MAGAZIN - HARTZ-IV-SÄTZE SIND LEBENSFREMD SOVD BEMÄNGELT DEN IM KABINETT BESCHLOSSENEN GESETZENTWURF - SOZIALVERBAND DEUTSCHLAND

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MAGAZIN - HARTZ-IV-SÄTZE SIND LEBENSFREMD SOVD BEMÄNGELT DEN IM KABINETT BESCHLOSSENEN GESETZENTWURF - SOZIALVERBAND DEUTSCHLAND
September
                                                   2020

                       Magazin
   Herausgegeben vom Sozialverband Deutschland

Hartz-IV-Sätze sind lebensfremd
   SoVD bemängelt den im Kabinett
    beschlossenen Gesetzentwurf
MAGAZIN - HARTZ-IV-SÄTZE SIND LEBENSFREMD SOVD BEMÄNGELT DEN IM KABINETT BESCHLOSSENEN GESETZENTWURF - SOZIALVERBAND DEUTSCHLAND
2     Über uns                                                                                                                                                                              Inhalt      3

    Eine starke Gemeinschaft                                                                        Lebensfremde Hartz-IV-Sätze

    Der Sozialverband Deutschland (SoVD)               rungssysteme ein. Der Sozialstaat ist ein    SoVD bemängelt Gesetzentwurf – die
    vertritt die Interessen der Rentner, der           wichtiges Auffangnetz für die Menschen       Berechnungsmethodik ersetzen.
    Patienten und gesetzlich Krankenversi-             – das zeigt sich gerade in Zeiten wirt-
    cherten sowie der pflegebedürftigen und            schaftlicher Krisen. Uns geht es auch um
                                                                                                                                            Seite 4 – 11
    behinderten Menschen. Wir setzen uns für           Chancengleichheit, zum Beispiel um die
    Ihre Rechte ein und bie-                                           Bildung und Ausbildung,                                                             Herausforderungen angehen
    ten unseren Mitgliedern                                            die unsere Gesellschaft
    Beratungsstellen in ganz                                           behinderten und benach-                                                             Sozialpolitische Auswirkungen der
    Deutschland. Dort erhal-                                           teiligten Kindern und Ju-                                                           Pandemie: SoVD legt Einschätzung vor.
    ten sie Hilfe bei Fragen                                           gendlichen bietet.
    zur gesetzlichen Kranken-,                                         Der SoVD ist eine starke
                                                                                                                                                                                        Seite 12 – 21
    Renten- und Pflegeversicherung oder in             Gemeinschaft mit rund 600.000 Mitglie-
    behindertenrechtlichen Dingen. Soziale             dern. Bei uns können Sie sich engagieren
                                                                                                    Reform des Pauschbetrages
    Gerechtigkeit steht im Mittelpunkt un-             und mit anderen gemeinsam aktiv wer-
    serer Arbeit. Wir setzen uns für den Aus-          den. Einer von über 2.000 Ortsverbänden      Steuerliche Entlastung von Menschen
    bau und den Erhalt der sozialen Siche-             befindet sich bestimmt auch in Ihrer Nähe.   mit Handicap überfällig.

                                                                                                                                           Seite 22 – 27

                                                                                                                                                           In Krise mehr Europa wagen

                                                                                                                                                           SoVD begrüßt EU-Wiederaufbaufonds,
                                                                                                                                                           kritisiert aber Prioritäten im Haushalt.

                                                                                                                                                                                        Seite 32 – 37

                                                                                                    Raumklang-Erleben

                                                                                                    Krisen und Herausforderungen im Alltag
                                                                                                    des blinden Musikers Jonas Hauer.

                                                                                                                                           Seite 38 – 45
    Die bundesweit über 600.000 Mitglieder des SoVD bilden eine starke Gemeinschaft.
                                                                                                    Foto Titelbild: Tijana / Adobe Stock
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4   Titelthema                                                                                                                       Titelthema            5

                               SoVD bemängelt den im Kabinett beschlossenen Gesetzentwurf – Methodik ersetzen

                                           Hartz-IV-Sätze sind lebensfremd

     Mitten in der Pandemie hat das
     Bundeskabinett eine Anhebung
     der Hartz-IV-Sätze ab 2021 be-
     schlossen. Jugendliche zwischen
     14 und 17 Jahren sollen davon
     profitieren; Kinder von 6 bis zu
     13 Jahren gehen dagegen leer
     aus. Als lebensfern kritisieren So-
     zialverbände, darunter SoVD, Ge-
     werkschaften und Opposition, das
     Gesetz von Bundessozialminister
                                                                                                                          Foto: Pixel-Shot / Adobe Stock
     Hubertus Heil, das noch Bundes-
                                                                                                        Nicht einmal ein Euro ist im Regelsatz
     tag und -rat passieren muss. Der                                                                   für Kinder und Jugendliche für Bildung
     Entwurf sei unter anderem unge-                                                                    vorgesehen. Einen Rechner anzuschaf-
     eignet, Kinderarmut zu begegnen.                                                                   fen, ist damit unmöglich.
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6   Titelthema                                                                                                                                 Titelthema            7

     Monatlich sieben Euro mehr sol-     Jugendliche zwischen 14 und 17
     len Hartz-IV-Empfänger*innen ab     Jahren geben: Bei ihnen wird der
     dem kommenden Jahr erhalten.        Regelsatz um mindestens 39 Euro
     Der Satz für alleinstehende Er-     auf mindestens 367 Euro im Mo-
     wachsene steigt laut Gesetzent-     nat angehoben. Kein Euro mehr
     wurf im Januar 2021 von 432 auf     ist nach aktuellem Stand für 6- bis
     439 Euro. Partner*innen in einer    13-Jährige in der Grundsicherung
     Bedarfsgemeinschaft      beziehen   geplant. Armutspolitisch sei dies
                                                                                         Foto: ARD, www.ard-mediathek.de / Screenshot: SoVD-Redaktion
     voraussichtlich sechs Euro mehr.    ein Skandal, sagen die Kritiker*in-
                                                                               Die Position des SoVD zu den neuen Hartz-IV-Regel-
     Die größte Steigerung soll es für   nen.                                  sätzen fand große mediale Beachtung, unter anderem
                                                                               im Tagesschau-Nachtmagazin.

