Maldekstra #12 - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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maldekstra #12 Globale Perspektiven von links: das Auslandsjournal September 2021 Global Health Die soziale Dimension von Gesundheit ist mit der Pandemie wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Lange war es viel zu still um dieses Thema. Dabei ist es untrennbar mit dem linken Anspruch sozialer Gerechtigkeit verbunden Der Kampf um globale soziale Gerechtigkeit bleibt ein unvoll- ständiges Ansinnen, beinhaltet er nicht auch den Kampf um Gesundheit und Bereitstellungen aller Bedingungen, die als not- wendige Voraussetzungen für den Erhalt von Gesundheit, Vorbeu- gung gegen Krankheit und die medizinische und pflegerische Versorgung kranker Menschen gelten. Zur sozialen Dimension von Gesundheit gehört weitaus mehr als funktionierende Ge- sundheits- und Pflegesysteme. Wohn- und Arbeitsbedingungen, struktureller Rassismus, der Zustand der Umwelt, der Zugang zu Nahrungsmitteln sind genauso bedeutsam wie medizinische Versorgung unabhängig von der eigenen sozialen und finanziellen Situation. Es geht um Zusammen- hänge. Der Verlust an Biodiversi- tät befördert das Entstehen von Pandemien. Landgrabbing, Öko- Piraterie, Extraktionsindustrien haben extrem große Rückwir- kungen auf die Gesundheit der Bevölkerungen. Neokoloniale Strukturen verhindern, dass Län- der des globalen Südens eigene Gesundheitssysteme aufbauen können. Entwicklungshilfe wird zur Schimäre, kommt sie als Almosen daher. Gesundheit war schon immer mehr als die Abwesenheit von Krankheit. Mobile Krankenstation in Magoma (Tansania) Foto: Kai-Uwe Wärner/picture alliance
2 maldekstra #12September 2021 Inhalt 3 Was macht krank? Eva Wuchold Allen das Recht auf Gesundheit und Jan van Aken über die soziale Dimension von Gesundheit und Krankheit Es ist acht Jahre her, da konstatierte die Volkswirtin beutung, sondern als Zeichen dafür, dass der und Historikerin Friederike Habermann in einem Aufstieg nicht geschafft wurde. 6 Rechte statt Zielgruppen Gespräch mit Nicoletta Dentico Artikel für das „Gen-ethische Netzwerk“ (1986 von Gesundheit als individuelle Leistung bzw. als über Kämpfe um Gesundheit in kritischen Wissenschaftler*innen, Journalist*in- Frage der Einstellung und des persönlichen Erfolgs einem kranken System nen, Tierärzt*innen, Mediziner*innen, Politiker*in- zu betrachten, hat große Vorteile. Es katapultiert 8 Privilegien erkennen, Macht nen und anderen an der Gentechnik interessierten das Thema aus allen Zusammenhängen, die da unter aufgeben, Raum schaffen Einige Menschen gegründet), dass „biologische Merkmale anderem heißen: zunehmende soziale Ungleich- Gedanken zur Dekolonialisierung globaler Gesundheitsversorgung und gesundheitsrelevante Verhaltensweisen“ eine heit, atemberaubender Klimawandel, Globalisierung 10 Solidaritätsinzidenzwert: null „wesentliche Rolle beim gesellschaftlichen Ein- und als Bewegungsform transnationaler Konzerne, Auch in der Pandemie geht es Ausschluss von Menschen“ spielen. „Heute deren ökonomische Gewalttätigkeit gegenwärtig darum, was Vorrang hat: das Recht signalisiert der fitte, natürlich ernährte, schlanke keine ernstzunehmende Gegnerin kennt, eine auf Profit oder Menschenrechte. und möglichst junge Körper Zugehörigkeit und mehr und mehr auseinanderfallende Weltgemein- 12 Wer natürliche Lebensräume Erfolg, Armut und Marginalisierung dagegen wer- schaft und die damit einhergehende Entstehung zerstört, befeuert Pandemien den mit Übergewicht, Alkohol- oder Nikotin- autoritärer Regimes, Hegemonie einer ökonomi- Biodiversität kann ein Schutz- faktor gegen die Übertragung von konsum assoziiert. Die Existenz verarmter Unter- schen Lehre, die den Gesellschaften und Staaten Infektionen sein schichten erscheint dabei zunehmend als Resultat höchstens zubilligen will, Statisten bzw. Gehilfen 14 Verfügbare Impfstoffe für alle biologischer Anlagen, die Menschen daran hindern, bei der Durchsetzung profitabler Interessen zu sein. und überall Der Markt mag den neoliberalen Anforderungen an Anpassungs- Das Gefühl, schon einmal weiter gewesen zu sein, manches richten, eine solidarische fähigkeit, Mobilität und Flexibilität gerecht zu wer- kommt nicht von ungefähr. Als die Weltgesund- Gesundheitsversorgung für alle gehört nicht dazu den.“ Der sogenannte Homo oeconomicus sei heitsorganisation 1978 die sogenannte „Alma-Ata- 16 Tödliche Ignoranz In Indien ließ zum hegemonialen Leitbild für alle geworden, und Erklärung“ verabschiedete, wurde die Gesundheit die Regierung alle Chancen ver- dem seien alle Subjekte unterworfen. in den Mittelpunkt eines vom öffentlichen Sektor streichen, den Ausbau der öffent- Zu diesem „Leitbild“ gehört, dem Menschen die geleiteten Projekts gestellt. Als Menschenrecht, lichen Krankenversorgung zur Be- volle Verantwortung für physische und psychische zur Wahrung der Menschenwürde und als Möglich- kämpfung von Corona zu forcieren Gesundheit zu übertragen. Von da aus bis zu dem keit einer wirtschaftlichen Transformation, wur- 18 Ticktack, ticktack Arbeitslosig- keit ist für viele Betroffene eine Punkt, an dem Gesellschaft und Staaten wesentlich den doch Sozial- und Wirtschaftsbereiche als Ver- Zeitbombe und in Tansania nicht aus der Verantwortung entlassen werden, Gesund- antwortliche für diese Transformation benannt. selten für Suizide verantwortlich heit vor allem als Voraussetzung dafür betrachtet Die Covid-Pandemie hat gezeigt: Das Gegenteil ist 19 Privatisierung war eine schlechte wird, seine Haut zu Markte tragen zu können, ja Realität. Es gab keine globale Reaktion auf die Lösung Publikation über den selbst zum Markt wird, auf dem sich exorbitante Pandemie, kein globales Handeln, weil für beides Stand der Gesundheitsversorgung in sieben arabischen Ländern Profite erwirtschaften lassen, ist der Schritt klein. überhaupt keine Voraussetzungen da sind. Zu- Gesundheit als universales Menschenrecht wird zur gleich ist die Pandemie vielleicht einer jener selte- 20 Gesundheit in Post-Konflikt- Situationen Die innovativsten individuellen Leistung, die entweder erbracht nen Bifurkationspunkte, an denen die Dinge in