den Weg ans Gymnasium ebnen. (3) Intel- Briefing Paper 3: An den Eltern liegts. Die- lektuell begabten Knaben mehr Chancen für ses Argument ist zu einfach! den Übertritt ins Gymnasium ermöglichen. (4) Verdeckte Potenziale für die Berufsbil- ⚫ Mama und Papa sind die ehrgeizigen Schul- dung erschliessen. (5) Nach chancengerech- digen, welche ihre Kinder ins Gymnasium teren Rekrutierungspraxen für die Berufs- pushen und die Berufslehre links liegen las- bildung suchen. sen. Diese These ist zu einfach. ⚫ Das Bildungssystem spielt eine ebenso be- deutsame Rolle, weil es ein Abbild der aka- demisierten Hochleistungsgesellschaft ge- worden ist. Briefing Paper 4: Begabungsreserven fürs Gymnasium ⚫ Es gibt verschiedene Begabungsreserven fürs Gymnasium. Zwei Reservoirs stechen heraus: Begabte Kinder aus Minoritätsfami- lien und das männliche Geschlecht. Ihre genutzten und ungenutzten Potenziale
-9- Gymnasien und Berufsbildung: Ihre genutzten und ungenutzten Potenziale Dossier 21/2 Prof. Dr. Margrit Stamm Gymnasien und Berufsbildung
-10- Briefing Paper 1: Stärken von Gymnasien und Berufsbildung Die Pandemie hat alle Menschen, besonders dann in den Kantonen und Schulen zu erfolgen auch die junge Generation, stark herausgefor- hat, ist wichtig für eine besondere Stärke der dert. Vielen von ihnen fehlte eine Zukunftsper- Gymnasien: die Begabungs- und Talentförde- spektive, und oft ist das heute noch so. Eine Ge- rung. Denn in dem Masse, wie sie ihre Exklusivi- legenheit also, unser Bildungssystem mit Blick tät für wenige verloren haben, beschreiten sie auf die Potenziale der «Generation Corona» un- seit längerem überregional und innerhalb der ter die Lupe zu nehmen. In diesem Briefing Pa- einzelnen Institutionen besondere Wege der per geht es um Merkmale von Gymnasien und Begabungs- und Talentförderung. Berufsbildung im Hinblick auf ihre je spezifi- Eine Erfolgsgeschichte ist der bilinguale Unter- schen Stärken. richt und die ihn abschliessende zweisprachige Maturität. Heute können Gymnasiastinnen und Das Gymnasium und seine Massstäbe für Gymnasiasten an etwa 110 Gymnasien eine Exzellenz zweisprachige Matura absolvieren1. Eine Ta- Das Gymnasium legt bis heute das Fundament lentgruppierung erfolgt auch über besondere für akademische Exzellenz. Als Leitinstitution Sport-, Musik- und Kunstgymnasien. In der bestimmt es von der Spitze her das Ausmass der Schweiz sind es fünf Sportgymnasien und etwa Selektivität und manchmal ebenso die Formen 70 Schulen mit zusätzlichen Angeboten für der Selektion. Dabei wird es auch mit Vorwür- sportlich begabte Jugendliche. Zudem existieren fen konfrontiert, es sei eine Standesschule für drei Musikgymnasien. Die Ausbreitung der das Bildungsbürgertum. Deshalb widerspiegle Kunstgymnasien lässt sich quantitativ nicht es keine soziale Bildungsgerechtigkeit. exakt beziffern. Doch in den vergangenen Jahrzehnten hat sich Neben den gesamtschweizerischen Wissen- das Gymnasium stark gewandelt. Mittlerweile schaftsolympiaden für jährlich rund 4'000 junge bietet es ein sehr attraktives Programm einer Menschen haben manche Gymnasien vielfältige intellektuell anspruchsvollen Bildung für einen Programme aufgebaut wie Zusatz- und Spezial- bestimmten Anteil der Schülerinnen und Schü- aufgaben im Unterricht sowie ausserschulische ler an. Die Anziehungskraft des gymnasialen Bil- Angebote (z. B. Debattierwettbewerbe, Kurse dungswegs zeigt sich u.a. in den hohen Anmel- für Sprachbegabte resp. Vorbereitungskurse für dezahlen, ganz besonders für die noch beste- verschiedene Sprachzertifikate, Angebote in henden Langzeitgymnasien, welche die Heran- MINT, Kultur und Gesellschaft, Programmier- wachsenden in unmittelbarem Anschluss an die kurse, Theater und Musik). Zusatzangebote Primarschule besuchen können – aber nur mit existieren ferner als Summer Schools, Wissen- einem guten Notendurchschnitt oder erst nach schaftsolympiaden, ETH-Wochen resp. Begab- Bestehen einer Aufnahmeprüfung. tenförderprogramme an Universitäten, Aus- tauschprogramme im Welschland oder Studi- Ein Dilemma des Gymnasiums ist, dass seine an- enwochen im Rahmen von «Schweizer Jugend steigende Beliebtheit zugleich die Herausforde- forscht». rung vergrössert, gegenüber den eigenen an- spruchsvollen Normen nicht zurückzubleiben. Es Die Berufsbildung und ihr internationaler sind dies die Vermittlung einer erweiterten All- Ruf gemeinbildung, ein Unterricht, der sich an der Wissenschaft orientiert und aufs das wissen- Die Berufsbildung geniesst einen ausgesprochen schaftliche Arbeiten vorbereitet sowie die Ein- guten Ruf – auch bei Akademikern. Gemäss übung von überfachlichen Kompetenzen, die dem «Young Workers