Gymnasien und Berufsbildung: Ihre genutzten und ungenutzten Potenziale - Prof. Dr. Margrit Stamm

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Gymnasien
               und
     Berufsbildung:
Ihre genutzten und ungenutzten
                     Potenziale

                      Dossier 21/2

        Prof. Dr. Margrit Stamm
-- 2 --

             Forschungsinstitut Swiss Education
Prof. Dr. Margrit Stamm
Professorin em. für Erziehungswissenschaften der Universität Fribourg
Aeschbachweg 12
CH-5000 Aarau +41 31 311 69 69
Persönliche Assistentin: Romina Zenkluse:(079 462 92 82)
www.margritstamm.ch

Ihre genutzten und ungenutzten Potenziale
-- 3 --

Inhalt
Vorwort ......................................................................................................................... 4

Ziele und Inhalte dieses Dossiers .................................................................................... 5

Management Summary .................................................................................................. 6

Schlüsselbotschaften ...................................................................................................... 8

Briefing Paper 1: Stärken von Gymnasien und Berufsbildung ......................................... 10

Briefing Paper 2: Achillesfersen des Bildungssystems .................................................... 12

Briefing Paper 3: An den Eltern liegts. Dieses Argument ist zu einfach! .......................... 14

Briefing Paper 4: Begabungsreserven fürs Gymnasium .................................................. 16

Briefing Paper 5: Begabungsreserven für die Berufsbildung ........................................... 20

Briefing Paper 6: Fünf Konsequenzen ............................................................................ 23

Gymnasien und Berufsbildung
-- 4 --

Vorwort
      Es muss nicht jeder und jede ins Gym-               signifikant weniger leistungsfähige junge Men-
      nasium, manche wären in einer Berufs-               schen zur Verfügung.
      lehre besser aufgehoben. Die Berufs-
      bildung braucht dringend leistungs-                 Dieses Dossier widmet sich den Begabungs- und
      starke Jugendliche.                                 Talentreserven sowohl in der beruflichen
Diese Argumentation ist richtig. Doch sie gilt vor        Grundbildung als auch in den Gymnasien. Dabei
allem für junge Menschen mit praxisorientierten           geht es nicht um eine Erhöhung der gymnasialen
Begabungen, die sich weniger für akademische              Maturaquote, sondern um Überlegungen, wer
Inhalte begeistern können oder die Matura nur             ins Gymnasium gehört und wer eher in die Be-
mit Ach und Krach hinkriegen. Gegenteiliges               rufsbildung. Dafür gibt es verschiedene Gründe.
trifft für die nahezu vergessene Gruppe der in-           Erstens sind manche junge Menschen vor allem
tellektuell begabten und interessierten Heran-            im Gymnasium, um den Berufsentscheid aufzu-
wachsenden aus einfach gestellten Familien zu.            schieben. Sie wissen nicht, was sie wollen und
Sie schaffen zu selten den Bildungsaufstieg ins           haben eigentlich kaum akademische Interessen.
Gymnasium. Solche Minoritäten hätten zwar das             Zweitens setzt die Berufsbildung bei der Rekru-
Potenzial für den Übertritt, bekommen aber                tierung von Lernenden zu sehr auf hohe Schul-
kaum angemessene Gelegenheiten dazu.                      abschlüsse und gute Noten und zu wenig auf
                                                          unerkanntes Potenzial. Und drittens werden in-
Unser Bildungssystem gilt aufgrund                                    tellektuell begabte Kinder aus einfa-
seiner Dualität und Durchlässigkeit                                   chen Sozialschichten sowie begabte
als besonders erfolgreich. Doch es                                    Knaben zu häufig in die Berufsbil-
gibt zu denken, dass die Berufsbil-                                   dung abgelenkt, auch wenn sie aka-
dung vor allem von Jugendlichen                                       demische Interessen haben und ei-
aus nicht-akademischen Elternhäu-                                     gentlich ins Gymnasium gehören
sern in Anspruch genommen wird,                                       würden.
während Gymnasien in erster Linie
von Jugendlichen aus akademisch                                       Beide Bildungswege sollten sich von
gebildeten Familien besucht wer-                                      der alleinigen Konzentration auf No-
den. Das ist kein zukunftsträchtiger                                  tendurchschnitte und Prüfungen
Zustand. Persönliche Interessen und                                   wegbewegen hin zur Suche nach Po-
Fähigkeiten sollten den Ausschlag zur Bildungs-                       tenzialen und Stärken. Allerdings
und Berufswahl geben und nicht die soziale Her-           kann ein solcher Fokus nicht dadurch gewähr-
kunft, private Förderressourcen und die Wün-              leistet werden, indem man Begriffe wie «Bega-
sche der Eltern. Dann wären in der Berufsbil-             bung» oder «Talent» inflationär gebraucht, wäh-
dung mehr leistungsstarke Jugendliche aus gut             rendem die traditionellen Selektions- und Rekru-
situierten Familien vertreten, in den Gymnasien           tierungsprozeduren beibehalten werden und
mehr intellektuell begabte Kinder aus Arbeiter-           andere Einflussfaktoren unberücksichtigt blei-
und benachteiligten Migrantenfamilien – aber              ben.
auch mehr Knaben.                                         Das vorliegende Dossier leistet einen Beitrag zu
Gymnasien und Berufsbildung werden oft ge-                einer kritischen Diskussion der Thematik. Meine
geneinander ausgespielt. Das ist problematisch.           Assistentin, Romina Zenklusen, hat wie bei den
So hört man immer wieder, die Gymnasien seien             bisherigen Dossiers auch, wichtige Recherchear-
schuld, dass der Berufsbildung die leistungsstar-         beiten übernommen. Dafür danke ich ihr herz-
ken Lernenden fehlen, weshalb sie das Verliere-           lich.
rimage bekommen würden. Aber ist das Gymna-
sium wirklich der Prügelknabe? Eher nicht, denn
gute Lernende fehlen nicht deshalb, weil sie sich
fürs Gymnasium entscheiden. Nach wie vor                  Prof. Dr. Margrit Stamm
wählen gleich viel Jugendliche als bisher das             Professorin em. der Universität Fribourg
                                                          Forschungsinstitut Swiss Education
Gymnasium, aber etwas mehr eine Fachmittel-
schule. Der Berufsbildung stehen somit nicht              Aarau, im Dezember 2021

Ihre genutzten und ungenutzten Potenziale
-5-

Ziele dieses Dossiers
Das Dossier widmet sich den Begabungsreser-         folgende Dossiers erschienen, die gratis von der
ven für Berufsbildung und Gymnasien und wirft       Website heruntergeladen werden können
den Blick auf genutzte und ungenutzte Potenzia-     ⚫ Talentmanagement in der beruflichen
le. Obwohl beide Bildungswege über manche                 Grundbildung. Dossier 12/2. Universität
Leuchtturm-Institutionen zur Potenzial- und Ta-           Fribourg: Departement Erziehungswissen-
lentförderung verfügen, fehlt nach wie vor die            schaften.
systematische Suche nach begabten Lernenden         ⚫ Migranten mit Potenzial. Begabungsreser-
und begabten Gymnasiastinnen und Gymnasias-               ven in der Berufsbildung ausschöpfen.
ten mit den jeweils erforderlichen Interessen –           Dossier 12/4. Bern: Forschungsinstitut
vor allem, wenn es um soziale Herkunft, Ethnie            Swiss Education.
und Geschlecht geht. Die Suche nach solchen
                                                    ⚫ Lehrlingsmangel. Strategien für die Rekru-
begabten Minoritäten ist eine besondere Her-              tierung des Nachwuchses. Dossier 13/2.
ausforderung, denn Begabungen, Talente und                Bern: Forschungsinstitut Swiss Education.
Potenziale sind nicht per se an guten Schulnoten
                                                    ⚫ Nur (k)eine Berufslehre. Eltern als Rekru-
oder bestandenen Prüfungen erkennbar. Viel-
                                                          tierungspool. Dossier 14/4. Bern: For-
mehr müssen sie spezifisch gesucht, erkannt,              schungsinstitut Swiss Education.
anerkannt und gefördert werden.
                                                    ⚫ Praktische Intelligenz: Ihre missachtete
Das Dossier verfolgt zwei Ziele: Erstens verweist         Rolle in der beruflichen Ausbildung. Dossi-
es auf die Anteile von Zeitgeist und Bildungssys-         er 15/2. Bern: Forschungsinstitut Swiss
tem an der zumindest tendenziellen Selektivität           Education.
von Berufsbildung und Gymnasien. Deshalb            ⚫ Die Top 200 des beruflichen Nachwuchses:
werden junge Menschen oft nicht ihren Mög-                Was hinter Medaillengewinnern an Be-
lichkeiten entsprechend gefördert, manche so-             rufsmeisterschaften steckt. Dossier 17/1.
gar überfördert und überfordert. Zweitens be-             Bern: Forschungsinstitut Swiss Education.
legt es anhand empirischer Studien, wo die ver-     ⚫ Die Berufslehre hat ein Geschlecht. Wes-
deckten Potenziale sind und wie sie entdeckt              halb es weibliche Talente schwer haben.
und gefördert werden können.                              Unter Mitarbeit von Dr. Michael Nieder-
                                                          hauser. Dossier 18/1. Bern: Forschungs-
Die bestehenden Strukturen unseres Bildungs-              institut Swiss Education.
systems werden in diesem Dossier nicht zur Dis-
kussion gestellt. Weder braucht es eine höhere      ⚫ Top und Flop an der Lehrabschlussprü-
Gymi-Quote noch ausschliesslich grosse finanzi-           fung. Qualifikationsverfahren unter der
                                                          Lupe. Dossier 19/1. Aarau: Forschungs-
elle Anstrengungen für den Versuch, verdeckte
                                                          institut Swiss Education.
Potenziale zu finden und Bildungsungerechtig-
keiten etwas zu neutralisieren. Nicht die Höhe      ⚫ Die SwissSkills 2018 als Sprungbrett? Teil-
der nationalen Bildungsausgaben spielt die                nehmende, Erfolg, Auswirkungen. Dossier
                                                          20/1. Aarau: Forschungsinstitut Swiss Edu-
zentrale Rolle (die Schweiz nimmt diesbezüglich
                                                          cation.
einen internationalen Spitzenplatz ein), sondern
Haltungen und Einstellungen von Leitungsgre-        ⚫ Psychologie der Elternerwartungen. Wa-
mien sowie Lehr- und Fachkräften in Schulen               rum zu hohe Erwartungen den Schulerfolg
                                                          bremsen können. Dossier 21/1. Aarau:
und Ausbildungsbetrieben. Deshalb plädiert die-
                                                          Forschungsinstitut Swiss Education.
ses Dossier für bescheidene und kostengünstige
Varianten, die im Hier und Jetzt umsetzbar sind.
Alle bisher erschienenen Dossiers sind auf der
Website margritstamm.ch gratis herunterlad-
bar. Mit Bezug auf Themen wie Berufsbildung,
Gymnasium, Begabung und Talent sind bisher

