Maldekstra #12 - Rosa-Luxemburg-Stiftung

 
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Maldekstra #12 - Rosa-Luxemburg-Stiftung
maldekstra #12
                        Globale Perspektiven von links: das Auslandsjournal        September 2021

      Global Health
      Die soziale Dimension von Gesundheit ist mit der Pandemie wieder
      stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Lange war es viel zu still um
      dieses Thema. Dabei ist es untrennbar mit dem linken Anspruch
      sozialer Gerechtigkeit verbunden

                                                                                   Der Kampf um globale soziale
                                                                                   Gerechtigkeit bleibt ein unvoll-
                                                                                   ständiges Ansinnen, beinhaltet
                                                                                   er nicht auch den Kampf um
                                                                                   Gesundheit und Bereitstellungen
                                                                                   aller Bedingungen, die als not-
                                                                                   wendige Voraussetzungen für den
                                                                                   Erhalt von Gesundheit, Vorbeu-
                                                                                   gung gegen Krankheit und die
                                                                                   medizinische und pflegerische
                                                                                   Versorgung kranker Menschen
                                                                                   gelten. Zur sozialen Dimension
                                                                                   von Gesundheit gehört weitaus
                                                                                   mehr als funktionierende Ge-
                                                                                   sundheits- und Pflegesysteme.
                                                                                   Wohn- und Arbeitsbedingungen,
                                                                                   struktureller Rassismus, der
                                                                                   Zustand der Umwelt, der Zugang
                                                                                   zu Nahrungsmitteln sind genauso
                                                                                   bedeutsam wie medizinische
                                                                                   Versorgung unabhängig von der
                                                                                   eigenen sozialen und finanziellen
                                                                                   Situation. Es geht um Zusammen-
                                                                                   hänge. Der Verlust an Biodiversi-
                                                                                   tät befördert das Entstehen von
                                                                                   Pandemien. Landgrabbing, Öko-
                                                                                   Piraterie, Extraktionsindus­trien
                                                                                   haben extrem große Rückwir-
                                                                                   kungen auf die Gesundheit der
                                                                                   Bevölkerungen. Neokoloniale
                                                                                   Strukturen verhindern, dass Län-
                                                                                   der des globalen Südens eigene
                                                                                   Gesundheitssysteme aufbauen
                                                                                   können. Entwicklungshilfe wird
                                                                                   zur Schimäre, kommt sie als
                                                                                   Almosen daher. Gesundheit war
                                                                                   schon immer mehr als die
                                                                                   Abwesenheit von Krankheit.

Mobile Krankenstation in Magoma (Tansania)
Foto: Kai-Uwe Wärner/picture alliance
Maldekstra #12 - Rosa-Luxemburg-Stiftung
2                                                                      maldekstra #12September 2021

Inhalt
3 Was macht krank? Eva Wuchold            Allen das Recht auf Gesundheit
  und Jan van Aken über die soziale
  Dimension von Gesundheit und
  Krankheit
                                          Es ist acht Jahre her, da konstatierte die Volkswirtin      beutung, sondern als Zeichen dafür, dass der
                                          und Historikerin Friederike Habermann in einem              Aufstieg nicht geschafft wurde.
6 Rechte statt Zielgruppen
  Gespräch mit Nicoletta Dentico          Artikel für das „Gen-ethische Netzwerk“ (1986 von              Gesundheit als individuelle Leistung bzw. als
  über Kämpfe um Gesundheit in            kritischen Wissenschaftler*innen, Journalist*in-            Frage der Einstellung und des persönlichen Erfolgs
  einem kranken System                    nen, Tierärzt*innen, Mediziner*innen, Politiker*in-         zu betrachten, hat große Vorteile. Es katapultiert
8 Privilegien erkennen, Macht             nen und anderen an der Gentechnik interessierten            das Thema aus allen Zusammenhängen, die da unter
  aufgeben, Raum schaffen Einige          Menschen gegründet), dass „biologische Merkmale             anderem heißen: zunehmende soziale Ungleich-
  Gedanken zur Dekolonialisierung
  globaler Gesundheitsversorgung          und gesundheitsrelevante Verhaltensweisen“ eine             heit, atemberaubender Klimawandel, Globalisierung
10 Solidaritätsinzidenzwert: null
                                          „wesentliche Rolle beim gesellschaftlichen Ein- und         als Bewegungsform transnationaler Konzerne,
   Auch in der Pandemie geht es           Ausschluss von Menschen“ spielen. „Heute                    deren ökonomische Gewalttätigkeit gegenwärtig
   darum, was Vorrang hat: das Recht      signalisiert der fitte, natürlich ernährte, schlanke        keine ernstzunehmende Gegnerin kennt, eine
   auf Profit oder Menschenrechte.        und möglichst junge Körper Zugehörigkeit und                mehr und mehr auseinanderfallende Weltgemein-
12 Wer natürliche Lebensräume             Erfolg, Armut und Marginalisierung dagegen wer-             schaft und die damit einhergehende Entstehung
   zerstört, befeuert Pandemien
                                          den mit Übergewicht, Alkohol- oder Nikotin-                 autoritärer Regimes, Hegemonie einer ökonomi-
   Biodiversität kann ein Schutz-
   faktor gegen die Übertragung von       konsum assoziiert. Die Existenz verarmter Unter-            schen Lehre, die den Gesellschaften und Staaten
   Infektionen sein                       schichten erscheint dabei zunehmend als Resultat            höchstens zubilligen will, Statisten bzw. Gehilfen
14 Verfügbare Impfstoffe für alle         biologischer Anlagen, die Menschen daran hindern,           bei der Durchsetzung profitabler Interessen zu sein.
   und überall Der Markt mag              den neoliberalen Anforderungen an Anpassungs-                  Das Gefühl, schon einmal weiter gewesen zu sein,
   manches richten, eine solidarische
                                          fähigkeit, Mobilität und Flexibilität gerecht zu wer-       kommt nicht von ungefähr. Als die Weltgesund-
   Gesundheitsversorgung für alle
   gehört nicht dazu                      den.“ Der sogenannte Homo oeconomicus sei                   heitsorganisation 1978 die sogenannte „Alma-Ata-
16 Tödliche Ignoranz In Indien ließ       zum hegemonialen Leitbild für alle geworden, und            Erklärung“ verabschiedete, wurde die Gesundheit
   die Regierung alle Chancen ver-        dem seien alle Subjekte unterworfen.                        in den Mittelpunkt eines vom öffentlichen Sektor
   streichen, den Ausbau der öffent-        Zu diesem „Leitbild“ gehört, dem Menschen die             geleiteten Projekts gestellt. Als Menschenrecht,
   lichen Krankenversorgung zur Be-
                                          volle Verantwortung für physische und psychische            zur Wahrung der Menschenwürde und als Möglich-
   kämpfung von Corona zu forcieren
                                          Gesundheit zu übertragen. Von da aus bis zu dem             keit einer wirtschaftlichen Transformation, wur-
18 Ticktack, ticktack Arbeitslosig-
   keit ist für viele Betroffene eine     Punkt, an dem Gesellschaft und Staaten wesentlich           den doch Sozial- und Wirtschaftsbereiche als Ver-
   Zeitbombe und in Tansania nicht        aus der Verantwortung entlassen werden, Gesund-             antwortliche für diese Transformation benannt.
   selten für Suizide verantwortlich      heit vor allem als Voraussetzung dafür betrachtet           Die Covid-Pandemie hat gezeigt: Das Gegenteil ist
19 Privatisierung war eine schlechte      wird, seine Haut zu Markte tragen zu können, ja             Realität. Es gab keine globale Reaktion auf die
   Lösung Publikation über den            selbst zum Markt wird, auf dem sich exorbitante             Pandemie, kein globales Handeln, weil für beides
   Stand der Gesundheitsversorgung
   in sieben arabischen Ländern           Profite erwirtschaften lassen, ist der Schritt klein.       überhaupt keine Voraussetzungen da sind. Zu-
                                          Gesundheit als universales Menschenrecht wird zur           gleich ist die Pandemie vielleicht einer jener selte-
20 Gesundheit in Post-Konflikt-
   Situationen Die innovativsten          individuellen Leistung, die entweder erbracht               nen Bifurkationspunkte, an denen die Dinge in
   Gesundheitsreformen verändern          werden kann oder nicht. Pech gehabt, wenn nicht.            die eine oder andere Richtung gedacht und gekämpft
   die Machtverhältnisse                    Ende des vergangenen Jahrhunderts wurde in                werden können. Globale Gesundheit als Ziel
22 Allein mit blauen Flecken Zu einer     den USA, in Europa und anderswo intensiv an                 braucht globale, vor allem demokratische Entschei-
   Studie zu häuslicher Gewalt gegen      diesem neuen Leitbild gearbeitet. Dem Ideal (fit,           dungsstrukturen jenseits von Markt und Kapital-
   Frauen in Hanoi
                                          schlank, gepflegt, gesund) wird als Gegenpart               macht. Vor allem braucht sie die Ausweitung poli-
                                          eine Unterklasse zur Seite gestellt. Der einstige           tischer Zugriffsrechte. Das aber tut sich nicht
Impressum
                                          Wohlstandsbauch des globalen Nordens wird                   von selbst, denn der politische Wille dafür kann nur
maldekstra ­wird herausgegeben
von der common Verlagsgenossen-           prekär, weil Folge schlechter Ernährung und man-            so groß sein, wie die Kämpfe für ein Menschen-
schaft eG, Franz-Mehring-Platz 1,         gelnder Bewegung, der ausgezehrte Körper der                recht auf Gesundheit für alle stark sind. Davon
10243 Berlin, in Kooperation mit der      Pauperisierten im globalen Süden gilt nicht als             handelt diese Ausgabe.
                                          Folge prekärer Arbeit und unverschleierter Aus-             Kathrin Gerlof