Gesundheitsreformen verändern werden kann oder nicht. Pech gehabt, wenn nicht. die eine oder andere Richtung gedacht und gekämpft die Machtverhältnisse Ende des vergangenen Jahrhunderts wurde in werden können. Globale Gesundheit als Ziel 22 Allein mit blauen Flecken Zu einer den USA, in Europa und anderswo intensiv an braucht globale, vor allem demokratische Entschei- Studie zu häuslicher Gewalt gegen diesem neuen Leitbild gearbeitet. Dem Ideal (fit, dungsstrukturen jenseits von Markt und Kapital- Frauen in Hanoi schlank, gepflegt, gesund) wird als Gegenpart macht. Vor allem braucht sie die Ausweitung poli- eine Unterklasse zur Seite gestellt. Der einstige tischer Zugriffsrechte. Das aber tut sich nicht Impressum Wohlstandsbauch des globalen Nordens wird von selbst, denn der politische Wille dafür kann nur maldekstra wird herausgegeben von der common Verlagsgenossen- prekär, weil Folge schlechter Ernährung und man- so groß sein, wie die Kämpfe für ein Menschen- schaft eG, Franz-Mehring-Platz 1, gelnder Bewegung, der ausgezehrte Körper der recht auf Gesundheit für alle stark sind. Davon 10243 Berlin, in Kooperation mit der Pauperisierten im globalen Süden gilt nicht als handelt diese Ausgabe. Folge prekärer Arbeit und unverschleierter Aus- Kathrin Gerlof Beirat Hana Pfennig, Boris Kanzleiter Redaktion Kathrin Gerlof (V.i.S.d.P.) Gesundheit und Pflege – prekär und umkämpft Anne Schindler, Sigrun Matthiesen Julia Funcke (Korrektorat), Mitarbeit: „Bei der Pflege geht es um die Zukunft unserer Gesellschaft: um die Frage, wie wir leben und alt werden Jan van Aken, Eva Wuchold, Berit Köhler wollen“, heißt es in einem Kommentar, der ein Dossier der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu der Frage einleitet, Gestaltung Michael Pickardt was einer Politik des Sparens (Einsparens) und der zunehmenden Ökonomisierung der Pflege entgegenge- Kontakt Tel. 030.2978.4678 setzt werden kann. Vor sechs Jahren streikten die Beschäftigten der Berliner Charité erfolgreich für mehr kontakt@common.berlin Personal. Die Auseinandersetzungen sind wieder aufgeflammt, bei Vivantes und Charité fanden weitere Druck BVZ Berliner Zeitungsdruck Streiks statt, denn noch immer ist die Situation für die in der Pflege Beschäftigten nicht gut. Berlin ist kein GmbH, Am Wasserwerk 11, 10365 Berlin Einzelfall, sondern beschreibt das System. Die Auseinandersetzungen in der Hauptstadt machen Schule. Druckauflage 57.500 Auch anderswo streiken und kämpfen Beschäftigte für bessere Arbeitsbedingungen und strukturelle Vor- „maldekstra“ steht für „links“ in der aussetzungen, um eine gute, zugewandte Pflege zu gewährleisten. Die verträgt Ökonomisierung und Spar- Weltsprache Esperanto. politik und eine auf Profit und Wachstum ausgerichtete Ökonomie nicht. Dass Kürzungen im Gesundheits- maldekstra ist online abrufbar über bereich Menschenleben kosten, ist in der Corona-Krise mehr als sichtbar geworden. Das Dossier behandelt www.rosalux.de/publikationen/ maldekstra. Anfragen, Leserbriefe und die Frage, wie ein öffentliches und demokratisches, solidarisch finanziertes und geschlechtergerechtes der Bezug der gedruckten Ausgabe Gesundheitssystem entstehen kann, in dem die Bedürfnisse der Menschen im Zentrum stehen, und was bitte an maldekstra@rosalux.org diesem Ziel entgegensteht. kg „maldekstra“ wird finanziert aus Mitteln des Bundesministeriums für Dossier „Gesundheit und Pflege“ unter: rosalux.de/dossiers/gesundheit-und-pflege wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
September 2021 maldekstra #12 3 Beginn der Massenimpfung gegen Covid-19 in Pathum Thani, Thailand, Juni 2021 Foto: Athit Perawongmetha, REUTERS Was macht krank? Eva Wuchold und Jan van Aken über die soziale Dimension von Gesundheit und Krankheit Warum ist dieser Zusammenhang zwischen Gesund- Wohnverhältnisse, Arbeitsbedingungen, mehr heit und Lebensbedingungen aus dem Fokus geraten, Armut – zu Beginn hat man trotzdem erst einmal nachdem er im vergangenen Jahrhundert doch einmal geglaubt, hier könne es sich um eine genetische gut präsent war in den sozialen Kämpfen? Disposition handeln. Soziale Bedingungen wurden Van Aken: Vor alle m auch aus Epidemien hat man von vielen Wissenschaftler*innen schlicht ausge- schon im 19. Jahrhundert gelernt, dass Armut sehr blendet. Das ist verrückt. viel mit Krankheit einhergeht und zu tun hat. In Wuchold: In Ländern aller Einkommensniveaus den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, als auch das folgen Gesundheit und Krankheit einem sozialen Private politisch gesehen wurde, da wurde auch Gradienten: je niedriger die sozioökonomische Gesundheit politischer betrachtet. In Deutschland Position, desto schlechter die Gesundheit. Die Lö- findet bis heute jährlich der Kongress „Armut und sung des Problems liegt demnach auf der Hand: Gesundheit“ statt. Die große Frage ist: Warum ist Abbau von materiellen und sozialen Ungleichheiten das Thema in der Breite der Bevölkerung nicht im zur Beseitigung gesundheitlicher Ungleichheiten. Fo Bewusstsein? Ich glaube, das hat mit Kapitalismus Dass dies in den letzten Jahrzehnten aus dem Blick- to pr s: iva zu tun. Was im Vordergrund steht, sind neue feld der sozialen Bewegungen verschwunden ist, t Produkte und Dienstleistungen, die sich zu Geld hat vielleicht auch damit zu tun, dass die Gesund- Eva Wuchold leitet das machen lassen. Das ist für uns der Inbegriff von heitssysteme im globalen Vergleich sehr unter- Programm Soziale Rechte der Gesundheit. Darin hat Armut keinen Platz. schiedlich aufgestellt sind und sich auch die jewei- Rosa-Luxemburg-Stiftung Es war interessant, zu sehen: Als während der ligen Kämpfe dementsprechend stark unterschei- im Büro Genf. Jan van Aken Covid-19-Pandemie in New York klar wurde, dass in den. In manchen Regionen geht es um den Aufbau arbeitet für das dortige den armen Stadtteilen die Sterberaten viel höher von Basisgesundheitsversorgungssystemen, in Programm zum Thema Global sind, hat es doch eine ganze Weile gedauert, bis da anderen um die Einführung gesetzlicher Kranken- Health. Das Gespräch führte ein Zusammenhang hergestellt wurde. Schlechtere versicherungen, in wieder anderen um die Kathrin Gerlof.