Gymnasien und Berufsbildung
-6-

Management Summary
Briefing Paper 1: Stärken von Gymnasien                      Hochleistungsgesellschaft geworden. Zu seinen
und Berufsbildung                                            Achillesfersen gehören der Trend zur Akademi-
Auf der Sekundarstufe II gibt es sowohl an                   sierung, die Vorstellung des optimierbaren Kin-
Gymnasien als auch in der Berufsbildung man-                 des, die Illusion der leistungsgerechten Selektion
che Leuchttürme der Begabungs- und Ta-                       sowie die für bestimmte Gruppen (solche aus
lentförderung. In den letzten fünfzehn Jahren                benachteiligten Familien sowie Knaben) vor-
hat sich in dieser Richtung viel getan.                      herrschenden Ablenkungsprozesse in die Be-
                        Briefing Paper 1 Seite 10           rufsbildung.

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich das                  Briefing Paper 3: An den Eltern liegts. Die-
Gymnasium enorm gewandelt. Heute bietet es                   ses Argument ist zu einfach!
attraktive Programme für eine intellektuell an-              Geht es um Fähigkeiten von jungen Menschen,
spruchsvolle Bildung. Seit längerem werden                   so sind Mama und Papa nicht einfach die ehr-
überregional und innerhalb der einzelnen Insti-              geizigen Schuldigen, welche ihre Kinder ins
tutionen besondere Wege der Begabungs- und                   Gymnasium pushen und die Berufslehre links
Talentförderung beschritten. Diese Tatsache ist              liegen lassen. Das Bildungssystem spielt eine
                                                             ebenso bedeutsame Rolle.
gleichzeitig zu einem Dilemma geworden, weil
Beliebtheit und Prestige des Gymnasiums die                                       Briefing Paper 3 Seite 14
Herausforderung vergrössern, gegenüber den
eigenen anspruchsvollen Normen nicht zurück-                 Viele gut gebildete Väter und Mütter praktizie-
zubleiben.                                                   ren das, was die Bildungspolitik seit mehr als
                                                             zwei Jahrzehnten von ihnen erwartet: eine bil-
Auch die Berufsbildung hat sich stark entwickelt.
                                                             dungsbeflissene Elternschaft. Deshalb bemühen
International geniesst sie einen hervorragenden
                                                             sie sich darum, dass der Nachwuchs von Anfang
Ruf, obwohl sie einen Spagat bewältigen muss:
                                                             an im Vergleich zu anderen Kindern gleiche oder
leistungsschwache Jugendliche in die berufliche
                                                             bessere Chancen hat. Dahinter mag eine gewis-
Grundbildung zu integrieren und leistungsstarke
                                                             se Bildungspanik stecken, auf die mit kontinuier-
Auszubildende für eine anspruchsvolle Berufs-
                                                             lichem Optimierungsstreben reagiert wird. Dazu
ausbildung zu gewinnen. Leider ist die Durchläs-
                                                             kommt der «Elterndeterminismus», d.h. die
sigkeit unseres Berufsbildungssystems der brei-
                                                             Vorstellung, dass die Leistungsfähigkeit des Kin-
teren Öffentlichkeit zu wenig bekannt. Gleiches
                                                             des und die Fähigkeit seiner Eltern, gute Eltern
gilt für die häufig vergessene höhere Berufsbil-
                                                             zu sein, unmittelbar kausal verknüpft sind. Zei-
dung.
                                                             gen sich Probleme, sind Väter – und vor allem
Auf der Basis des Berufsbildungsgesetzes ist die             Mütter – schuld. Ist ein Kind hingegen hochleis-
Förderung von Talenten zu einer wichtigen be-                tungsfähig, gilt dies als Verdienst der Eltern.
rufspädagogischen Aufgabe geworden. Heute
                                                             Weil Eltern schon früh mit dem leistungsorien-
gibt es viele Projekte, Initiativen und Austausch-
                                                             tierten Bildungssystem konfrontiert werden,
praktika für talentierte Lernende. Einer breite-
                                                             kontrollieren sie den kindlichen Aufwachspro-
ren Öffentlichkeit ist die berufliche Talentförde-
                                                             zess auch strategisch. Manche entscheiden sich
rung jedoch erst mit den SwissSkills begegnet.
                                                             bereits in den ersten Schuljahren für das Gym-
                                                             nasium und versuchen dann mit entsprechen-
Briefing Paper 2: Achillesfersen des Bil-                    dem Engagement, diesen Entscheid auch umzu-
dungssystems                                                 setzen. Die Berufslehre bleibt zweite Wahl.
Die Passung zwischen individuellen Fähigkei-
ten, Interessen sowie Neigungen und der Wahl                 Briefing Paper 4: Begabungsreserven fürs
des Ausbildungswegs funktioniert nicht so wie                Gymnasium
erhofft.
                          Briefing Paper 2 Seite 12         Es gibt verschiedene Begabungsreserven fürs
                                                             Gymnasium. Zwei Reservoirs stechen hervor:
                                                             Begabte Kinder aus einfach gestellten Familien
Für manche gilt das Gymnasium als Königsweg                  und das männliche Geschlecht.
der Ausbildung. Solche Überzeugungen werden
oft angeprangert, doch dahinter stecken Achil-
                                                                                Briefing Paper 4 Seite 16
lesfersen, die ihren Ursprung im Bildungssystem
                                                             Noch immer entscheidet nicht in erster Linie der
haben. Dieses wiederum ist ein Abbild unserer
                                                             Grips, wer es ins Gymnasium schafft, sondern