Index»2 belegt die einen Beitrag zur Studierfähigkeit der Heran- Schweiz den Spitzenplatz von 35 untersuchten wachsenden garantieren sollen (Ullrich, 2014). Berufsbildungssystemen der OECD. Dies ist um- so bemerkenswerter, als die Berufsbildung ei- Begabungs- und Talentförderung 1 Im Jahr 2020 wurden total 19’098 Maturitätszeugnisse Das Grossprojekt «Weiterentwicklung der gym- ausgestellt, davon waren 15'740 nicht zweisprachiger Art. nasialen Maturität» sieht unter anderem einen Von den 3'358 zweisprachigen Abschlüssen dominierte Deutsch-Englisch (2'050). neuen Rahmenlehrplan vor, der Ziele festhält, 2 https://www.pwc.co.uk/economic-services/YWI/young- die überall gelten sollen. Dass die Umsetzung workers-index-2016-final-v3.pdf Ihre genutzten und ungenutzten Potenziale
-11- nen Spagat bewältigen muss. Zum einen gilt es, Weiteren gibt es immer mehr Firmen, welche leistungsschwache Jugendliche in die Berufsleh- ihre talentierten Lernenden zu Austauschprakti- re und den Arbeitsmarkt zu integrieren, zum ka ins Ausland schicken sowie Betriebe und Be- anderen, leistungsstarke Auszubildende anzu- rufsfachschulen oder OdAs (Organisationen der sprechen und für eine anspruchsvolle Berufs- Arbeitswelt), welche eigene Projekte auf die ausbildung zu gewinnen. Beine gestellt haben. Wichtig sind ebenfalls die Programme der Stiftung Schweizer Jugend Leider ist die Durchlässigkeit unseres Berufsbil- forscht oder die Fritz Gerber Stiftung, welche dungssystems mit seiner Vielzahl an Aufstiegs- junge Menschen auch im Handwerk fördert. möglichkeiten zu wenig bekannt. Dazu gehören Möglichkeiten wie über eine Berufsmatura an Trotz diesen enormen Bemühungen ist die För- die Fachhochschulen sowie über eine Passerelle derung von Talenten in der Berufsbildung einer an die Universität gelangen zu können. Häufig breiteren Öffentlichkeit nach wie vor zu wenig vergessen geht allerdings die höhere Berufsbil- bekannt. Die Gymnasien gelten weiterhin als die dung. Sie vermittelt Qualifikationen, die zur Talentschmieden. Doch in den letzten Jahren Ausübung einer anspruchs- und verantwor- hat sich dieses Ungleichgewicht dank der tungsvollen Berufstätigkeit erforderlich sind. SwissSkills – der Schweizer Berufsmeisterschaf- Und sie versorgt die Wirtschaft mit ausgewiese- ten – verkleinert. Durch die hohe mediale Auf- nen Fachkräften in Technik, Gastgewerbe, merksamkeit sind sie zu Werbeträgern und Bot- Landwirtschaft, Gesundheit und Sozialem sowie schaftern für die Berufsbildung geworden, um Gestaltung oder Verkehr. Obwohl unsere Ge- jungen Menschen hervorragende Berufskarrie- sellschaft auf solche Berufsleute angewiesen ist, ren zu ermöglichen (Stamm, 2020). muss die höhere Berufsbildung inmitten der Akademisierungswelle um ihren Platz kämpfen. Fazit Und dies, obwohl sie durchgehend Lob be- Auf der Sekundarstufe II gibt es sowohl an kommt und junge Menschen beste Chancen ha- Gymnasien als auch in der Berufsbildung man- ben, Karriere zu machen und gutes Geld zu ver- che Leuchttürme der Begabungs- und Ta- dienen. lentförderung. Gerade in den letzten fünfzehn Jahren hat sich in dieser Richtung enorm viel ge- Talentförderung: ein bedeutsames Thema tan. der Berufsbildung Was fehlt? In erster Linie die systematische Su- Die Berufsbildung hat mit dem Berufsbildungs- che nach Potenzialen. Damit ist auch die Selek- gesetz BBG eine zukunftsweisende Basis für ei- tions- und Rekrutierungsfrage angesprochen. ne Begabungs- und Talentförderstrategie be- Tatsache ist, dass es junge Menschen an Gym- kommen. Die darin festgehaltene Pflicht zur nasien gibt, die aufgrund ihres Potenzials in der Förderung leistungsstarker Lernender weist der beruflichen Grundbildung besser aufgehoben Ausbildung des Nachwuchses eine spezifische wären, währendem das Begabungs- und Inte- Bedeutung zu. Explizit wird im Gesetz auch un- ressenprofil nicht weniger Berufslernender eher terstrichen, dass Bildungschancen in sozialer für das Gymnasium sprechen würde. und regionaler Hinsicht ausgeglichen und die Gleichstellung von Frau und Mann gefördert Weiterführende Literatur werden soll. Die Förderung von Potenzialen und Talenten Stamm, M. (2020). Die SwissSkills 2018 als und die bessere Ausschöpfung der Begabungs- Sprungbrett? Teilnehmende, Erfolg, Auswirkun- und Talentreserven ist damit zu einer wichtigen gen. Dossier 20/1. Aarau: Forschungsinstitut berufspädagogischen Aufgabe geworden. Den Swiss Education. Berufsfachschulen und Ausbildungsbetrieben Ullrich, H. (2014). Das Gymnasium als Talent- kommt eine spezifische Verantwortung zu, und schmiede. In M. Stamm (Hrsg.), Handbuch Ta- es wird von ihnen auch eine entsprechende In- lententwicklung. Theorien, Methoden und Pra- novationsbereitschaft erwartet. xis in Psychologie und Pädagogik (S. 227-239.). Bern: Huber. In den letzten Jahren ist in dieser Hinsicht viel Entwicklungsarbeit geleistet worden. Exempla- risch genannt seien die Projekte «Talentförde- rung Plus» der Bildungsdirektion des Kantons Zürich sowie «Talentförderung GIBB» (Bern) für Talente im Bereich Kunst, Musik und Sport3. Des 3 https://gibb.ch/grundbildung-talentfoerderung-gibb Gymnasien und Berufsbildung
