4| 2019 - Der Paritätische Gesamtverband
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Schwerpunkt Inhalt Editorial 3 Schwerpunkt: Digitalisierung #GleichVielMehrImNetz 4 Nur noch schnell ein Leben retten 7 Apps in der Wohlfahrt. Eine Auswahl 9 Digitale Selbsthilfe 11 Drei Fragen an Gerlinde Bendzuck, Deutsche Rheuma-Liga Bundesverband e.V. 12 Drei Fragen an Dr. Thomas Hambüchen, Drogenhilfe Köln 13 Wenn aus Spaß Ernst wird. Die Sucht nach Online-Glücksspielen 14 Digitale Medien und Kinder: Kompetenzen Fördern statt verbieten 16 Weniger Jobs im digitalen Arbeitsmarkt? 18 45 Gewusst wie – Facebook barrierearm/Karikatur 19 Digital ist besser? Digitalisierung und Technisierung in der Altenpflege 20 Drei Fragen an Johannes Hundshammer, Computerspende Regensburg 21 Geflüchtetenhilfe im digitalen Zeitalter. Ein Praxisbericht 22 Geschichten im Netz erzählen. Der ASB-Wünschewagen 23 Menschenfeindlichkeit im Internet 24 Drei Fragen an Benedikt Geyer, Podcaster bei „Irgendwas mit Menschen“ (IWMM) 25 Sozialpolitik News und Presse 26 Frühe Hilfen und geschlechtliche Vielfalt. Wer braucht was – warum, wofür? 28 Buchbesprechung und neue Veröffentlichung 29 Verbandsrundschau 1885 Das war die Aktionswoche Selbsthilfe 30 Paritäter*innen auf der Straße 32 Termine, Termine, Termine... 34 Rahmenverträge, Bildnachweise, Impressum 35 Nicht nur gedruckt sondern auch unter facebook.com/paritaet itaet bei Twitter unter @par t bei Instagram als paritae Dieses Magazin kann als barrierefreie pdf- Datei im Internet heruntergeladen werden: 32 www.paritaet.org 2 www.der-paritaetische.de 4 | 2019
Editorial Professor Dr. Rolf Rosenbrock, Vorsitzender des Paritätischen Gesamtverbands Liebe Leserinnen und Leser, die Digitalisierung hat in nahezu allen und leicht durch ein persönliches Ge- Bereichen der sozialen Arbeit Einzug spräch vermittelt werden kann, ist gehalten, wenn auch in unterschied- grundsätzlich auch digital möglich; licher Geschwindigkeit und Ausprä- aber es stellt die soziale Arbeit durch gung. Von den Frühen Hilfen über die die individualisierte, anonyme Hilfe KiTa, die Schule, die Ausbildung bis vor neue Herausforderungen, die ange- zur Selbsthilfe, von familienorien- gangen werden müssen. Gleichzeitig tierten Angeboten bis hin zur pflege- eröffnen sich durch die Digitalisierung rischen Versorgung und zur Arbeit mit neue Chancen, sowohl Fachkräfte als Geflüchteten. Dabei müssen immer auch Freiwillige zu gewinnen und die- mehrere Aspekte gleichzeitig im Fo- se in ihrem Engagement bei Kommu- kus stehen: Erstens, die Menschen, für nikations-, Organisations- und Verwal- welche eine Organisation eine Lei- tungsaufgaben zu unterstützen. serem gesellschaftspolitischen Auf- stung erbringt. Zweites, die Organisa- Für die Mitarbeiter*innen können sich trag. Ethische Implikationen der Digi- tion selbst. Drittens, die Menschen, die – bedingt durch die gesamtgesell- talisierung, wie bspw. von möglichen in den Organisationen beschäftigt schaftliche Gewöhnung an jederzeit Szenarien der Robotik in der Pflege sind. Viertens müssen wir auch die verfügbare, internet-basierte Angebote oder der Behindertenhilfe, aber auch Metathemen betrachten, die sich aus – veränderte Ansprüche an die Ar- Fragen der Anonymität und der Per- unserem gesellschaftspolitischen Auf- beitszeiten ergeben. Ein Teil der sönlichkeitsrechte sind in den Bick zu trag ergeben. Dienstleistungen und Angebote un- nehmen. Schließlich hat die Digitali- Für die Menschen, die eine Leistung serer Mitgliedsorganisationen müssen sierung auch erhebliche Auswir- erhalten, scheinen sich durch die zu- nicht nur innerhalb einer bestimmten kungen auf den Arbeitsmarkt und die nehmende Digitalisierung erst einmal Tageszeit verfügbar sein. Durch die Qualifikationsanforderungen. Hürden zu verringern. Menschen mit Etablierung digitaler Technologie in In der aktuellen Ausgabe unseres Ver- Mobilitäts-, Sinnes- oder kognitiven unserem Leben verändern sich nicht bandsmagazins berichten und disku- Einschränkungen bspw. können barri- nur die Dienstleistungen, sondern tieren wir über diese und weitere As- erearm aufbereitete Angebote abrufen. auch der Rhythmus und der Bedarf, in pekte des dynamischen Verlaufs der Sie sparen sich Wege, sie können ihre Richtung auf rund-um-die-Uhr-Ver- Digitalisierung in der sozialen Arbeit. Zeit so einteilen, wie sie sie benötigen. fügbarkeit von Angeboten. Unsere Mit- Dabei stellen wir Ihnen auch unser Vor allem: ihre Einschränkung spielt gliedsorganisationen müssen sich da- neues Projekt #GleichImNetz vor, des- erst einmal keine Rolle – digital ist rauf einstellen, dass ihre Angebote ei- sen Ziel es ist, die Sichtbarkeit sozialer neutral. Auf der anderen Seite benöti- nerseits nicht nur digital verfügbar Organisationen im Internet zu stei- gen die Nutzer*innen die notwendige sind, sondern auch immer dann abge- gern und unsere sozialen Werte in digitale Kompetenz, um die Angebote rufen werden, wenn sie benötigt wer- Online-Debatten zu platzieren. Ich sinnvoll nutzen zu können. Viele der den. Forderungen nach neuen Arran- wünsche Ihnen dabei spannende Lek- digitalen Angebote sind (noch) nicht gements in der Arbeitszeit werden laut. türe. derart zugänglich, dass sie tatsächlich Sie müssen soweit es geht mit den Be- Inklusion sicherstellen. Als Paritäter* dürfnissen der Klient*innen in Ein- Herzlich, ihr innen müssen wir uns aber dafür ein- klang gebracht werden. Eine immer- setzen, dass auch digital kein Mensch Verfügbarkeit von profitorientierten ausgegrenzt und digitale Partizipation Angeboten ist nicht immer schon ein für alle Menschen sichergestellt wird. ausreichender Grund für eine immer- Digitalisierung wirkt häufig zudem in- Verfügbarkeit von sozialen Diensten. dividualisierend. Man denke bspw. an Hier gilt es, die Diskussion mit den eine App zur Schuldnerberatung, in Klient*innen zu suchen und den tat- der sich jeder unpersönlich und schnell sächlichen Bedarf und mögliche Kom- Hilfe holen kann. Die Vernetzung mit promissräume zu ermitteln. anderen Hilfesystemen, wie sie bei Die Beachtung und Bearbeitung von multiplen Problemlagen notwendig ist Metathemen begründen sich in un- www.der-paritaetische.de 4 | 2019 3