Ihre genutzten und ungenutzten Potenziale
-7-

vor allem die soziale Herkunft. Deshalb geht un-      die Leistungsspitze zu gelangen, ist ebenso eine
serer Gesellschaft jedes Jahr ein Reservoir an in-    Kombination von überfachlichen Kompetenzen
tellektuellem Potenzial begabter Minoritäten          (Stressresistenz, Durchsetzungsfähigkeit, Hart-
verloren. Dazu gehört auch die Gruppe begabter        näckigkeit und Frustrationstoleranz) und familiä-
Knaben, die den Sprung ins Gymnasium deutlich         re sowie betriebliche und berufsschulische Un-
seltener als Mädchen schafft.                         terstützung notwendig. Darüber hinaus sind sig-
                                                      nifikante Andere in vielen Fällen entscheidend
Gute Noten sind nach wie vor die Übertrittsbe-
                                                      für Ausbildungserfolg und Bildungsaufstieg.
dingung Nummer eins. Doch es wird kaum be-
rücksichtigt, wie sie zustande kommen. Sicher         Ferner lassen unsere SwissSkills-Ergebnisse mit
formulieren Primarschullehrkräfte ihre Empfeh-        Blick auf die Begabungsreserven junger Frauen
lungen nach sorgfältiger Erwägung. Doch neben         darauf schliessen, dass das weibliche Geschlecht
den Noten und der Einschätzung kognitiver Fä-         stärker zur Teilnahme ermutigt werden sollte
higkeiten fliessen auch weitere Faktoren ein wie      und zwar jenseits der Bemühungen, die Ge-
Motivation, Ausdauer, Anstrengungsbereit-             schlechtsspezifik der Berufswahlentscheide ab-
schaft, angepasstes Verhalten oder die Fähigkeit      zubauen.
zum selbstregulierten Lernen – genauso wie die
erwartete Unterstützung durch das Elternhaus.         Briefing Paper 6: Fünf Konsequenzen
Solche Möglichkeiten haben Kinder aus einfa-          Fähigkeiten und Neigungen sollten stärker die
chen Sozialschichten nicht. Dazu kommt, dass          individuelle Ausbildungswahl lenken, damit be-
die Mehrheit der sozial einfach gestellten Fami-      stimmte Gruppen chancengerechtere Möglich-
lien dem gymnasialen Bildungsweg aus ver-             keiten bekommen, ihre Fähigkeiten unter Be-
schiedenen Gründen eher skeptisch gegenüber-          weis zu stellen. Fünf Konsequenzen.
steht und vor den erwarteten Investitionskosten                            Briefing Paper 6 Seite 23
zurückschreckt. Migrantenfamilien sind hinge-
gen oft bildungsambitionierter.                       Welche machbaren Veränderungen sind not-
Dass Knaben den Übertritt ins Gymnasium sel-          wendig, damit zukünftig stärker Neigungen, Fä-
tener schaffen und auch seltener die Matura           higkeiten und Interessen bei der Wahl des Bil-
machen als Mädchen, ist eine empirische Tatsa-        dungsweges eine Rolle spielen und nicht die so-
che. Allerdings unterscheiden sich die Ge-            ziale Herkunft, ein bestimmter kultureller Hin-
schlechter kaum in ihren kognitiven Fähigkeiten.      tergrund oder das Geschlecht? Dies ist die ar-
Warum Knaben trotzdem weniger erfolgreich             gumentationsleitende Frage für die Formulie-
sind, wenn es um den Gymi-Übertritt geht, wird        rung von fünf Konsequenzen. Sie basieren auf
allgemein mit folgenden Faktoren erklärt: Min-        dem Prinzip der Chancengerechtigkeit, definiert
derleistung, weniger gewissenhaftes Arbeiten          als Ermöglichung und Unterstützung fairer
für die Schule und nonkonformeres Verhalten           Chancen bei der Überwindung von Nachteilen
sowie langsamere Reifung. Oft wird auch die           und die Ausrichtung auf die Entdeckung von Po-
Feminisierung der (Primar-)Schule als Ursache         tenzialen. Es sind dies:
genannt. Sie bestätigt sich empirisch aber nicht.     ⚫ Konsequenz 1: Objektive und vergleichende
                                                            Information zu beiden Bildungswegen erar-
Briefing Paper 5: Begabungsreserven für                     beiten.
die Berufsbildung                                     ⚫ Konsequenz 2: Mehr intellektuell interes-
Begabungsreserven können kaum ausschliess-                  sierten benachteiligten Kindern den Weg
lich mittels Schulnoten und Leistungstests er-              ans Gymnasium ebnen.
kannt werden. Auch das Niveau eines Schulab-
schlusses sagt wenig aus über Entwicklungspo-         ⚫ Konsequenz 3: Intellektuell begabten Kna-
tenziale.                                                   ben mehr Chancen für den Übertritt ins
                                                            Gymnasium ermöglichen.
                         Briefing Paper 5 Seite 20   ⚫ Konsequenz 4: Neue Potenziale für die Be-
                                                            rufsbildung suchen und aufbauen.
Überdurchschnittliche Leistungsverläufe setzen
nicht zwingend hohe Schulabschlüsse, gute
                                                      ⚫ Konsequenz 5: Nach chancengerechteren
                                                            Rekrutierungspraxen für die Berufsbildung
Schulnoten und gradlinige Schullaufbahnen vo-               suchen.
raus. Auch kognitive Fähigkeiten sind offenbar
keine hinreichende Voraussetzung, um beson-
ders ausbildungserfolgreich zu werden. Um an

Gymnasien und Berufsbildung
-8-

Schlüsselbotschaften
Briefing Paper 1: Stärken von Gymnasien                    ⚫ Noten sind nach wie vor die Übertrittsbe-
und Berufsbildung                                             dingung Nummer eins. Doch auch andere
                                                              Faktoren fliessen ein wie Anstrengungsbe-
⚫ Das Gymnasium bietet attraktive Program-                    reitschaft, angepasstes Verhalten, die Fä-
     me für eine intellektuell anspruchsvolle Bil-
                                                              higkeit zum selbstregulierten Lernen - so-
     dung an und beschreitet besondere Wege
                                                              wie vorausgesetzte Unterstützungsmöglich-
     der Begabungs- und Talentförderung.
                                                              keiten des Elternhauses.
     Gleichzeitig vergrössert sein Prestige die
     Herausforderung, gegenüber den eigenen
                                                           Briefing Paper 5: Begabungsreserven für
     anspruchsvollen Normen nicht zurückzu-
                                                           die Berufsbildung
     bleiben.
                                                           ⚫ Begabungsreserven können kaum aus-
⚫ Die Berufsbildung geniesst auch internatio-                 schliesslich mittels Schulnoten und Leis-
     nal einen hervorragenden Beruf. Trotzdem
                                                              tungstests erkannt werden. Auch das Ni-
     muss sie den Spagat bewältigen, leistungs-
                                                              veau eines Schulabschlusses sagt wenig aus
     schwache Jugendliche zu integrieren und
                                                              über Entwicklungspotenziale.
     leistungsstarke Auszubildende für eine an-
     spruchsvolle Berufsausbildung zu gewinnen.            ⚫ Auf dem Weg an die Leistungsspitze ist vor
                                                              allem eine Kombination von überfachlichen
Briefing Paper 2: Achillesfersen des Bil-                     Kompetenzen und familiärer sowie betrieb-
dungssystems                                                  licher und berufsschulischer Unterstützung
                                                              notwendig.
⚫ Die Passung zwischen individuellen Fähig-
     keiten, Interessen sowie Neigungen und der
                                                           Briefing Paper 6: Fünf Konsequenzen
     Wahl des Ausbildungswegs funktioniert
     nicht so wie erhofft.                                 ⚫ Fähigkeiten und Neigungen sollen stärker
                                                              die Ausbildungswahl lenken, damit be-
⚫ Das Bildungssystem sowie unsere Optimie-                    stimmte Gruppen chancengerechtere Mög-
     rungsgesellschaft spielen hierfür eine
                                                              lichkeiten bekommen, ihre Fähigkeiten un-
     Hauptrolle. Achillesfersen sind der Trend
                                                              ter Beweis zu stellen.
     zur Akademisierung, die Vorstellung des op-
     timierbaren Kindes, die Illusion der leis-            ⚫ Fünf Konsequenzen: (1) Objektive und ver-
     tungsgerechten Selektion wie auch die für                gleichende Information zu beiden Bil-
     bestimmte Gruppen vorherrschenden Ab-                    dungswegen erarbeiten. (2) Mehr intellek-
     lenkungsprozesse in die Berufsbildung.                   tuell interessierten, benachteiligten Kindern
                                                              den Weg ans Gymnasium ebnen. (3) Intel-
Briefing Paper 3: An den Eltern liegts. Die-                  lektuell begabten Knaben mehr Chancen für
ses Argument ist zu einfach!                                  den Übertritt ins Gymnasium ermöglichen.
                                                              (4) Verdeckte Potenziale für die Berufsbil-
⚫ Mama und Papa sind die ehrgeizigen Schul-                   dung erschliessen. (5) Nach chancengerech-
     digen, welche ihre Kinder ins Gymnasium
                                                              teren Rekrutierungspraxen für die Berufs-
     pushen und die Berufslehre links liegen las-
                                                              bildung suchen.
     sen. Diese These ist zu einfach.
⚫ Das Bildungssystem spielt eine ebenso be-
     deutsame Rolle, weil es ein Abbild der aka-
     demisierten Hochleistungsgesellschaft ge-
     worden ist.

Briefing Paper 4: Begabungsreserven fürs
Gymnasium
⚫ Es gibt verschiedene Begabungsreserven
     fürs Gymnasium. Zwei Reservoirs stechen
     heraus: Begabte Kinder aus Minoritätsfami-
     lien und das männliche Geschlecht.