Beirat Hana Pfennig, Boris Kanzleiter
Redaktion Kathrin Gerlof (V.i.S.d.P.)
                                          Gesundheit und Pflege – prekär und umkämpft
Anne Schindler, Sigrun Matthiesen
Julia Funcke (Korrektorat), Mitarbeit:       „Bei der Pflege geht es um die Zukunft unserer Gesellschaft: um die Frage, wie wir leben und alt werden
Jan van Aken, Eva Wuchold, Berit Köhler      wollen“, heißt es in einem Kommentar, der ein Dossier der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu der Frage einleitet,
Gestaltung Michael Pickardt                  was einer Politik des Sparens (Einsparens) und der zunehmenden Ökonomisierung der Pflege entgegenge-
Kontakt Tel. 030.2978.4678                   setzt werden kann. Vor sechs Jahren streikten die Beschäftigten der Berliner Charité erfolgreich für mehr
kontakt@common.berlin                        Personal. Die Auseinandersetzungen sind wieder aufgeflammt, bei Vivantes und Charité fanden weitere
Druck BVZ Berliner Zeitungsdruck             Streiks statt, denn noch immer ist die Situation für die in der Pflege Beschäftigten nicht gut. Berlin ist kein
GmbH, Am Wasserwerk 11, 10365 Berlin         Einzelfall, sondern beschreibt das System. Die Auseinandersetzungen in der Hauptstadt machen Schule.
Druckauflage 57.500                          Auch anderswo streiken und kämpfen Beschäftigte für bessere Arbeitsbedingungen und strukturelle Vor-
„maldekstra“ steht für „links“ in der        aussetzungen, um eine gute, zugewandte Pflege zu gewährleisten. Die verträgt Ökonomisierung und Spar-
Weltsprache Esperanto.                       politik und eine auf Profit und Wachstum ausgerichtete Ökonomie nicht. Dass Kürzungen im Gesundheits-
maldekstra ist online abrufbar über          bereich Menschenleben kosten, ist in der Corona-Krise mehr als sichtbar geworden. Das Dossier behandelt
www.rosalux.de/publikationen/
maldekstra. Anfragen, Leserbriefe und
                                             die Frage, wie ein öffentliches und demokratisches, solidarisch finanziertes und geschlechtergerechtes
der Bezug der gedruckten Ausgabe             Gesundheitssystem entstehen kann, in dem die Bedürfnisse der Menschen im Zentrum stehen, und was
bitte an maldekstra@rosalux.org              diesem Ziel entgegensteht.                                                                                  kg
„maldekstra“ wird finanziert aus
Mitteln des Bundesministeriums für           Dossier „Gesundheit und Pflege“ unter: rosalux.de/dossiers/gesundheit-und-pflege
wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung.
Maldekstra #12 - Rosa-Luxemburg-Stiftung
September 2021                                                 maldekstra #12                                                                   3

                                                                                                       Beginn der Massenimpfung gegen Covid-19
                                                                                                       in Pathum Thani, Thailand, Juni 2021
                                                                                                       Foto: Athit Perawongmetha, REUTERS

Was macht krank?
Eva Wuchold und Jan van Aken über die soziale Dimension von Gesundheit
und Krankheit
Warum ist dieser Zusammenhang zwischen Gesund-        Wohnverhältnisse, Arbeitsbedingungen, mehr
heit und Lebensbedingungen aus dem Fokus geraten,     Armut – zu Beginn hat man trotzdem erst einmal
nachdem er im vergangenen Jahrhundert doch einmal     geglaubt, hier könne es sich um eine genetische
gut präsent war in den sozialen Kämpfen?              Disposition handeln. Soziale Bedingungen wurden
Van Aken: Vor alle m auch aus Epidemien hat man       von vielen Wissenschaftler*innen schlicht ausge-
schon im 19. Jahrhundert gelernt, dass Armut sehr     blendet. Das ist verrückt.
viel mit Krankheit einhergeht und zu tun hat. In      Wuchold: In Ländern aller Einkommensniveaus
den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, als auch das    folgen Gesundheit und Krankheit einem sozialen
Private politisch gesehen wurde, da wurde auch        Gradienten: je niedriger die sozioökonomische
Gesundheit politischer betrachtet. In Deutschland     Position, desto schlechter die Gesundheit. Die Lö-
findet bis heute jährlich der Kongress „Armut und     sung des Problems liegt demnach auf der Hand:
Gesundheit“ statt. Die große Frage ist: Warum ist     Abbau von materiellen und sozialen Ungleichheiten
das Thema in der Breite der Bevölkerung nicht im      zur Beseitigung gesundheitlicher Ungleichheiten.
                                                                                                                Fo

Bewusstsein? Ich glaube, das hat mit Kapitalismus     Dass dies in den letzten Jahrzehnten aus dem Blick-
                                                                                                                  to

                                                                                                                       pr
                                                                                                                   s:

                                                                                                                            iva
zu tun. Was im Vordergrund steht, sind neue           feld der sozialen Bewegungen verschwunden ist,                              t