Schwerpunkt W ie können wir sozialen Or- paritaet.de, auf der sich alle Paritä- samtverband, die Landesverbände und ganisationen zu mehr In- tischen Organisationen im Netz zeigen die Mitglieder seien gleichwertig im ternetpräsenz verhelfen? können, und das Paritätische Facebook- Netz vertreten und könnten alle auf Wie können wir unsere Werte – Offen- Wohnzimmer, als Raum des Aus- gleicher Ebene kommunizieren. heit, Vielfalt, Toleranz – in Online-De- tauschs und Gestaltung. Die Online- „Der Paritätische lebt deutlich mehr batten gut platzieren? Wie können wir Scouts entwickelten neue Ideen und von Kommunikation als die anderen. uns untereinander mit Hilfe digitaler verteilten untereinander erste Aufga- Wir sind der einzige richtige Dachver- Kommunikationsmittel noch besser ben. Und selbstverständlich war zwi- band unter den Verbänden“, so Schnei- vernetzen und zusammenarbeiten? An schendurch auch immer noch Zeit für der. Wenn man bei der Kommunikati- diese Fragen knüpft das Projekt einen Kaffee und gemütlichen Aus- on nicht dranbliebe, drohe die Über- #GleichImNetz des Paritätischen Ge- tausch untereinander. flüssigkeit. Der Paritätische habe in- samtverbands an, das am 13. und 14. „Heute wird sich im Paritätischen sehr zwischen auch großen politischen Juni in der Neuen Mälzerei in Berlin viel sehr gravierend ändern“, sagte der Einfluss und gestalte die öffentliche seinen Auftakt hatte. Knapp 100 Hauptgeschäftsführer des Paritä- Meinung. „Davor haben mittlerweile Paritäter*innen aus Landesverbänden tischen Gesamtverbands, Dr. Ulrich alle einen Riesen-Respekt.“ Es sei und Mitgliedorganisationen kamen in Schneider, zum Auftakt der Veranstal- wichtig, die Paritätischen Werte ins ihrer Funktion als Online-Scouts zu tung. Sei das Internet, so wie er es in Netz zu tragen und denen etwas zu der zweitägigen Veranstaltung, um frühen Jahren erlebten, noch unpoli- entgegnen, die das nicht täten. sich untereinander zu vernetzen und tisch und unstrategisch gewesen, habe „Es gibt keinen Masterplan, aber es gemeinsam in die Planung für eine ge- sich die Kommunikation inzwischen gibt eines: Wir haben zum Erfolg keine meinsame Zukunft im Netz zu gehen. stark politisiert und instrumentali- Alternative“, resümierte Schneider Zwei Tage lang sorgte ein intensives siert. Besonders der Umgang der tradi- und gab den Teilnehmer*innen mit Programm aus Workshops, Challen- tionellen Medien ist ein anderer, stellte auf den Weg: „Von der Veranstaltung ges, Vorträgen und Talks für abwechs- Schneider fest: „Wenn heute auf Twit- muss etwas ausgehen, auf das man in lungsreiche Bildung. Vom Umgang ter und Facebook etwas passiert, grei- fünf Jahren stolz blicken kann. Ich mit rechten Trollen im Netz über fen es die Printmedien auf und damit freue mich, dabei zu sein.“ Crossmediales Storytelling, bis hin zu haben Facebook und Twitter eine juristischen Fragen zum Datenschutz Reichweite, die weit über sie selbst hi- www.wir-sind-paritaet.de gab es viel Neues zu lernen und einiges nausgeht.“ Die veränderte Kommuni- Das Paritätische Wohnzimmer: zu vertiefen. Im Mittelpunkt stand die kation wirke sich auch auf die Struk- fb.com/groups/gleichvielmehrimnetz/ gemeinsame Plattform www.wir-sind- turen des Paritätischen aus. Der Ge- 4 www.der-paritaetische.de 4 | 2019
Schwerpunkt „Zivilgesellschaft kann nicht nur offline stattfinden. Es liegt an jedem, sich auch online für Menschenwürde und Gleich- wertigkeit einzusetzen.“ Stefan Lauer Amadeu Antonio Stiftung „Um unabhängig von Presseberichter- stattung zu sein, sind soziale Medien ideal. So können wir selbst bestimmen, wie wir uns darstellen und welche In- halte uns wichtig sind. Darüber hinaus macht es einfach Spaß, Content und Bildsprache zu entwickeln.“ Mareike Geiling Flüchtlinge Willkommen e.V. „Mithilfe digitaler Medien können sich Organisationen schnell und interaktiv mit Unterstützern austauschen. Organisationen sollten diese Chance nutzen, um engagierte Menschen zu er- reichen und um neue Formen des sozi- alen Engagements zu schaffen.“ Martin Hodsman Aktion Deutschland Hilft e.V. www.der-paritaetische.de 4 | 2019 5
Schwerpunkt „Viele Menschen, jung und alt, kommu- nizieren und informieren sich heutzuta- ge mehr oder weniger ausschließlich über digitale Medien. Die digitale Welt ist nicht „virtuell“, sondern sie ist Le- bensrealität. Wer die Menschen dort nicht abholt, wo sie sich befinden - im Netz, wird den Kontakt zu ihnen zuneh- mend verlieren.“ Dr. Till Kreutzer, iRightsLaw „Das Social Web ist wie eine gute Freundschaft, deshalb verhalte dich auch so wie in einer Freundschaft. Sei immer authentisch, sage deine Meinung, nimm dich selbst nicht zu ernst, sei schlagfertig und aufregend und du wirst ewig von dieser Freundschaft profitie- ren.“ Frank Büch Leiter Marketing BVG „Es war noch nie so leicht, seine Mei- nung, Idee oder Arbeit ortsunabhängig und gratis zu publizieren um damit un- glaublich viele Menschen zu erreichen. Soziale Organisationen sollten dieses Potential nutzen um das Engage- ment in den Sozialen Medien weiter zu fördern.“ Nils Anders Der Paritätische Gesamtverband 6 www.der-paritaetische.de 4 | 2019