Ihre genutzten und ungenutzten Potenziale
-9-

                                 Gymnasien
                                        und
                              Berufsbildung:
                    Ihre genutzten und ungenutzten
                                         Potenziale

                                             Dossier 21/2

                               Prof. Dr. Margrit Stamm

Gymnasien und Berufsbildung
-10-

Briefing Paper 1: Stärken von Gymnasien und
Berufsbildung
Die Pandemie hat alle Menschen, besonders                  dann in den Kantonen und Schulen zu erfolgen
auch die junge Generation, stark herausgefor-              hat, ist wichtig für eine besondere Stärke der
dert. Vielen von ihnen fehlte eine Zukunftsper-            Gymnasien: die Begabungs- und Talentförde-
spektive, und oft ist das heute noch so. Eine Ge-          rung. Denn in dem Masse, wie sie ihre Exklusivi-
legenheit also, unser Bildungssystem mit Blick             tät für wenige verloren haben, beschreiten sie
auf die Potenziale der «Generation Corona» un-             seit längerem überregional und innerhalb der
ter die Lupe zu nehmen. In diesem Briefing Pa-             einzelnen Institutionen besondere Wege der
per geht es um Merkmale von Gymnasien und                  Begabungs- und Talentförderung.
Berufsbildung im Hinblick auf ihre je spezifi-
                                                           Eine Erfolgsgeschichte ist der bilinguale Unter-
schen Stärken.
                                                           richt und die ihn abschliessende zweisprachige
                                                           Maturität. Heute können Gymnasiastinnen und
Das Gymnasium und seine Massstäbe für
                                                           Gymnasiasten an etwa 110 Gymnasien eine
Exzellenz                                                  zweisprachige Matura absolvieren1. Eine Ta-
Das Gymnasium legt bis heute das Fundament                 lentgruppierung erfolgt auch über besondere
für akademische Exzellenz. Als Leitinstitution             Sport-, Musik- und Kunstgymnasien. In der
bestimmt es von der Spitze her das Ausmass der             Schweiz sind es fünf Sportgymnasien und etwa
Selektivität und manchmal ebenso die Formen                70 Schulen mit zusätzlichen Angeboten für
der Selektion. Dabei wird es auch mit Vorwür-              sportlich begabte Jugendliche. Zudem existieren
fen konfrontiert, es sei eine Standesschule für            drei Musikgymnasien. Die Ausbreitung der
das Bildungsbürgertum. Deshalb widerspiegle                Kunstgymnasien lässt sich quantitativ nicht
es keine soziale Bildungsgerechtigkeit.                    exakt beziffern.
Doch in den vergangenen Jahrzehnten hat sich               Neben den gesamtschweizerischen Wissen-
das Gymnasium stark gewandelt. Mittlerweile                schaftsolympiaden für jährlich rund 4'000 junge
bietet es ein sehr attraktives Programm einer              Menschen haben manche Gymnasien vielfältige
intellektuell anspruchsvollen Bildung für einen            Programme aufgebaut wie Zusatz- und Spezial-
bestimmten Anteil der Schülerinnen und Schü-               aufgaben im Unterricht sowie ausserschulische
ler an. Die Anziehungskraft des gymnasialen Bil-           Angebote (z. B. Debattierwettbewerbe, Kurse
dungswegs zeigt sich u.a. in den hohen Anmel-              für Sprachbegabte resp. Vorbereitungskurse für
dezahlen, ganz besonders für die noch beste-               verschiedene Sprachzertifikate, Angebote in
henden Langzeitgymnasien, welche die Heran-                MINT, Kultur und Gesellschaft, Programmier-
wachsenden in unmittelbarem Anschluss an die               kurse, Theater und Musik). Zusatzangebote
Primarschule besuchen können – aber nur mit                existieren ferner als Summer Schools, Wissen-
einem guten Notendurchschnitt oder erst nach               schaftsolympiaden, ETH-Wochen resp. Begab-
Bestehen einer Aufnahmeprüfung.                            tenförderprogramme an Universitäten, Aus-
                                                           tauschprogramme im Welschland oder Studi-
Ein Dilemma des Gymnasiums ist, dass seine an-
                                                           enwochen im Rahmen von «Schweizer Jugend
steigende Beliebtheit zugleich die Herausforde-
                                                           forscht».
rung vergrössert, gegenüber den eigenen an-
spruchsvollen Normen nicht zurückzubleiben. Es
                                                           Die Berufsbildung und ihr internationaler
sind dies die Vermittlung einer erweiterten All-
                                                           Ruf
gemeinbildung, ein Unterricht, der sich an der
Wissenschaft orientiert und aufs das wissen-               Die Berufsbildung geniesst einen ausgesprochen
schaftliche Arbeiten vorbereitet sowie die Ein-            guten Ruf – auch bei Akademikern. Gemäss
übung von überfachlichen Kompetenzen, die                  dem «Young Workers Index»2 belegt die
einen Beitrag zur Studierfähigkeit der Heran-              Schweiz den Spitzenplatz von 35 untersuchten
wachsenden garantieren sollen (Ullrich, 2014).             Berufsbildungssystemen der OECD. Dies ist um-
                                                           so bemerkenswerter, als die Berufsbildung ei-
Begabungs- und Talentförderung
                                                           1   Im Jahr 2020 wurden total 19’098 Maturitätszeugnisse
Das Grossprojekt «Weiterentwicklung der gym-                   ausgestellt, davon waren 15'740 nicht zweisprachiger Art.
nasialen Maturität» sieht unter anderem einen                  Von den 3'358 zweisprachigen Abschlüssen dominierte
                                                               Deutsch-Englisch (2'050).
neuen Rahmenlehrplan vor, der Ziele festhält,              2   https://www.pwc.co.uk/economic-services/YWI/young-
die überall gelten sollen. Dass die Umsetzung                  workers-index-2016-final-v3.pdf

Ihre genutzten und ungenutzten Potenziale
-11-

nen Spagat bewältigen muss. Zum einen gilt es,            Weiteren gibt es immer mehr Firmen, welche
leistungsschwache Jugendliche in die Berufsleh-           ihre talentierten Lernenden zu Austauschprakti-
re und den Arbeitsmarkt zu integrieren, zum               ka ins Ausland schicken sowie Betriebe und Be-
anderen, leistungsstarke Auszubildende anzu-              rufsfachschulen oder OdAs (Organisationen der
sprechen und für eine anspruchsvolle Berufs-              Arbeitswelt), welche eigene Projekte auf die
ausbildung zu gewinnen.                                   Beine gestellt haben. Wichtig sind ebenfalls die
                                                          Programme der Stiftung Schweizer Jugend
Leider ist die Durchlässigkeit unseres Berufsbil-
                                                          forscht oder die Fritz Gerber Stiftung, welche
dungssystems mit seiner Vielzahl an Aufstiegs-
                                                          junge Menschen auch im Handwerk fördert.
möglichkeiten zu wenig bekannt. Dazu gehören
Möglichkeiten wie über eine Berufsmatura an               Trotz diesen enormen Bemühungen ist die För-
die Fachhochschulen sowie über eine Passerelle            derung von Talenten in der Berufsbildung einer
an die Universität gelangen zu können. Häufig             breiteren Öffentlichkeit nach wie vor zu wenig
vergessen geht allerdings die höhere Berufsbil-           bekannt. Die Gymnasien gelten weiterhin als die
dung. Sie vermittelt Qualifikationen, die zur             Talentschmieden. Doch in den letzten Jahren
Ausübung einer anspruchs- und verantwor-                  hat sich dieses Ungleichgewicht dank der
tungsvollen Berufstätigkeit erforderlich sind.            SwissSkills – der Schweizer Berufsmeisterschaf-
Und sie versorgt die Wirtschaft mit ausgewiese-           ten – verkleinert. Durch die hohe mediale Auf-
nen Fachkräften in Technik, Gastgewerbe,                  merksamkeit sind sie zu Werbeträgern und Bot-
Landwirtschaft, Gesundheit und Sozialem sowie             schaftern für die Berufsbildung geworden, um
Gestaltung oder Verkehr. Obwohl unsere Ge-                jungen Menschen hervorragende Berufskarrie-
sellschaft auf solche Berufsleute angewiesen ist,         ren zu ermöglichen (Stamm, 2020).
muss die höhere Berufsbildung inmitten der
Akademisierungswelle um ihren Platz kämpfen.              Fazit
Und dies, obwohl sie durchgehend Lob be-
                                                          Auf der Sekundarstufe II gibt es sowohl an
kommt und junge Menschen beste Chancen ha-
                                                          Gymnasien als auch in der Berufsbildung man-
ben, Karriere zu machen und gutes Geld zu ver-
                                                          che Leuchttürme der Begabungs- und Ta-
dienen.
                                                          lentförderung. Gerade in den letzten fünfzehn
                                                          Jahren hat sich in dieser Richtung enorm viel ge-
Talentförderung: ein bedeutsames Thema                    tan.
der Berufsbildung
                                                          Was fehlt? In erster Linie die systematische Su-
Die Berufsbildung hat mit dem Berufsbildungs-
                                                          che nach Potenzialen. Damit ist auch die Selek-
gesetz BBG eine zukunftsweisende Basis für ei-
                                                          tions- und Rekrutierungsfrage angesprochen.
ne Begabungs- und Talentförderstrategie be-
                                                          Tatsache ist, dass es junge Menschen an Gym-
kommen. Die darin festgehaltene Pflicht zur
                                                          nasien gibt, die aufgrund ihres Potenzials in der
Förderung leistungsstarker Lernender weist der
                                                          beruflichen Grundbildung besser aufgehoben
Ausbildung des Nachwuchses eine spezifische
                                                          wären, währendem das Begabungs- und Inte-
Bedeutung zu. Explizit wird im Gesetz auch un-
                                                          ressenprofil nicht weniger Berufslernender eher
terstrichen, dass Bildungschancen in sozialer
                                                          für das Gymnasium sprechen würde.
und regionaler Hinsicht ausgeglichen und die
Gleichstellung von Frau und Mann gefördert
                                                          Weiterführende Literatur
werden soll.
Die Förderung von Potenzialen und Talenten                Stamm, M. (2020). Die SwissSkills 2018 als
und die bessere Ausschöpfung der Begabungs-               Sprungbrett? Teilnehmende, Erfolg, Auswirkun-
und Talentreserven ist damit zu einer wichtigen           gen. Dossier 20/1. Aarau: Forschungsinstitut
berufspädagogischen Aufgabe geworden. Den                 Swiss Education.
Berufsfachschulen und Ausbildungsbetrieben                Ullrich, H. (2014). Das Gymnasium als Talent-
kommt eine spezifische Verantwortung zu, und              schmiede. In M. Stamm (Hrsg.), Handbuch Ta-
es wird von ihnen auch eine entsprechende In-             lententwicklung. Theorien, Methoden und Pra-
novationsbereitschaft erwartet.                           xis in Psychologie und Pädagogik (S. 227-239.).
                                                          Bern: Huber.
In den letzten Jahren ist in dieser Hinsicht viel
Entwicklungsarbeit geleistet worden. Exempla-
risch genannt seien die Projekte «Talentförde-
rung Plus» der Bildungsdirektion des Kantons
Zürich sowie «Talentförderung GIBB» (Bern) für
Talente im Bereich Kunst, Musik und Sport3. Des
3
     https://gibb.ch/grundbildung-talentfoerderung-gibb