-12- Briefing Paper 2: Achillesfersen des Bildungs- systems Für manche gilt das Gymnasium als Königsweg Dieser Trend erfasst auch die Berufsbildung. der Ausbildung und die Berufslehre als zweite Zwar wird überall betont, man wolle jegli- Wahl. Solche Überzeugungen werden in erster che Akademisierung vermeiden. Die Swiss- Linie den Eltern zugeschrieben, doch dahinter ness unseres Bildungssystems ermögliche, stecken Achillesfersen, die ihren Ursprung im dass jeder und jede über eine Berufslehre an einer Fachhochschule studieren und so- Bildungssystem haben. Zu solchen Achillesfer- gar an die ETH wechseln könne. Doch hinter sen gehören der Trend zur Akademisierung, die dieser Argumentation steckt eine paradoxe Illusion der leistungsgerechten Selektion, die Botschaft: dass eine Karriere letztendlich Vorstellung des optimierbaren Kindes sowie die doch in ein Studium münden sollte. für bestimmte Gruppen vorherrschenden Ab- lenkungsprozesse in die Berufsbildung («Ablen- ⚫ Die Illusion der leistungsgerechten Selekti- on: Spätestens die erste Pisa-Studie hat die- kungsthese»). se Illusion demaskiert. Abbildung 1 illus- ⚫ Der Trend zur Akademisierung: Hochschul- triert, dass zwischen den Leistungszügen abschlüsse, Zertifikate und entsprechende (hohe Ansprüche [progymnasiales Niveau], Titel werden immer wichtiger. Wer Kinder- erweiterte Ansprüche, Grundansprüche) gärtner oder Hebamme werden will, beachtliche Leistungsüberschneidungen in braucht eine Matura. Die Mehrheit interna- der Leseleistung vorhanden sind. Dies gilt tionaler Unternehmen will nur noch Leute sogar zwischen dem progymnasialen Niveau mit einem Hochschulabschluss einstellen. und tiefsten Niveau (Grundansprüche). Mit Parallel dazu sind viele Abschlüsse entwer- anderen Worten: Die stärksten Realschüle- tet worden. Realschul- (resp. Sek C- rinnen und -schüler können problemlos mit )zeugnisse zählen weniger als noch vor ein den schwächsten Gymnasiastinnen und paar Jahren. Auch Studienabschlüsse sind Gymnasiasten mithalten. Dieses Phänomen zwar wichtiger, aber weniger wert. Ein Ba- ist ein Hinweis darauf, dass bei gleichen chelor ist Voraussetzung für viele Berufe, Leistungen der Heranwachsenden unter- aber längst keine Karrieregarantie mehr. schiedliche Übertrittsempfehlungen ausge- sprochen werden. Abbildung 1: Verteilung der Leseleistung nach Leistungszug (Pisa 2003; Antonietti et al., 2005) ⚫ Optimierbare Kinder: Wer gehört ins Gym- Forschungsergebnisse von Elsbeth Stern für nasium? Vordergründig scheint es klar: Jun- einige Aufruhr gesorgt (Stern & Hofer, ge Menschen mit sehr guten Schulnoten. In 2014). Die beiden Autorinnen kommen zum diesem Zusammenhang haben auch die Schluss, dass etwa jeder dritte Platz am Ihre genutzten und ungenutzten Potenziale
-13- Gymnasium von «falschen» Jugendlichen dungsweg nicht so funktioniert wie gewünscht, besetzt sei, weil sie kaum über die notwen- ist eine empirische Tatsache. Die Erklärung, dass digen intellektuellen Fähigkeiten verfügen dies an den (zu) ehrgeizigen Elternhäusern liegt, und deshalb gescheiteren Kindern aus ein- ist jedoch zu einfach. fachen Sozialschichten den akademischen Weg verbauen würden. Ähnliche Ergebnisse liefert die Längsschnittstudie der Zürcher Weiterführende Literatur Bildungsdirektion (Tomasik et al., 2018). Antonietti, J. P. et al. (2005). PISA 2003: Kompe- Solche Aussagen haben viel Aufsehen er- tenzen für die Zukunft. Neuenburg/Bern: regt. Doch stellt sich auch die Frage, ob ein BfS/EDK. überdurchschnittlicher Intelligenzquotient Becker, R. & Schoch, J. (2018). Soziale Selektivi- tatsächlich notwendig für den erfolgreichen tät. Expertenbericht im Auftrag des Schweizeri- Besuch des Gymnasiums ist. Zumindest geht schen Wissenschaftsrates SWR. Bern: Eidgenös- die Expertiseforschung davon aus, dass es sisches Departement für Wirtschaft, Bildung zwar einen Zusammenhang zwischen Intel- und Forschung WBF. ligenz und Noten gibt, überfachliche Kom- petenzen jedoch genauso wichtig für den Müller, W. & Pollak, R. (2007). Weshalb gibt es Schulerfolg sind. so wenige Arbeiterkinder in Deutschlands Uni- versitäten? In R. Becker & W. Lauterbach ⚫ Die Ablenkungsthese: Es ist eine empirisch (Hrsg.), Bildung als Privileg (S. 303-342). Wies- vielfach belegte Tatsache, dass Heranwach- baden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. sende aus einfachen Sozialschichten den Übertritt ins Gymnasium deutlich seltener Stern, E. & Hofer, S. (2014). Wer gehört auf das schaffen als solche aus gut situierten Fami- Gymnasium? Intelligenzforschung und Schul- lien. Einerseits bekommen privilegiert Auf- laufbahnentscheidungen. In E. L. Wyss (Hrsg.), wachsende mehr familiären Support und Von der Krippe zum Gymnasium. Bildung und werden in der Schule bei gleichen Leistun- Erziehung im 21. Jahrhundert (S. 41-54). Wein- gen besser bewertet. Andererseits kommt heim und Basel: Beltz. ein sozialer Mechanismus dazu, der selten Tomasik, M. J., Oostlander, J., & Moser, U. beachtet wird. Intellektuell begabte Kinder (2018). Von der Schule in den Beruf: Wege und aus sozial einfach gestellten Familien wer- Umwege in der nachobligatorischen Ausbildung. den überzufällig oft in eine Berufslehre ab- Zürich: Institut für Bildungsevaluation. gelenkt (Müller & Pollack, 2007; Becker & Schoch, 2018). Diese Ablenkung erfüllt das, was Eltern aus bescheidenen Milieus oft wünschen: Niedrige Ausbildungskostenos- ten, ein zukünftig gesicherter Arbeitsplatz des Nachwuchses und sein Verbleiben im Herkunftsmilieu. Fazit Bildung und Ausbildung sind zu entscheidenden Grössen für die soziale Platzierung der Individu- en und die beruflichen Chancen im Lebensver- lauf geworden. Demnach ist zentral, wie die Bil- dungschancen verteilt werden. Als besonders herausfordernd erweist sich die Akademisie- rung der Bildung, die als Garantin für eine bes- sere berufliche Qualität der jungen Menschen gilt. Dadurch werden viele Bildungstitel entwer- tet. Dies ist ein wichtiger Grund für die Priorisie- rung des Gymnasiums. Allerdings basiert sie auch auf der Überzeugung, jedes Kind könne wie ein Tonklumpen geschliffen und optimiert werden, bis es den Vorstellungen der Erwach- senen entspricht. Dazu kommt die teils unbe- wusste Ablenkung von intellektuell begabten Heranwachsenden in eine Berufslehre. Dass die Passung zwischen individuellen Fähig- keiten, Interessen sowie Neigungen und Ausbil- Gymnasien und Berufsbildung
-14- Briefing Paper 3: An den Eltern liegts. Dieses Argument ist zu einfach! Die Konkurrenzorientierung zwischen Familien dass die Leistungsfähigkeit des Kindes und die ist ausgeprägter geworden. «Mach unbedingt Fähigkeit seiner Eltern, gute Eltern zu sein, un- das Gymi!» hat für manche Kinder Weisungs- mittelbar kausal verknüpft sind. Zeigen sich charakter bekommen. Doch später räumen Probleme in der kindlichen Entwicklung, sind nicht wenige Eltern ein, vielleicht einen Fehler Väter – und vor allem Mütter – schuld. Ist ein gemacht zu haben, weil sie Sohn oder Tochter Kind hingegen hochleistungsfähig, gilt dies als nicht für eine Berufslehre animiert hätten. Liegt Verdienst der Eltern und als Ausweis ihrer Kom- die Ursache des Trends zum Gymnasium somit petenz. Wer somit das Risiko verpasster Chan- bei den Eltern? Man liest ja oft in den Medien, cen in Kauf nimmt und auch dann nicht aktiv dass es überehrgeizige Mamas und Papas seien, wird, wenn sich der Schulerfolg nicht wie erwar- welche ihre Kinder ins Gymnasium pushen an- tet einstellt, muss die Schuld bei sich selbst su- statt ihre Sprösslinge für eine Berufslehre zu chen (Stamm, im Druck). motivieren. Doch die Sache ist komplizierter. Bildungssystem und Wettbewerbsorientie- In diesem Briefing Paper wird die Etikettierung rung als Katalysatoren des Elternehrgeizes der Eltern als «überehrgeizig» relativiert. Bil- dungssystem und Zeitgeist sind wichtige Para- Das Leistungsdenken ist ein wesentliches Ele- meter, welche das Verhalten von Vätern und ment unserer Gesellschaft. Problematisch wird Müttern stark beeinflussen. Zudem spielt das es allerdings erst, wenn es zum primären Bil- Herkunftsmilieu eine bedeutende Rolle. dungs- und Erziehungsziel wird. Optimierung statt Schicksal Weil das Bildungssystem ein Abbild der Hoch- leistungsgesellschaft geworden ist, werden El- Viele gut gebildete Väter und Mütter praktizie- tern schon im Kindergarten mit ihr konfrontiert. ren das, was die Bildungspolitik seit gut zwei So liegen den Elterngesprächen vielerorts um- Jahrzehnten von ihnen erwartet: eine bildungs- fassende Standortbestimmungen mit standardi- beflissene Elternschaft. In mancher Broschüre sierten Beurteilungspunkten zugrunde. Mit Si- tönt dies etwa so: Liebe Eltern, unterstützt und cherheit sind solche Kompetenzraster gut ge- fördert eure Kinder, damit sie ihr Potenzial ent- meint. Bildungsverantwortliche unterstreichen wickeln können. Die