                                                                                                                                     Foto: H. Brauer / Adobe Stock

                                                                                                            Durch die Corona-Krise steigt die Zahl
                                                                                                            der Hartz-IV-Empänger*innen weiter
                                                                                                            an.
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8   Titelthema                                                                                                                                      Titelthema           9

      Hartz-IV-Regelsätze werden             Jahren 2011 und 2017 zugrunde        Verdeckte Armut lässt                staatliche Hilfen angewiesen sind.
      alle fünf Jahre angepasst              liegt, nicht einverstanden: „Lei-    die Regelsätze absacken              „In der Summe besteht hier die
      Alle fünf Jahre, wenn eine neue so-    der wird die Chance vertan, die      Auf das Niveau der Leistungs-        Gefahr von Zirkelschlüssen“, stellt
      genannte Einkommens- und Ver-          Ermittlung der Regelbedarfe auf      ansprüche wirkt sich zudem nach-     SoVD-Präsident Bauer fest. „Die
      brauchsstichprobe (EVS) vorliegt,      eine solide und verfassungsgemä-     teilig aus, dass bei den „Konsu-     Regelsätze bewirken dann letzt-
      werden die Hartz-IV-Regelsätze         ße Berechnungsgrundlage zu stel-     mausgaben“ auch die Angaben          lich nicht mehr, als bestehende
      neu festgelegt. Die EVS ist eine       len“, stellt SoVD-Präsident Adolf    von Haushalten einfließen, die       Armutsverhältnisse zu dokumen-
      amtliche Statistik, bei der die Ein-   Bauer hierzu fest. Der SoVD be-      eigentlich einen Anspruch auf So-    tieren.“
      nahmen und Ausgaben von rund           anstandet vor allem methodische      zialleistungen hätten, diesen aber   Als Beleg dafür, dass die Sätze
      60.000 repräsentativ ausgewähl-        Mängel. Diese führten dazu, dass     aus Scham nicht geltend machen.      insgesamt zu niedrig bemessen
      ten Haushalten erhoben werden.         das soziokulturelle Existenzmini-    Das gilt ebenso für die Angaben      sind und Lebensrealitäten nicht
      An den Ausgaben von Haushalten         mum nicht sichergestellt werde.      von Aufstocker*innen – Menschen,     widerspiegeln, führt der SoVD un-
      unterer Einkommensgruppen ori-         Ein wesentliches Manko ist es da-    die trotz Arbeit auf ergänzende      ter anderem das Beispiel Mobili-
      entieren sich die Hartz-IV-Sätze.      bei aus Sicht des Verbandes, dass
      Grundlage für die nun geplante         als Berechnungsgrundlage grund-
      Anpassung sind die Daten aus den       sätzlich die Konsumangaben ein-
      Einkommens- und Verbrauchs-            kommensschwacher        Haushalte
      stichproben aus dem Jahr 2018.         dienen. Gleichzeitig aber streicht
      Die Regelsätze werden darüber          der Gesetzgeber in diesen, was er
      hinaus jedes Jahr entlang der          nicht als regelbedarfsgerecht be-
      Lohn- und Preisentwicklung fort-       wertet. So wird der Gürtel immer
      geschrieben – eine Berechnung,         enger – zumal auch Kürzungen er-
      die zum jetzigen Zeitpunkt aller-      folgen, die nicht hinreichend be-
      dings noch aussteht. Sozialver-        gründet werden.
      bände, Gewerkschaften, Verbrau-        Aus Sicht des SoVD ist es zum
      cherverbände, Grüne, Linke und         Beispiel wenig nachvollziehbar,
      Wissenschafter*innen kritisieren       warum Menschen, die Leistungen
      das angewandte Verfahren als           aus der Grundsicherung beziehen,
                                                                                                                                    Foto: Ronald Rampsch / Adobe Stock
      „nicht realitätsgerecht“.              keine Zimmerpflanzen haben oder
                                                                                                                       Suppenküchen und Kleiderkammern
      Auch der SoVD ist mit der Berech-      ihre Haustiere nicht weiter halten                                        haben regen Zulauf, weil viele Men-
      nung der Regelsätze, der die glei-     dürfen.                                                                   schen sich die Preise für Essen und
      che Methodik wie schon in den                                                                                    neue Kleidung nicht leisten können.
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10   Titelthema                                                                                               Titelthema 11

      tät an. „Der Gesetzgeber ignoriert,   ner Studie der Bertelsmann Stif-    Um das soziokulturelle Existenz-
      dass ein Auto für viele Menschen      tung zu fehlenden Teilhabechan-     minimum solide zu sichern, plä-
      Grundvoraussetzung für soziale        cen armer Kinder in die Debatte     diert der SoVD für ein transpa-
      Teilhabe ist. Das gilt insbesondere   eingebracht: „Wenn rund drei Mil-   renteres Statistikmodell, das auf
      für Menschen mit Behinderungen        lionen Kinder in Deutschland arm    normative Streichungen verzich-
      und bei bestehenden Mobilitäts-       aufwachsen, dann verwehren wir      tet. Der Verband fordert das Ein-
      einschränkungen“, erklärt Bauer.      ihnen soziale, kulturelle und ge-   setzen einer Sachverständigen-
      Im ländlichen Raum, wo der öf-        sundheitliche Chancen“, erklärte    kommission, die gemeinsam mit
      fentliche Nahverkehr ausbaufähig      der SoVD-Präsident. Die Ausge-      dem Bundesarbeitsministerium
      ist, seien Betroffene oftmals eben-   staltung und Höhe der Regelsätze    die Berechnung der Regelsätze
      so auf ein Auto angewiesen.           holten Kinder nicht aus Armuts-     vornimmt.
      Wie realitätsfern die Resultate des   verhältnissen heraus. Die kindli-
      Bemessungsverfahrens sind, zeigt      che Entwicklung entscheide aber
      sich etwa auch daran, dass gera-      über ihre Zukunft, so Bauer.
      de einmal 1,67 Euro für die An-
      schaffung einer Waschmaschine
      vorgesehen sind. Man kann sich
      ausrechnen, wie lange Grundsi-
      cherungsbeziehende darauf spa-
      ren müssten. Der SoVD fordert
      deshalb die Aufnahme von Ein-
      malleistungen, die die Jobcenter
      bei Bedarf direkt übernehmen.
      Weil im vorliegenden Gesetzent-
      wurf die Corona-Krise ausgeblen-
      det ist, bekräftigt der SoVD zudem
      die in einem breiten Bündnis er-
      hobene Forderung von 100 Euro
      pro Monat mehr für Betroffene
                                                                                              Foto: Aleksandra Suzi / Adobe Stock
      zum Ausgleich der Mehrkosten.                                             In Zeiten mit digitalem Unterricht sind
      Schon vor dem Kabinettsbeschluss                                          Kinder aus armen Familien noch stär-
      hatte sich der SoVD angesichts ei-                                        ker benachteiligt als ohnehin schon.
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12   Sozialpolitik                                                                                                           Sozialpolitik 13