Gymnasien und Berufsbildung
-12-

Briefing Paper 2: Achillesfersen des Bildungs-
systems
Für manche gilt das Gymnasium als Königsweg                  Dieser Trend erfasst auch die Berufsbildung.
der Ausbildung und die Berufslehre als zweite                Zwar wird überall betont, man wolle jegli-
Wahl. Solche Überzeugungen werden in erster                  che Akademisierung vermeiden. Die Swiss-
Linie den Eltern zugeschrieben, doch dahinter                ness unseres Bildungssystems ermögliche,
stecken Achillesfersen, die ihren Ursprung im                dass jeder und jede über eine Berufslehre
                                                             an einer Fachhochschule studieren und so-
Bildungssystem haben. Zu solchen Achillesfer-                gar an die ETH wechseln könne. Doch hinter
sen gehören der Trend zur Akademisierung, die                dieser Argumentation steckt eine paradoxe
Illusion der leistungsgerechten Selektion, die               Botschaft: dass eine Karriere letztendlich
Vorstellung des optimierbaren Kindes sowie die               doch in ein Studium münden sollte.
für bestimmte Gruppen vorherrschenden Ab-
lenkungsprozesse in die Berufsbildung («Ablen-            ⚫ Die Illusion der leistungsgerechten Selekti-
                                                             on: Spätestens die erste Pisa-Studie hat die-
kungsthese»).                                                se Illusion demaskiert. Abbildung 1 illus-
⚫ Der Trend zur Akademisierung: Hochschul-                   triert, dass zwischen den Leistungszügen
     abschlüsse, Zertifikate und entsprechende               (hohe Ansprüche [progymnasiales Niveau],
     Titel werden immer wichtiger. Wer Kinder-               erweiterte Ansprüche, Grundansprüche)
     gärtner oder Hebamme werden will,                       beachtliche Leistungsüberschneidungen in
     braucht eine Matura. Die Mehrheit interna-              der Leseleistung vorhanden sind. Dies gilt
     tionaler Unternehmen will nur noch Leute                sogar zwischen dem progymnasialen Niveau
     mit einem Hochschulabschluss einstellen.                und tiefsten Niveau (Grundansprüche). Mit
     Parallel dazu sind viele Abschlüsse entwer-             anderen Worten: Die stärksten Realschüle-
     tet worden. Realschul- (resp. Sek C-                    rinnen und -schüler können problemlos mit
     )zeugnisse zählen weniger als noch vor ein              den schwächsten Gymnasiastinnen und
     paar Jahren. Auch Studienabschlüsse sind                Gymnasiasten mithalten. Dieses Phänomen
     zwar wichtiger, aber weniger wert. Ein Ba-              ist ein Hinweis darauf, dass bei gleichen
     chelor ist Voraussetzung für viele Berufe,              Leistungen der Heranwachsenden unter-
     aber längst keine Karrieregarantie mehr.                schiedliche Übertrittsempfehlungen ausge-
                                                             sprochen werden.

     Abbildung 1: Verteilung der Leseleistung nach Leistungszug (Pisa 2003; Antonietti et al., 2005)

⚫ Optimierbare Kinder: Wer gehört ins Gym-                   Forschungsergebnisse von Elsbeth Stern für
     nasium? Vordergründig scheint es klar: Jun-             einige Aufruhr gesorgt (Stern & Hofer,
     ge Menschen mit sehr guten Schulnoten. In               2014). Die beiden Autorinnen kommen zum
     diesem Zusammenhang haben auch die                      Schluss, dass etwa jeder dritte Platz am

Ihre genutzten und ungenutzten Potenziale
-13-

    Gymnasium von «falschen» Jugendlichen              dungsweg nicht so funktioniert wie gewünscht,
    besetzt sei, weil sie kaum über die notwen-        ist eine empirische Tatsache. Die Erklärung, dass
    digen intellektuellen Fähigkeiten verfügen         dies an den (zu) ehrgeizigen Elternhäusern liegt,
    und deshalb gescheiteren Kindern aus ein-          ist jedoch zu einfach.
    fachen Sozialschichten den akademischen
    Weg verbauen würden. Ähnliche Ergebnisse
    liefert die Längsschnittstudie der Zürcher         Weiterführende Literatur
    Bildungsdirektion (Tomasik et al., 2018).          Antonietti, J. P. et al. (2005). PISA 2003: Kompe-
    Solche Aussagen haben viel Aufsehen er-            tenzen für die Zukunft. Neuenburg/Bern:
    regt. Doch stellt sich auch die Frage, ob ein      BfS/EDK.
    überdurchschnittlicher Intelligenzquotient         Becker, R. & Schoch, J. (2018). Soziale Selektivi-
    tatsächlich notwendig für den erfolgreichen        tät. Expertenbericht im Auftrag des Schweizeri-
    Besuch des Gymnasiums ist. Zumindest geht          schen Wissenschaftsrates SWR. Bern: Eidgenös-
    die Expertiseforschung davon aus, dass es          sisches Departement für Wirtschaft, Bildung
    zwar einen Zusammenhang zwischen Intel-            und Forschung WBF.
    ligenz und Noten gibt, überfachliche Kom-
    petenzen jedoch genauso wichtig für den            Müller, W. & Pollak, R. (2007). Weshalb gibt es
    Schulerfolg sind.                                  so wenige Arbeiterkinder in Deutschlands Uni-
                                                       versitäten? In R. Becker & W. Lauterbach
⚫ Die Ablenkungsthese: Es ist eine empirisch           (Hrsg.), Bildung als Privileg (S. 303-342). Wies-
    vielfach belegte Tatsache, dass Heranwach-         baden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
    sende aus einfachen Sozialschichten den
    Übertritt ins Gymnasium deutlich seltener          Stern, E. & Hofer, S. (2014). Wer gehört auf das
    schaffen als solche aus gut situierten Fami-       Gymnasium? Intelligenzforschung und Schul-
    lien. Einerseits bekommen privilegiert Auf-        laufbahnentscheidungen. In E. L. Wyss (Hrsg.),
    wachsende mehr familiären Support und              Von der Krippe zum Gymnasium. Bildung und
    werden in der Schule bei gleichen Leistun-         Erziehung im 21. Jahrhundert (S. 41-54). Wein-
    gen besser bewertet. Andererseits kommt            heim und Basel: Beltz.
    ein sozialer Mechanismus dazu, der selten          Tomasik, M. J., Oostlander, J., & Moser, U.
    beachtet wird. Intellektuell begabte Kinder        (2018). Von der Schule in den Beruf: Wege und
    aus sozial einfach gestellten Familien wer-        Umwege in der nachobligatorischen Ausbildung.
    den überzufällig oft in eine Berufslehre ab-       Zürich: Institut für Bildungsevaluation.
    gelenkt (Müller & Pollack, 2007; Becker &
    Schoch, 2018). Diese Ablenkung erfüllt das,
    was Eltern aus bescheidenen Milieus oft
    wünschen: Niedrige Ausbildungskostenos-
    ten, ein zukünftig gesicherter Arbeitsplatz
    des Nachwuchses und sein Verbleiben im
    Herkunftsmilieu.