Kinder sind eure Zukunft! in bester Absicht, dass solche Raster allein für Solche Erwartungen haben dazu geführt, dass die individuelle Entwicklungsförderung des Kin- sich viele Elternhäuser kontinuierlich darum des vorgesehen seien. Trotzdem kommt diese bemühen, dass der Nachwuchs von Anfang an Massnahme bei vielen Eltern als Vermessung im Vergleich zu anderen Kindern gleiche oder der Kinder an, gefolgt von der Frage: Ist unser bessere Chancen hat. Man zieht in gut situierte Kleiner gut genug? Oder sind die anderen bes- Quartiere und schickt die Kinder in milieuho- ser, und müssen wir deshalb noch mehr mit ihm mogene Schulen. «Ansteckungsangst» nennt arbeiten? Dass sich Eltern heute bereits im Kin- dies der Bildungssoziologe Heinz Bude (2011). dergarten für den Erfolg ihrer Sprösslinge ver- Ergänzt wird sie heute durch das Optimierungs- antwortlich fühlen und sich noch mehr darauf streben. konzentrieren, das Beste aus ihnen herauszuho- len, ist eine wesentliche Folge dieser Beurtei- Optimierung hat das Schicksal abgelöst, das lungskultur. Verstärkt wird dieses Phänomen nicht Perfekte wird kaum mehr toleriert. Das ist durch den Elterndeterminismus. keine Weisheit, die Eltern erfunden haben, son- dern ein Imperativ unserer Gesellschaft. Dass Tests und Checks sind ebenso wichtige Bestand- Mütter und Väter diesem Imperativ folgen und teile der Wettbewerbskultur. Die Flut solcher die Optimierung schulischer Leistungen im Blick Massnahmen schafft einen Konkurrenzdruck, haben, ist deshalb nicht erstaunlich. Eltern wer- der sich nicht nur negativ auf Schülerinnen und den für alles verantwortlich gemacht. «Eltern- Schüler auswirkt, sondern zunehmend auch auf determinismus» ist der wissenschaftliche Be- Eltern und Lehrpersonen. Seit der Veröffentli- griff dafür. Damit ist die Vorstellung gemeint, chung der letzten PISA-Ergebnisse Ende 2019 Ihre genutzten und ungenutzten Potenziale
-15- steigt die Kritik, wonach die auf Tests bezogene und macht sich selbständig, hat er beste Chan- Schulkultur Noten und Testleistungen mehr ge- cen, seine Mutter einkommens- und karriere- wichten würde als das Lernen. Dazu gehört mässig zu überholen. Allerdings hat die OECD auch das Positionspapier des LCH4. ein solches Beispiel in einem Bericht als «Bil- dungsabstieg» bezeichnet (OECD, 2017). Eltern als Strategen Doch auch Eltern, welche zusammen mit ihrem Solche Entwicklungen haben einen grundlegen- Nachwuchs die berufliche Grundbildung in den den Einfluss darauf, dass die Wahl von Gymna- Blick nehmen, haben oft einen Tunnelblick. sium oder Berufslehre weniger nach Neigung Denn in unserer Optimierungsgesellschaft gel- und Interessen als nach familiären Interessen ten Ausbildungsberufe als «Visitenkarten», die und Überzeugungen erfolgt. Die Rolle der Eltern mit sozialer Anerkennung zu tun haben. Geht es ist nicht nur in emotionaler, sondern auch in um die Lehrstellensuche, konzentrieren sich strategischer Hinsicht bedeutsam geworden. Ei- Familien zusammen mit ihren Heranwachsen- ne Mehrheit der bildungsbeflissenen Elternhäu- den auf eine Anzahl von maximal vier Berufen – ser begleitet und kontrolliert deshalb den Auf- eben auf diese mit dem grössten Image-Faktor wachsprozess sehr genau. Obwohl den Kindern (Matthes, 2019). vordergründig zwar eine grosse Entscheidungs- freiheit gewährt wird, gilt hintergründig der Fazit gymnasialen Weg oft als Normalkonzept. Geht es um Potenziale von jungen Menschen, Solche Strategien setzen heute schon früh ein. sind nicht lediglich Mama und Papa die ehrgei- Viele Eltern entscheiden sich bereits in den ers- zigen Schuldigen, welche ihre Kinder überschät- ten Schuljahren für das Gymnasium und versu- zen, sie ins Gymnasium pushen und die Berufs- chen dann mit grossem Engagement, diesen lehre links liegen lassen. Diese Mainstream- Entscheid auch umzusetzen (Fend, 2014). Überzeugung ist zu einfach. Manchmal bleibt die realistische Beurteilung Das Bildungssystem spielt eine ebenso bedeut- der Fähigkeiten und Interessen des eigenen same Rolle. Als Abbild der Hochleistungsgesell- Kindes auf der Strecke. Dass der Sohn eigentlich schaft verstärkt es die Konkurrenzorientierung schulmüde ist oder die Tochter eher handwerk- zwischen Familien und ihre Konzentration auf liche Talente hätte, wird ausgeblendet und da- die Leistung als Produkt: die Noten. Dass sie mit auch, dass der berufliche Ausbildungsweg deshalb ihre Antennen dauernd ausgefahren besser zu deren Profil passen würde als eine haben ist eine logische Reaktion auf solche akademische Laufbahn. Trends. Die Berufslehre als zweite Wahl Weiterführende Literatur In solchen Elternhäusern gilt die Berufslehre oft