                   SoVD legt Einschätzung zu sozialpolitischen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie in Deutschland vor

                            Herausforderungen gemeinsam meistern

       Die Auseinandersetzung mit dem                                                                 bessere Unterstützung von Fami-
       Coronavirus hat gezeigt, wie wich-                                                             lien in Krisensituationen ermögli-
       tig Unterstützungsleistungen in                                                                chen.
       Krisenzeiten gerade für Menschen                                                               Zudem waren Betroffene und de-
       mit Behinderungen bzw. mit Pfle-                                                               ren Familien mit dem Wegbrechen
       gebedarf sind. Zu den einzelnen                                                                ambulanter Unterstützungsstruk-
       Herausforderungen im Hinblick                                                                  turen in der Krise auf sich allein
       auf Rehabilitation und Teilhabe                                                                gestellt. Für viele privat Pflegende
       hat der SoVD daher eine Einschät-                                                              war eine berufliche Tätigkeit nicht
       zung vorgelegt, die konkrete Vor-                                                              mehr möglich. Aus SoVD-Sicht
       schläge und Forderungen an die                                                                 sollte daher dringend überlegt
       Politik enthält.                                                                               werden, wie Betroffene in solchen
                                                                                                      Belastungssituationen kurzfristig
                                                                                                      sozialstaatliche Hilfe und Unter-
                                                                                                      stützung erhalten können.

       Familien mit pflegedürftigen oder
       behinderten Angehörigen standen
       beim „Wettlauf um Schutzausrüs-
       tung“ oft hintan. Im Gegensatz zu
       vielen Institutionen erhielten sie
       beim Beschaffen und Bezahlen von
                                                                                                                           Foto: Boggy / Adobe Stock
       Masken und Desinfektionsmittel
                                                                                                      Schwerbehinderte Arbeitnehmer*innen
       keine Hilfe. Der SoVD regt daher                                                               besitzen auch und gerade in Zeiten der
       an, Strukturen zu schaffen, die eine                                                           Krise ein Recht auf Teilhabe.
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14   Sozialpolitik                                                                                         Sozialpolitik 15

       Zwischen Fürsorge und                zwischen dem gebotenen Infektions-
       Selbstbestimmung                     schutz und dem Recht auf Selbstbe-
       Mit Blick auf stationäre Einrich-    stimmung abgewogen werden. Leider
       tungen der Pflege und der Behin-     können sich die Betroffenen selbst
                                                                                               Foto: Peter Maszlen / Adobe Stock
       dertenhilfe begrüßt der SoVD, dass   politisch kaum Gehör verschaffen.
                                                                                    Die Besuchsverbote in Senioren-
       die teils strikten Besuchsverbote    Weiterhin fehlt ein Überblick, inwie-   und Pflegeeinrichtungen wurden
       mittlerweile gelockert wurden.       weit die Einrichtungen die Schutz-      zur Freude der Bewohner*innen
       Hier muss auch künftig sorgsam       und Lockerungskonzepte umsetzen.        wieder gelockert.
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16   Sozialpolitik                                                     Sozialpolitik 17

       Verschlechterungen bei der
       Teilhabe an Arbeit
       Coronabedingt steigt die Zahl
       schwerbehinderter       Arbeitsloser
       deutlich an. Zudem beschäftigt wei-
       terhin jedes vierte Unternehmen in
       Deutschland nicht einen einzigen
       schwerbehinderten Menschen. Der
       SoVD fordert daher einen „Ruck für
       Teilhabe“: Unternehmen, die in der
       Krise gefördert werden, müssen
       auch gefordert werden, ihre ge-
       setzlichen Pflichten zu erfüllen.
       Die Beschäftigung schwerbehin-
       derter Arbeitnehmer*innen sollte
       auch durch gezielte Förderpro-
       gramme vorangebracht werden.
       Die Bundesagentur für Arbeit trägt
       dabei in besonderer Weise Verant-
       wortung, berufliche Teilhabe und                            Foto: Elnur / Adobe Stock
                                              Jedes vierte Unternehmen in Deutsch-
       Inklusion zu ermöglichen und so        land stellt keine Mitarbeiter*innen mit
       einer drohenden gesellschaftli-        Behinderungen ein und zahlt lieber
       chen Spaltung entgegenzuwirken.        eine Abgabe.
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18   Sozialpolitik                                                  Sozialpolitik 19

       Verstärkte Ungerechtigkeiten         Investitionen für mehr
       beim Zugang zu Bildung               Barrierefreiheit nutzen
       Die coronabedingten Schulschlie-     Das Krisenbewältigungs- und In-
       ßungen haben gezeigt, wie schnell    vestitionspaket der Bundesregie-
       Kinder aus sozial benachteiligten    rung umfasst beachtliche 130 Mil-
       Familien – und dies betrifft viele   liarden Euro. Gerade vor diesem
       Kinder mit sonderpädagogischem       Hintergrund würde die vom SoVD
       Förderbedarf – von der Teilhabe an   geforderte gesetzliche Pflicht zur
       Bildung ausgeschlossen sein kön-     Barrierefreiheit wichtige Impulse
       nen. Hier müssen den Bedürfnissen    für mehr Teilhabe setzen. Die Po-
       entsprechende Lösungen her, die      litik müsste zudem dafür sorgen,
       einen gleichberechtigten Zugang      dass deutlich wird, wo es bereits
       zu Bildungsangeboten ermögli-        Veränderungen gab und wo noch
       chen.                                Handlungs- und Investitionsbedarf
                                            besteht.