4 maldekstra #12September 2021 Privatisierung öffentlicher Gesundheitseinrichtun- letzten Jahrzehnten darauf gedrängt, die soziale gen. Dimension der Gesundheitspolitik auszublenden und sich auf das Management von Krankheiten Die neoliberale Auslegung macht es sich einfach: Der zu konzentrieren. Mensch ist frei. Demzufolge ist er auch verantwortlich dafür, sich um seine Gesundheit zu kümmern. Spricht Hat da auch die gesellschaftliche Linke zu wenig man jedoch von der sozialen Dimension von Gesund- gegengehalten? heit, muss man von gesellschaftlicher Verantwortung Wuchold: Es ging zwar immer wieder einmal um reden. Worin besteht die? den Zugang zu bestimmten Medikamenten oder Van Aken: Darin, zuerst einmal die Frage zu stellen, um die Produktion von Generika, aber nicht um das woher Krankheit kommt: Übergewichtigkeit System als Ganzes. Problembereiche wurden zum Beispiel hat mit schlechter Ernährung zu tun. allenfalls punktuell angegangen, zum Beispiel die Es wäre also ein richtiger Weg, zum Beispiel Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte, nicht aber bestimmte Nahrungsmittel zu verbieten, die krank kontinuierlich. machen. Oder zumindest Obergrenzen für Zucker, Van Aken: Es gibt ja zu vielen Gesundheitsthemen Fett und andere Gifte. Eine sozial sinnvolle Gesund- Menschen, die in Bewegung sind. Etwa was den heitspolitik würde also stets nach Ursachen von Zugang zu Medikamenten betrifft, denken wir an Krankheit fragen. Und die Ursachen, die sich aus- die Aids-Kampagne in den 1980er Jahren. Aber räumen lassen, auch beseitigen. Das ist aber warum gibt es keine breitere Bewegung? Darüber kaum möglich heute, widerspricht es doch völlig haben wir viele Gespräche geführt und häufig die den Interessen des kapitalistischen Systems. Antwort gehört: Im Gesundheitsbereich entsteht Wuchold: Genau daran krankt das Gesundheitssys- Bewegung vor allem dann, wenn Menschen direkt tem: Schritt für Schritt wurde es in den letzten betroffen sind. Wenn dann die Kampagne gewon- Jahrzehnten aus einer am Gemeinwohl orientierten nen und das Problem gelöst ist, sind die Bewegun- Wirtschaft herausgelöst und dem Konkurrenz- gen auch wieder weg. Da ist Aids ein gutes Bei- prinzip des Kapitalismus unterworfen. Seit dem spiel. Die meisten, mit denen wir gesprochen haben, Ende des Wachstums in den 1970er Jahren beruht glauben nicht, dass es eine breite soziale, sich die Verwertung des Kapitals zunehmend auf Pro- verstetigende Gesundheitsbewegung geben wird. zessen der Enteignung von Gemeingütern. Was Stattdessen werde das aufgegriffen, wenn es sich die Weltbank und der Internationale Währungs- an andere Themen andocke. Das spürt man bei der fonds den Ländern des Südens verordneten, näm- Klimabewegung sehr stark. Dass der Klimawandel lich den Abbau der sozialen Infrastruktur, forderten krank macht, ist ein Thema. Aber es läuft sozusagen Unternehmensberater in ähnlicher Weise zuneh- mit. mend von den Gesundheitseinrichtungen in den Ländern des Nordens. Den Diskurs um „öffentliche Ihr macht explizit einen Zusammenhang auf zwischen Gesundheitsversorgung“ haben vor der Corona- Demokratisierung und der Schaffung von Entschei- Pandemie nur noch wenige geführt. Stattdessen dungsstrukturen der globalen Gesundheitspolitik galt Gesundheit als Wachstumsmarkt. Es ging jenseits der Privatwirtschaft. Was hat Demokratie mit darum, wie die Anleger, und nicht darum, wie die Gesundheit zu tun? Patient*innen profitieren. Dienstleister aller Art, Wuchold: Gesundheit ist ein Menschenrecht. Um vor allem aber die Pharmaindustrie, haben in den verwirklicht zu werden, muss es in der Ausrichtung Kampf gegen Profitinteressen Anfang 2021 hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung ein neues Projekt zu der niemand mehr private Profite aus der Krankheit anderer Menschen globalen Gesundheitsfragen gestartet. Schon seit einigen Jahren ar- zieht. Dafür werden Kämpfe gegen die Auswüchse der Privatisierung beitet die Stiftung in Deutschland zu Themen rund um die Gesund- genauso unterstützt wie die Ausarbeitung und Umsetzung von Best- heit, vor allem zu Kämpfen und Streiks in den Krankenhäusern (und Practice-Beispielen auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene. anderen Bereichen der Gesundheitsversorgung), zur Kritik an der Öko- Die Stiftung will interessierte Regionalbüros dabei unterstützen, nomisierung und Profitorientierung im Gesundheitsbereich, zu Fragen Projekte mit Partnerorganisationen auf den Weg zu bringen, mit de- von bedarfsorientierter Planung und Regelungskompetenzen auf Län- nen gute öffentliche Projekte gefördert und/oder Privatisierungen be- derebene ebenso wie zur Forderung nach einer Rekommunalisierung kämpft werden, von Best-Practice-Beispielen in Kerala/Indien bis hin und Rücküberführung privater Kliniken in Gemeinwirtschaft oder zur zum Kampf um essenzielle Gesundheitsversorgung in Brasilien. Digitalisierung von Gesundheitsdienstleistungen. Spätestens seit Co- Angesiedelt ist das Projekt im Genfer Büro der Rosa-Luxemburg- vid-19 war klar, dass wir auch einen globaleren Blick auf die Gesund- Stiftung, quasi in Sichtweite der WHO, dort sollen auch global über- heitsgerechtigkeit werfen sollten. greifende Themen angegangen werden, wie zum Beispiel der zuneh- Diese Ausgabe der „maldekstra“ macht sehr deutlich, wie breit das mende Einfluss von Philantrokapitalisten vom Schlage eines Bill Gates. Thema ist – von der Access Campaign bis hin zu den (un)demokrati- Das Büro Genf hat seit seiner Gründung einen zentralen Schwerpunkt schen Strukturen der Global Governance von Gesundheit. In diesem in der Arbeit für Globale Soziale Rechte. ganzen Themenreigen haben wir den Schwerpunkt „Gesundheit als Koordiniert wird das Projekt von Berit Köhler und Jan van Aken. Be- Recht und öffentliches Gut“ gewählt. Das Leitmotiv wird der Kampf rit Köhler ist Gesundheitswissenschaftlerin und hat viele Jahre für die gegen Ökonomisierung und Profitlogik im Gesundheitswesen sein: Linksfraktion in der Hamburger Bürgerschaft gearbeitet, unter ande- Gesundheitsversorgung darf nicht Konzernziel und nicht von Profit rem zu Gesundheitsfragen. Jan van Aken ist Biologe und hat mehrere erwartungen getrieben sein, das gilt in Deutschland genauso wie glo- Jahre für verschiedene UN-Organisationen gearbeitet, darunter auch bal. Unsere Vision ist eine öffentliche Gesundheitsstruktur weltweit, in bei der WHO. Berit Köhler