Bude, H. (2011). Bildungspanik. Was unsere Ge- als zweite Wahl, manchmal sogar als Sackgas- sellschaft spaltet. München: Hanser. senausbildung. Einer der Gründe dürfte darin Fend, H. (2014). Bildungslaufbahnen von Gene- liegen, dass manche Eltern nicht gut informiert rationen: Befunde der LifE-Studie zur Interakti- sind, die Informationen zu kompliziert daher- on von Elternhaus und Schule. Zeitschrift für Er- kommen oder dass sie erst zu spät zur Kenntnis ziehungswissenschaft, 17, 37-72. genommen werden. Matthes, S. (2019). Warum werden Berufe nicht Viele Väter und Mütter (manchmal auch Lehr- gewählt? Die Relevanz von Attraktions- und kräfte) kennen die im internationalen Vergleich Aversionsfaktoren in der Berufsfindung. Bonn: einmalige Durchlässigkeit unseres Bildungssys- Bundesinstitut für Berufsbildung. tems nur rudimentär. Diese Unkenntnis ist in al- OECD (2017). Bildung auf einen Blick. OECD- len Sozialschichten festzustellen, insbesondere Indikatoren. Gütersloh: Bertelsmann. auch in gut situierten ausländischen Familien. Stamm, M. (im Druck). Auf Hochleistung ge- Ausgeblendet bleibt deshalb, dass ein junger trimmt. Das schwierige Leben der Kinder, von Mensch mit einer höheren beruflichen Ausbil- denen Gesellschaft und Familie zu viel erwar- dung jemand mit einer akademischen Laufbahn ten. München: Random House (erscheint im überflügeln kann. Ein Beispiel: Wird der Sohn August 2022). einer Geisteswissenschaftlerin Maurer, absol- viert er eine höhere Berufsbildung als Bauleiter 4 Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz: https://bit.ly/3jL8bjO Gymnasien und Berufsbildung
-16- Briefing Paper 4: Begabungsreserven fürs Gymnasium Gymnasium und Universität sind weitgehend zialschichten werden gemäss verschiedenen das Privileg der Schichten geblieben, die schon Forschungsstudien bei gleichen Kompetenzen Bildung haben. Vereinfacht gesagt besuchen deutlich strenger bewertet als Kinder aus der Heranwachsende aus oberen Schichten das Mittel- und Oberschicht (Baeriswyl, 2015; Hof- Gymnasium und studieren dann mehrheitlich an stetter, 2017). der Universität. Solche aus unteren Schichten Bereits wenige externe Parameter genügen, machen eine Berufslehre und vielleicht noch ei- damit begabte Kinder mit Minoritätshinter- ne Berufsmaturität, doch wechseln sie seltener grund beim Übertritt ins Gymnasium schlechte- an eine Fachhochschule als junge Menschen mit re Karten haben. Neben der vorausgesetzten El- akademisch gebildeten Vätern (Bundesamt für ternunterstützung bei Hausaufgaben und Prü- Statistik, 2021). Deshalb geht unserer Gesell- fungsvorbereitungen sind es vor allem familiäre schaft jedes Jahr ein Reservoir an intellektuel- Förderressourcen sowie die externe Verfügbar- lem Potenzial begabter Minoritäten5 verloren. keit von Lernunterstützung. Dazu kommen das Noch immer entscheidet nicht in erster Linie der selbstbewusste Auftreten höher gebildeter El- Grips, wer es ins Gymnasium schafft, sondern tern und ihre Rekursaffinität. vor allem die Herkunft. Dass dies für begabte Migrantenkinder gilt, ist inzwischen in vielen Die Crux der «verantworteten Eltern- Köpfen angekommen. Nicht jedoch, dass es ge- schaft» nauso einheimische Arbeiterkinder mit hohem intellektuellem Potenzial gibt, die jedoch oft in Dass der Übertritt ins Gymnasium für begabte die Berufsbildung abgelenkt werden. Minoritäten besonders schwierig ist, wird oft mit verschiedenen Legitimationsmustern ka- Eine zweite, nicht angemessen in den Blick ge- schiert. Ein Muster ist besonders verbreitet. Vä- nommene Gruppe sind intellektuell begabte ter und Mütter mit keiner oder nur einer Be- Knaben, die den Sprung ins Gymnasium seltener rufslehre seien sowieso nicht in der Lage, ihren als Mädchen schaffen – wohlverstanden bei Kindern im Gymnasium zu helfen, weshalb sie in gleichen kognitiven Fähigkeiten – und darum der Sekundarschule respektive in einer Berufs- eine Berufslehre absolvieren. Diese beiden lehre besser aufgehoben seien. Gruppen sind die Schwerpunkte dieses Briefing Papers. Doch dieses Legitimationsmuster hat seine ar- gumentativen Lücken. Erstens setzt es zu sehr Noten und Auswahlverfahren als Nadelöhr auf die Erwartung, dass Eltern die Lernleistung Intellektuell begabte und akademisch interes- ihrer Kinder festigen helfen müssen und die sierte Kinder aus sozial einfach gestellten Fami- «verantwortete Elternschaft» die Grundlage für lien schaffen zu selten den Bildungsaufstieg ins eine erfolgreiche Schullaufbahn sei. Dem wider- Gymnasium. Empirische Daten machen dies sprechen viele Studien. Beispielsweise weisen mehr als deutlich. Haben die Eltern studiert, tun Untersuchungen der frühkindlichen Bildungs- dies 