                                                             Foto: sushytska / Adobe Stock

                                            In der Corona-Krise waren auch die
                                            Fördereinrichtungen für Kinder mit
                                            Handicap geschlossen. Der Ausgleich
                                            zu Hause war für die Familien kaum zu
                                            schaffen.
20   Sozialpolitik                                                         Sozialpolitik 21

       SoVD sieht Gefahr einer sozialen
       Ausgrenzung
       Angesichts steigender Arbeitslo-
       senzahlen nehmen die Existen-
       zängste vieler Menschen zu. Emp-
       fänger*innen von Grundsicherung
       sind verstärkt von einer sozialen
       Ausgrenzung bedroht. Gerade für
       die Gruppe der Ärmsten wurde
       nach Ansicht des SoVD bisher noch
       zu wenig getan.

       Anspruch auf eine gerechte
       Bezahlung durchsetzen
       Die Corona-Krise hat deutlich ge-
       macht, wie wichtig gerade die Ge-
       sundheits- und Pflegeberufe sowie
       die Sorgearbeit für unsere Gesell-
       schaft sind. Jetzt ist es an der Zeit,
       diese Tätigkeiten, die vor allem
       Frauen leisten, gesellschaftlich
       aufzuwerten und endlich auch ge-
       recht zu entlohnen.

                                                                Foto: pressmaster / Adobe Stock

                                                Es sind vor allem die Frauen, die sich
                                                in der Corona-Krise neben ihrem Job
                                                auch noch zu Hause um die Kinder
                                                und Pflegebedürftige kümmern.
22   Sozialpolitik                                                                                                    Sozialpolitik 23

                     Menschen mit Handicap steuerlich entlasten: Anhebung und Vereinfachung überfällig

                     Reform des Behinderten-Pauschbetrages

                                                                                               Menschen mit Behinderungen er-
                                                                                               leben viele Nachteile. Ein finan-
                                                                                               zieller Ausgleich ist der Pausch-
                                                                                               betrag für behinderungsbedingte
                                                                                               Ausgaben. Er spart Steuern – und
                                                                                               Bürokratie, da Betroffene keine
                                                                                               Einzelbelege sammeln müssen.
                                                                                               Doch seit 45 Jahren sind die Be-
                                                                                               träge gleich. Mit einem Gesetz-
                                                                                               entwurf sind endlich Erhöhungen
                                                                                               geplant. Dafür hat der SoVD lange
                                                                                               gekämpft. Nun fehlt aber noch die
                                                                                               Verabschiedung.

                                                                                                                   Foto: Elnur / Adobe Stock

                                                                                               Für Mehrausgaben durch ihre Behin-
                                                                                               derung können Betroffene nun doppelt
                                                                                               so hohe Pauschbeträge bei der Steuer
                                                                                               geltend machen.
24   Sozialpolitik                                                    Sozialpolitik 25

       Ende Juli beschloss das Kabinett
       ein „Gesetz zur Erhöhung der Be-
       hinderten-Pauschbeträge       und
       Anpassung weiterer steuerlicher
       Regelungen“. Stimmt nun das Par-
       lament zu, sollen die Änderungen
       ab 2021 gelten.
       „Der Entwurf wäre ein echter be-
       hindertenpolitischer Erfolg und
       beruht auf jahrelangem, stetem
       SoVD-Engagement – vorausge-
       setzt, dass er Bundestag und Bun-
       desrat in der jetzt vorliegenden
       Form passiert“, sagte SoVD-Präsi-
       dent Adolf Bauer.

       Ermutigende Entwicklung nach
       stetem SoVD-Einsatz
       Geplant ist, die Beträge zu verdop-
       peln. Neu dazukommen soll ein
       Pauschbetrag für Fahrtkosten. Ein-
       schränkungen bei einem Grad der
       Behinderung (GdB) unter 50 sollen
       entfallen. Damit dürften auch Men-
       schen ohne Schwerbehinderten-
       status die Regelungen nutzen, und
       zwar nicht nur unter weiteren Be-
       dingungen wie etwa bestimmten
                                                                Foto: didesign / Adobe Stock
       Gründen für die Behinderung.
                                             Ein eigenes Auto ermöglicht Menschen
       Der SoVD begrüßt die steuerliche      mit Behinderungen mehr Mobilität. Öf-
       Entlastung ausdrücklich: „Die ak-     fentliche Verkehrsmittel sind oft nicht
       tuelle Entwicklung ist sehr ermuti-   barrierefrei.
26   Sozialpolitik                                                                 Sozialpolitik 27

                     gend für die über sieben Millionen     dertenpauschbeträge die behinde-
                     schwerbehinderten Menschen in          rungsbedingten Mehraufwendun-
                     Deutschland. Das ist ein sehr gutes    gen in keinster Weise abbilden.“
                     und starkes Zeichen“, unterstrich      Zudem zeigten sich viele Hürden.
                     Bauer. Er rief den Gesetzgeber auf,
                     das Vorhaben zu beschließen.           Gesetz beschließen, aber
                                                            Pauschbeträge dynamisieren
                     Lebenswirklichkeit der Menschen        Aus SoVD-Sicht wird es höchste Zeit,
                     abbilden                               die Regelungen zu überarbeiten. Er
                     Seit 1975 sind die Beträge fast        hat sich lange dafür eingesetzt. Im
                     unverändert. In der jetzigen Form      Herbst sollen nun Bundestag und
                     werden sie nach Worten von Adolf       Bundesrat über den Entwurf bera-
                     Bauer der Lebenswirklichkeit be-       ten. Der SoVD-Bundesverband und
                     hinderter Menschen „vorne und          alle Landesverbände müssen hier
                     hinten nicht gerecht“. Kosten, Prei-   den Druck aufrecht erhalten.
                     se und Löhne sind gestiegen. Es        Im Gesetzgebungsprozess tritt der
                     sei „offensichtlich, dass die Behin-   Verband allerdings für eine Nach-
                                                            besserung ein: Er fordert, die Pau-
                                                            schbeträge dynamisch zu halten,
                                                            sodass sie automatisch steigen.
                                                            Denn die Preise werden sich auch
                                                            in Zukunft weiterentwickeln.

                                                                                Foto: Roman / Adobe Stock

                                                            Menschen mit Behinderungen sind oft
                                                            auf Hilfen angewiesen. Das verursacht
                                                            Extrakosten.
28   Sozialpolitik                                                                                                                   Sozialpolitik 29

                                   SoVD aktiv im Bündnis für gute Pflege – gemeinsame Forderungen an die Politik

                                              Pflegeversicherung umbauen!