September 2021 maldekstra #12 5 der Gesundheitspolitik das zentrale Anliegen sein, und nicht die hohe Bettenauslastung, das Einhalten von Praxisbudgets oder Pharma-Renditen. Dies bedarf sowohl einer Beteiligung von Patient*innen und Mitarbeiter*innen an institutionellen Ent- scheidungen als auch einer Stärkung ihrer Rechte insgesamt. Van Aken: Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Weltgesundheitsorganisation WHO die erste Unterorganisation der UNO, die gegründet wurde. Weil Gesundheit als gemeinschaftsstiftendes Element gesehen wurde, und es gibt viele Beispiele dafür, dass der Aufbau von Gesundheitssystemen in Post-Konflikt-Situationen ein guter Weg war, Menschen wieder zusammenzubringen. In Kuba gibt es trotz geringer Mittel und demokratischer Defizite ein gutes Gesundheitssystem, das in der Breite funktioniert. Es braucht den politischen Willen, da viele staatliche Ressourcen reinzustecken, dann bildet sich darüber auch ein gesellschaftlicher Zusammenhang. Was genau muss demokratisiert werden, um der zunehmenden Einhegung eines Menschenrechts durch Ein Ebola-Überlebender Markt und Kapital etwas entgegenzusetzen? und Pfleger kümmert sich Wuchold: Es müsste ein von den Mitarbeiter*innen um ein drei Monate altes im Gesundheitsbereich und den Patient*innen Waisenmädchen, das an kontrolliertes System aufgebaut werden, das mit Ebola erkrankt ist, in der Biosecure Emergency entsprechenden materiellen und personellen UN-Organisationen, später aber auch zu öffentlich- Care Unit im Ebola- Ressourcen ausgestattet und resistent gegen Pande- privaten Partnerschaften, wie dem Globalen Fonds Behandlungszentrum mien ist. „Demokratisch“ hieße auch, dass es eine oder der Globalen Allianz für Impfstoffe Gavi, und von Ärzte ohne Grenzen einheitliche soziale Krankenkasse gibt, finanziert zuletzt zu Multistakeholder-Initiativen. in Beni in der Demokra- durch Einkommens-, Vermögens- und Unterneh- Van Aken: Das bedeutet, alle Stakeholder (Interes- tischen Republik Kongo, menssteuern. Alle, auch Geflüchtete, Obdachlose sengruppen), auch die Industrie, sitzen direkt mit Oktober 2019 Foto: Zohra Bensemra/REUTERS und Sans-Papiers, müssten versichert sein. Maß- am Tisch, wenn Entscheidungen getroffen werden. nahmen zur Markt- und Wettbewerbsorientierung Dazu kommen nichtdemokratische Gremien, (unter anderem Fallpauschalen) müssten ebenso wie G7, G20, wo Entscheidungen an der Weltgemein- wie Privatisierungen entschädigungslos rückgängig schaft vorbei getroffen werden. Eben nicht mit gemacht werden. Gesundheit wäre nicht länger allen 194 Mitgliedsländern der WHO. Die wichtigs- eine Ware. Dazu müssten auch Pharma- und Dia- ten Entscheidungen fallen inzwischen nicht gnostikindustrie unter öffentliche Kontrolle mehr in der WHO, sondern in undemokratischen gestellt werden. Demokratisierung hieße auch, Strukturen. Das ist falsch. durch Steuern und Ähnliches eine umfassende Gesundheits- und Sozialversorgung im globalen Es ist ein hoffnungsvolles Zeichen, wenn sich eine Maßstab zu schaffen. Stiftung, wie die RLS, des Themas annimmt. Womit soll angefangen werden? Was bedeutet das für bestehende globale Strukturen Van Aken: In Deutschland hat die Stiftung schon der öffentlichen Gesundheit wie die WHO, muss sie viele Jahre sehr intensiv an dem Thema Gesundheit erneuert oder gar ersetzt werden? gearbeitet: Rekommunalisierung von Kranken- Wuchold: Der Gründungsauftrag der WHO lautet, häusern, gute Bezahlung in der Pflege, um nur zwei zur Erreichung des höchsten Gesundheitsniveaus Bereiche zu nennen. Sie weiß, dass soziale Fragen für alle Menschen beizutragen. Bereits in der Dekla- und Gesundheitsfragen nicht zu trennen sind. Glo- ration von Alma-Ata (Kasachstan), dem Abschluss- bale soziale Gerechtigkeit ist das Leitthema in dokument der Konferenz von 1978, forderte sie ein der weltweiten Arbeit. Jedes Büro der Stiftung setzt globales System der primären Gesundheitsversor- sich das als Überschrift. Und Gesundheit gehört zu gung. Damit sie diese Aufgabe erfüllen kann, muss sozialer Gerechtigkeit. sie zu den in ihrer Verfassung beschriebenen Wuchold: Mit der Diskussion um Globale Soziale Organisationszielen zurückkehren: auf der Grund- Rechte wurde bereits vor einigen Jahren ein Prozess lage fundierter und unabhängiger wissenschaft- dafür eingeleitet, gemeinsame Themen und zum licher Erkenntnisse zu einer allgemeinen Verbesse- Teil auch Projekte zu finden. Dies war zunächst das rung der Lebensbedingungen beizutragen. Dies Klimathema, später auch das Agrarthema. Dass erfordert jedoch ein Umdenken bei der Mehrheit jetzt Gesundheit eine zentralere Rolle spielen wird, der Mitgliedsstaaten. Stagnation und Kürzungen ist sehr zu begrüßen, denn: Wer über Gesundheit bei den Pflichtbeiträgen an die WHO trugen eben- reden will, kann über soziale Gerechtigkeit, über falls zu ihrer Schwächung bei, da immer mehr globale Gerechtigkeit, aber auch über die Auswir- gesundheitsrelevante Aktivitäten zu anderen Insti- kungen des Klimawandels und vieles mehr nicht tutionen abwanderten, zunächst zu anderen schweigen.
6 maldekstra #12September 2021 Rechte statt Zielgruppen Ein Gespräch mit Nicoletta Dentico über Kämpfe um Gesundheit in einem kranken System Wieso lassen sich unter der Parole „Gesundheit als Aus einer globalen Perspektive betrachtet, wer steht Menschenrecht“ unterschiedliche Kämpfe zusammen- derzeit in Bezug auf das Menschenrecht Gesundheit führen, und welche Vorteile hat das? oben, und wer ist unten? Gesundheit wird von allen als wertvoll angesehen Die vorherrschende Idee ist, den Zahlungskräftigen Fo to pr und ist deshalb ein guter Ansatzpunkt dafür, eine sehr hochwertige Gesundheitsversorgung : iva t Menschenrechte einzufordern. Deshalb haben die anzubieten und allen anderen eine schlechtere bis Gründer*innen der UN das Recht auf Gesundheit rudimentäre. Das hat mit den Privatisierungen Nicoletta Dentico ist bei der ja als Fundament dieser multilateralen Konstruktion und Versicherungsmodellen zu tun, die im Gesund- NGO „Society for International betrachtet und als erste Unterorganisation die heitsbereich Einzug gehalten haben und die leider Development“ für den Bereich WHO gebildet. Ausgehend von Gesundheit wurden auch die Agenda zur Entwicklung einer globalen globale Gesundheit zuständig. anständige Arbeitsbedingungen, Wohnverhält- Krankenversicherung (Universal Health Coverage/ Zuvor war sie unter anderem nisse, Zugang zu Trinkwasser unbestreitbar, und UHC) bestimmen. Dieser Ansatz bedeutet, dass Geschäftsführerin von „Ärzte ohne Grenzen“ in Italien und als Regierungen konnten entsprechende Infrastruk- wir unzählige Sozialversicherungsprodukte ent- externe Beraterin der WHO tur aufbauen. Dieses Ziel sollten wir wieder anstre- wickeln werden, öffentlich bezuschusst für die- tätig. Das Gespräch führte ben, denn Covid hat gezeigt, dass eine Gesellschaft, jenigen, die in einem geregelten Beschäftigungsver- Sigrun Matthiesen. die nicht in soziale Sicherheit investiert, stirbt – egal, hältnis stehen, aber für die überwiegende Mehrheit Nicoletta Dentico über Covid-19 wie wohlhabend das Land sein mag, siehe USA. in informellen Arbeitsverhältnissen privat zu und Global Health Governance: Wenn wir aus dieser politischen Perspektive Gesund- finanzieren. So entsteht eine von der Zahlungsfähig- https://link.springer.com/ heit wieder als Menschenrecht