Fazit
Bildung und Ausbildung sind zu entscheidenden
Grössen für die soziale Platzierung der Individu-
en und die beruflichen Chancen im Lebensver-
lauf geworden. Demnach ist zentral, wie die Bil-
dungschancen verteilt werden. Als besonders
herausfordernd erweist sich die Akademisie-
rung der Bildung, die als Garantin für eine bes-
sere berufliche Qualität der jungen Menschen
gilt. Dadurch werden viele Bildungstitel entwer-
tet. Dies ist ein wichtiger Grund für die Priorisie-
rung des Gymnasiums. Allerdings basiert sie
auch auf der Überzeugung, jedes Kind könne
wie ein Tonklumpen geschliffen und optimiert
werden, bis es den Vorstellungen der Erwach-
senen entspricht. Dazu kommt die teils unbe-
wusste Ablenkung von intellektuell begabten
Heranwachsenden in eine Berufslehre.
Dass die Passung zwischen individuellen Fähig-
keiten, Interessen sowie Neigungen und Ausbil-

Gymnasien und Berufsbildung
-14-

Briefing Paper 3: An den Eltern liegts. Dieses
Argument ist zu einfach!
Die Konkurrenzorientierung zwischen Familien               dass die Leistungsfähigkeit des Kindes und die
ist ausgeprägter geworden. «Mach unbedingt                 Fähigkeit seiner Eltern, gute Eltern zu sein, un-
das Gymi!» hat für manche Kinder Weisungs-                 mittelbar kausal verknüpft sind. Zeigen sich
charakter bekommen. Doch später räumen                     Probleme in der kindlichen Entwicklung, sind
nicht wenige Eltern ein, vielleicht einen Fehler           Väter – und vor allem Mütter – schuld. Ist ein
gemacht zu haben, weil sie Sohn oder Tochter               Kind hingegen hochleistungsfähig, gilt dies als
nicht für eine Berufslehre animiert hätten. Liegt          Verdienst der Eltern und als Ausweis ihrer Kom-
die Ursache des Trends zum Gymnasium somit                 petenz. Wer somit das Risiko verpasster Chan-
bei den Eltern? Man liest ja oft in den Medien,            cen in Kauf nimmt und auch dann nicht aktiv
dass es überehrgeizige Mamas und Papas seien,              wird, wenn sich der Schulerfolg nicht wie erwar-
welche ihre Kinder ins Gymnasium pushen an-                tet einstellt, muss die Schuld bei sich selbst su-
statt ihre Sprösslinge für eine Berufslehre zu             chen (Stamm, im Druck).
motivieren. Doch die Sache ist komplizierter.
                                                           Bildungssystem und Wettbewerbsorientie-
In diesem Briefing Paper wird die Etikettierung
                                                           rung als Katalysatoren des Elternehrgeizes
der Eltern als «überehrgeizig» relativiert. Bil-
dungssystem und Zeitgeist sind wichtige Para-              Das Leistungsdenken ist ein wesentliches Ele-
meter, welche das Verhalten von Vätern und                 ment unserer Gesellschaft. Problematisch wird
Müttern stark beeinflussen. Zudem spielt das               es allerdings erst, wenn es zum primären Bil-
Herkunftsmilieu eine bedeutende Rolle.                     dungs- und Erziehungsziel wird.

Optimierung statt Schicksal                                Weil das Bildungssystem ein Abbild der Hoch-
                                                           leistungsgesellschaft geworden ist, werden El-
Viele gut gebildete Väter und Mütter praktizie-            tern schon im Kindergarten mit ihr konfrontiert.
ren das, was die Bildungspolitik seit gut zwei             So liegen den Elterngesprächen vielerorts um-
Jahrzehnten von ihnen erwartet: eine bildungs-             fassende Standortbestimmungen mit standardi-
beflissene Elternschaft. In mancher Broschüre              sierten Beurteilungspunkten zugrunde. Mit Si-
tönt dies etwa so: Liebe Eltern, unterstützt und           cherheit sind solche Kompetenzraster gut ge-
fördert eure Kinder, damit sie ihr Potenzial ent-          meint. Bildungsverantwortliche unterstreichen
wickeln können. Die Kinder sind eure Zukunft!              in bester Absicht, dass solche Raster allein für
Solche Erwartungen haben dazu geführt, dass                die individuelle Entwicklungsförderung des Kin-
sich viele Elternhäuser kontinuierlich darum               des vorgesehen seien. Trotzdem kommt diese
bemühen, dass der Nachwuchs von Anfang an                  Massnahme bei vielen Eltern als Vermessung
im Vergleich zu anderen Kindern gleiche oder               der Kinder an, gefolgt von der Frage: Ist unser
bessere Chancen hat. Man zieht in gut situierte            Kleiner gut genug? Oder sind die anderen bes-
Quartiere und schickt die Kinder in milieuho-              ser, und müssen wir deshalb noch mehr mit ihm
mogene Schulen. «Ansteckungsangst» nennt                   arbeiten? Dass sich Eltern heute bereits im Kin-
dies der Bildungssoziologe Heinz Bude (2011).              dergarten für den Erfolg ihrer Sprösslinge ver-
Ergänzt wird sie heute durch das Optimierungs-             antwortlich fühlen und sich noch mehr darauf
streben.                                                   konzentrieren, das Beste aus ihnen herauszuho-
                                                           len, ist eine wesentliche Folge dieser Beurtei-
Optimierung hat das Schicksal abgelöst, das                lungskultur. Verstärkt wird dieses Phänomen
nicht Perfekte wird kaum mehr toleriert. Das ist           durch den Elterndeterminismus.
keine Weisheit, die Eltern erfunden haben, son-
dern ein Imperativ unserer Gesellschaft. Dass              Tests und Checks sind ebenso wichtige Bestand-
Mütter und Väter diesem Imperativ folgen und               teile der Wettbewerbskultur. Die Flut solcher
die Optimierung schulischer Leistungen im Blick            Massnahmen schafft einen Konkurrenzdruck,
haben, ist deshalb nicht erstaunlich. Eltern wer-          der sich nicht nur negativ auf Schülerinnen und
den für alles verantwortlich gemacht. «Eltern-             Schüler auswirkt, sondern zunehmend auch auf
determinismus» ist der wissenschaftliche Be-               Eltern und Lehrpersonen. Seit der Veröffentli-
griff dafür. Damit ist die Vorstellung gemeint,            chung der letzten PISA-Ergebnisse Ende 2019

Ihre genutzten und ungenutzten Potenziale
-15-

steigt die Kritik, wonach die auf Tests bezogene    und macht sich selbständig, hat er beste Chan-
Schulkultur Noten und Testleistungen mehr ge-       cen, seine Mutter einkommens- und karriere-
wichten würde als das Lernen. Dazu gehört           mässig zu überholen. Allerdings hat die OECD
auch das Positionspapier des LCH4.                  ein solches Beispiel in einem Bericht als «Bil-
                                                    dungsabstieg» bezeichnet (OECD, 2017).
Eltern als Strategen                                Doch auch Eltern, welche zusammen mit ihrem
Solche Entwicklungen haben einen grundlegen-        Nachwuchs die berufliche Grundbildung in den
den Einfluss darauf, dass die Wahl von Gymna-       Blick nehmen, haben oft einen Tunnelblick.
sium oder Berufslehre weniger nach Neigung          Denn in unserer Optimierungsgesellschaft gel-
und Interessen als nach familiären Interessen       ten Ausbildungsberufe als «Visitenkarten», die
und Überzeugungen erfolgt. Die Rolle der Eltern     mit sozialer Anerkennung zu tun haben. Geht es
ist nicht nur in emotionaler, sondern auch in       um die Lehrstellensuche, konzentrieren sich
strategischer Hinsicht bedeutsam geworden. Ei-      Familien zusammen mit ihren Heranwachsen-
ne Mehrheit der bildungsbeflissenen Elternhäu-      den auf eine Anzahl von maximal vier Berufen –
ser begleitet und kontrolliert deshalb den Auf-     eben auf diese mit dem grössten Image-Faktor
wachsprozess sehr genau. Obwohl den Kindern         (Matthes, 2019).
vordergründig zwar eine grosse Entscheidungs-
freiheit gewährt wird, gilt hintergründig der       Fazit
gymnasialen Weg oft als Normalkonzept.
                                                    Geht es um Potenziale von jungen Menschen,
Solche Strategien setzen heute schon früh ein.      sind nicht lediglich Mama und Papa die ehrgei-
Viele Eltern entscheiden sich bereits in den ers-   zigen Schuldigen, welche ihre Kinder überschät-
ten Schuljahren für das Gymnasium und versu-        zen, sie ins Gymnasium pushen und die Berufs-
chen dann mit grossem Engagement, diesen            lehre links liegen lassen. Diese Mainstream-
Entscheid auch umzusetzen (Fend, 2014).             Überzeugung ist zu einfach.
Manchmal bleibt die realistische Beurteilung        Das Bildungssystem spielt eine ebenso bedeut-
der Fähigkeiten und Interessen des eigenen          same Rolle. Als Abbild der Hochleistungsgesell-
Kindes auf der Strecke. Dass der Sohn eigentlich    schaft verstärkt es die Konkurrenzorientierung
schulmüde ist oder die Tochter eher handwerk-       zwischen Familien und ihre Konzentration auf
liche Talente hätte, wird ausgeblendet und da-      die Leistung als Produkt: die Noten. Dass sie
mit auch, dass der berufliche Ausbildungsweg        deshalb ihre Antennen dauernd ausgefahren
besser zu deren Profil passen würde als eine        haben ist eine logische Reaktion auf solche
akademische Laufbahn.                               Trends.