       Gute Pflege kostet Geld. Und da die Menschen immer älter werden, steigt
                                                                                                                              Foto: alex.pin / Adobe Stock
       der Pflegebedarf. Die Kosten dafür sind ungerecht verteilt, für Betroffene
                                                                                                            Pflegebedürftige zahlen viele Kosten
       ein Armutsrisiko und ohne eine umfassende Finanzreform nicht mehr zu                                 selbst, besonders in Heimen.
       stemmen, meint der SoVD – und mit ihm ein breites Bündnis.
30   Sozialpolitik                                                    Sozialpolitik 31

       Das „Bündnis für gute Pflege“ be-     trum zu gering. Versicherungs-
       steht seit 2012. Der SoVD gehörte     fremde Leistungen müssten mit
       zu den zehn Gründungspartnern         Steuern finanziert werden, medizi-
       aus Gewerkschaften, Sozial- und       nische Behandlungspflege von den
       Wohlfahrtsverbänden und anderen       Krankenkassen. Pflegebedürftige,
       Organisationen, die die Situation     gerade in Heimen, seien zu ent-
       nicht mehr hinnehmen wollten –        lasten und ihre Eigenanteile abzu-
       und diese hat sich noch verschärft.   bauen. Investitionskosten müssten
       Heute vertreten 23 Mitgliedsver-      die Länder tragen statt die Betrof-
       bände und 14 Unterstützer 13,6        fenen. Der zu kurz gedachte Pfle-
       Millionen Einzelpersonen, darunter    gefonds sei aufzulösen, um in die
       Pflegebedürftige, pflegende Ange-     Versicherung zu fließen.
       hörige und beruflich Pflegende.       Ziel sei ein Systemwechsel zu ei-
       Dass eine Reform der Pflegeversi-     ner solidarischen, paritätischen Fi-
       cherung nötig ist, hat Gesundheits-   nanzierung. Pflege sei Aufgabe der
       minister Jens Spahn (CDU) einge-      ganzen Gesellschaft.
       sehen und Diskussionen für den
       Herbst angekündigt. Bis dann will
       er erheben, wie groß die Löcher in
       den Sozialkassen sind, welche die
       Corona-Krise zusätzlich verursacht
       hat. Doch das Bündnis fordert
       bei dem drängenden Thema eine
       grundlegende, nicht aufschiebbare
       Reform:
       Gute Versorgung brauche mehr
       Personal mit besseren Arbeits-
       bedingungen und angemessener
       Bezahlung. „Pflaster“ wie Coro-
                                                              Foto: pikselstock / Adobe Stock
       na-Prämien und Sofortprogramme
                                             Corona hat der Öffentlichkeit deutlich
       beseitigten keine Strukturproble-     die schon lange bestehenden Missstän-
       me. Auch sei das Leistungsspek-       de im Pflegebereich vor Augen geführt.
32   Sozialpolitik                                                                                                                    Sozialpolitik 33

                                     SoVD begrüßt EU-Wiederaufbaufonds, kritisiert aber Prioritäten im Haushalt

                                            In der Krise mehr Europa wagen

       Um die Folgen der Corona-Pan-
       demie zu bewältigen, haben sich
       die Staats- und Regierungschefs
       der EU auf ein 750-Milliarden-Eu-
       ro-Paket geeinigt. Diese Gelder
       werden als Kredite oder Zuschüs-
       se unter den Mitgliedsländern
       verteilt. Der SoVD macht sich für
       einen stärkeren sozialpolitischen
       Fokus stark.

       Das Coronavirus kennt keine natio-
       nalstaatlichen Grenzen. Auch wenn
       Länder unterschiedlich stark von
       der Pandemie betroffen sind und
       unterschiedlich darauf reagieren:
       Ein Staatenbund wie die Europä-
       ische Union muss eine gemeinsa-
       me Lösung für diese Herausforde-
                                                                                                                             Foto: Franz Pfluegl / Adobe Stock
       rung finden.
                                                                                                                  Der „Wiederaufbau“ kann die euro-
       Auf dem EU-Gipfel vom 17. bis zum                                                                          päische Zusammenarbeit vertiefen.
       21. Juli verhandelten die Staats-
34   Sozialpolitik                                                                                                                                       Sozialpolitik 35

       und Regierungschef*innen lange                   sowie 360 Milliarden Euro zurück-     rungschef*innen absegnen lassen.      müssen die nationalen Parlamente
       und intensiv über das EU-Budget                  zahlungspflichtigen Krediten. Die     Zudem ist ein Rechtsstaatlich-        den Plan verabschieden.
       der nächsten sieben Jahre.                       selbsternannten „sparsamen Vier“      keitsmechanismus       vorgesehen.    In einer Reaktion auf die Einigung
       Am Ende des bisher zweitläng-                    Schweden, Dänemark, Österreich        Danach kann die Gemeinschaft          erklärte SoVD-Vizepräsidentin Ur-
       sten EU-Gipfel steht eine Entschei-              und die Niederlande erhalten da-      Geld zurückhalten, wenn Mit-          sula Engelen-Kefer: „Der SoVD hält
       dung, mit der die Gemeinschaft                   für einen Rabatt auf ihre künftigen   gliedsländer gegen das Gebot der      es für besonders wichtig, dass die
       neue Wege beschreitet. Erstmals                  Zahlungen in den EU-Haushalt.         Rechtsstaatlichkeit verstoßen. Die-   Vergabe der Finanzmittel mit der
       in ihrer Geschichte nimmt die Eu-                Auch Deutschland zahlt 3,67 Milli-    sen Beschlüssen der Staats- und       Einhaltung der Rechtsstaatlich-
       ropäische Union eigene Kredite                   arden Euro weniger.                   Regierungschef*innen muss das         keit verknüpft werden soll. Für den
       auf. Mit insgesamt 750 Milliarden                Um Geld aus dem Fonds zu be-          EU-Parlament noch zustimmen. Es       SoVD ist unverzichtbar, dass damit
       Euro finanziert die Gemeinschaft                 kommen, müssen die Mitglieder-        ist davon auszugehen, dass es noch    auch die soziale Infrastruktur und
       einen Wiederaufbaufonds. Diese                   länder einen Plan zur Verwendung      Änderungen gibt, wenn die Abge-       sozialgerechte Orientierung in den
       Summe setzt sich zusammen aus                    der Hilfsgelder erstellen und von     ordneten im September über das        Mitgliedsländern gestärkt wird.“
       390 Milliarden Euro an Zuschüssen                den anderen Staats- und Regie-        EU-Budget beraten. Anschließend       Neben dem Wiederaufbaufonds ei-