Schwerpunkt Nur noch schnell ein Leben retten Bei einem Notfall wählt man die 112 und dann kommt der Rettungsdienst. Das ist auch heute noch so. Gut, dass fast alle inzwischen ein Smartphone in der Tasche haben. Und damit kann man be- kanntlich nicht nur telefonieren, sondern auch vieles anderes: Zum Beispiel alter- nativ zum Anruf auch eine App in Notfall nutzen. Der Arbeiter-Samariter-Bund in Schleswig-Holstein macht‘s vor mit der „Saving Life“-App. B ea Klatte kniet auf dem Boden auf Protest der Feuerwehrleute: „Zu keiner hat mit der Wiederbelebung und presst auf den Brustkorb der makaber.“ begonnen.“ vor ihr liegenden Gestalt. Um sie 54 Mitglieder hat die Wehr, alles Eh- Deutschland steht bei der Zahl so ge- herum stehen Männer und Frauen in renamtliche. Zu rund 20 Einsätzen nannter Laienrettungen im europä- den blauen Uniformen der Freiwilli- müssen sie pro Jahr ausrücken, berich- ischen Vergleich weit hinten: Nur in gen Feuerwehr Vaale-Nutteln. Die tet Feuerwehrmann Thomas Schall- rund 30 Prozent der begonnenen Rea- Stimmung ist entspannt, dies ist nur hofer. Meist gehe es um technische nimationen trauen sich Nicht-Profis zu eine Übung. Dennoch wissen alle im Hilfen oder Unfälle mit Tieren: „Eine helfen. In Holland und den skandina- Raum, worum es geht: Leben zu ret- Kuh im Weiler hatten wir schon, und vische Länder sind es 60 bis 80 Pro- ten. Das klappt in Deutschland seltener neulich steckte ein Pferdehuf im Ge- zent. als anderswo. Jährlich sterben bundes- stänge fest.“ Aber sie haben auch schon weit 100.000 Menschen am so genann- die harten Einsätze erlebt, Brände, Un- Je 190 Erste-Hilfe-Kurse in Dänemark ten plötzlichen Herztod. Viele wären fälle mit Schwerverletzten und Ster- und Deutschland benden. Dafür trainieren sie. „Hier setzt unser Projekt an“, sagt Ste- zu retten, wenn Anwesende buchstäb- phan Andersen, Referent für Notfall- lich be-herzter eingreifen würden. In Über 1000 Gemeinden gibt es Schles- versorgung beim ASB Schleswig-Hol- Schleswig-Holstein sorgt der Landes- wig-Holstein, viele Dörfer und Ge- stein. Denn die mangelnde Hilfsbereit- verband des Arbeiter-Samariter-Bundes höfte, die einsam zwischen Äckern schaft entstehe nicht aus bösem Wil- (ASB) in einem Modellversuch dafür, liegen. Weite Wege für Rettungswa- len, sondern aus Unsicherheit. So geht dass Ersthelfer schnell zum Einsatzort gen, mit gefährlichen Folgen, denn bei es im Projekt „Saving Life“, für das gelangen. Dabei hilft eine App. Schon einem Herzstillstand beginnt das Ge- sich der ASB und die Dansk Folkeh- 6000 Freiwillige haben sich den digi- hirn schnell abzusterben. Drei Minu- jælp (Dänische Volkshilfe) zusammen- talen Alarmknopf heruntergeladen. ten ohne Sauerstoff gelten als Grenze, getan haben, zuerst darum, neue Erst- Klatte beendet die Wiederbelebung der bis zu der ein Mensch ohne größere helfer auszubilden. Mit finanzieller Trainingspuppe und streicht sich das Schäden vom Tod zurückgeholt wer- Unterstützung aus EU-Mitteln bieten Haar aus der Stirn: Ob Übung oder den kann. beide Vereine in Deutschland und Dä- nicht, die Prozedur ist anstrengend. nemark über mehrere Jahre je 190 Pressen, kurz loslassen, wieder pres- Zu wenig Laienretter in Deutschland Erste-Hilfe-Kurse an. Die Zielgruppe sen – das ist der Überlebensrhythmus. „Mich erschreckt am meisten, dass fast sind hauptsächlich Menschen, die sich Es gibt Musikstücke, deren Takt wie immer andere Leute beobachten, wenn mit Notfall-Situationen auskennen, gemacht dafür ist, etwa der Disco-Klas- jemand mit einem Herzstillstand zu- etwa Feuerwehrleute. „Wir haben ge- siker „Stay-stay-stay-stay – staying ali- sammenbricht“, sagt Übungsleiterin hofft, dass viele von ihnen bereit sind, ve“. Klattes Vorschlag,man könne Bea Klatte, die ehrenamtlich für den auch den zweiten Schritt zu gehen“, auch die ACDC-Hymne „Highway to ASB tätig ist. Auch im eigenen Umfeld sagt Andersen. „Und bisher läuft es tat- hell“ im Takt mitsumen, stößt beim hat sie einen solchen Fall erlebt: „Der sächlich noch besser als erwartet.“ Übungsnachmittag in dem kleinen Vater einer Freundin fiel um, Familie- Dieser zweite Schritt ist der Kern des Ort im südlichen Schleswig-Holstein mitglieder und Freunde fanden ihn – Projekts „Saving Life“. Die Paritätische www.der-paritaetische.de 4 | 2019 7
Schwerpunkt Mitgliedsorganisation hat eine App entwickeln lassen, mit der ausgebildete Ersthelfer über die Leitstelle informiert und zu einem Bewusstlosen geleitet werden. Die „Saving Life“-Smartphone- Applikation ähnelt der Ersthelfer-App „Meine Stadt rettet“ der Münchener Firma Ecorium. Kein Zufall, erklärt Andersen: Tatsächlich arbeiten der ASB-Landesverband und Ecorium zu- sammen. Dritter Partner ist das Uni- versitätsklinikum Schleswig-Holstein mit dem Institut für Rettungs- und Notfallmedizin (IRuN) in Kiel. Das Verfahren ist für die Beteiligten einfach: Freiwillige installieren die App auf ihrem Smartphone. Sie geben dabei an, ob sie eine medizinische Aus- Die 19-jährige Bea Klatte leitet im Auftrag des ASB das Wiederbelebungs-Training. bildung besitzen oder jüngst einen Le- bensrettungskursus absolviert haben. Die Helfer dürfen jederzeit ohne Anga- Inzwischen sind mehrere Leitstellen Erhält die Leitstelle einen Notruf, se- be von Gründen einen Ruf ablehnen, in Schleswig-Holstein beteiligt, und hen die Disponenten die eingeschal- betont Stephan Andersen vom ASB: immer mehr Freiwillige laden sich die teten Smartphones als Signale auf ih- „Man muss sich nicht rechtfertigen, ob App herunter. „Auch nach Ende der rem Bildschirm. man gerade unter der Dusche steht, Modellphase 2020 wird das Projekt Helfer, die in der Nähe des Bewusst- seine Kinder betreut oder arbeitet. Es bleiben“, sagt Stephan Andersen. Er losen sind, werden automatisch über geht nur darum, ob man schnell vor wünscht sich, dass die Idee, die im ver- die App angefragt: „Wir stellen uns Ort sein kann.