verstehen, dann keit abhängige Sozialversicherungshierarchie: Ein article/10.1057/s41301-021- sehe ich eine große Chance, unter diesem Begriff wenig, als würden zwar alle formal zum gleichen 00296-y unterschiedliche Kämpfe zu vereinen. Aber der großen Essen eingeladen, aber aufgrund der Weg dorthin wird steinig: In den vergangenen Jahr- Zahlungsfähigkeit dürften wir beide von der Vor- zehnten wurde Gesundheit vollständig kommo- speise bis zum Dessert und zum Kaffee alles difiziert und dem privaten Sektor überlassen, wäh- haben, während andere nur den Kaffee bekommen rend Regierungen sie nur noch als Kostenfaktor und wieder andere mit den Resten vorliebnehmen ansehen statt als die wichtigste soziale Investition müssen. eines Staates. Gleichzeitig hat die Zivilgesellschaft immer weniger Einfluss auf gesundheitspolitische Dabei haben, von der WHO bis zur Weltbank, doch alle Standards und Maßnahmen. Der internationale multilateralen Institutionen angeblich die Armen als Gewerkschaftsverband ILO hat gerade einen Bericht Zielgruppe ... veröffentlicht, wonach 2022 insgesamt 159 Staaten Diesem „Zielgruppen-Denken“ haben sich auch erneut Austeritätspolitik unterworfen sein werden viele NGOs verschrieben, wo ständig von Marginali- – ein unhaltbarer Zustand mit enormen gesundheit- sierten oder Vulnerablen die Rede ist. Ich finde lichen Folgen. das sehr problematisch, denn die so Bezeichneten sind ja eher „vulnerabilisiert“, und das ist etwas Also besteht ein direkter Zusammenhang zwischen völlig anderes. Amazon-Beschäftigte mit schreckli- globaler Gesundheit und internationaler Verschul- chen Arbeitszeiten und -bedingungen, ohne dung? Unterstützung durch Gewerkschaften, wurden Mit Sicherheit! Zahlreiche Staaten hatten ernsthaf- schutzlos gemacht. Frauen in Flüchtlingslagern te Anstrengungen unternommen, ein öffentliches in Libyen sind nicht „verletzlich“, sondern werden Gesundheitssystem aufzubauen, doch die wurden verletzbar gemacht. Durch diese Perspektive seit den 1980er Jahren zunichtegemacht durch die verändert sich das Narrativ: Diejenigen, die in einer Strukturanpassungsprogramme von Weltbank und ungerechten Welt ihre Menschenrechte, ein- Internationalem Währungsfonds. Heute geht es schließlich des Rechts auf Gesundheit, nur dadurch mehr als je zuvor darum, den privaten Sektor zu be- verwirklichen können, dass sie ihre Länder ver- gleiten und ihm Zugänge zu sozialen Bereichen lassen, sind eigentlich Held*innen der Gegenwart. zu verschaffen. Dabei wissen wir, dass der private Deswegen halte ich das verbreitete „Zielgruppen- Sektor keinerlei Interesse an einer Rückverteilung Denken“ für eine der schlimmsten Abweichungen von Wohlstand hat. Es geht ihm darum, die Bedürf- von einem politischen Verständnis universeller nisse der Armen zu vermarkten. Dabei verspricht öffentlicher Gesundheitsversorgung oder überhaupt man, sich um sie zu kümmern, und entwickelt tech- sozialer Absicherung. Paradoxerweise bringt die nische Lösungen, aber letztlich geht es um finan- WHO mittlerweile ihren Mitgliedsstaaten bei, wie zielle und wirtschaftliche Ausbeutbarkeit. Ein wirk- sie den privaten Sektor im Gesundheitsbereich lich universelles öffentliches Gesundheitssystem am besten unterstützen – das ist doch wahnsinnig! wäre für alle gratis, auch für die Reichen – was sehr wichtig ist, weil sie im Gegenzug mehr Steuern Welche politischen Strategien sind nötig, um wieder zahlen sollen. Darin besteht eine wirkliche Rück- ein Verständnis von Gesundheit als universellem verteilung von Wohlstand. Menschenrecht zu etablieren?
September 2021 maldekstra #12 7 Angesichts der gegenwärtigen skandalösen Macht- vielleicht der einzige Weg zur Rettung des Lebens gefälle wird das ein langer Weg: Wir müssen die auf diesem Planeten. Und sie geben nicht auf: bestehende politische Kultur zerstören und eine In Ecuador beispielsweise haben indigene Gruppen neue aufbauen, aber auch politische Forderungen im Kampf gegen Landübernahmen durch multi- entwickeln, denn die Leute haben ja erst kürzlich nationale Konzerne enorme Erfolge erzielt. Ein angefangen, Gesundheit als Thema wiederzuent- anderes Beispiel sind indische Kleinbauern: decken. Jetzt, in dieser sozioökonomischen, sozio- zwei Millionen in dauerhaften Auseinanderset- hygienischen, sozioökologischen Dreifach-Pan- zungen, die der Modi-Regierung trotz deren demie genügt es nicht, einfach Medizin und mehr ständiger Drohungen ernsthaft auf die Nerven Krankenhäuser zu fordern, sondern wir müssen gehen. In Italien und Frankreich haben Ärz- uns das Recht auf Gesundheit in neuer, vernetzter t*innen und andere Beschäftigte des Gesundheits- Form aneignen. Dazu sollten wir auf der Graswur- wesens gestreikt – das könnte der Beginn einer zel-Ebene beginnen, mit Initiativen, die uns helfen, unglaublichen weltweiten Bewegung sein. Denn Gesundheit im Zusammenhang mit Gender- und sie stehen im Zentrum, dort, wo Bedürfnisse, Umwelthemen zu sehen, beispielsweise „Fridays verletzte Rechte und Budgetkürzungen aufeinan- for Future“. In Italien versuchen wir, diese jünge- dertreffen und sie trotzdem ihre Arbeit machen ren Leute mit ihrer enormen Mobilisierungsfähig- sollen. keit zu ermutigen, ihre Umweltagenda mit Forde- Außerdem glaube ich, dass Greta Thunberg uns rungen nach sozioökonomischen Rechten zu ver- allen eine historische Lektion erteilt hat. Sie binden. Jetzt müssen wir die Saat für die politische machte den Standpunkt einer Generation unmiss- Arbeit ausbringen, die zukünftig vor uns liegt. Und verständlich deutlich, veränderte die Spielregeln uns dabei weniger an der Vergangenheit orientieren für den Dialog mit Politiker*innen, verzichtete auf als an den neuen Wegen, Formen und Begriffen, die die üblichen Höflichkeitsfloskeln im Umgang wir brauchen, um wiederzuerlangen, was früher mit Institutionen und sagte stattdessen die unge- schon einmal als soziales Allgemeingut definiert schminkte Wahrheit. In Indien, Kenia, überall worden ist. auf der Welt gibt es zahlreiche Greta Thunbergs aller Geschlechter, die wir noch nicht kennen – das ist Gibt es Beispiele für Bewegungen, denen das jetzt für mich ein Zeichen der Hoffnung. Ich sehe überall schon gut gelingt? kleine Revolten, aber nach Covid müssen wir vieles Ich beginne mit indigenen Gruppen, weil ich wieder lernen: Wir müssen uns zusammentun und denke, dass wir von ihnen viel zu lernen haben unsere Kämpfe verbinden. Wir können nicht für für die Neudefinition unserer politischen For- Arbeitsrechte kämpfen, wenn wir nicht gleichzeitig derungen. Ihre Perspektive, das Wissen um die das Recht auf Gesundheit, auf Nahrung berück- Harmonie zwischen Mensch und Umwelt sind, sichtigen – und demokratische Rechte. Demokratie wie Naomi Klein vor ein paar Jahren schrieb, ist das Standbein. Ein Geschäftsmodell gerät ins Wanken Die Sozialökonomin Lucy Redler befasst sich schon lange mit dem diese Broschüre von neuen