                            Foto: tomas / Adobe Stock

       Corona-Hilfen stehen an erster Stelle.
       Der EU-Fonds zur Klimaverbesserung
       ist daher auf ein Drittel gekürzt wor-
       den.
36   Sozialpolitik                                                      Sozialpolitik 37

       nigten sich die Regierungsvertre-
       ter*innen auch auf den regulären
       Haushalt für die Jahre 2021–2027.
       Darin sind einige kritikwürdige
       Aspekte enthalten: So wird der
       Europäische Sozialfonds ESF+ um
       zehn auf 88 Euro Milliarden ge-
       kürzt. Aus Sicht des SoVD wäre es
       gerade jetzt wichtig gewesen, den
       Fonds zu stärken, um europaweit
       gegen prekäre Lebenslagen vorge-
       hen zu können. Außerdem war ur-
       sprünglich ein neues Gesundheits-
       programm „EU4Health“ geplant.
       Damit sollte ein besserer Schutz
       vor grenzübergreifenden Gesund-
       heitsgefahren geschaffen werden.
       Der SoVD kritisiert, dass dafür statt
       der vorgesehenen 9,4 Milliarden
       nun lediglich 1,7 Milliarden Euro
       veranschlagt sind.
       Weitere Verschiebungen stehen
       beim Klimaanpassungsfond an,
       der von 30 auf 10 Milliarden Euro
       schrumpfen soll. Für Agrarsubven-
       tionen sind dagegen 20 Milliarden
       Euro mehr vorgesehen.
       Über die Pläne für die deutsche
       Ratspräsidentschaft und die Be-                         Foto: canbedone / Adobe Stock

       wertung durch den SoVD berich-          Die EU will die Folgen der Pandemie
                                               gemeinsam angehen. Alle Mitglied-
       teten wir in der letzten Ausgabe
                                               staaten müssen dabei Hand in Hand
       (Nr. 7-8 / 2020, S. 3).                 arbeiten.
38   Inklusion                                                                                                                        Inklusion        39

                  Krisenerfahrungen und Herausforderungen im Alltag des blinden Berliner Musikers Jonas Hauer

                 Über die Faszination des Raumklang-Erlebens

                                                                                            Selbstständige und Künstler*innen trifft
                                                                                            die Corona-Krise besonders hart. Jonas
                                                                                            Hauer, blinder Musiker aus Berlin, erzählt
                                                                                            im Gespräch aus seinem Künstleralltag
                                                                                            mit Corona, über seine Liebe zum Jazz und
                                                                                            die mangelnde Barrierefreiheit im Inter-
                                                                                            net, das Sehbehinderte immer noch be-
                                                                                            nachteiligt. Hauer ist deutschlandweit mit
                                                                                            seinen Arrangements für die Band „Dota“
                                                                                            bekannt geworden.

                                                                                                                          alle Fotos: Wolfgang Borrs

                                                                                            Jonas Hauer liebt es, mit Sounds zu experimen-
                                                                                            tieren. Vor seinem Studio in Friedenau posiert er
                                                                                            mit seinem Cello.
40   Inklusion                                                                                                  Inklusion 41

       Das Studio von Jonas Hauer be-          dio wie Schlagzeug, Trompete, Cel-     flexionen von den Wänden wahr-
       findet sich in einem malerischen        lo, Ukulele oder Gitarre zwar auch     nehme, habe ich eine ungefähre
       Hinterhaus im Berliner Stadtteil        gerne zum Musizieren verwendet,        Vorstellung von den Dimensionen
       Friedenau. Der vom Großstadtlärm        diese aber auch für sein kreatives     des Raumes.“
       abgeschirmte Kellerraum ist ein         Schaffen als Soundidee dienen:
       wunderbares Refugium, wie Hau-          „Ich bin jetzt kein Profi an allen     Musikerfahrungen in der
       er zu erzählen weiß: „Ich kann hier     Instrumenten, sondern ich mag          Ausnahmesituation
       unten üben und störe keine Men-         vielmehr die Ähnlichkeiten und die     Der Ausbruch der Corona-Pande-
       schenseele. Über dem Studio woh-        jeweiligen Unterschiede im Klang.      mie traf die Musikbranche mit vol-
       ne ich ja selbst seit rund 15 Jahren,   Das finde ich sehr spannend.“          ler Wucht. Auch Jonas Hauer muss-
       deshalb habe ich keine Probleme         Der Ton macht die Musik, doch das      te mit seinen zahlreichen Projekten
       mit Lärmbelästigung. Früher bin         ist für den Berliner nicht unbedingt   umdisponieren und Auftritte absa-
       ich schon aus verschiedenen Woh-        entscheidend. Als blinder Musiker      gen: „Eigentlich wären der Mai und
       nungen rausgeflogen, weil es die        geht er über den Sound hinaus          der Juni superbusy gewesen. Das ist
       Leute einfach gestört hat.“             und integriert sein Raumgefühl in      durch Corona jetzt alles weggefal-
       Der sehbehinderte Multiinstru-          sein Schaffen. Zur einfachen Ver-      len.“ Würde der Berliner nicht neben
       mentalist kann sich nicht konzen-       deutlichung klatscht er einmal in      der Musik noch beispielsweise für
       trieren, wenn er merkt, dass er sei-    die Hände: „Mich interessiert, wie     Museen und im öffentlich-rechtli-
       ne Mitmenschen mit seiner Musik         der Raum an sich klingt, wie er        chen Bereich im Segment der Au-
       stresst: „Da bin ich schon sensi-       funktioniert. Und natürlich die Tat-   diodeskription arbeiten, wäre es
       bel. Aber hier unten kann ich auch      sache, dass es dieses Ding ‚Hören‘     schwierig für ihn geworden: „Dann
       nachts spielen, wenn ich will. Das      überhaupt gibt. Was ist das eigent-    wüsste ich echt nicht, wie ich die
       ist wundervoll.“                        lich? Das finde ich auch deshalb       letzten drei Monate überbrückt
                                               spannend, weil ich hauptsächlich       hätte. Ich kenne sehr viele Leute,
       Instrumente im Studio dienen            mit Leuten zu tun habe, die sehen      die über Skype Musikunterricht ge-
       auch der Soundidee                      können und bei denen das Hören         ben. Sowas würde ich dann in dem
       Den meisten Platz in seinem Stu-        in der Regel nicht so wichtig ist.“    Fall auch machen. Die Leute, die es
       dio nimmt der schwarze Flügel ein.      Für Menschen, die gar nichts se-       noch krasser trifft, sind neben den
       „Das ist das Instrument, an dem ich     hen, sei das Hören hingegen der        Musikern auch die Veranstaltungs-
       als Musiker gewachsen bin“, merkt       wichtigste Hauptsinn, so Hauer:        techniker und Tonleute. Die bauen
       der 42-Jährige an und erklärt, dass     „Wir Nichtsehende orientieren uns      ja nicht ihre Boxentürme auf, wenn
       er die übrigen Instrumente im Stu-      ja mit dem Hören. Wenn ich die Re-     keiner zur Veranstaltung kommt.“
42   Inklusion                                                                                                      Inklusion 43