Produkte und Dienstleistungen, die sich zu Geld       hat vielleicht auch damit zu tun, dass die Gesund-
                                                                                                                  Eva Wuchold leitet das
machen lassen. Das ist für uns der Inbegriff von      heitssysteme im globalen Vergleich sehr unter-
                                                                                                                  Programm Soziale Rechte der
Gesundheit. Darin hat Armut keinen Platz.             schiedlich aufgestellt sind und sich auch die jewei-
                                                                                                                  Rosa-Luxemburg-Stiftung
   Es war interessant, zu sehen: Als während der      ligen Kämpfe dementsprechend stark unterschei-              im Büro Genf. Jan van Aken
Covid-19-Pandemie in New York klar wurde, dass in     den. In manchen Regionen geht es um den Aufbau              arbeitet für das dortige
den armen Stadtteilen die Sterberaten viel höher      von Basisgesundheitsversorgungssystemen, in                 Programm zum Thema Global
sind, hat es doch eine ganze Weile gedauert, bis da   anderen um die Einführung gesetzlicher Kranken-             Health. Das Gespräch führte
ein Zusammenhang hergestellt wurde. Schlechtere       versicherungen, in wieder anderen um die                    Kathrin Gerlof.
Maldekstra #12 - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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                                       Privatisierung öffentlicher Gesundheitseinrichtun-          letzten Jahrzehnten darauf gedrängt, die soziale
                                       gen.                                                        Dimension der Gesundheitspolitik auszublenden
                                                                                                   und sich auf das Management von Krankheiten
                                       Die neoliberale Auslegung macht es sich einfach: Der        zu konzentrieren.
                                       Mensch ist frei. Demzufolge ist er auch verantwortlich
                                       dafür, sich um seine Gesundheit zu kümmern. Spricht         Hat da auch die gesellschaftliche Linke zu wenig
                                       man jedoch von der sozialen Dimension von Gesund-           gegengehalten?
                                       heit, muss man von gesellschaftlicher Verantwortung         Wuchold: Es ging zwar immer wieder einmal um
                                       reden. Worin besteht die?                                   den Zugang zu bestimmten Medikamenten oder
                                       Van Aken: Darin, zuerst einmal die Frage zu stellen,        um die Produktion von Generika, aber nicht um das
                                       woher Krankheit kommt: Übergewichtigkeit                    System als Ganzes. Problembereiche wurden
                                       zum Beispiel hat mit schlechter Ernährung zu tun.           allenfalls punktuell angegangen, zum Beispiel die
                                       Es wäre also ein richtiger Weg, zum Beispiel                Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte, nicht aber
                                       bestimmte Nahrungsmittel zu verbieten, die krank            kontinuierlich.
                                       machen. Oder zumindest Obergrenzen für Zucker,              Van Aken: Es gibt ja zu vielen Gesundheitsthemen
                                       Fett und andere Gifte. Eine sozial sinnvolle Gesund-        Menschen, die in Bewegung sind. Etwa was den
                                       heitspolitik würde also stets nach Ursachen von             Zugang zu Medikamenten betrifft, denken wir an
                                       Krankheit fragen. Und die Ursachen, die sich aus-           die Aids-Kampagne in den 1980er Jahren. Aber
                                       räumen lassen, auch beseitigen. Das ist aber                warum gibt es keine breitere Bewegung? Darüber
                                       kaum möglich heute, widerspricht es doch völlig             haben wir viele Gespräche geführt und häufig die
                                       den Interessen des kapitalistischen Systems.                Antwort gehört: Im Gesundheitsbereich entsteht
                                       Wuchold: Genau daran krankt das Gesundheitssys-             Bewegung vor allem dann, wenn Menschen direkt
                                       tem: Schritt für Schritt wurde es in den letzten            betroffen sind. Wenn dann die Kampagne gewon-
                                       Jahrzehnten aus einer am Gemeinwohl orientierten            nen und das Problem gelöst ist, sind die Bewegun-
                                       Wirtschaft herausgelöst und dem Konkurrenz-                 gen auch wieder weg. Da ist Aids ein gutes Bei-
                                       prinzip des Kapitalismus unterworfen. Seit dem              spiel. Die meisten, mit denen wir gesprochen haben,
                                       Ende des Wachstums in den 1970er Jahren beruht              glauben nicht, dass es eine breite soziale, sich
                                       die Verwertung des Kapitals zunehmend auf Pro-              verstetigende Gesundheitsbewegung geben wird.
                                       zessen der Enteignung von Gemeingütern. Was                 Stattdessen werde das aufgegriffen, wenn es sich
                                       die Weltbank und der Internationale Währungs-               an andere Themen andocke. Das spürt man bei der
                                       fonds den Ländern des Südens verordneten, näm-              Klimabewegung sehr stark. Dass der Klimawandel
                                       lich den Abbau der sozialen Infrastruktur, forderten        krank macht, ist ein Thema. Aber es läuft sozusagen
                                       Unternehmensberater in ähnlicher Weise zuneh-               mit.
                                       mend von den Gesundheitseinrichtungen in den
                                       Ländern des Nordens. Den Diskurs um „öffentliche            Ihr macht explizit einen Zusammenhang auf zwischen
                                       Gesundheitsversorgung“ haben vor der Corona-                Demokratisierung und der Schaffung von Entschei-
                                       Pandemie nur noch wenige geführt. Stattdessen               dungsstrukturen der globalen Gesundheitspolitik
                                       galt Gesundheit als Wachstumsmarkt. Es ging                 jenseits der Privatwirtschaft. Was hat Demokratie mit
                                       darum, wie die Anleger, und nicht darum, wie die            Gesundheit zu tun?
                                       Patient*innen profitieren. Dienstleister aller Art,         Wuchold: Gesundheit ist ein Menschenrecht. Um
                                       vor allem aber die Pharmaindustrie, haben in den            verwirklicht zu werden, muss es in der Ausrichtung

Kampf gegen Profitinteressen
    Anfang 2021 hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung ein neues Projekt zu           der niemand mehr private Profite aus der Krankheit anderer Menschen
    globalen Gesundheitsfragen gestartet. Schon seit einigen Jahren ar-        zieht. Dafür werden Kämpfe gegen die Auswüchse der Privatisierung
    beitet die Stiftung in Deutschland zu Themen rund um die Gesund-           genauso unterstützt wie die Ausarbeitung und Umsetzung von Best-
    heit, vor allem zu Kämpfen und Streiks in den Krankenhäusern (und          Practice-Beispielen auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene.
    anderen Bereichen der Gesundheitsversorgung), zur Kritik an der Öko-          Die Stiftung will interessierte Regionalbüros dabei unterstützen,
    nomisierung und Profitorientierung im Gesundheitsbereich, zu Fragen        Projekte mit Partnerorganisationen auf den Weg zu bringen, mit de-
    von bedarfsorientierter Planung und Regelungskompetenzen auf Län-          nen gute öffentliche Projekte gefördert und/oder Privatisierungen be-
    derebene ebenso wie zur Forderung nach einer Rekommunalisierung            kämpft werden, von Best-Practice-Beispielen in Kerala/Indien bis hin
    und Rücküberführung privater Kliniken in Gemeinwirtschaft oder zur         zum Kampf um essenzielle Gesundheitsversorgung in Brasilien.
    Digitalisierung von Gesundheitsdienstleistungen. Spätestens seit Co-          Angesiedelt ist das Projekt im Genfer Büro der Rosa-Luxemburg-
    vid-19 war klar, dass wir auch einen globaleren Blick auf die Gesund-      Stiftung, quasi in Sichtweite der WHO, dort sollen auch global über-
    heitsgerechtigkeit werfen sollten.                                         greifende Themen angegangen werden, wie zum Beispiel der zuneh-
      Diese Ausgabe der „maldekstra“ macht sehr deutlich, wie breit das        mende Einfluss von Philantrokapitalisten vom Schlage eines Bill Gates.
    Thema ist – von der Access Campaign bis hin zu den (un)demokrati-          Das Büro Genf hat seit seiner Gründung einen zentralen Schwerpunkt
    schen Strukturen der Global Governance von Gesundheit. In diesem           in der Arbeit für Globale Soziale Rechte.
    ganzen Themenreigen haben wir den Schwerpunkt „Gesundheit als                 Koordiniert wird das Projekt von Berit Köhler und Jan van Aken. Be-
    Recht und öffentliches Gut“ gewählt. Das Leitmotiv wird der Kampf          rit Köhler ist Gesundheitswissenschaftlerin und hat viele Jahre für die
    gegen Ökonomisierung und Profitlogik im Gesundheitswesen sein:             Linksfraktion in der Hamburger Bürgerschaft gearbeitet, unter ande-
    Gesundheitsversorgung darf nicht Konzernziel und nicht von Profit­         rem zu Gesundheitsfragen. Jan van Aken ist Biologe und hat mehrere
    erwartungen getrieben sein, das gilt in Deutschland genauso wie glo-       Jahre für verschiedene UN-Organisationen gearbeitet, darunter auch
    bal. Unsere Vision ist eine öffentliche Gesundheitsstruktur weltweit, in   bei der WHO.                                                Berit Köhler
Maldekstra #12 - Rosa-Luxemburg-Stiftung
September 2021                                                   maldekstra #12                                                              5

der Gesundheitspolitik das zentrale Anliegen sein,
und nicht die hohe Bettenauslastung, das Einhalten
von Praxisbudgets oder Pharma-Renditen. Dies
bedarf sowohl einer Beteiligung von Patient*innen
und Mitarbeiter*innen an institutionellen Ent-
scheidungen als auch einer Stärkung ihrer Rechte
insgesamt.
Van Aken: Nach dem Zweiten Weltkrieg war die
Weltgesundheitsorganisation WHO die erste
Unterorganisation der UNO, die gegründet wurde.
Weil Gesundheit als gemeinschaftsstiftendes
Element gesehen wurde, und es gibt viele Beispiele
dafür, dass der Aufbau von Gesundheitssystemen
in Post-Konflikt-Situationen ein guter Weg war,
Menschen wieder zusammenzubringen. In Kuba
gibt es trotz geringer Mittel und demokratischer
Defizite ein gutes Gesundheitssystem, das in der
Breite funktioniert. Es braucht den politischen
Willen, da viele staatliche Ressourcen reinzustecken,
dann bildet sich darüber auch ein gesellschaftlicher
Zusammenhang.