“ gangenen Dezember mit dem ersten sozusagen im Namen des Hilfesu- Die App kann zeitweise deaktiviert Preis des Wettbewerbs „Helfende chenden an die Straße und rufen um werden, etwa während der Arbeits- Hand“ des Bundesinnenministeriums Hilfe“, sagt Sebastian Wenk, Dispo- stunden. Denn ehrenamtliche Ersthel- ausgezeichnet wurde, auch in anderen nent in Schleswig-Holsteins Rettungs- fer sind zwar während des Einsatzes Ländern übernommen wird: „Nach- leitstelle Süd. Hier wird die App-Tech- versichert, erhalten aber keine Ent- machen erlaubt!“ nik seit Herbst 2018 eingesetzt, seit schädigung für etwaigen Lohnausfall. Bea Klatte, die das Training für die Dezember ist sie in den Regelbetrieb „Aber wenn wir in Unternehmen Wie- Feuerwehrleute in Vaale-Nutteln leitet, übernommen. derbelebungs-Trainings veranstalten hat die Saving-Life-App bereits auf ih- Wenk sieht große Vorteile. Zwar er- und die Saving-Life-App vorstellen, rem Smartphone, musste sie aber in fahre die Leitstelle nur selten, was nach erhalten wir eigentlich immer die Zu- jüngster Zeit oft ausschalten: „Ich habe dem Rettungseinsatz mit den Pati- sage, dass Leute ohne Nachteile zum Abi-Prüfungen geschrieben, da hätte enten geschehe, aber die App hole ei- Rettungs-Einsatz gehen dürfen“, be- ich leider nicht zu einem Einsatz ge- nen Zeitvorteil heraus, eben jene kost- tont Andersen. hen können“, sagt die 19-Jährige. Das baren Minuten, die zwischen Leben Thema Lebensrettung begleitet sie von und Tod, Gesundheit und Hirnscha- Auch nach der Modellphase kleinauf: „Meine Mutter war Sanitäte- den liegen. geht es weiter rin bei der Bundeswehr, inzwischen Im Idealfall werden drei Ersthelfer zu arbeitet sie beim ASB.“ So fing auch App kann zeitweise deaktiviert werden einem Bewusstlosen geschickt: Der die Tochter als Ehrenamtliche dort an. Bedenken habe die Leitstelle nicht, erste beginnt mit der Herz-Lungen- „Erst, um meine Mutter öfter zu sehen, wenn sie Wildfremde zum Retten Wiederbelebung. Der zweite holt einen dann aus Spaß am Helfen.“ Nun macht schickt, schließlich führt Nichthan- Defibrillator, der dritte kann Angehöri- die Gymnasiastin aus ihrer Leiden- deln immer zum Tod – jede Hilfe ist ge beruhigen oder dem Notarzt den schaft einen Beruf: Im Herbst beginnt besser als keine. „Die Angehörige, die Weg zeigen. Denn der Rettungswagen sie eine Pflegeausbildung. Bis dahin uns anrufen, sind meist emotional be- wird natürlich gleichzeitig in Bewe- wird sie ihre „Saving life“-App häufiger lastet und freuen sich, wenn schnell je- gung gesetzt. Durch die Zusammenar- aktivieren – und kann vielleicht mal mand kommt“, sagt Wenk. „Und wer beit mit dem Rettungswesen in Däne- eben einen Menschen retten. sich die App herunterlädt, muss einen mark soll es mittelfristig möglich sein, aktuellen Lebensrettungskursus nach- im Grenzgebiet Ersthelfer aus beiden Esther Geißlinger weisen, ist also fähig zu helfen.“ Staaten zu alarmieren. 8 www.der-paritaetische.de 4 | 2019
Apps in der Wohlfahrt eine Auswahl Application Software, kurz Apps genannt, sind aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Und da- mit natürlich auch nicht mehr im sozialen Bereich. Denn nicht nur Bankgeschäfte, Musikstreaming oder Kurznachrichten lassen sich mit den kleinen Handyprogrammen erledigen - sie können auch beispielsweise Hilfen für behinderte Menschen sein. Viele Mitgliedsorganisationen des Paritä- tischen sind mit ganz unterschiedlichen Apps ver- treten. Wir stellen hier einige vor! Alle* Apps Android- und Apple-Geräte in den je- weiligen App-Stores erhältlich. Rheuma-Auszeit Home-Testing-App Covergestaltung mbeon – Messen- Die App der Deut- Seit Oktober 2018 gerberatung für schen Rheuma-Liga dürfen HIV-Tests für Zuwanderer*innen soll Betroffene mit den Heimgebrauch hilfreichen, kleinen Übungen durch auch an Privatpersonen verkauft Die App der Informationsseite mbe- den Alltag begleiten. werden. Deswegen bietet die AIDS- on.de von der Migrationsberatung Hilfe Sachen-Anhalt mit dieser App für erwachsene Zuwanderer (MBE), Die meisten Übungen liegen als die Möglichkeit, nicht nur einen Heimtest zu erwerben, sondern lie- an der auch der Paritätische Ge- Audio-Dateien vor. Sie können zu fert mit der Home-Testing-App auch samtverband beteiligt ist, möchte Hause, bei der Arbeit oder unter- die Erstberatung mit. Der Vorteil zu Zuwander*innen Orientierung und wegs über die Lautsprecher des Te- anderen Angeboten ist, dass man Hilfe bieten. Zur Verfügung stehen lefons oder Kopfhörer angehört wer- bei dem Test nicht „allein gelassen“ Informationen zu folgenden Be- den. Das Repertoire umfasst: werde, schreiben die Anbieter. reichen: Die App beinhaltet Tipps zu Safer • Deutsch lernen • Progressive Muskelentspan- Sex, Gebrauchsanweisungen, sowie nung & Passive Entspannung • Arbeit und Beruf eine Testauswertung. Sollte der Test • Selbstmassage • Gesundheit „positiv“ sein, kann man direkten • Gedankenreisen • Wohnen Kontakt zu Berater*innen für die • Kälte- & Wärmebehandlungen • Familie eigene Region zuständigen AIDS- • Bewegungstraining Hilfe aufnehmen. Dies geht durch • Aufenthalt einen WhatsApp-Chat, Email oder Außerdem kann man mit Diese App ist so konzipiert, dass so Telefongespräch. Mitarbeiter*innen der Migrations- wenig personenbezogene Daten wie beratung direkt chatten und Bera- möglich erhoben werden. *Apple-Version in Planung tungsstellen in der Nähe suchen. www.der-paritaetische.de 4 | 2019 9