        Auch in Hauers Freundeskreis gibt      Einkaufsstraßen Berlins laufen, als    ke man die Verbindung zur Musik,
       es Menschen, die in dieser Bran-        wäre immer Sonntag. Das fand ich       die im Moment entstehe und dann
       che arbeiten, große Lagerräume          total angenehm.“                       so inspirierend wirke, so Hauer:
       für ihr Equipment gemietet haben                                               „Mein Ziel als Musiker ist, dass ich
       und derzeit keine Einnahmen vor-        Von Bill Evans Musik maßgeblich        ein Medium bin, dass ich es fließen
       weisen können. „Das ist für sie echt    geprägt                                lasse. Musik muss durchlässig sein.“
       hart. Wenn wir Musiker Zeit üb-         Jonas Hauer macht seit seinem          Wenn Musiker*innen dabei auch
       rig haben, dann setzt du dich hin,      sechsten Lebensjahr Musik. Der Pi-     mal danebenhauen, sei das völlig
       übst und arbeitest an deiner Mu-        anist, der ihn auf seinem Lebens-      nebensächlich. „Miles Davis hat
       sik. Derzeit können wir auch etwas      weg am meisten geprägt hat, ist        gesagt: Wenn es mal nicht richtig
       mit Streaming reinholen. Ich per-       Bill Evans: „Das ist wie ein Bume-     läuft, dann nimm das, was gerade
       sönlich könnte mir aber nicht vor-      rang-Effekt. Zu dem komme ich          da ist, als Idee und mache etwa
       stellen, solo ein Streaming-Kon-        immer wieder zurück. Auch Keith        draus. Dieses Konzept ist super und
       zert zu spielen.“ Dazu bräuchte es      Jarrett hat mich wahnsinnig faszi-     hat mich schon oft gerettet“, lacht
       schon eine Gruppe, so Hauer. Wie        niert.“ Der Berliner Musiker kann      Hauer und erzählt, dass es im Lau-
       das klingt, hat er im Juli mit „Dota“   sehr lange über Jazz sinnieren, über   fe seines Lebens nicht immer so
       beim Deutschlandradio zeigen            den riesigen Facettenreichtum die-     einfach war.
       können. Im Sommer sind nun auch         ses Musikstils. Besonders hier mer-    Bereits im Studium musste er ler-
       weitere Konzerte mit der Gruppe
       um Singer-Songwriterin Dota Kehr
       geplant.
       Hauer hat aber auch seine ganz ei-
       gene Philosophie, mit der Pandemie
       umzugehen. Aus seiner Perspektive
       ist der Extremfall sehr interessant:
       „Ich beobachte, was die ganze Si-
       tuation mit mir selbst macht; wie
       mich das alles beschäftigt. Den An-
       fang der Pandemie fand ich sehr
       schön, weil es so leer draußen war.
                                                                                      Jonas Hauer ist am Flügel musikalisch
       Kein Mensch war unterwegs. Man                                                 erwachsen geworden. Seine Liebe zum
       konnte über die sonst supervollen                                              Jazz hat der Berliner dabei nie verloren.
44   Inklusion                                                                                                    Inklusion     45

       nen, sich seine Partituren zu erar-     Genießen der Resonanz des Publi-        habe 25 verschiedene Apps durch-
       beiten: „Der Prozess, ein Stück zu      kums sei eine gewisse Unabhän-          probiert, die alle nicht liefen, weil
       lernen, ist für Nichtsehende we-        gigkeit unabdingbar. Aus diesem         sie nicht barrierefrei programmiert
       sentlich komplizierter. Wenn ich        Grund hat Hauer das Touren seit         waren. Für mich ist das echt frust-
       Stücke zum ersten Mal vom Noten-        2018 eingeschränkt und sich auf         rierend.“
       blatt erfühle, dann muss ich sie ent-   kleinere Konzertserien konzent-         Zudem bestehe trotz der gewal-
       weder komplett auswendig lernen         riert.                                  tigen Innovation die Gefahr, dass
       oder ich spiele sie Hand für Hand       Allerdings gäbe es eine Konstella-      durch die technischen Lösungen
       und setze dann zum Schluss alles        tion, in der er sich vorstellen könn-   die Menschen nicht mehr dafür
       zusammen.“ Hauer kennt auch vie-        te, wieder länger mit seinen Pro-       sensibilisiert seien, auf ihre Um-
       le nichtsehende Musiker, die kom-       jekten auf Tour zu gehen: „Es gibt      gebung zu achten, meint der Ber-
       plett nach Gehör spielen und gar        ja die sogenannte Arbeitsassistenz      liner. „Im digitalen Zeitalter, in der
       nicht mit Noten arbeiten. „Natür-       für Menschen mit Behinderung. In        die Welt immer komplexer und
       lich ist das für das grobe Spielen      dieser Situation ist es noch mal        Darstellungen immer grafischer
       hilfreich. Es birgt natürlich auch      was anderes, weil man dann doch         werden, muss man Webseiten im
       die Gefahr, dass man Interpretatio-     etwas unabhängiger ist und auch         Internet von Grund auf barriere-
       nen übernimmt. Aus diesem Grund         die Bandkollegen entlastet.“ Bisher     frei gestalten. Es muss in den Tools,
       habe ich das während des Musik-         habe Hauer diese Hilfe aber nicht       in den Grundelementen der Sei-
       studiums nie gemacht.“                  in Anspruch genommen.                   ten, selbst drinstecken. Solange es
       Praktische Probleme treten für den                                              Möglichkeiten gibt, Bilder hochzu-
       sehbehinderten Multiinstrumen-          Barrierefreiheit muss                   laden, ohne eine Bildunterschrift
       talisten auch beim Touren auf. In       weitergedacht werden                    für Nichtsehende zu setzen, wer-
       einem fremden Club ist Hauer stets      Hindernisse im Alltag findet der        den es die Leute auch weiterhin
       auf andere Menschen angewiesen:         Multiinstrumentalist aber auch im       tun. Das ist doch logisch.“
       „Die Orientierung funktioniert nur,     Internet. Bei der zur Software seien
       wenn irgendwer mich ständig von         bestimmte Anwendungen wie Vi-
       A nach B bringt. Sei es vom Backs-      renscanner oder Media-Player vor
       tage-Bereich auf die Bühne oder         zehn Jahren barrierefreier gewe-
       zurück ins Hotel. Ich kann auf ei-      sen als heute, so Hauer: „Neulich
       ner Tour nur schwer eine Entschei-      wollte ich mit meinem Sohn, der
                                                                                       Neben dem Piano spielt Jonas Hauer
       dung für mich treffen. Das finde        gerne Schach spielt, eine Schach-       auch Schlagzeug, Trompete, Cello,
       ich schwierig.“ Gerade aber für das     App runterladen. Ich glaube, ich        Ukulele und Gitarre.
46   Vermischtes                                                                                                                              Vermischtes             47