Die Berufslehre als zweite Wahl                     Weiterführende Literatur
In solchen Elternhäusern gilt die Berufslehre oft   Bude, H. (2011). Bildungspanik. Was unsere Ge-
als zweite Wahl, manchmal sogar als Sackgas-        sellschaft spaltet. München: Hanser.
senausbildung. Einer der Gründe dürfte darin        Fend, H. (2014). Bildungslaufbahnen von Gene-
liegen, dass manche Eltern nicht gut informiert     rationen: Befunde der LifE-Studie zur Interakti-
sind, die Informationen zu kompliziert daher-       on von Elternhaus und Schule. Zeitschrift für Er-
kommen oder dass sie erst zu spät zur Kenntnis      ziehungswissenschaft, 17, 37-72.
genommen werden.                                    Matthes, S. (2019). Warum werden Berufe nicht
Viele Väter und Mütter (manchmal auch Lehr-         gewählt? Die Relevanz von Attraktions- und
kräfte) kennen die im internationalen Vergleich     Aversionsfaktoren in der Berufsfindung. Bonn:
einmalige Durchlässigkeit unseres Bildungssys-      Bundesinstitut für Berufsbildung.
tems nur rudimentär. Diese Unkenntnis ist in al-    OECD (2017). Bildung auf einen Blick. OECD-
len Sozialschichten festzustellen, insbesondere     Indikatoren. Gütersloh: Bertelsmann.
auch in gut situierten ausländischen Familien.      Stamm, M. (im Druck). Auf Hochleistung ge-
Ausgeblendet bleibt deshalb, dass ein junger        trimmt. Das schwierige Leben der Kinder, von
Mensch mit einer höheren beruflichen Ausbil-        denen Gesellschaft und Familie zu viel erwar-
dung jemand mit einer akademischen Laufbahn         ten. München: Random House (erscheint im
überflügeln kann. Ein Beispiel: Wird der Sohn       August 2022).
einer Geisteswissenschaftlerin Maurer, absol-
viert er eine höhere Berufsbildung als Bauleiter

4   Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz:
    https://bit.ly/3jL8bjO

Gymnasien und Berufsbildung
-16-

Briefing Paper 4: Begabungsreserven fürs
Gymnasium
Gymnasium und Universität sind weitgehend                                 zialschichten werden gemäss verschiedenen
das Privileg der Schichten geblieben, die schon                           Forschungsstudien bei gleichen Kompetenzen
Bildung haben. Vereinfacht gesagt besuchen                                deutlich strenger bewertet als Kinder aus der
Heranwachsende aus oberen Schichten das                                   Mittel- und Oberschicht (Baeriswyl, 2015; Hof-
Gymnasium und studieren dann mehrheitlich an                              stetter, 2017).
der Universität. Solche aus unteren Schichten
                                                                          Bereits wenige externe Parameter genügen,
machen eine Berufslehre und vielleicht noch ei-
                                                                          damit begabte Kinder mit Minoritätshinter-
ne Berufsmaturität, doch wechseln sie seltener
                                                                          grund beim Übertritt ins Gymnasium schlechte-
an eine Fachhochschule als junge Menschen mit
                                                                          re Karten haben. Neben der vorausgesetzten El-
akademisch gebildeten Vätern (Bundesamt für
                                                                          ternunterstützung bei Hausaufgaben und Prü-
Statistik, 2021). Deshalb geht unserer Gesell-
                                                                          fungsvorbereitungen sind es vor allem familiäre
schaft jedes Jahr ein Reservoir an intellektuel-
                                                                          Förderressourcen sowie die externe Verfügbar-
lem Potenzial begabter Minoritäten5 verloren.
                                                                          keit von Lernunterstützung. Dazu kommen das
Noch immer entscheidet nicht in erster Linie der
                                                                          selbstbewusste Auftreten höher gebildeter El-
Grips, wer es ins Gymnasium schafft, sondern
                                                                          tern und ihre Rekursaffinität.
vor allem die Herkunft. Dass dies für begabte
Migrantenkinder gilt, ist inzwischen in vielen
                                                                          Die Crux der «verantworteten Eltern-
Köpfen angekommen. Nicht jedoch, dass es ge-
                                                                          schaft»
nauso einheimische Arbeiterkinder mit hohem
intellektuellem Potenzial gibt, die jedoch oft in                         Dass der Übertritt ins Gymnasium für begabte
die Berufsbildung abgelenkt werden.                                       Minoritäten besonders schwierig ist, wird oft
                                                                          mit verschiedenen Legitimationsmustern ka-
Eine zweite, nicht angemessen in den Blick ge-
                                                                          schiert. Ein Muster ist besonders verbreitet. Vä-
nommene Gruppe sind intellektuell begabte
                                                                          ter und Mütter mit keiner oder nur einer Be-
Knaben, die den Sprung ins Gymnasium seltener
                                                                          rufslehre seien sowieso nicht in der Lage, ihren
als Mädchen schaffen – wohlverstanden bei
                                                                          Kindern im Gymnasium zu helfen, weshalb sie in
gleichen kognitiven Fähigkeiten – und darum
                                                                          der Sekundarschule respektive in einer Berufs-
eine Berufslehre absolvieren. Diese beiden
                                                                          lehre besser aufgehoben seien.
Gruppen sind die Schwerpunkte dieses Briefing
Papers.                                                                   Doch dieses Legitimationsmuster hat seine ar-
                                                                          gumentativen Lücken. Erstens setzt es zu sehr
Noten und Auswahlverfahren als Nadelöhr                                   auf die Erwartung, dass Eltern die Lernleistung
Intellektuell begabte und akademisch interes-                             ihrer Kinder festigen helfen müssen und die
sierte Kinder aus sozial einfach gestellten Fami-                         «verantwortete Elternschaft» die Grundlage für
lien schaffen zu selten den Bildungsaufstieg ins                          eine erfolgreiche Schullaufbahn sei. Dem wider-
Gymnasium. Empirische Daten machen dies                                   sprechen viele Studien. Beispielsweise weisen
mehr als deutlich. Haben die Eltern studiert, tun                         Untersuchungen der frühkindlichen Bildungs-
dies 88% der Kinder auch, aus Arbeiterfamilien                            forschung nach, dass Kinder mit einem sehr un-
schafft es – bei gleichen schulischen Leistungen                          terschiedlichen Rucksack an Startkapital und
– nur knapp jedes vierte Kind (24%). Und für ge-                          familiären Unterstützungsmöglichkeiten ins Bil-
rade mal 4% trifft dies zu, wenn der Vater kei-                           dungssystem eintreten. Sie werden dann ent-
nen Bildungsabschluss hat (Stamm, 2021b).                                 sprechend ihrer sozialen Herkunft so sortiert,
                                                                          dass Kinder aus einfachen Familienverhältnissen
Gute Noten sind nach wie vor die Übertrittsbe-                            in die Sekundar- oder Realschule, Akademiker-
dingung Nummer eins. Auch Lehrkräfte sind oft                             kinder ins Gymnasium gelenkt werden (Tomasik
überzeugt, der Übertritt ins Gymnasium hänge                              et al., 2018).
allein von den Noten ab, weshalb die Entschei-
dung einfach sei. Kaum wird berücksichtigt, wie                           Die Macht familiärer Bildungsentscheidun-
sie zustande kommen. Kinder aus einfachen So-                             gen
                                                                          Die zweite Argumentationslücke betrifft die zu
5
    Mit diesem Begriff beziehe ich mich auf alle jungen Men-              wenig berücksichtigten Auswirkungen von fami-
    schen, die von sozialer Benachteiligung betroffen sind, über
    eine geringe Ressourcenausstattung verfügen und durch Le-             liären Bildungsentscheidungen je nach sozialer
    bensbedingungen und Lebensführung von der anerkannten                 Schicht. Sie erklären, weshalb Kinder aus gut si-
    schulischen Wissens- und Lernkultur deutlich entfernt sind.