Was genau muss demokratisiert werden, um der
zunehmenden Einhegung eines Menschenrechts durch                                                               Ein Ebola-Überlebender
Markt und Kapital etwas entgegenzusetzen?                                                                      und Pfleger kümmert sich
Wuchold: Es müsste ein von den Mitarbeiter*innen                                                               um ein drei Monate altes
im Gesundheitsbereich und den Patient*innen                                                                    Waisenmädchen, das an
kontrolliertes System aufgebaut werden, das mit                                                                Ebola erkrankt ist, in
                                                                                                               der Biosecure Emergency
entsprechenden materiellen und personellen              UN-Organisationen, später aber auch zu öffentlich-
                                                                                                               Care Unit im Ebola-
Ressourcen ausgestattet und resistent gegen Pande-      privaten Partnerschaften, wie dem Globalen Fonds       Behandlungszentrum
mien ist. „Demokratisch“ hieße auch, dass es eine       oder der Globalen Allianz für Impfstoffe Gavi, und     von Ärzte ohne Grenzen
einheitliche soziale Krankenkasse gibt, finanziert      zuletzt zu Multistakeholder-Initiativen.               in Beni in der Demokra-
durch Einkommens-, Vermögens- und Unterneh-             Van Aken: Das bedeutet, alle Stakeholder (Interes-     tischen Republik Kongo,
menssteuern. Alle, auch Geflüchtete, Obdachlose         sengruppen), auch die Industrie, sitzen direkt mit     Oktober 2019
                                                                                                               Foto: Zohra Bensemra/REUTERS
und Sans-Papiers, müssten versichert sein. Maß-         am Tisch, wenn Entscheidungen getroffen werden.
nahmen zur Markt- und Wettbewerbsorientierung           Dazu kommen nichtdemokratische Gremien,
(unter anderem Fallpauschalen) müssten ebenso           wie G7, G20, wo Entscheidungen an der Weltgemein-
wie Privatisierungen entschädigungslos rückgängig       schaft vorbei getroffen werden. Eben nicht mit
gemacht werden. Gesundheit wäre nicht länger            allen 194 Mitgliedsländern der WHO. Die wichtigs-
eine Ware. Dazu müssten auch Pharma- und Dia-           ten Entscheidungen fallen inzwischen nicht
gnostikindustrie unter öffentliche Kontrolle            mehr in der WHO, sondern in undemokratischen
gestellt werden. Demokratisierung hieße auch,           Strukturen. Das ist falsch.
durch Steuern und Ähnliches eine umfassende
Gesundheits- und Sozialversorgung im globalen           Es ist ein hoffnungsvolles Zeichen, wenn sich eine
Maßstab zu schaffen.                                    Stiftung, wie die RLS, des Themas annimmt. Womit
                                                        soll angefangen werden?
Was bedeutet das für bestehende globale Strukturen      Van Aken: In Deutschland hat die Stiftung schon
der öffentlichen Gesundheit wie die WHO, muss sie       viele Jahre sehr intensiv an dem Thema Gesundheit
erneuert oder gar ersetzt werden?                       gearbeitet: Rekommunalisierung von Kranken-
Wuchold: Der Gründungsauftrag der WHO lautet,           häusern, gute Bezahlung in der Pflege, um nur zwei
zur Erreichung des höchsten Gesundheitsniveaus          Bereiche zu nennen. Sie weiß, dass soziale Fragen
für alle Menschen beizutragen. Bereits in der Dekla-    und Gesundheitsfragen nicht zu trennen sind. Glo-
ration von Alma-Ata (Kasachstan), dem Abschluss-        bale soziale Gerechtigkeit ist das Leitthema in
dokument der Konferenz von 1978, forderte sie ein       der weltweiten Arbeit. Jedes Büro der Stiftung setzt
globales System der primären Gesundheitsversor-         sich das als Überschrift. Und Gesundheit gehört zu
gung. Damit sie diese Aufgabe erfüllen kann, muss       sozialer Gerechtigkeit.
sie zu den in ihrer Verfassung beschriebenen            Wuchold: Mit der Diskussion um Globale Soziale
Organisationszielen zurückkehren: auf der Grund-        Rechte wurde bereits vor einigen Jahren ein Prozess
lage fundierter und unabhängiger wissenschaft-          dafür eingeleitet, gemeinsame Themen und zum
licher Erkenntnisse zu einer allgemeinen Verbesse-      Teil auch Projekte zu finden. Dies war zunächst das
rung der Lebensbedingungen beizutragen. Dies            Klimathema, später auch das Agrarthema. Dass
erfordert jedoch ein Umdenken bei der Mehrheit          jetzt Gesundheit eine zentralere Rolle spielen wird,
der Mitgliedsstaaten. Stagnation und Kürzungen          ist sehr zu begrüßen, denn: Wer über Gesundheit
bei den Pflichtbeiträgen an die WHO trugen eben-        reden will, kann über soziale Gerechtigkeit, über
falls zu ihrer Schwächung bei, da immer mehr            globale Gerechtigkeit, aber auch über die Auswir-
gesundheitsrelevante Aktivitäten zu anderen Insti-      kungen des Klimawandels und vieles mehr nicht
tutionen abwanderten, zunächst zu anderen               schweigen.
Maldekstra #12 - Rosa-Luxemburg-Stiftung
6                                                                maldekstra #12September 2021

                                   Rechte statt Zielgruppen
                                   Ein Gespräch mit Nicoletta Dentico über Kämpfe um Gesundheit in einem
                                   kranken System
                                   Wieso lassen sich unter der Parole „Gesundheit als           Aus einer globalen Perspektive betrachtet, wer steht
                                   Menschenrecht“ unterschiedliche Kämpfe zusammen-             derzeit in Bezug auf das Menschenrecht Gesundheit
                                   führen, und welche Vorteile hat das?                         oben, und wer ist unten?
                                   Gesundheit wird von allen als wertvoll angesehen             Die vorherrschende Idee ist, den Zahlungskräftigen
Fo
to

     pr                            und ist deshalb ein guter Ansatzpunkt dafür,                 eine sehr hochwertige Gesundheitsversorgung
    :