Gewerkschaftsgründungen in Pflegeheimen Schwerpunkt Gesundheitspolitik. Im Auftrag der Rosa-Luxemburg- in Zentral- und Osteuropa, Organizing-Kampagnen für einen fairen Ta- Stiftung hat sie eine Studie verfasst, die 2021 erschienen ist und Ein- rif in Alabama, gewerkschaftlichen Neuaufbrüchen in Asien und Latein- blicke in die Kämpfe um Gesundheit gibt, die seit Langem gekämpft amerika und deren internationaler Vernetzung und davon, was wir für werden und in Zeiten der Pandemie mehr als sonst in den Fokus der die gewerkschaftliche Praxis in Deutschland daraus lernen können. Aufmerksamkeit gerückt sind. Im Vorwort heißt es: Beispielhaft, lebendig, kämpferisch, ist die Studie mehr als eine Be- „Über Jahre wurden Gesundheits- und Pflegeleistungen zu einem standsaufnahme, zeigt sie doch auch Strategien für Gegenwart und lukrativen Markt umstrukturiert, auf dem private Unternehmen nun- Zukunft auf, den kapitalorientierten Geschäftsmodellen andere Ideen mehr mit zum Teil äußerst fragwürdigen Methoden um den größten und Konzepte entgegenzustellen. So heißt es im Fazit, das zugleich Anteil am Kuchen konkurrieren. Genau diesen Zusammenhang be- Vorschläge unterbreitet, wie solche Kämpfe zu führen sind: leuchtet die vorliegende Studie: Anhand der Unternehmensstrategien „Das Aufkommen multinationaler privater Konzerne in der Pflege- von vier wichtigen, weltweit agierenden Gesundheitskonzernen wird und Gesundheitsbranche stellt Gewerkschaften vor neue Herausfor- gezeigt, wie deren Geschäftsmodell deutlich zulasten der Beschäf- derungen, denn wie diese Studie gezeigt hat, versuchen diese, den tigten geht und wie die Konzerne systematisch versuchen, gewerk- Gesundheits- und Pflegebereich oft weitgehend gewerkschaftsfrei zu schaftliche Strukturen zurückzudrängen, zu zerschlagen oder erst gar halten oder bestehende Tarifverträge auszuhöhlen. Was folgt aus den nicht entstehen zu lassen.“ gewonnenen Erkenntnissen für die Strategien der Gewerkschaften? Multinationale Pflege- und Gesundheitsfirmen mit Firmensitz in Wie kann in Konzernen mit schwachem gewerkschaftlichen Organi- Deutschland, Frankreich und den USA erobern mit hoher Geschwin- sationsgrad, hoher Fluktuation unter den Beschäftigten und rabiaten digkeit neue Märkte auf der ganzen Welt. Vorhergegangene Privatisie- Strategien wie Lohndumping, Tarifflucht und Union-Busting erfolg- rungswellen, fehlende Arbeitnehmer*innenrechte und Patient*innen- reiche Organisierungsarbeit aussehen? Gibt es Beispiele erfolgreicher schutz und willige Regierungen helfen ihnen, Vormachtstellungen in internationaler Solidaritätskampagnen und gewerkschaftlicher Ver- diesen Märkten einzunehmen. Dabei gehören Bestechung von Regie- netzung?“ Gibt es. kg rungsbeamt*innen, dreckige Lobbyarbeit und vor allem „Union-Bus- ting“ zum Geschäftsmodell. Lucy Redler: „Unsere Gesundheit, ihr Profit? Fallstudien zu Union-Busting Doch dieses Geschäftsmodell gerät langsam ins Wanken, denn es privater Gesundheits- und Pflegekonzerne und gewerkschaftlicher Gegen- regt sich Widerstand auf allen Kontinenten. Zum ersten Mal erzählt wehr“, herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, 2021
8 maldekstra #12September 2021 Ärztinnen und Ärzte in einem Kinderhospital in Brüssel Foto: Piron Guillaume/unsplash Privilegien erkennen, Macht aufgeben, Raum schaffen Einige Gedanken zur Dekolonialisierung globaler Gesundheitsversorgung Von Lioba A. Hirsch Ob in Universitätsseminaren, der Kunst, glo- Ich gehöre zu den Ersten, die daran etwas ten Bevölkerung die Schlafkrankheit und ex- balen Gesundheitsorganisationen oder der ändern wollen, ganz besonders in Deutsch- perimentierte mit tödlichen Medikamenten. Wissenschaft ganz allgemein – überall ist land. Wir sind eine postkoloniale Nation, Diese Versuche stärkten seinen Ruf als einer etwas in Bewegung geraten, ist der Wunsch in der rassistische und koloniale Haltungen der führenden Wissenschaftler Europas. Seine nach Veränderung spürbar. Dass diese Ver- nicht mit dem Ende des Nazismus ausgelöscht Erkenntnisse und die daraus resultierenden änderung in Form von Dekolonialisierung wurden. In gewisser Weise baute der Nazis- medizinischen Gepflogenheiten unterstütz- stattfindet, mag überraschen, schließlich ist mus auf Deutschlands imperialen Erfahrun- ten den Aufstieg der Biomedizin zum univer- die Kolonialzeit im überwiegenden Teil der gen in Afrika und im Pazifik auf. Schon das sellen Standard und trugen dazu bei, andere Welt formal schon lange vorbei und wird von Deutsche Kaiserreich hat die unterworfene medizinische Konzepte und Praktiken weiter vielen Europäer*innen ohnehin als etwas an- Bevölkerung für medizinische Experimente zu marginalisieren. gesehen, das „anderswo“ stattfand, ohne gro- und Gesundheitsforschung benutzt. Robert Europäische Biomedizin und Kolonialismus ße Folgen für unser Leben und unsere Ge- Koch, einer der berühmtesten deutschen Wis- haben also von Beginn an wechselseitig von- schichte. senschaftler, untersuchte an der kolonialisier- einander profitiert, und die koloniale Dyna-
September 2021 maldekstra #129 mik ist bis heute weitgehend unverändert an tigen Anstrengungen zur Dekolonialisierung versorgung radikal zu ändern. Dekolonialisie- Finanzierung, Politik und Entscheidungspro- globaler Gesundheitsversorgung habe: Sie wer- rung ist ein unendlicher Prozess, Auszeich- zessen im Zusammenhang mit globaler Ge- den noch immer von hoch privilegierten Men- nungen werden nicht vergeben. sundheit erkennbar. Auch nach dem formalen schen vorangetrieben, die in reichen Ländern Um der globalen Gesundheitsversorgung Ende des Kolonialismus wurden unethische leben; Menschen (PoC), die in den mächtigs- ein neues Gesicht zu geben, müssen wir auch Experimente an Afrikas Bevölkerungen fort- ten Institutionen des globalen Gesundheits- über Studiengebühren sprechen und über dis- gesetzt, zum Teil durch die gleichen Konzer- systems sitzen. Damit will ich nicht sagen, kriminierende Visa-Politik, die es Menschen ne, auf die wir uns gerade verlassen, wenn es dass privilegierte PoC in mächtigen Positionen aus ärmeren und armen Ländern unmöglich um den Schutz gegen SARS-CoV-2 geht. Die nicht ihre Stimme erheben sollten, denn die macht, an den Top-Universitäten dieser Welt deutlich höheren Immunisierungsraten Euro- Institutionen, die wir repräsentieren, helfen Abschlüsse zu erwerben. Wir müssen die Fi- pas im Vergleich mit den Bemühungen, Men- uns, gehört zu werden. Doch wir sprechen im- nanzierung von öffentlicher Gesundheitsfor- schen in Subsahara-Afrika und Asien zu imp- mer nur für uns selbst – und unser Ziel sollte es schung und -praxis verändern: Anstatt die Gel- fen, sind ein weiterer Indikator dafür, wie sein, Raum zu schaffen für diejenigen, die einst der aus Europa und Nordamerika an ehemals wenig sich verändert hat: Weiße und europäi- kolonialisiert wurden und heute „Zielgrup- kolonialisierte Länder