88% der Kinder auch, aus Arbeiterfamilien forschung nach, dass Kinder mit einem sehr un- schafft es – bei gleichen schulischen Leistungen terschiedlichen Rucksack an Startkapital und – nur knapp jedes vierte Kind (24%). Und für ge- familiären Unterstützungsmöglichkeiten ins Bil- rade mal 4% trifft dies zu, wenn der Vater kei- dungssystem eintreten. Sie werden dann ent- nen Bildungsabschluss hat (Stamm, 2021b). sprechend ihrer sozialen Herkunft so sortiert, dass Kinder aus einfachen Familienverhältnissen Gute Noten sind nach wie vor die Übertrittsbe- in die Sekundar- oder Realschule, Akademiker- dingung Nummer eins. Auch Lehrkräfte sind oft kinder ins Gymnasium gelenkt werden (Tomasik überzeugt, der Übertritt ins Gymnasium hänge et al., 2018). allein von den Noten ab, weshalb die Entschei- dung einfach sei. Kaum wird berücksichtigt, wie Die Macht familiärer Bildungsentscheidun- sie zustande kommen. Kinder aus einfachen So- gen Die zweite Argumentationslücke betrifft die zu 5 Mit diesem Begriff beziehe ich mich auf alle jungen Men- wenig berücksichtigten Auswirkungen von fami- schen, die von sozialer Benachteiligung betroffen sind, über eine geringe Ressourcenausstattung verfügen und durch Le- liären Bildungsentscheidungen je nach sozialer bensbedingungen und Lebensführung von der anerkannten Schicht. Sie erklären, weshalb Kinder aus gut si- schulischen Wissens- und Lernkultur deutlich entfernt sind. Ihre genutzten und ungenutzten Potenziale
-17- tuierten Verhältnissen eher das Gymnasium darüber nachdenken, das Gymnasium zu besu- schaffen, auch wenn sie sich nicht von Kindern chen. aus einfachen Verhältnissen unterscheiden. Ge- Grundsätzlich muss berücksichtigt werden, dass bildete Väter und Mütter verfügen über eine einfach gestellte Migrationsfamilien oft relativ grosse Motivation gegenüber dem Gymnasium, ehrgeizige Strategien verfolgen und den geziel- fürchten sich kaum vor Investitionsrisiken und ten Wunsch haben, ihre Kinder möchten erfolg- gewichten auch das Sozialprestige höher als ein- reich werden und akademische Berufe ergreifen fach gestellte Familien. (Stamm, 2021a, Briefing Paper 4). Diese kennen das Gymnasium nicht aus eigener Erfahrung, schätzen die Zugangshürden als sehr Knaben als Begabungsreserve hoch ein und schrecken vor den erwarteten In- Die geschlechtsspezifische Bildungsbeteiligung vestitionskosten zurück, was sich in einer deut- hat sich in den letzten Jahren massiv gewandelt, lichen Skepsis gegenüber akademischer Bildung weil junge Frauen im Durchschnitt heute höhe- äussern kann. Weil sie sich eher an der Ver- re Bildungsabschlüsse vorweisen als junge wertbarkeit der Ausbildung orientieren, sollen Männer. Sichtbar wird dies auch in der Entwick- ihre Kinder eine Berufslehre absolvieren und re- lung der gymnasialen Maturitätsquote. Die Dif- lativ schnell eigenes Geld verdienen. Dieser ferenz zwischen den Geschlechtern betrug im Verwertbarkeitsgedanke kann den Wunsch von Jahr 2019 8.3% (Abbildung 2). Während sich der Arbeiterkindern, das Gymnasium zu besuchen, Anteil der Gymnasiasten seit der Jahrtausend- deutlich einschränken. wende nur minimal erhöht hat – von etwa 16% Selbstverständlich gibt es einfach gestellte Fa- auf 18% – ist die Mädchenquote von 20% auf milien, die stolz sind auf ihr smartes Kind, das 26.3% angestiegen. Gymnasium unterstützen und alles dafür tun, Im Vergleich zu den OECD-Staaten ist der Gen- ihm diesen Schritt zu ermöglichen. Doch je der-Gap in der Schweiz überdurchschnittlich niedriger die Bildungsorientierung der Familie, gross. Auch in Deutschland und Österreich – desto deutlicher ist die skeptische Haltung. Aus- zwei Staaten mit ähnlichen Bildungssystemen, sagen wie «Wer ins Gymnasium geht und stu- ist die Geschlechterkluft kleiner. diert, weiss nicht, was arbeiten heisst» werden zu einem schlechten Fundament für junge Men- schen, die als erste in der Familie überhaupt Abbildung 2: Entwicklung der gymnasialen Maturitätsquote nach Geschlecht (BfS, 2.11.2021) Hintergründe für den Gender-Gap rische Tatsache. Allerdings unterscheiden sich Dass Knaben hierzulande den Übertritt ins die Geschlechter kaum in ihren kognitiven Fä- Gymnasium seltener schaffen und auch seltener higkeiten. Warum schaffen Knaben trotzdem die Matura machen als Mädchen, ist eine empi- seltener das Gymnasium? Dazu gibt es viele Ar- Gymnasien und Berufsbildung