          iva
                t
                                   Menschenrechte einzufordern. Deshalb haben die               anzubieten und allen anderen eine schlechtere bis
                                   Gründer*innen der UN das Recht auf Gesundheit                rudimentäre. Das hat mit den Privatisierungen
Nicoletta Dentico ist bei der      ja als Fundament dieser multilateralen Konstruktion          und Versicherungsmodellen zu tun, die im Gesund-
NGO „Society for International     betrachtet und als erste Unterorganisation die               heitsbereich Einzug gehalten haben und die leider
Development“ für den Bereich       WHO gebildet. Ausgehend von Gesundheit wurden                auch die Agenda zur Entwicklung einer globalen
globale Gesundheit zuständig.
                                   anständige Arbeitsbedingungen, Wohnverhält-                  Krankenversicherung (Universal Health Coverage/
Zuvor war sie unter anderem
                                   nisse, Zugang zu Trinkwasser unbestreitbar, und              UHC) bestimmen. Dieser Ansatz bedeutet, dass
Geschäftsführerin von „Ärzte
ohne Grenzen“ in Italien und als   Regierungen konnten entsprechende Infrastruk-                wir unzählige Sozialversicherungsprodukte ent-
externe Beraterin der WHO          tur aufbauen. Dieses Ziel sollten wir wieder anstre-         wickeln werden, öffentlich bezuschusst für die-
tätig. Das Gespräch führte         ben, denn Covid hat gezeigt, dass eine Gesellschaft,         jenigen, die in einem geregelten Beschäftigungsver-
Sigrun Matthiesen.                 die nicht in soziale Sicherheit investiert, stirbt – egal,   hältnis stehen, aber für die überwiegende Mehrheit
Nicoletta Dentico über Covid-19    wie wohlhabend das Land sein mag, siehe USA.                 in informellen Arbeitsverhältnissen privat zu
und Global Health Governance:      Wenn wir aus dieser politischen Perspektive Gesund-          finanzieren. So entsteht eine von der Zahlungsfähig-
https://link.springer.com/         heit wieder als Menschenrecht verstehen, dann                keit abhängige Sozialversicherungshierarchie: Ein
article/10.1057/s41301-021-        sehe ich eine große Chance, unter diesem Begriff             wenig, als würden zwar alle formal zum gleichen
00296-y                            unterschiedliche Kämpfe zu vereinen. Aber der                großen Essen eingeladen, aber aufgrund der
                                   Weg dorthin wird steinig: In den vergangenen Jahr-           Zahlungsfähigkeit dürften wir beide von der Vor-
                                   zehnten wurde Gesundheit vollständig kommo-                  speise bis zum Dessert und zum Kaffee alles
                                   difiziert und dem privaten Sektor überlassen, wäh-           haben, während andere nur den Kaffee bekommen
                                   rend Regierungen sie nur noch als Kostenfaktor               und wieder andere mit den Resten vorliebnehmen
                                   ansehen statt als die wichtigste soziale Investition         müssen.
                                   eines Staates. Gleichzeitig hat die Zivilgesellschaft
                                   immer weniger Einfluss auf gesundheitspolitische             Dabei haben, von der WHO bis zur Weltbank, doch alle
                                   Standards und Maßnahmen. Der internationale                  multilateralen Institutionen angeblich die Armen als
                                   Gewerkschaftsverband ILO hat gerade einen Bericht            Zielgruppe ...
                                   veröffentlicht, wonach 2022 insgesamt 159 Staaten            Diesem „Zielgruppen-Denken“ haben sich auch
                                   erneut Austeritätspolitik unterworfen sein werden            viele NGOs verschrieben, wo ständig von Marginali-
                                   – ein unhaltbarer Zustand mit enormen gesundheit-            sierten oder Vulnerablen die Rede ist. Ich finde
                                   lichen Folgen.                                               das sehr problematisch, denn die so Bezeichneten
                                                                                                sind ja eher „vulnerabilisiert“, und das ist etwas
                                   Also besteht ein direkter Zusammenhang zwischen              völlig anderes. Amazon-Beschäftigte mit schreckli-
                                   globaler Gesundheit und internationaler Verschul-            chen Arbeitszeiten und -bedingungen, ohne
                                   dung?                                                        Unterstützung durch Gewerkschaften, wurden
                                   Mit Sicherheit! Zahlreiche Staaten hatten ernsthaf-          schutzlos gemacht. Frauen in Flüchtlingslagern
                                   te Anstrengungen unternommen, ein öffentliches               in Libyen sind nicht „verletzlich“, sondern werden
                                   Gesundheitssystem aufzubauen, doch die wurden                verletzbar gemacht. Durch diese Perspektive
                                   seit den 1980er Jahren zunichtegemacht durch die             verändert sich das Narrativ: Diejenigen, die in einer
                                   Strukturanpassungsprogramme von Weltbank und                 ungerechten Welt ihre Menschenrechte, ein-
                                   Internationalem Währungsfonds. Heute geht es                 schließlich des Rechts auf Gesundheit, nur dadurch
                                   mehr als je zuvor darum, den privaten Sektor zu be-          verwirklichen können, dass sie ihre Länder ver-
                                   gleiten und ihm Zugänge zu sozialen Bereichen                lassen, sind eigentlich Held*innen der Gegenwart.
                                   zu verschaffen. Dabei wissen wir, dass der private           Deswegen halte ich das verbreitete „Zielgruppen-
                                   Sektor keinerlei Interesse an einer Rückverteilung           Denken“ für eine der schlimmsten Abweichungen
                                   von Wohlstand hat. Es geht ihm darum, die Bedürf-            von einem politischen Verständnis universeller
                                   nisse der Armen zu vermarkten. Dabei verspricht              öffentlicher Gesundheitsversorgung oder überhaupt
                                   man, sich um sie zu kümmern, und entwickelt tech-            sozialer Absicherung. Paradoxerweise bringt die
                                   nische Lösungen, aber letztlich geht es um finan-            WHO mittlerweile ihren Mitgliedsstaaten bei, wie
                                   zielle und wirtschaftliche Ausbeutbarkeit. Ein wirk-         sie den privaten Sektor im Gesundheitsbereich
                                   lich universelles öffentliches Gesundheitssystem             am besten unterstützen – das ist doch wahnsinnig!
                                   wäre für alle gratis, auch für die Reichen – was sehr
                                   wichtig ist, weil sie im Gegenzug mehr Steuern               Welche politischen Strategien sind nötig, um wieder
                                   zahlen sollen. Darin besteht eine wirkliche Rück-            ein Verständnis von Gesundheit als universellem
                                   verteilung von Wohlstand.                                    Menschenrecht zu etablieren?
Maldekstra #12 - Rosa-Luxemburg-Stiftung
September 2021                                                      maldekstra #12                                                                       7

Angesichts der gegenwärtigen skandalösen Macht-           vielleicht der einzige Weg zur Rettung des Lebens
gefälle wird das ein langer Weg: Wir müssen die           auf diesem Planeten. Und sie geben nicht auf:
bestehende politische Kultur zerstören und eine           In Ecuador beispielsweise haben indigene Gruppen
neue aufbauen, aber auch politische Forderungen           im Kampf gegen Landübernahmen durch multi-
entwickeln, denn die Leute haben ja erst kürzlich         nationale Konzerne enorme Erfolge erzielt. Ein
angefangen, Gesundheit als Thema wiederzuent-             anderes Beispiel sind indische Kleinbauern:
decken. Jetzt, in dieser sozioökonomischen, sozio-        zwei Millionen in dauerhaften Auseinanderset-
hygienischen, sozioökologischen Dreifach-Pan-             zungen, die der Modi-Regierung trotz deren
demie genügt es nicht, einfach Medizin und mehr           ständiger Drohungen ernsthaft auf die Nerven
Krankenhäuser zu fordern, sondern wir müssen              gehen. In Italien und Frankreich haben Ärz-
uns das Recht auf Gesundheit in neuer, vernetzter         t*innen und andere Beschäftigte des Gesundheits-
Form aneignen. Dazu sollten wir auf der Graswur-          wesens gestreikt – das könnte der Beginn einer
zel-Ebene beginnen, mit Initiativen, die uns helfen,      unglaublichen weltweiten Bewegung sein. Denn
Gesundheit im Zusammenhang mit Gender- und                sie stehen im Zentrum, dort, wo Bedürfnisse,
Umwelthemen zu sehen, beispielsweise „Fridays             verletzte Rechte und Budgetkürzungen aufeinan-
for Future“. In Italien versuchen wir, diese jünge-       dertreffen und sie trotzdem ihre Arbeit machen
ren Leute mit ihrer enormen Mobilisierungsfähig-          sollen.
keit zu ermutigen, ihre Umweltagenda mit Forde-              Außerdem glaube ich, dass Greta Thunberg uns
rungen nach sozioökonomischen Rechten zu ver-             allen eine historische Lektion erteilt hat. Sie
binden. Jetzt müssen wir die Saat für die politische      machte den Standpunkt einer Generation unmiss-
Arbeit ausbringen, die zukünftig vor uns liegt. Und       verständlich deutlich, veränderte die Spielregeln
uns dabei weniger an der Vergangenheit orientieren        für den Dialog mit Politiker*innen, verzichtete auf
als an den neuen Wegen, Formen und Begriffen, die         die üblichen Höflichkeitsfloskeln im Umgang
wir brauchen, um wiederzuerlangen, was früher             mit Institutionen und sagte stattdessen die unge-
schon einmal als soziales Allgemeingut definiert          schminkte Wahrheit. In Indien, Kenia, überall
worden ist.                                               auf der Welt gibt es zahlreiche Greta Thunbergs aller
                                                          Geschlechter, die wir noch nicht kennen – das ist
Gibt es Beispiele für Bewegungen, denen das jetzt         für mich ein Zeichen der Hoffnung. Ich sehe überall
schon gut gelingt?                                        kleine Revolten, aber nach Covid müssen wir vieles
Ich beginne mit indigenen Gruppen, weil ich               wieder lernen: Wir müssen uns zusammentun und
denke, dass wir von ihnen viel zu lernen haben            unsere Kämpfe verbinden. Wir können nicht für
für die Neudefinition unserer politischen For-            Arbeitsrechte kämpfen, wenn wir nicht gleichzeitig
derungen. Ihre Perspektive, das Wissen um die             das Recht auf Gesundheit, auf Nahrung berück-
Harmonie zwischen Mensch und Umwelt sind,                 sichtigen – und demokratische Rechte. Demokratie
wie Naomi Klein vor ein paar Jahren schrieb,              ist das Standbein.