Schwerpunkt Tiergarten Inklumoji - Aktion MS Kognition Nürnberg Mensch Wir alle benutzen in Diese App richtet sich Den Nürnberger unserer täglichen an alle, die an Multip- Tiergarten kann man Kommunikation mit ler Sklerose leiden nun auch barrierefrei erleben. In dem Handy Emoticons, die Erweite- und wurde entwickelt von der Deut- Kooperation mit dem Paritätischen rungen des klassischen Smileys. schen Multiple Sklerose Gesell- Landesverband Bayern wurde diese Die allermeisten davon zeigen je- schaft. App für Personen mit Mobilitätsein- doch keine Menschen mit Behinde- Ziel der App ist die spielerische Stär- kung der kognitiven Fähigkeiten schränkungen entwickelt. rungen. nicht nur für MS-Erkrankte. Die mobilitätseingeschränkte Navi- gation bietet: Inklumoji von der Aktion Mensch Die Übungen von MS Kognition möchte diese Lücke schließen. Nach wurden zusammen mit Expert • Ausschließen von Steigungen dem kostenlosen Download und der *innen entwickelt und bieten spezi- • Ausschließen von Treppen Aktivierung der Emoji-Tastatur be- elle wissenschaftlich fundierte • Anzeige von Barrieren und steht die Möglichkeit, in jedem Mes- Übungen zu folgenden Bereichen: Hindernissen senger nun inklusive Emojis, zum • Aufmerksamkeit: Fokussierte • Meiden bestimmter Beispiel kleine Figuren in Rollstüh- und geteilte Aufmerksamkeit Oberflächen len, zu posten. • Gedächtnis: Arbeitsgedächtnis, Langzeitgedächtnis, Namens- Und natürlich auch alle möglichen Damit zeigt sich auf spielerische gedächtnis Informationen zu den Tieren im und unterhaltsame Weise, wie wich- • Exekutivfunktionen: Wortfin- Nürnberger Zoo. Sogar ohne tig Inklusion ist und wie normal sie dung, Planungs- & Problem- Internetverbindung. sein sollte. lösefähigkeit MV SCHOCKT in.kontakt - Netz- KonterBUNT. werk pflegende Einschreiten für MV SCHOCKT ist Angehörige Demokratie ein Projekt des ASB Mit dieser App kön- Ganz neu ist die App Landesverband MV e.V. gegen den nen sich pflegende Angehörige un- KonterBUNT. Seit dem 11.06. ist es plötzlichen Herztod. tereinander vernetzen. Damit soll möglich, mit KonterBUNT und dem die klassische Selbsthilfe vor Ort Smartphone unmittelbar auf Die MV SCHOCKT App lokalisiert ergänzt und unterstützt werden. Stammtischparolen zu reagieren. AED-Geräte (Automatisierte Exter- Funktionen: Rassistische, sexistische und son- ne Defibrillatoren, Defibrillator, • Austausch in offenen und ge- stige menschenverachtende Sprü- Defi, Laien-Defibrillator). schlossenen Gruppen mit ande- che fallen meist überraschend. Im ren Mitgliedern Bus, auf der Familienfeier oder in Diese werden auf einer Google • Sichere 1:1-Kommunikation der Kneipe rechnet man vielleicht Maps-Karte, zusammen mit detail- über den Messenger nicht damit. lierten Informationen zur Anwen- • Umfangreicher Wissensbereich für pflegende Angehörige Mit dieser vom Paritätischen Nie- dung, dargestellt. Die App beinhal- dersachen unterstützen App werden tet eine Erste-Hilfe-Kurzanleitung, An der in.kontakt-App ist Wir pfle- die Nutzer*innen darin geschult, einen Notrufbutton sowie eine gen e.V. beteiligt, deren Landesver- Schlagfertigkeit spielerisch trainie- Funktion zur Meldung eines AED- band in NRW Mitgliedsorganisation ren und sich Argumente gegen Standortes. beim Pariätischen NRW ist. rechte Sprüche anzueignen. 10 www.der-paritaetische.de 4 | 2019
Schwerpunkt Digitale Selbsthilfe Facebook und soziale Medien sind für viele Menschen Teil ihrer Lebenswelt. Es ist offensichtlich, dass heutzutage eine elementare Form des Selbsthil- feengagements im digitalen Bereich Rund 3,5 Millionen Menschen in Deutschland engagieren sich in der gesundheitlichen liegt. Immer berücksichtigt werden Selbsthilfe. Trotz Wachstums und hoher Professionalisierung hat sich das Prinzip muss aber, dass bei der digitalen Selbsthilfe meist hoch vertrauliche In- der Selbsthilfe über Jahrzehnte nicht geändert: der gemeinsame Austausch in Grup- formationen zur eigenen Gesundheit pen, also im persönlichen Austausch von Angesicht zu Angesicht. Doch seit einigen und Persönlichkeit in einem letztlich Jahren nimmt die Digitalisierung in der Selbsthilfe immer mehr Raum ein und hat öffentlichen Raum ausgetauscht oder das Gesicht der Selbsthilfe verändert. (unwissentlich) preisgegeben werden. Der im Selbsthilfebereich unabding- I nformationsaustausch und Kom- Die Digitalisierung verändert auch die bare Schutz von persönlichen Daten ist munikation zwischen den Betrof- Möglichkeiten der Öffentlichkeitsar- dabei häufig nicht adäquat gewährlei- fenen finden in unserer modernen beit: Was Selbsthilfe ist und wie sie stet. Die EU–Datenschutzgrundver- und medialen Welt nicht nur allein gelebt wird, wird lebendig und unmit- ordnung, so lästig sie in der Umset- Face-to-face und in den Selbsthilfe- telbar nachvollziehbar durch Video- zung ist und so viele Unsicherheiten gruppen vor Ort statt. Vielmehr macht clips, die oft auf YouTube veröffentlicht sie gerade in der Selbsthilfe hervorruft: die zunehmende Digitalisierung die werden. Ganz aktuell hat die NAKOS sie ist auch eine Chance für die Selbst- Wege kürzer: Informationen zu Er- einen Blog als neues Medium ihrer Öf- hilfe, sorgsam mit hochsensiblen und krankungen und Problemen aus Be- fentlichkeitsarbeit online gestellt. Un- vertraulichen Informationen umzuge- troffenensicht können im Internet ge- ter dem Titel „Lebensmutig.