zu verteilen, muss das sche Leben scheinen noch immer einen höhe- pen“ globaler Gesundheitsversorgung sind. Geld von Patientengruppen vor Ort verwaltet ren Wert zu haben. Für eine echte Dekolonialisierung der Be- werden. Auch institutionelle Strukturen müs- Ich schreibe dies als deutsche Frau afrikani- handlungspraxis wie der Forschung, der In- sen sich ändern, damit Menschen aus ehemals scher Abstammung, die Erfahrungen mit dem stitutionen und ihrer Methoden müssen kolonialisierten Ländern leichter in Machtpo- medizinischen Rassismus in Deutschland ge- wir bereit sein, Macht abzugeben: unsere sitionen kommen und globale Gesundheits- macht hat und der Unfähigkeit des hiesigen erkenntnistheoretische Macht, die Macht strukturen und -debatten langfristig beein- Gesundheitssystems ausgesetzt war, meinen unserer Organisationen, Macht über Ent- flussen können. Schwarzen Körper mit der gleichen Sorgfalt scheidungsprozesse und schließlich auch die Ich glaube nicht, dass wir Bemühungen um zu behandeln wie weiße Freunde und Fami- Macht, den Verlauf der Debatte um die De- eine Dekolonialisierung der globalen Gesund- lienangehörige. Doch im globalen Maßstab kolonialisierung globaler Gesundheitsversor- heitsversorgung von Bemühungen um globale bin ich extrem privilegiert: Ich lebe in einem gung zu bestimmen. Allerdings gibt es auch Steuergerechtigkeit trennen können. Würden Land, das – zum Nachteil anderer – die poli- bei dieser Machtaufgabe Hierarchien: Ich ausländische Unternehmen für die Rohstof- tische und finanzielle Macht besitzt, über- werde nicht als Erste gehen, das sollten die- fe, die sie auf dem afrikanischen Kontinent proportionale Mengen Impfstoff zu kaufen. jenigen tun, die vom Status quo profitiert ha- abbauen, angemessen besteuert, so erlaubten Ich wuchs in einem Land auf, in dem das Ge- ben, ohne aktiv an seiner Veränderung zu ar- diese Einnahmen den dortigen Regierungen sundheitssystem nicht durch neoliberale beiten. Ohne viel Aufhebens sollten sie neuen den Aufbau eigener Gesundheitsstrukturen Wirtschaftsinteressen zerstört wurde, die als und anderen Stimmen ihren Platz auf der – ohne dass sie auf NGOs und internationale „Strukturanpassungsprogramme“ von Welt- Bühne überlassen. Philanthropen angewiesen wären. Und wür- bank und IWF getarnt waren. Ich verbinde mit Mit großer Selbstgefälligkeit loben sich glo- den dieselben Unternehmen in den Staaten, in dem Namen Pfizer nur den Impfstoff und kei- bale Gesundheitsinstitutionen dafür, jetzt das denen sie ihre Zentralen haben, angemessen ne Kinder, die starben, nachdem sie an einer Richtige zu tun. Nach Jahren der Untätigkeit besteuert, hätten die Philanthropen-Stiftun- klinischen Studie teilgenommen hatten. und Ignoranz gegenüber Patient*innen wie gen erheblich weniger Geld und Macht dafür, Auch wenn ein Großteil der Bemühungen Schwarzen und Braunen Mitarbeiter*innen zu bestimmen, welche Gesundheitsthemen ernst gemeint sein mag: Wir begreifen nicht, und denjenigen, die in ehemals kolonialisier- wie viel Aufmerksamkeit verdienen. Diese wie sehr sich unsere Begegnungen mit globa- ten Ländern leben. Wie jede andere Manifes- Macht gebührt Patientengruppen weltweit. ler Gesundheitsversorgung von Erfahrungen tation von Macht verändert sich auch kolo- Dafür, dass wir ihnen endlich Platz einräumen, derjenigen unterscheiden, die in ehemaligen niale Macht und passt sich neuen Realitäten schulden sie uns nichts. Ganz im Gegenteil. Kolonialgebieten leben. Wie können wir als an. Indem die koloniale Dynamik, der Rassis- Europäer*innen gleichberechtigte Diskus- mus, das weiße Überlegenheitsnarrativ und Lioba A. Hirsch ist Politologin und Medizinhis- sionen mit Kolleg*innen und Patient*innen der Eurozentrismus ständig ihre Form ändern torikerin, ihr Schwerpunkt sind anti-Schwarze in ehemals kolonialisierten Ländern führen, können, pervertieren sie auch unsere größten und koloniale Verstrickungen der Biomedizin. wenn wir geimpft wurden und sie nicht? Anstrengungen zur Veränderung. Das zu ver- Sie forscht und lehrt derzeit an der Universität Dieses Ungleichgewicht symbolisiert eines stehen ist Voraussetzung jedes Versuchs, die Liverpool. der großen Probleme, die ich mit den derzei- Machtverteilung in der globalen Gesundheits- www.lshtm.ac.uk/aboutus/people/hirsch.lioba Ethik-Dumping und wie es sich verhindern ließe Wie rassistisch geprägt medizinische Forschung noch immer ist, wird einer Deutschlandfunk-Sendung zum Ethik-Dumping in der Wissen- bei Patientenstudien besonders anschaulich. Finden sie in Europa oder schaft. Hoffnung auf Besserung macht der darin ebenfalls erwähnte den USA statt, gelten umfangreiche Regelwerke, die sicherstellen sol- „Globale Verhaltenskodex für Forschung in ressourcenarmen Gegen- len, dass Patient*innen angemessen aufgeklärt, vergütet und medizi- den“. Auf nur vier Seiten werden dort unter den Überschriften „Fair- nisch betreut werden. In Ländern des globalen Südens spart man sich ness“, „Respekt“, „Fürsorge“ und „Ehrlichkeit“ in allgemein verständli- diesen Aufwand gerne mal: Da wird der Bevölkerung in Ghana, Kenia cher Sprache insgesamt 23 Artikel formuliert, die zukünftig verhindern und Malawi eine Impfkampagne gegen Malaria bei Kindern vorgegau- sollen, dass in der Forschungsethik mit zweierlei Maß gemessen wird. kelt, obwohl der Impfstoff in Wahrheit noch erprobt wird. Oder Frauen Ausgearbeitet wurde der Verhaltenskodex, mit finanzieller Unterstüt- in Indien testen ein vereinfachtes Verfahren zur Erkennung von Gebär- zung der EU, von dem Konsortium TRUST, an dem neben der UNESCO mutterhalskrebs – die Kontrollgruppe aber wird nicht, wie es hierzu- unter anderem NGOs aus Südafrika und Indien beteiligt sind. Verpflich- lande verpflichtend wäre, nach landesüblichem medizinischen Standard tend allerdings, und da schwindet die Hoffnung auch schon wieder, ist behandelt, sondern bleibt undiagnostiziert. Die Beispiele stammen aus er bislang nur für EU-Projekte in ressourcenarmen Gegenden. sim