Ein Geschäftsmodell gerät ins Wanken
    Die Sozialökonomin Lucy Redler befasst sich schon lange mit dem           diese Broschüre von neuen Gewerkschaftsgründungen in Pflegeheimen
    Schwerpunkt Gesundheitspolitik. Im Auftrag der Rosa-Luxemburg-            in Zentral- und Osteuropa, Organizing-Kampagnen für einen fairen Ta-
    Stiftung hat sie eine Studie verfasst, die 2021 erschienen ist und Ein-   rif in Alabama, gewerkschaftlichen Neuaufbrüchen in Asien und Latein-
    blicke in die Kämpfe um Gesundheit gibt, die seit Langem gekämpft         amerika und deren internationaler Vernetzung und davon, was wir für
    werden und in Zeiten der Pandemie mehr als sonst in den Fokus der         die gewerkschaftliche Praxis in Deutschland daraus lernen können.
    Aufmerksamkeit gerückt sind. Im Vorwort heißt es:                            Beispielhaft, lebendig, kämpferisch, ist die Studie mehr als eine Be-
       „Über Jahre wurden Gesundheits- und Pflegeleistungen zu einem          standsaufnahme, zeigt sie doch auch Strategien für Gegenwart und
    lukrativen Markt umstrukturiert, auf dem private Unternehmen nun-         Zukunft auf, den kapitalorientierten Geschäftsmodellen andere Ideen
    mehr mit zum Teil äußerst fragwürdigen Methoden um den größten            und Konzepte entgegenzustellen. So heißt es im Fazit, das zugleich
    Anteil am Kuchen konkurrieren. Genau diesen Zusammenhang be-              Vorschläge unterbreitet, wie solche Kämpfe zu führen sind:
    leuchtet die vorliegende Studie: Anhand der Unternehmensstrategien           „Das Aufkommen multinationaler privater Konzerne in der Pflege-
    von vier wichtigen, weltweit agierenden Gesundheitskonzernen wird         und Gesundheitsbranche stellt Gewerkschaften vor neue Herausfor-
    gezeigt, wie deren Geschäftsmodell deutlich zulasten der Beschäf-         derungen, denn wie diese Studie gezeigt hat, versuchen diese, den
    tigten geht und wie die Konzerne systematisch versuchen, gewerk-          Gesundheits- und Pflegebereich oft weitgehend gewerkschaftsfrei zu
    schaftliche Strukturen zurückzudrängen, zu zerschlagen oder erst gar      halten oder bestehende Tarifverträge auszuhöhlen. Was folgt aus den
    nicht entstehen zu lassen.“                                               gewonnenen Erkenntnissen für die Strategien der Gewerkschaften?
       Multinationale Pflege- und Gesundheitsfirmen mit Firmensitz in         Wie kann in Konzernen mit schwachem gewerkschaftlichen Organi-
    Deutschland, Frankreich und den USA erobern mit hoher Geschwin-           sationsgrad, hoher Fluktuation unter den Beschäftigten und rabiaten
    digkeit neue Märkte auf der ganzen Welt. Vorhergegangene Privatisie-      Strategien wie Lohndumping, Tarifflucht und Union-Busting erfolg-
    rungswellen, fehlende Arbeitnehmer*innenrechte und Patient*innen-         reiche Organisierungsarbeit aussehen? Gibt es Beispiele erfolgreicher
    schutz und willige Regierungen helfen ihnen, Vormachtstellungen in        internationaler Solidaritätskampagnen und gewerkschaftlicher Ver-
    diesen Märkten einzunehmen. Dabei gehören Bestechung von Regie-           netzung?“ Gibt es.                                                   kg
    rungsbeamt*innen, dreckige Lobbyarbeit und vor allem „Union-Bus-
    ting“ zum Geschäftsmodell.                                                Lucy Redler: „Unsere Gesundheit, ihr Profit? Fallstudien zu Union-Busting
       Doch dieses Geschäftsmodell gerät langsam ins Wanken, denn es          privater Gesundheits- und Pflegekonzerne und gewerkschaftlicher Gegen-
    regt sich Widerstand auf allen Kontinenten. Zum ersten Mal erzählt        wehr“, herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, 2021
Maldekstra #12 - Rosa-Luxemburg-Stiftung
8                                                              maldekstra #12September 2021

                                                                                                                 Ärztinnen und Ärzte in
                                                                                                                 einem Kinderhospital in Brüssel
                                                                                                                 Foto: Piron Guillaume/unsplash

Privilegien erkennen, Macht aufgeben,
Raum schaffen
Einige Gedanken zur Dekolonialisierung globaler Gesundheitsversorgung Von Lioba A. Hirsch

Ob in Universitätsseminaren, der Kunst, glo-      Ich gehöre zu den Ersten, die daran etwas       ten Bevölkerung die Schlafkrankheit und ex-
balen Gesundheitsorganisationen oder der        ändern wollen, ganz besonders in Deutsch-         perimentierte mit tödlichen Medikamenten.
Wissenschaft ganz allgemein – überall ist       land. Wir sind eine postkoloniale Nation,         Diese Versuche stärkten seinen Ruf als einer
etwas in Bewegung geraten, ist der Wunsch       in der rassistische und koloniale Haltungen       der führenden Wissenschaftler Europas. Seine
nach Veränderung spürbar. Dass diese Ver-       nicht mit dem Ende des Nazismus ausgelöscht       Erkenntnisse und die daraus resultierenden
änderung in Form von Dekolonialisierung         wurden. In gewisser Weise baute der Nazis-        medizinischen Gepflogenheiten unterstütz-
stattfindet, mag überraschen, schließlich ist   mus auf Deutschlands imperialen Erfahrun-         ten den Aufstieg der Biomedizin zum univer-
die Kolonialzeit im überwiegenden Teil der      gen in Afrika und im Pazifik auf. Schon das       sellen Standard und trugen dazu bei, andere
Welt formal schon lange vorbei und wird von     Deutsche Kaiserreich hat die unterworfene         medizinische Konzepte und Praktiken weiter
vielen Europäer*innen ohnehin als etwas an-     Bevölkerung für medizinische Experimente          zu marginalisieren.
gesehen, das „anderswo“ stattfand, ohne gro-    und Gesundheitsforschung benutzt. Robert            Europäische Biomedizin und Kolonialismus
ße Folgen für unser Leben und unsere Ge-        Koch, einer der berühmtesten deutschen Wis-       haben also von Beginn an wechselseitig von-
schichte.                                       senschaftler, untersuchte an der kolonialisier-   einander profitiert, und die koloniale Dyna-
Maldekstra #12 - Rosa-Luxemburg-Stiftung
September 2021                                                     maldekstra #129