“ bloggen hen. Aktuell führen wir mit Förderung lesen, Menschen mit seltenen Erkran- 15 junge Autor*innen mit unterschied- des BMG ein Projekt zur Umsetzung kungen gefunden und Kontakte ge- lichen Themen wie Depressionen, der DSGVO in der Selbsthilfe durch. knüpft werden, über Messengerdienste Krebs oder Muskelerkrankungen über Erste Tipps für Selbsthilfegruppen ha- werden Termine ausgetauscht oder in ihre Erfahrungen in Selbsthilfegrup- ben wir gerade in unserem Themenbe- Foren über Befindlichkeiten „gespro- pen, ihre Herausforderungen im Le- reich „Datenschutz“ auf nakos.de ver- chen“ – die digitale Welt ermöglicht ben und ihre ganz persönliche Sicht öffentlicht. zeitnahe und niedrigschwellige Suche auf Themen wie Anderssein, Gemein- Der vollständige Kommentar auf: nach Informationen und Austausch schaft und Inklusion. Durch den Blog www.paritaet.org mit Menschen, die an derselben Krank- soll die junge Selbsthilfe als Netzwerk heit leiden. sichtbarer werden. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Als bundesweite Fachstelle zur Selbst- heutzutage fast jede Bundeselbsthilfe- hilfe beobachten wir einen enormen organisation eine eigene Homepage Aufschwung der Selbstorganisation hat. Angesichts zahlreicher Fragen von Betroffenen in Form digitaler nach Unterstützung beim Aufbau ei- Selbsthilfe. Zum Beispiel: Eine rus- gener Internetseiten von regionalen sischsprachige Elterninitiative von Selbsthilfegruppen hat die NAKOS Kindern und Jugendlichen mit Behin- 2018 zahlreiche Hinweise und Tipps derungen aus Berlin gründete eine ei- auf ihrer „Beispiel-Homepage“ zusam- gene Internet-Austauschplattform und mengestellt. Hier erfahren Selbsthilfe- schafft so einen bundesweiten Rah- gruppen, was beim Aufbau einer eige- men für gemeinschaftliche Selbsthilfe. nen Internetseite zu beachten ist. Auf Hunderte von Familien haben sich der Beispiel-Homepage sind auch viele mittlerweile angeschlossen und bun- technische Aspekte beschrieben, die desweite örtliche Selbsthilfegruppen dabei eine Rolle spielen. für reale Begegnungen gegründet. Oder: Frauen, die nach dem Einsetzen von Brustimplantaten wieder an Krebs erkranken organisieren sich auf Face- Dr. Jutta Hundertmark-Mayser ist book, finden an die 1.000 Gleichbetrof- stellvertretende Geschäftsführerin der fene und fragen bei der NAKOS an, wie sie sich nun weiter in der realen Welt als „Selbsthilfe“ organisieren können. www.der-paritaetische.de 4 | 2019 11
Schwerpunkt Drei Fragen an Gerlinde Bendzuck, Deutsche Rheuma-Liga Bundesverband e.V. Gerlinde Bendzuck ist eine vielbeschäftigte Frau. Die studierte Kulturmanagerin ist Vorstandsmitglied der Deutschen Rheuma-Liga und in dieser Funktion Mitglied im Verbandsrat des Paritätischen. Daneben ist sie ehrenamtliche Vorsitzende der Landesvereinigung Selbsthilfe Berlin und Mitglied im Fachgremium Pflege 4.0 der Berliner Gesundheitsverwaltung. In jüngster Zeit beschäftigt sie sich besonders mit dem Thema Digitalisierung in der Selbsthilfe, schreibt Fachtexte und hält Vorträge. Frau Bendzuck, blicken Sie eher optimis- Was muss getan werden, um die Digitali- tisch oder eher pessimistisch auf die Digi- sierung in der Selbsthilfe sinnvoll zu ge- talisierung in der Selbsthilfe? stalten? Als Selbsthilfe-Aktive halte ich eine Nichts über uns ohne uns! Einmal qualitätsorientierte Digitalisierung der mehr müssen wir Selbsthilfe-Aktive Verbände und Selbsthilfe-Organisati- uns ein neues Themenfeld erschlie- onen für eine große Chance, unsere ßen, digitale Kompetenzen für uns Selbsthilfe-Ziele der Hilfe von Betrof- selbst aufbauen, Vermittlungsmodelle fenen für Betroffene noch besser zu entwickeln. Technik ist kein Selbst- und drei als Forschungspartner*innen verwirklichen. Bessere Vernetzung un- zweck – wir müssen verbandlich dis- am Projekt RheVITAL (Steuerungs- tereinander, stärkere Aktivierung, kutieren, welche Art von digitalen App zum Erhalt der Arbeitsfähigkeit) mehr Sichtbarkeit „der Selbsthilfe“ z.B. Funktionen unsere Selbsthilfe-Ziele beteiligten Aktiven vorbildliche Betei- mit den neuen Plattformen wie MS gut unterstützt, wo wir für uns echten ligungspfade entwickelt. Digitale In- connect oder dccv-Intranet, Ansprache Mehrwert sehen, wie dies mit unseren klusion dieser Art ist kein Selbstläufer, neuer Mitglieder oder Ehrenamtlicher, bisherigen analogen Angeboten zu- aber nur so können nachhaltig ge- und nicht zuletzt Verjüngung und sammen spielt und welche personellen nutzte digitale Lösungen entstehen. mehr Diversität durch stärkere Inklusi- und finanziellen Ressourcen wir bereit Dies sollte verbindlich für alle digi- on von anderen Zielgruppen sehe ich sind zu investieren oder zu akquirie- talen Leistungen gelten, die von öffent- als große Chancen der Digitalisierung. ren. Erst dann stellt sich die Frage nach lichen Geldern (z.B. Krankenkasse) fi- Die neuen Plattformen können dazu der Umsetzung, beispielsweise mit nanziert werden. Hier können wir als führen, dass anfangs virtuelle Selbst- Selbsthilfe-Plattformen zur Vernet- Selbsthilfe Vorbild sein und unsere hilfegruppen oder virtuelle Selbsthilfe- zung von Mitgliedern und Aktiven politischen Forderungen auf systema- Mitglieder auch im analogen Leben oder mit therapiebegleitenden Selbst- tische Beteiligung an der Forschung zueinander finden, und dass gerade hilfe-Apps. Beachtung von Daten- und Entwicklung von Anfang an mit auf der Gruppenebene qualitätsgesi- schutz, eine möglichst selbstbestimmte guten Beispielen unterlegen. cherte Informationen der Organisati- differenzierte Datenfreigabe und Da- onen oder aus anderen Quellen besser tensicherheit halten wir in diesem Zu- Wie hat sich für Sie ganz persönlich ihr zum Einzelnen kommt. Darüber hi- sammenhang für sehr wichtig. „Was in Leben durch die Digitalisierung geändert? naus erfolgt ein Qualitätsgewinn im der Selbsthilfe ist, bleibt in der Selbst- Haben Sie ein praktisches Beispiel? Informationsaustausch von Gruppe A hilfe“ umzusetzen, ist