-18- gumentationsmuster. Einige sind für die hier dem ist die These zu gewagt. Mehrere in- verfolgte Thematik wesentlich (für differenzier- ternationale empirische Studien haben den tere Analysen siehe Stamm, 2009). Bildungserfolg von Mädchen und Knaben untersucht. Sie kamen zum Schluss, dass ⚫ Minderleister: Mit dem Begriff gemeint ist letztere bei Lehrern weder bessere Leistun- das Phänomen, dass Heranwachsende trotz gen zeigen oder bessere Schulnoten in Ma- ihres hohen intellektuellen Potenzials ledig- thematik, Deutsch oder Fremdsprachen be- lich durchschnittliche oder gar schlechte kommen und auch keine höhere Chance Leistungen zeigen. Minderleistung oder Un- aufs Gymnasium haben als bei Lehrerinnen. derachievement gilt als männliches Phäno- Männliche Lehrkräfte wirken sich nicht posi- men, zahlreiche Studien berichten durchge- tiver auf die Schulnoten der Knaben aus hend von einem Verhältnis von Knaben zu (Neugebauer, 2011; Helbig, 2012). Mädchen von 2:1 oder gar 3:1 (Stamm, 2009). Warum dem so ist, wird oft mit dem Eher zutreffen dürfte das, was allgemein Verhalten erklärt. Knaben fühlen sich in der unter dem Stichwort «Gendering in der Regel der Schule weniger verbunden, wäh- Schule» zusammengefasst wird. Gemeint rend sie von Mädchen mehrheitlich positi- sind damit die sprachlastigen und auf Sozi- ver erlebt wird und sie deshalb motivierter alkompetenzen fokussierten Lehrpläne so- sind, zu lernen. Sie investieren mehr Zeit in wie die eher auf die Mädchen ausgerichte- schulische Dinge und stören seltener den ten Sichtbarkeit der Geschlechter in Schul- Unterricht. büchern (Makarova et al., 2019). ⚫ Schlechtere Benotung: Um den Übertritt ins Fazit Gymnasium zu schaffen, müssen Knaben im Vergleich zu Mädchen bei gleicher Kompe- In diesem Briefing Paper sind zwei Reservoirs an tenz höhere Leistungen erbringen. Selbst Begabungsreserven fürs Gymnasium bespro- wenn sie die gleichen Noten haben wie chen worden: Begabte Kinder aus Minoritäts- Mädchen, empfehlen Lehrkräfte sie selte- familien und das männliche Geschlecht. ner für das Gymnasium. Argumentiert wird, dass zumindest teilweise der durchschnittli- Beide Gruppen haben Nachteile beim Übertritt cher Rückstand der Knaben im Lesen eine ins Gymnasium. Dies dürfte jedoch kaum mit Rolle spiele, weil das Fach Deutsch bei der der Feminisierung der Schule zusammenhän- Lehrerempfehlung fürs Gymnasium beson- gen. In erster Linie liegen sie in der Schullauf- ders gewichtet werde und ihnen dies zu- bahnempfehlungen der Primarschullehrkräfte sammen mit ihrem weniger konformen und ihren Einschätzungen des Leistungspoten- Schulverhalten Nachteile bringe (Kröhnert zials. Sicher formulieren Lehrkräfte ihre Emp- et al., 2015). Zeigen Knaben jedoch Gewis- fehlungen nach sorgfältigen Erwägungen. Und senhaftigkeit, Motivation und Lernbereit- schaft – also den Mädchen zugeschriebene das hat nichts mit dem Geschlecht der Lehrkräf- Eigenschaften – werden sie auch besser te zu tun. Vielmehr berücksichtigen sie Fakto- bewertet. ren, die von Mädchen im Schnitt besser erfüllt werden. Neben kognitiven Fähigkeiten fliessen ⚫ Langsamere Reifung: Im Vergleich zu Mäd- auch Faktoren ein wie Motivation, Ausdauer, chen entwickeln sich Knaben durchschnitt- Anstrengungs- und Lernbereitschaft, angepass- lich langsamer. Schon vorgeburtlich haben sie eine höhere Verletzlichkeit («Vulnerabili- tes Verhalten oder die Fähigkeit zum selbstre- tät»). Im Gegensatz hierzu weisen Mädchen gulierten Lernen. Knaben werden somit durch bis zur Pubertät unter anderem wegen ihrer Vorgaben benachteiligt, die dem Verhalten der schnelleren Gehirnentwicklung einen Reife- Mädchen entgegenkommen. Dazu kommt die vorsprung auf – doch die genauen neurona- Lesekompetenz; welche die Noten und damit len Mechanismen liegen zum grossen Teil die Übertrittsempfehlung beeinflusst. Knaben, noch im Verborgenen. die sich geschlechtsatypisch verhalten – also ei- Zusammengenommen zeigen sich Benach- ne gleich grosse Lernbereitschaft an den Tag le- teiligungen für Knaben teilweise bereits gen wie Mädchen – werden sogar etwas häufi- früh in der Schullaufbahn. Dazu gehören ei- ger – und nicht seltener – für das Gymnasium ne spätere Einschulung, Klassenwiederho- empfohlen (Neugebauer, 2011) lungen oder mehr Therapien. Dies könnte ein Grund sein, weshalb ihnen auch der Mit Blick auf begabte Minoritäten ist die soziale Sprung ans Gymnasium seltener gelingt. Herkunft ein bedeutsamer Einflussfaktor, wenn es um den Übertritt ins Gymnasium geht. Zu oft ⚫ Feminisierung der Schule: Die These zur liegt das Augenmerk auf den vorausgesetzten Feminisierung der Schule – wonach der ho- familiären Unterstützungsmöglichkeiten und hen Anteil weiblicher Primarschulkräfte an Ressourcen. Solche Aspekte gilt es zu berück- der «Schulkrise der Knaben» hauptbeteiligt sei – ist inzwischen weit verbreitet. Trotz- Ihre genutzten und ungenutzten Potenziale
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