Ihre genutzten und ungenutzten Potenziale
-17-

tuierten Verhältnissen eher das Gymnasium           darüber nachdenken, das Gymnasium zu besu-
schaffen, auch wenn sie sich nicht von Kindern      chen.
aus einfachen Verhältnissen unterscheiden. Ge-
                                                    Grundsätzlich muss berücksichtigt werden, dass
bildete Väter und Mütter verfügen über eine
                                                    einfach gestellte Migrationsfamilien oft relativ
grosse Motivation gegenüber dem Gymnasium,
                                                    ehrgeizige Strategien verfolgen und den geziel-
fürchten sich kaum vor Investitionsrisiken und
                                                    ten Wunsch haben, ihre Kinder möchten erfolg-
gewichten auch das Sozialprestige höher als ein-
                                                    reich werden und akademische Berufe ergreifen
fach gestellte Familien.
                                                    (Stamm, 2021a, Briefing Paper 4).
Diese kennen das Gymnasium nicht aus eigener
Erfahrung, schätzen die Zugangshürden als sehr      Knaben als Begabungsreserve
hoch ein und schrecken vor den erwarteten In-       Die geschlechtsspezifische Bildungsbeteiligung
vestitionskosten zurück, was sich in einer deut-    hat sich in den letzten Jahren massiv gewandelt,
lichen Skepsis gegenüber akademischer Bildung       weil junge Frauen im Durchschnitt heute höhe-
äussern kann. Weil sie sich eher an der Ver-        re Bildungsabschlüsse vorweisen als junge
wertbarkeit der Ausbildung orientieren, sollen      Männer. Sichtbar wird dies auch in der Entwick-
ihre Kinder eine Berufslehre absolvieren und re-    lung der gymnasialen Maturitätsquote. Die Dif-
lativ schnell eigenes Geld verdienen. Dieser        ferenz zwischen den Geschlechtern betrug im
Verwertbarkeitsgedanke kann den Wunsch von          Jahr 2019 8.3% (Abbildung 2). Während sich der
Arbeiterkindern, das Gymnasium zu besuchen,         Anteil der Gymnasiasten seit der Jahrtausend-
deutlich einschränken.                              wende nur minimal erhöht hat – von etwa 16%
Selbstverständlich gibt es einfach gestellte Fa-    auf 18% – ist die Mädchenquote von 20% auf
milien, die stolz sind auf ihr smartes Kind, das    26.3% angestiegen.
Gymnasium unterstützen und alles dafür tun,         Im Vergleich zu den OECD-Staaten ist der Gen-
ihm diesen Schritt zu ermöglichen. Doch je          der-Gap in der Schweiz überdurchschnittlich
niedriger die Bildungsorientierung der Familie,     gross. Auch in Deutschland und Österreich –
desto deutlicher ist die skeptische Haltung. Aus-   zwei Staaten mit ähnlichen Bildungssystemen,
sagen wie «Wer ins Gymnasium geht und stu-          ist die Geschlechterkluft kleiner.
diert, weiss nicht, was arbeiten heisst» werden
zu einem schlechten Fundament für junge Men-
schen, die als erste in der Familie überhaupt

     Abbildung 2: Entwicklung der gymnasialen Maturitätsquote nach Geschlecht (BfS, 2.11.2021)

Hintergründe für den Gender-Gap                     rische Tatsache. Allerdings unterscheiden sich
Dass Knaben hierzulande den Übertritt ins           die Geschlechter kaum in ihren kognitiven Fä-
Gymnasium seltener schaffen und auch seltener       higkeiten. Warum schaffen Knaben trotzdem
die Matura machen als Mädchen, ist eine empi-       seltener das Gymnasium? Dazu gibt es viele Ar-

Gymnasien und Berufsbildung
-18-

gumentationsmuster. Einige sind für die hier                     dem ist die These zu gewagt. Mehrere in-
verfolgte Thematik wesentlich (für differenzier-                 ternationale empirische Studien haben den
tere Analysen siehe Stamm, 2009).                                Bildungserfolg von Mädchen und Knaben
                                                                 untersucht. Sie kamen zum Schluss, dass
⚫ Minderleister: Mit dem Begriff gemeint ist                     letztere bei Lehrern weder bessere Leistun-
     das Phänomen, dass Heranwachsende trotz                     gen zeigen oder bessere Schulnoten in Ma-
     ihres hohen intellektuellen Potenzials ledig-               thematik, Deutsch oder Fremdsprachen be-
     lich durchschnittliche oder gar schlechte                   kommen und auch keine höhere Chance
     Leistungen zeigen. Minderleistung oder Un-                  aufs Gymnasium haben als bei Lehrerinnen.
     derachievement gilt als männliches Phäno-                   Männliche Lehrkräfte wirken sich nicht posi-
     men, zahlreiche Studien berichten durchge-                  tiver auf die Schulnoten der Knaben aus
     hend von einem Verhältnis von Knaben zu                     (Neugebauer, 2011; Helbig, 2012).
     Mädchen von 2:1 oder gar 3:1 (Stamm,
     2009). Warum dem so ist, wird oft mit dem                   Eher zutreffen dürfte das, was allgemein
     Verhalten erklärt. Knaben fühlen sich in der                unter dem Stichwort «Gendering in der
     Regel der Schule weniger verbunden, wäh-                    Schule» zusammengefasst wird. Gemeint
     rend sie von Mädchen mehrheitlich positi-                   sind damit die sprachlastigen und auf Sozi-
     ver erlebt wird und sie deshalb motivierter                 alkompetenzen fokussierten Lehrpläne so-
     sind, zu lernen. Sie investieren mehr Zeit in               wie die eher auf die Mädchen ausgerichte-
     schulische Dinge und stören seltener den                    ten Sichtbarkeit der Geschlechter in Schul-
     Unterricht.                                                 büchern (Makarova et al., 2019).
⚫ Schlechtere Benotung: Um den Übertritt ins                 Fazit
     Gymnasium zu schaffen, müssen Knaben im
     Vergleich zu Mädchen bei gleicher Kompe-                In diesem Briefing Paper sind zwei Reservoirs an
     tenz höhere Leistungen erbringen. Selbst                Begabungsreserven fürs Gymnasium bespro-
     wenn sie die gleichen Noten haben wie                   chen worden: Begabte Kinder aus Minoritäts-
     Mädchen, empfehlen Lehrkräfte sie selte-                familien und das männliche Geschlecht.
     ner für das Gymnasium. Argumentiert wird,
     dass zumindest teilweise der durchschnittli-            Beide Gruppen haben Nachteile beim Übertritt
     cher Rückstand der Knaben im Lesen eine                 ins Gymnasium. Dies dürfte jedoch kaum mit
     Rolle spiele, weil das Fach Deutsch bei der             der Feminisierung der Schule zusammenhän-
     Lehrerempfehlung fürs Gymnasium beson-                  gen. In erster Linie liegen sie in der Schullauf-
     ders gewichtet werde und ihnen dies zu-                 bahnempfehlungen der Primarschullehrkräfte
     sammen mit ihrem weniger konformen                      und ihren Einschätzungen des Leistungspoten-
     Schulverhalten Nachteile bringe (Kröhnert               zials. Sicher formulieren Lehrkräfte ihre Emp-
     et al., 2015). Zeigen Knaben jedoch Gewis-              fehlungen nach sorgfältigen Erwägungen. Und
     senhaftigkeit, Motivation und Lernbereit-
     schaft – also den Mädchen zugeschriebene                das hat nichts mit dem Geschlecht der Lehrkräf-
     Eigenschaften – werden sie auch besser                  te zu tun. Vielmehr berücksichtigen sie Fakto-
     bewertet.                                               ren, die von Mädchen im Schnitt besser erfüllt
                                                             werden. Neben kognitiven Fähigkeiten fliessen
⚫ Langsamere Reifung: Im Vergleich zu Mäd-                   auch Faktoren ein wie Motivation, Ausdauer,
     chen entwickeln sich Knaben durchschnitt-               Anstrengungs- und Lernbereitschaft, angepass-
     lich langsamer. Schon vorgeburtlich haben
     sie eine höhere Verletzlichkeit («Vulnerabili-          tes Verhalten oder die Fähigkeit zum selbstre-
     tät»). Im Gegensatz hierzu weisen Mädchen               gulierten Lernen. Knaben werden somit durch
     bis zur Pubertät unter anderem wegen ihrer              Vorgaben benachteiligt, die dem Verhalten der
     schnelleren Gehirnentwicklung einen Reife-              Mädchen entgegenkommen. Dazu kommt die
     vorsprung auf – doch die genauen neurona-               Lesekompetenz; welche die Noten und damit
     len Mechanismen liegen zum grossen Teil                 die Übertrittsempfehlung beeinflusst. Knaben,
     noch im Verborgenen.                                    die sich geschlechtsatypisch verhalten – also ei-
     Zusammengenommen zeigen sich Benach-                    ne gleich grosse Lernbereitschaft an den Tag le-
     teiligungen für Knaben teilweise bereits                gen wie Mädchen – werden sogar etwas häufi-
     früh in der Schullaufbahn. Dazu gehören ei-             ger – und nicht seltener – für das Gymnasium
     ne spätere Einschulung, Klassenwiederho-                empfohlen (Neugebauer, 2011)
     lungen oder mehr Therapien. Dies könnte
     ein Grund sein, weshalb ihnen auch der                  Mit Blick auf begabte Minoritäten ist die soziale
     Sprung ans Gymnasium seltener gelingt.                  Herkunft ein bedeutsamer Einflussfaktor, wenn
                                                             es um den Übertritt ins Gymnasium geht. Zu oft
⚫ Feminisierung der Schule: Die These zur                    liegt das Augenmerk auf den vorausgesetzten
     Feminisierung der Schule – wonach der ho-               familiären Unterstützungsmöglichkeiten und
     hen Anteil weiblicher Primarschulkräfte an              Ressourcen. Solche Aspekte gilt es zu berück-
     der «Schulkrise der Knaben» hauptbeteiligt
     sei – ist inzwischen weit verbreitet. Trotz-

Ihre genutzten und ungenutzten Potenziale
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