fachlich wie fi- Noch ist mein Patientinnen-Leben nach Gruppe D (individuell oder kol- nanziell sehr herausfordernd. Denn leider nicht digitalisiert. Ich wünsche lektiv), der im rein analogen Leben so z.B. Leistungserbringer oder Leis- mir z.B. bald eine digitale Patient* nicht stattfinden würde. Ortsgrenzen tungsträger favorisieren Modelle, bei innen-Akte (interoperabel, barriere- werden dabei überwunden – dies ist in denen sie via Finanzierung Zugriff auf frei, mit differenzierter Möglichkeit ländlichen Räumen oder für Men- „Selbsthilfe-Daten“ erhalten wollen. der Datenfreigabe und Zugriffs-Proto- schen mit Beeinträchtigungen ein Vor- Eine weitere Chance ist, bei eigenen koll), eine therapiebegleitende, ganz- teil. Als Patientin mit einer chro- oder Co-produzierten Lösungen ein heitliche Rheuma-App (vorzugsweise nischen Krankheit erhoffe ich mir z.B. wirklich partizipatives Verfahren der aus der Selbsthilfe), deren Implemen- ein besseres Krankheitsmanagement Entwicklung durchzuführen, damit tierung in meine Behandlung, ein unter Wahrung meiner Patientinnen- z.B. Barrierefreiheit, Usability und die E-Rezept oder auch nur die Möglich- Autonomie, mehr Selbst- oder Mitbe- Funktion an allen zukünftigen Nutze- keit der digitalen Terminvereinbarung stimmung im Kontakt mit meinen rInnen orientiert ist und Exklusion ver- mit meiner Rheumatologin. Behandler*innen oder leistungsfä- meidet. Die Deutsche Rheuma-Liga higere, individuellere Hilfsmittel. hat z.B. mit ihrer App Rheuma-Auszeit Die Fragen stellte Philipp Meinert 12 www.der-paritaetische.de 4 | 2019
Schwerpunkt Drei Fragen an Dr. Thomas Hambüchen, Drogenhilfe Köln Wer heute ein gesundheitliches Pro- Für den klassischen Einstieg in den substanzbezogenen Suchtmittelkon- blem hat oder glaubt, eins zu haben, sum bedurfte es früher analoger Bezie- befragt „Dr. Google“. Auch wer süch- hungen, z.B. zwischen jüngeren und tig sein könnte, dürfte sich zuerst im älteren Schüler*innen im Rahmen von Netz über die Symptome informieren. schul– und freizeitspezifischen Peer– Wir haben über Drogenhilfe im Inter- Groups. Dieses Phänomen hat sich net mit Dr. Thomas Hambüchen von kaum verändert, persönliche Bezie- der Drogenhilfe Köln gesprochen, der hungen im Sinne direkter Kommuni- auch das Portal kidkit.de betreut. kation zwischen Dealer und Käufer dominieren weiterhin das lokale Marktgeschehen. Herr Dr. Hambüchen, wie hat sich die An attraktive Test- und Probierpa- Face–to–face bleibt aus unserer Sicht Suchthilfe durch die Digitalisierung Ihrer ckungen sowie produkttypische Son- bestehen, aber nicht mehr für die all- Erfahrung nach verändert? derangebote kann man/frau über das gemeine Informationsbeschaffung Unsere tradierte Gesprächskultur sozi- Darknet kaum kommen. Noch immer oder bei Routinefragen. Davon unab- aler Hilfen – sie bröckelt. Auf breiter gibt es den Dealer des Vertrauens, der hängig werden auch weiter Gruppen- Front haben technische Systeme über dies vor Ort und jederzeit – leider oft angebote erforderlich sein, um spezi- die Digitalisierung Einzug gehalten. öffentlich toleriert – ermöglicht. elle Ziele und Wege in Richtung Absti- Sie dienen als gesprächsbegleitende In- Völlig anders sieht es jedoch bei Legal nenz überhaupt beschreiten zu kön- strumente, schaffen elegant Raum für Highs und Partydrogen aus. Also Sub- nen. zeitnahe Dokumentation bislang per- stanzen, die in der Regel als legal be- Seit über 15 Jahren betreuen wir mit sönlich bewerteter Beziehungen, die- wertet sind und nicht der Strafverfol- unserem erfolgreichen Online–Portal nen so der Vergleichbarkeit von Dienst- gung unterliegen. Hier hat sich die www.kidkit.de Kinder- und Jugendli- leistungen und versuchen in letzter Zahl der Vertriebswege vervielfacht, che aus suchtbelasteten Familien, ano- Zeit auch, rein qualitativ zu gewin- das Angebot extrem erhöht. nym und über geschützte Chatrooms: nende Erkenntnisse quantifizierbar zu Als für jüngere und damit vulnerable Diese technische Nische verdanken machen. Zielgruppen nicht ungefährliche Dea- wir dem Internet – super! Beratungssettings gestalten sich – oft ler avancierten auch die Anbieter der Digitale Beratungsangebote via Inter- gegen den Willen aller am Gespräch globalisierten Spieleindustrie. Man darf net entwickeln sich entlang von Zeit- Beteiligter – standardisierter, damit sich dabei aber nicht nur auf Gamer geist und Innovationen kontinuierlich, überprüfbarer und durch externe Ein- und Chatterinnen konzentrieren, auch nicht zuletzt über professionelle Blog- flußnahme auch korrigierbarer. In die online–präsenten Glücksspielanbie- ger, Youtuber und Influencer. Leider den letzten Jahren hat sich aus praxis- ter haben mächtig aufgerüstet. aber auch über dilettantische Selbst- bezogener Erfahrung das Verhältnis So entstanden parallel zum tech- darsteller („ … heute teste ich mal LSD von klienten– und patientenbezogener nischen Fortschritt von Hardware / und ihr könnt alle dabei sein …“). Mit Dienstleistung zu verwaltender Arbeit Smart-phones immer niedrigschwel- letzteren wird unser Personal in den dramatisch verschlechtert. ligere Zugangswege über käuferbezo- Beratungsstellen nicht konkret mit- Öffentliche Kostenträger entdecken für gen optimierte Software, die zweifels- halten können und wollen, aber ihr sich Suchthilfestatistiken und Tools wie frei den Einstieg in die Verhaltenssüch- Einfluß steigt. google analytics als heimliche Prüfungs- te erleichtert haben. Die Verlagerung aus bislang individu- instrumente zur Bewertung von „objek- alisierten Beratungssettings in Rich- tiver“ Effektivität und Effizienz ihrer Was glauben Sie: Wird die Suchthilfe mit- tung