                                       Soziales Engagement lohnt sich dank dieser Idee auf ganz praktische Weise

                                               Tausche Bildung für Wohnen

       Das Stadtentwicklungsprojekt Tausche Bil-                                                               Auch im Ruhrgebiet sind Wohnun-
       dung für Wohnen e. V. verfolgt einen ebenso                                                             gen knapp. In Duisburg-Marxloh
       genialen wie einfachen Ansatz: Junge Erwach-                                                            und in Gelsenkirchen-Ückendorf
       sene dürfen mietfrei wohnen und verpflichten                                                            gibt es zumindest für junge Er-
       sich im Gegenzug dazu, mit Kindern struktur-                                                            wachsene seit einigen Jahren
       schwacher Stadtteile zu spielen und zu lernen.                                                          eine interessante Alternative: Wer
       Für die generationenverbindende Idee erhielt                                                            studiert, am Bundesfreiwilligen-
       das Sozialunternehmen im vergangenen Jahr                                                               dienst teilnimmt oder ein Freiwil-
       den Deutschen Engagementpreis.                                                                          liges Soziales Jahr absolviert, kann
                                                                                                               dort für mindestens ein Jahr miet-
                                                                                                               frei wohnen. Möglich macht dies
                                                                                                               der Verein Tausche Bildung für
                                                                                                               Wohnen. Die Teilnehmenden wer-
                                                                                                               den zunächst als Bildungspat*in-
                                                                                                               nen qualifiziert und unterstützen

                                                                                                                     Fotos: Tausche Bildung für Wohnen e. V. (2020)
                                                                                                               Kinder zwischen fünf und 13 Jahren
                                                                                                               erhalten Hilfe bei ihrer schulischen und
                                                                                                               sozialen Entwicklung. Unter ihnen sind
                                                                                                               viele neu zugezogene und geflüchtete
                                                                                                               Familien, die noch keinen Schulplatz
                                                                                                               haben.
48   Vermischtes                                                                                  Vermischtes     49

                                                     im nächsten Schritt die Kinder des Stadtteils in gezielten
                                                     Lern- und Förderangeboten. Neben der Sprachförderung ste-
     Auch im Ruhrgebiet sind Wohnun-                 hen dabei vor allem soziale und schulische Kompetenzen im
     gen knapp. In Duisburg-Marxloh                  Mittelpunkt.
     und in Gelsenkirchen-Ückendorf                  Auf diese Weise eröffnen sich gerade in strukturschwachen
     gibt es zumindest für junge Er-                 Regionen neue Perspektiven. Unterschiedliche Generatio-
     wachsene seit einigen Jahren                    nen leben, lernen und spielen gemeinsam. Gesellschaftliche
     eine interessante Alternative: Wer              Teilhabe wird so von den Beteiligten selbst gestaltet.
     studiert, am Bundesfreiwilligen-
     dienst teilnimmt oder ein Freiwil-
     liges Soziales Jahr absolviert, kann
     dort für mindestens ein Jahr miet-
     frei wohnen. Möglich macht dies
     der Verein Tausche Bildung für
     Wohnen. Die Teilnehmenden wer-
     den zunächst als Bildungspat*in-
     nen qualifiziert und unterstützen
     im nächsten Schritt die Kinder
     des Stadtteils in gezielten Lern-
     und Förderangeboten. Neben der
     Sprachförderung stehen dabei
     vor allem soziale und schulische
     Kompetenzen im Mittelpunkt.
     Auf diese Weise eröffnen sich ge-
     rade in strukturschwachen Regi-
     onen neue Perspektiven. Unter-
     schiedliche Generationen leben,
     lernen und spielen gemeinsam.
     Gesellschaftliche Teilhabe wird so
        Das Projekt Tausche Bildung für Wohnen
     von    den Beteiligten selbst gestal-
        e. V. hilft benachteiligten Kindern dabei,
     tet.in ihrem Alltag und ihrem Stadtteil an-
       zukommen.
Mit spitzer Feder

Bleibt zu Hause – endlich!

                                 Impressum

Das Online-Magazin erscheint monatlich in Ergänzung zur Mitglie-
derzeitung „Soziales im Blick“. Gelesen werden kann es online un-
ter www.sovd.de sowie (mit Zusatzfunktionen) über die App „SoVD Maga-
zin“. Herausgeber ist der Sozialverband Deutschland e. V. (SoVD), Stralauer
Straße 63, 10179 Berlin, E-Mail: redaktion@sovd.de, Telefon: 030 / 72 62 22 – 0.
Redaktion: Veronica Sina (verantwortlich), Joachim Schöne, Brigitte Grahl, Sebastian
Triesch, Denny Brückner, Eva Lebenheim, Christian Müller.
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