mik ist bis heute weitgehend unverändert an        tigen Anstrengungen zur Dekolonialisierung          versorgung radikal zu ändern. Dekolonialisie-
Finanzierung, Politik und Entscheidungspro-        globaler Gesundheitsversorgung habe: Sie wer-       rung ist ein unendlicher Prozess, Auszeich-
zessen im Zusammenhang mit globaler Ge-            den noch immer von hoch privilegierten Men-         nungen werden nicht vergeben.
sundheit erkennbar. Auch nach dem formalen         schen vorangetrieben, die in reichen Ländern           Um der globalen Gesundheitsversorgung
Ende des Kolonialismus wurden unethische           leben; Menschen (PoC), die in den mächtigs-         ein neues Gesicht zu geben, müssen wir auch
Experimente an Afrikas Bevölkerungen fort-         ten Institutionen des globalen Gesundheits-         über Studiengebühren sprechen und über dis-
gesetzt, zum Teil durch die gleichen Konzer-       systems sitzen. Damit will ich nicht sagen,         kriminierende Visa-Politik, die es Menschen
ne, auf die wir uns gerade verlassen, wenn es      dass privilegierte PoC in mächtigen Positionen      aus ärmeren und armen Ländern unmöglich
um den Schutz gegen SARS-CoV-2 geht. Die           nicht ihre Stimme erheben sollten, denn die         macht, an den Top-Universitäten dieser Welt
deutlich höheren Immunisierungsraten Euro-         Institutionen, die wir repräsentieren, helfen       Abschlüsse zu erwerben. Wir müssen die Fi-
pas im Vergleich mit den Bemühungen, Men-          uns, gehört zu werden. Doch wir sprechen im-        nanzierung von öffentlicher Gesundheitsfor-
schen in Subsahara-Afrika und Asien zu imp-        mer nur für uns selbst – und unser Ziel sollte es   schung und -praxis verändern: Anstatt die Gel-
fen, sind ein weiterer Indikator dafür, wie        sein, Raum zu schaffen für diejenigen, die einst    der aus Europa und Nordamerika an ehemals
wenig sich verändert hat: Weiße und europäi-       kolonialisiert wurden und heute „Zielgrup-          kolonialisierte Länder zu verteilen, muss das
sche Leben scheinen noch immer einen höhe-         pen“ globaler Gesundheitsversorgung sind.           Geld von Patientengruppen vor Ort verwaltet
ren Wert zu haben.                                    Für eine echte Dekolonialisierung der Be-        werden. Auch institutionelle Strukturen müs-
   Ich schreibe dies als deutsche Frau afrikani-   handlungspraxis wie der Forschung, der In-          sen sich ändern, damit Menschen aus ehemals
scher Abstammung, die Erfahrungen mit dem          stitutionen und ihrer Methoden müssen               kolonialisierten Ländern leichter in Machtpo-
medizinischen Rassismus in Deutschland ge-         wir bereit sein, Macht abzugeben: unsere            sitionen kommen und globale Gesundheits-
macht hat und der Unfähigkeit des hiesigen         erkenntnistheoretische Macht, die Macht             strukturen und -debatten langfristig beein-
Gesundheitssystems ausgesetzt war, meinen          unserer Organisationen, Macht über Ent-             flussen können.
Schwarzen Körper mit der gleichen Sorgfalt         scheidungsprozesse und schließlich auch die            Ich glaube nicht, dass wir Bemühungen um
zu behandeln wie weiße Freunde und Fami-           Macht, den Verlauf der Debatte um die De-           eine Dekolonialisierung der globalen Gesund-
lienangehörige. Doch im globalen Maßstab           kolonialisierung globaler Gesundheitsversor-        heitsversorgung von Bemühungen um globale
bin ich extrem privilegiert: Ich lebe in einem     gung zu bestimmen. Allerdings gibt es auch          Steuergerechtigkeit trennen können. Würden
Land, das – zum Nachteil anderer – die poli-       bei dieser Machtaufgabe Hierarchien: Ich            ausländische Unternehmen für die Rohstof-
tische und finanzielle Macht besitzt, über-        werde nicht als Erste gehen, das sollten die-       fe, die sie auf dem afrikanischen Kontinent
proportionale Mengen Impfstoff zu kaufen.          jenigen tun, die vom Status quo profitiert ha-      abbauen, angemessen besteuert, so erlaubten
Ich wuchs in einem Land auf, in dem das Ge-        ben, ohne aktiv an seiner Veränderung zu ar-        diese Einnahmen den dortigen Regierungen
sundheitssystem nicht durch neoliberale            beiten. Ohne viel Aufhebens sollten sie neuen       den Aufbau eigener Gesundheitsstrukturen
Wirtschaftsinteressen zerstört wurde, die als      und anderen Stimmen ihren Platz auf der             – ohne dass sie auf NGOs und internationale
„Strukturanpassungsprogramme“ von Welt-            Bühne überlassen.                                   Philan­thropen angewiesen wären. Und wür-
bank und IWF getarnt waren. Ich verbinde mit          Mit großer Selbstgefälligkeit loben sich glo-    den dieselben Unternehmen in den Staaten, in
dem Namen Pfizer nur den Impfstoff und kei-        bale Gesundheitsinstitutionen dafür, jetzt das      denen sie ihre Zentralen haben, angemessen
ne Kinder, die starben, nachdem sie an einer       Richtige zu tun. Nach Jahren der Untätigkeit        besteuert, hätten die Philanthropen-Stiftun-
klinischen Studie teilgenommen hatten.             und Ignoranz gegenüber Patient*innen wie            gen erheblich weniger Geld und Macht dafür,
   Auch wenn ein Großteil der Bemühungen           Schwarzen und Braunen Mitarbeiter*innen             zu bestimmen, welche Gesundheitsthemen
ernst gemeint sein mag: Wir begreifen nicht,       und denjenigen, die in ehemals kolonialisier-       wie viel Aufmerksamkeit verdienen. Diese
wie sehr sich unsere Begegnungen mit globa-        ten Ländern leben. Wie jede andere Manifes-         Macht gebührt Patientengruppen weltweit.
ler Gesundheitsversorgung von Erfahrungen          tation von Macht verändert sich auch kolo-          Dafür, dass wir ihnen endlich Platz einräumen,
derjenigen unterscheiden, die in ehemaligen        niale Macht und passt sich neuen Realitäten         schulden sie uns nichts. Ganz im Gegenteil.
Kolonialgebieten leben. Wie können wir als         an. Indem die koloniale Dynamik, der Rassis-
Europäer*innen gleichberechtigte Diskus-           mus, das weiße Überlegenheitsnarrativ und
                                                                                                       Lioba A. Hirsch ist Politologin und Medizinhis-
sionen mit Kolleg*innen und Patient*innen          der Eurozentrismus ständig ihre Form ändern         torikerin, ihr Schwerpunkt sind anti-Schwarze
in ehemals kolonialisierten Ländern führen,        können, pervertieren sie auch unsere größten        und koloniale Verstrickungen der Biomedizin.
wenn wir geimpft wurden und sie nicht?             Anstrengungen zur Veränderung. Das zu ver-          Sie forscht und lehrt derzeit an der Universität
   Dieses Ungleichgewicht symbolisiert eines       stehen ist Voraussetzung jedes Versuchs, die        Liverpool.
der großen Probleme, die ich mit den derzei-       Machtverteilung in der globalen Gesundheits-        www.lshtm.ac.uk/aboutus/people/hirsch.lioba

Ethik-Dumping und wie es sich verhindern ließe
    Wie rassistisch geprägt medizinische Forschung noch immer ist, wird      einer Deutschlandfunk-Sendung zum Ethik-Dumping in der Wissen-
    bei Patientenstudien besonders anschaulich. Finden sie in Europa oder    schaft. Hoffnung auf Besserung macht der darin ebenfalls erwähnte
    den USA statt, gelten umfangreiche Regelwerke, die sicherstellen sol-    „Globale Verhaltenskodex für Forschung in ressourcenarmen Gegen-
    len, dass Patient*innen angemessen aufgeklärt, vergütet und medizi-      den“. Auf nur vier Seiten werden dort unter den Überschriften „Fair-
    nisch betreut werden. In Ländern des globalen Südens spart man sich      ness“, „Respekt“, „Fürsorge“ und „Ehrlichkeit“ in allgemein verständli-
    diesen Aufwand gerne mal: Da wird der Bevölkerung in Ghana, Kenia        cher Sprache insgesamt 23 Artikel formuliert, die zukünftig verhindern
    und Malawi eine Impfkampagne gegen Malaria bei Kindern vorgegau-         sollen, dass in der Forschungsethik mit zweierlei Maß gemessen wird.
    kelt, obwohl der Impfstoff in Wahrheit noch erprobt wird. Oder Frauen    Ausgearbeitet wurde der Verhaltenskodex, mit finanzieller Unterstüt-
    in Indien testen ein vereinfachtes Verfahren zur Erkennung von Gebär-    zung der EU, von dem Konsortium TRUST, an dem neben der UNESCO
    mutterhalskrebs – die Kontrollgruppe aber wird nicht, wie es hierzu-     unter anderem NGOs aus Südafrika und Indien beteiligt sind. Verpflich-
    lande verpflichtend wäre, nach landesüblichem medizinischen Standard     tend allerdings, und da schwindet die Hoffnung auch schon wieder, ist
    behandelt, sondern bleibt undiagnostiziert. Die Beispiele stammen aus    er bislang nur für EU-Projekte in ressourcenarmen Gegenden.       sim
Maldekstra #12 - Rosa-Luxemburg-Stiftung
10                                                              maldekstra #12September 2021