10 maldekstra #12September 2021 Solidaritätsinzidenzwert: null Auch in der Pandemie geht es darum, was Vorrang hat: das Recht auf Profit oder Menschenrechte. Von Anne Jung Die wichtigste Debatte der globalen Gesund- der die Pharmafirmen nicht dazu verpflichte- Medikamente bei der WHO errichtet. Die heitspolitik in Zeiten der Pandemie – die um ten und die WHO schlicht ignorierten. Nach Medikamente kosten seither nur noch einen die Patentfreigabe – wird, anders, als man dem Scheitern des Technologietransfers folg- Bruchteil, und eine flächendeckende Versor- denken könnte, nicht bei der Weltgesund- te Süd-Initiative Nummer zwei: Schon im gung wurde ermöglicht. heitsorganisation (WHO), sondern bei der Herbst 2020 beantragten die Regierungen Mit dem Waiver könnten solche jahrelan- Welthandelsorganisation (WTO) geführt. von Indien und Südafrika bei der WTO eine gen juristischen Auseinandersetzungen ver- Das zeigt: Auch angesichts von 180 Millionen weitreichende Ausnahmeregelung im TRIPS- hindert werden, weil die Ausnahme global gel- Infizierten und vier Millionen Toten wird das Abkommen, in dem Patentfragen und ande- ten würde und nicht von jedem Land einzeln Gesundheitswissen weiterhin als Handels- re handelsbezogenen Aspekte des geistigen durchgesetzt werden müsste. Dass diese im ware betrachtet und nicht als globale Allmen- Eigentums geregelt sind. Gebraucht werde Rahmen des TRIPS-Abkommens vorgesehene de. Hätte die Politik der Industrienationen ein Waiver: eine global vereinbarte und in der Möglichkeit heute als überzogene und radi- auf den globalen Süden, die Weltgesund- WTO verankerte Verzichtserklärung in Bezug kale Forderung diskreditiert wird, zeigt, wie heitsorganisation und die Zivilgesellschaft auf Rechte des geistigen Eigentums an Co- weit sich die Debatte davon entfernt hat, Al- gehört, würden die Medien über Möglich- vid-19-Medizinprodukten; nicht für immer, ternativen denken zu können oder zu wollen. keiten einer weltweiten Impfstoffprodukti- sondern nur, bis die Weltbevölkerung eine Zumal: So richtig und wichtig diese Ausnah- on berichten und nicht über die Börsenkurse Immunität gegen das Virus entwickelt hat. meregelung aktuell wäre – ausreichend wäre von Pharmaunternehmen. Die finanzstarken Das würde eine bedarfsorientierte Produkti- sie bei Weitem nicht. Es ist erschütternd, zu Industrieländer hätten die Kapitalinteressen on durch mehr Hersteller ermöglichen. Und sehen, wie sich der Generaldirektor der WHO, zugunsten der globalen Gesundheit in den es würde zu bezahlbaren Preisen und Schutz der immer wieder strukturelle Lösungen und Lockdown schicken können. Doch das woll- vor Klagen durch die Industrie führen. Doch eine faire Verteilung angemahnt hat, für jede ten sie nicht. auch hier: Vielen Ländern, die in globaler in Aussicht gestellte Impfdosis bedanken Dass gerade Deutschland und die EU jede Verantwortung handeln könnten – allen vo- muss. Die „mildtätigen Gaben“ der G7 sind Möglichkeit der zeitweiligen Aufhebung der ran Deutschland –, fehlte der politische Wil- wie ein vergifteter Cocktail aus Entrechtung Patente hartnäckig verweigern, auch gegen le, und denjenigen, die die Chance auf globa- und Abhängigkeit. die USA und andere, ist geradezu unheimlich. le Solidarität ergreifen wollen, fehlten Mittel Die Welt hätte die Kraft, die Pandemie ein- Deutschland, das immer um seinen guten und Macht. zudämmen. Fast 70 Mitglieder der WTO un- Ruf in der Welt bangt, wurde unter anderem Nicht nur die Torpedierung des Waivers, terstützen inzwischen den Waiver. Das Zen- von Nobelpreisträger Joseph Stiglitz beschul- auch das TRIPS-Abkommen selbst symboli- trum der Koalition der Unwilligen bilden digt, die ganze Welt als Geisel zu nehmen. Die siert die Dominanz einer Ordnung, die ge- Deutschland und die Europäische Kommissi- Angst ist zu groß, dass mit der Aussetzung der rade bis zur letzten Impfdosis verteidigt on. Der wachsende zivilgesellschaftliche Pro- Patente ein Präzedenzfall geschaffen wird: wird. Schon beim Zustandekommen des Ab- test erhöht den Druck auf diese Regierungen. Womöglich würde sich ja zeigen, dass die Ver- kommens 1994 war absehbar, dass die Aus- Um ihre Blockadehaltung zu legitimieren, be- sorgung der Welt mit den Impfstoffen schnel- geschlossenen der Welt dadurch bei der Ge- haupten viele Politiker*innen und Pharmafir- ler ginge und günstiger wäre und dass das öf- sundheitsversorgung auf der Strecke bleiben men, dass es im globalen Süden keine geeig- fentliche Gut Krisen besser bewältigt? würden. Doch die Industrienationen haben neten Produktionsstätten gibt. Das ist nicht Um den globalen Bedarf zu decken, müs- es mit dem Pharmariesen Pfizer und Groß- nur falsch, es ist auch rassistisch. Länder wie sen die Produktionskapazitäten ohne Zwei- konzernen wie Microsoft gegen alle Wider- Südafrika, Senegal oder Ägypten könnten in fel ausgeweitet werden. Lediglich 0,3 Prozent stände des globalen Südens durchgesetzt. Windeseile umrüsten, um mRNA-Impfstoffe der Impfdosen gehen aktuell (Stand Sommer (Das hat sich gelohnt: Für das laufende Jahr herzustellen – flankiert von einem Technolo- 2021) an die 30 ärmsten Länder des globalen rechnet Pfizer übrigens mit einem Gewinn gietransfer. Auch Indien, Bangladesch, Pakis- Südens. Bei ihnen wird es noch bis zu zwei von 20 Milliarden Euro durch Corona-Impf- tan und viele Länder Lateinamerikas könnten Jahre dauern, bis sie auf eine Herdenimmuni- stoffe.) die ersehnten Impfstoffe produzieren. Eine tät hoffen können. Hunderttausende werden Das hatte schon einmal tödliche Folgen: andere im öffentlichen Diskurs leichtfertig an Covid-19 sterben, auch weil es in vielen bei der globalen HIV-Aids-Krise. Als Südaf- wiederholte Mär: Dort produzierte Impfstoffe Ländern nur unzureichende öffentliche Ge- rika, wo damals jede*r Fünfte HIV-positiv seien nicht sicher. Dabei wird unterschlagen, sundheitssysteme gibt. Gleichzeitig werden war und Aids das Überleben einer ganzen Ge- dass schon lange mehr als die Hälfte der hier- Schutzmaßnahmen wie Lockdowns lebens- neration bedrohte, den preiswerten Nach- zulande eingesetzten Impfstoffe und Generi- gefährlich bleiben, weil Menschen ohne jede bau von Medikamenten gestattete, reichten ka aus Indien stammt. soziale Absicherung unmittelbar ihr Einkom- 39 (!) multinationale Arzneimittelherstel- Die Entwicklung mehrerer wirksamer Co- men verlieren. Armut und Hunger werden zu- ler sowie die USA Klage ein. Das lähmte die vid-19-Impfstoffe zeigt, was möglich ist, nehmen. Produktion über Jahre, Behandlungspro- wenn der politische Wille da ist und (öffent- An Alternativen mangelt es indes nicht. gramme starteten verspätet, Hunderttau- liche) Mittel zur Verfügung gestellt werden. Kurz nach dem Ausbruch der Pandemie sende starben. Schon damals ging es um glo- Auch dies ist im globalen Süden registriert machte Costa Rica den großartigen Vorschlag, bale Ordnungspolitik für die kapitalistische worden. Schließlich sterben hier (und nur die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sol- Globalisierung mit dem Ziel, die öffentliche hier) jedes Jahr Millionen von Menschen an le das Wissen und die notwendigen Techno- Gesundheitsversorgung durch einen Mix Krankheiten wie Malaria, Tuberkulose oder logien zu Covid-19 bündeln. Damit könnten aus Privatisierung und freiwilligen Spenden der Schlafkrankheit, gegen die es zu wenig Produkte schneller entwickelt, zugelassen zu ersetzen. Erst nach weltweitem zivilge- wirksame Impfstoffe und Medikamente gibt: und überall zur Verfügung gestellt werden. sellschaftlichen Druck wurde die Klage zu- Offensichtlich könnte und würde es sie ge- Der Versuch scheiterte, weil die reichen Län- rückgenommen und der Patentpool für HIV- ben – würde sich die Prioritätensetzung bei
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