Solidaritätsinzidenzwert: null
Auch in der Pandemie geht es darum, was Vorrang hat: das Recht auf Profit oder Menschenrechte.
Von Anne Jung
Die wichtigste Debatte der globalen Gesund-      der die Pharmafirmen nicht dazu verpflichte-      Medikamente bei der WHO errichtet. Die
heitspolitik in Zeiten der Pandemie – die um     ten und die WHO schlicht ignorierten. Nach        Medikamente kosten seither nur noch einen
die Patentfreigabe – wird, anders, als man       dem Scheitern des Technologietransfers folg-      Bruchteil, und eine flächendeckende Versor-
denken könnte, nicht bei der Weltgesund-         te Süd-Initiative Nummer zwei: Schon im           gung wurde ermöglicht.
heitsorganisation (WHO), sondern bei der         Herbst 2020 beantragten die Regierungen              Mit dem Waiver könnten solche jahrelan-
Welthandelsorganisation (WTO) geführt.           von Indien und Südafrika bei der WTO eine         gen juristischen Auseinandersetzungen ver-
Das zeigt: Auch angesichts von 180 Millionen     weitreichende Ausnahmeregelung im TRIPS-          hindert werden, weil die Ausnahme global gel-
Infizierten und vier Millionen Toten wird das    Abkommen, in dem Patentfragen und ande-           ten würde und nicht von jedem Land einzeln
Gesundheitswissen weiterhin als Handels-         re handelsbezogenen Aspekte des geistigen         durchgesetzt werden müsste. Dass diese im
ware betrachtet und nicht als globale Allmen-    Eigentums geregelt sind. Gebraucht werde          Rahmen des TRIPS-Abkommens vorgesehene
de. Hätte die Politik der Industrienationen      ein Waiver: eine global vereinbarte und in der    Möglichkeit heute als überzogene und radi-
auf den globalen Süden, die Weltgesund-          WTO verankerte Verzichtserklärung in Bezug        kale Forderung diskreditiert wird, zeigt, wie
heitsorganisation und die Zivilgesellschaft      auf Rechte des geistigen Eigentums an Co-         weit sich die Debatte davon entfernt hat, Al-
gehört, würden die Medien über Möglich-          vid-19-Medizinprodukten; nicht für immer,         ternativen denken zu können oder zu wollen.
keiten einer weltweiten Impfstoffprodukti-       sondern nur, bis die Weltbevölkerung eine         Zumal: So richtig und wichtig diese Ausnah-
on berichten und nicht über die Börsenkurse      Immunität gegen das Virus entwickelt hat.         meregelung aktuell wäre – ausreichend wäre
von Pharmaunternehmen. Die finanzstarken         Das würde eine bedarfsorientierte Produkti-       sie bei Weitem nicht. Es ist erschütternd, zu
Industrieländer hätten die Kapitalinteressen     on durch mehr Hersteller ermöglichen. Und         sehen, wie sich der Generaldirektor der WHO,
zugunsten der globalen Gesundheit in den         es würde zu bezahlbaren Preisen und Schutz        der immer wieder strukturelle Lösungen und
Lockdown schicken können. Doch das woll-         vor Klagen durch die Industrie führen. Doch       eine faire Verteilung angemahnt hat, für jede
ten sie nicht.                                   auch hier: Vielen Ländern, die in globaler        in Aussicht gestellte Impfdosis bedanken
  Dass gerade Deutschland und die EU jede        Verantwortung handeln könnten – allen vo-         muss. Die „mildtätigen Gaben“ der G7 sind
Möglichkeit der zeitweiligen Aufhebung der       ran Deutschland –, fehlte der politische Wil-     wie ein vergifteter Cocktail aus Entrechtung
Patente hartnäckig verweigern, auch gegen        le, und denjenigen, die die Chance auf globa-     und Abhängigkeit.
die USA und andere, ist geradezu unheimlich.     le Solidarität ergreifen wollen, fehlten Mittel      Die Welt hätte die Kraft, die Pandemie ein-
Deutschland, das immer um seinen guten           und Macht.                                        zudämmen. Fast 70 Mitglieder der WTO un-
Ruf in der Welt bangt, wurde unter anderem          Nicht nur die Torpedierung des Waivers,        terstützen inzwischen den Waiver. Das Zen-
von Nobelpreisträger Joseph Stiglitz beschul-    auch das TRIPS-Abkommen selbst symboli-           trum der Koalition der Unwilligen bilden
digt, die ganze Welt als Geisel zu nehmen. Die   siert die Dominanz einer Ordnung, die ge-         Deutschland und die Europäische Kommissi-
Angst ist zu groß, dass mit der Aussetzung der   rade bis zur letzten Impfdosis verteidigt         on. Der wachsende zivilgesellschaftliche Pro-
Patente ein Präzedenzfall geschaffen wird:       wird. Schon beim Zustandekommen des Ab-           test erhöht den Druck auf diese Regierungen.
Womöglich würde sich ja zeigen, dass die Ver-    kommens 1994 war absehbar, dass die Aus-          Um ihre Blockadehaltung zu legitimieren, be-
sorgung der Welt mit den Impfstoffen schnel-     geschlossenen der Welt dadurch bei der Ge-        haupten viele Politiker*innen und Pharmafir-
ler ginge und günstiger wäre und dass das öf-    sundheitsversorgung auf der Strecke bleiben       men, dass es im globalen Süden keine geeig-
fentliche Gut Krisen besser bewältigt?           würden. Doch die Industrienationen haben          neten Produktionsstätten gibt. Das ist nicht
  Um den globalen Bedarf zu decken, müs-         es mit dem Pharmariesen Pfizer und Groß-          nur falsch, es ist auch rassistisch. Länder wie
sen die Produktionskapazitäten ohne Zwei-        konzernen wie Microsoft gegen alle Wider-         Südafrika, Senegal oder Ägypten könnten in
fel ausgeweitet werden. Lediglich 0,3 Prozent    stände des globalen Südens durchgesetzt.          Windeseile umrüsten, um mRNA-Impfstoffe
der Impfdosen gehen aktuell (Stand Sommer        (Das hat sich gelohnt: Für das laufende Jahr      herzustellen – flankiert von einem Technolo-
2021) an die 30 ärmsten Länder des globalen      rechnet Pfizer übrigens mit einem Gewinn          gietransfer. Auch Indien, Bangladesch, Pakis-
Südens. Bei ihnen wird es noch bis zu zwei       von 20 Milliarden Euro durch Corona-Impf-         tan und viele Länder Lateinamerikas könnten
Jahre dauern, bis sie auf eine Herdenimmuni-     stoffe.)                                          die ersehnten Impfstoffe produzieren. Eine
tät hoffen können. Hunderttausende werden           Das hatte schon einmal tödliche Folgen:        andere im öffentlichen Diskurs leichtfertig
an Covid-19 sterben, auch weil es in vielen      bei der globalen HIV-Aids-Krise. Als Südaf-       wiederholte Mär: Dort produzierte Impfstoffe
Ländern nur unzureichende öffentliche Ge-        rika, wo damals jede*r Fünfte HIV-positiv         seien nicht sicher. Dabei wird unterschlagen,
sundheitssysteme gibt. Gleichzeitig werden       war und Aids das Überleben einer ganzen Ge-       dass schon lange mehr als die Hälfte der hier-
Schutzmaßnahmen wie Lockdowns lebens-            neration bedrohte, den preiswerten Nach-          zulande eingesetzten Impfstoffe und Generi-
gefährlich bleiben, weil Menschen ohne jede      bau von Medikamenten gestattete, reichten         ka aus Indien stammt.
soziale Absicherung unmittelbar ihr Einkom-      39 (!) multinationale Arzneimittelherstel-           Die Entwicklung mehrerer wirksamer Co-
men verlieren. Armut und Hunger werden zu-       ler sowie die USA Klage ein. Das lähmte die       vid-19-Impfstoffe zeigt, was möglich ist,
nehmen.                                          Produktion über Jahre, Behandlungspro-            wenn der politische Wille da ist und (öffent-
  An Alternativen mangelt es indes nicht.        gramme starteten verspätet, Hunderttau-           liche) Mittel zur Verfügung gestellt werden.
Kurz nach dem Ausbruch der Pandemie              sende starben. Schon damals ging es um glo-       Auch dies ist im globalen Süden registriert
machte Costa Rica den großartigen Vorschlag,     bale Ordnungspolitik für die kapitalistische      worden. Schließlich sterben hier (und nur
die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sol-       Globalisierung mit dem Ziel, die öffentliche      hier) jedes Jahr Millionen von Menschen an
le das Wissen und die notwendigen Techno-        Gesundheitsversorgung durch einen Mix             Krankheiten wie Malaria, Tuberkulose oder
logien zu Covid-19 bündeln. Damit könnten        aus Privatisierung und freiwilligen Spenden       der Schlafkrankheit, gegen die es zu wenig
Produkte schneller entwickelt, zugelassen        zu ersetzen. Erst nach weltweitem zivilge-        wirksame Impfstoffe und Medikamente gibt:
und überall zur Verfügung gestellt werden.       sellschaftlichen Druck wurde die Klage zu-        Offensichtlich könnte und würde es sie ge-
Der Versuch scheiterte, weil die reichen Län-    rückgenommen und der Patentpool für HIV-          ben – würde sich die Prioritätensetzung bei
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