digitale Öffentlichkeit schafft Investitionen in die „subjektiven“ Hilfe- tel- oder langfristig irgendwann komplett auch neue Trends ( Video–Chats ) und leistungen Freier Träger – eine unerfreu- ins Internet verlagert oder wird die klas- Meinungsbilder, mit denen wir uns ak- liche Entwicklung. sische Beratungsstelle erhalten bleiben? tiv beschäftigen müssen. Sie spiegeln Es wird immer Menschen geben, für sich nicht zuletzt in den Haltungen Drogen kann man im Darknet kaufen und die persönliche Beratung ein unver- und Fragestellungen unserer Besu- es gibt bekanntermaßen auch Online- zichtbarer Schritt vor wichtigen Ent- cher, Klienten und Patienten wider. Sucht. Hat das Internet in den letzten scheidungen ist – insbesondere bei ei- Es bleibt spannend … Jahren den Einstieg in die Sucht erleich- ner eigenen, aber gesellschaftlich tabu- tert? isierten Betroffenheit. Die Fragen stellte Philipp Meinert www.der-paritaetische.de 4 | 2019 13
Wenn aus Spaß Ernst wird Die Sucht nach Online-Glücksspielen “The pleasure is to play, makes no diffe- rence what you say/I don‘t share your greed, the only card I need is the Ace of Spades” heißt es im bekanntesten Lied der britischen Band Motörhead “Ace of Spades.” Das das Lied autobiografische Züge trägt, ist unter Fans bekannt. Motörhead-Sänger Lemmy Kilmister verbrachte seine Freizeit besonders in seinen letzten Lebensjahren zwar nicht beim Pokern, aber dem Glückspielau- tomaten in seiner Stammkneipe in Los Angeles unweit seiner Wohnung. Ob er ein problematisches Glückspielver- desdeutschen Bevölkerung hat ein min- davon betroffen, fast 80 Prozent hinge- halten hatte, ist nicht bekannt. Man las destens problematisches Verhältnis zu gen von den klassischen Automaten ab- in der Presse eher von seinem exzes- Glücksspiel, so steht es im “Jahrbuch hängig, weiß Frau Krüger. Einschrän- siven Whiskey- und Wodka-Konsum. Glückspielsucht 2018.“ Bei wem die kend erklärt sie jedoch: „Wir haben in Online-Spielsucht soweit geht, dass die der Forschung festgestellt, dass es 10 Noch immer dominieren gemessen am Kontrolle über den Geldbeutel oder so- bis 15 Jahre dauert, bis überhaupt je- Umsatz die klassischen Automaten auf gar das ganze Leben verloren geht, mand in die Beratung kommt.“ Die dem Markt, die auch Lemmy schätzte. kann sich in Berlin an das Präventions- kleine Zahl sagt also wenig aus über Sie werden laut dem „Jahrbuch Glück- projekt Glücksspielsucht wenden. Das den realen Anteil der noch jungen spielsucht 2018“ zu zwei Dritteln von noch junge Projekt entstand vor dem Gruppe. Glücksspiel-Fans genutzt, mit weitem Hintergrund des 2008 erlassenen Abstand gefolgt von Lotto und Toto mit Glücksspielstaatsvertrages. In der Aus- „Verhaltenssüchte“ sind ein junges Feld einem Anteil von 16 Prozent. Aber lang- führung, die in allen Bundesländern Das spiegelt sich auch im Umgang mit sam wächst der Markt der Glücksspiele unterschiedlich geregelt ist, entschied der Thematik in der sozialen Arbeit im Internet. Immer mehr Menschen der Berliner Senat, dass es ein Projekt wieder. In der Sozialpädagogik ist das spielen online. Gaben 2007 noch gerade zur Glücksspielsucht geben solle. Den Feld der „Verhaltenssüchte“, zu dem mal 1,3 Prozent an, schon einmal an Zuschlag bekam der Träger pad, Mit- Glücks- oder Onlinesucht zählt, noch einem Kasinospiel im Internet teilge- glied beim Paritätischen Berlin. recht jung. Zuvor hat man sich verstärkt nommen zu haben, waren es 2017 be- Angelina Krüger ist Leiterin des Pro- auf sog. „stoffgebundene Süchte“, also reits 4,8 Prozent. Im Netz existiert in- jektes. Die 31-Jährige berät am Rande hauptsächlich zu konsumierende Dro- zwischen ein großer deutschsprachiger von Weißensee, fast noch in Friedrichs- gen, fokussiert. und weitestgehend unregulierter Markt hain, diejenigen, bei denen das Glücks- Aber wer sind überhaupt die Online- aus Online-Kasinos (419 Homepages), spiel zu einem Problem geworden ist. Glücksspieler? Als besonders gefährdet Sport- und Pferdewetten (149 Home- Die studierte Sozialpädagogin arbeitete gelten junge Männer zwischen 18 und pages), Poker (69 Homepages) und wei- nach ihrem Bachelor zunächst im Be- 25 mit geringer Bildung. Ein Migrati- tere. Deren Bruttoerlöse sollen 2018 bei reich Autismus, um dann noch einmal onshintergrund ist überproportional knapp 2,6 Milliarden Euro gelegen ha- einen Master im Sozial- und Gesund- vertreten. Arbeitslosigkeit ist ebenfalls ben. heitsmanagement zu machen. Bereits weit verbreitet unter Glücksspieler*in- Ob off- oder online: Die meisten Men- während des Studiums wurde sie von nen, denn hier kommen viel Freizeit schen spielen gelegentlich aus Spaß einer Kommilitonin gefragt, ob sie nicht und ein geringes Selbstwertgefühl zu- und haben ihr Spielverhalten unter beim Präventionsprojekt Glücksspiel- sammen. Aber: „Es gibt natürlich nicht Kontrolle. Was passiert, wenn der Spaß sucht arbeiten wolle. DEN Glücksspieler, aber es gibt gewisse am Spiel aus den Fugen gerät und sich Vordergründig sind Online-Glücks- Risikofaktoren, die auch in der For- immer negativer auf das eigene Leben spiele kein großes Problem. Lediglich 4 schung immer wieder auftauchen“, er- auswirkt? Ein knappes Prozent der bun- Prozent der Glücksspielsüchtigen sind klärt Angelina Krüger. 14 www.der-paritaetische.de 4 | 2019
Schwerpunkt Pauschal kann man aber sagen, dass süchtigen kein Blut abnehmen oder in Glücksspiel eine „Droge“ ist, die sehr den Hals schauen, um zu überprüfen, leicht zu bekommen ist, vor allem durch ob er oder sie davon betroffen ist. In die flächendeckende Verbreitung von Deutschland wird das sog. ICD10 für PCs und Smartphones. Nicht nur, dass die Diagnose von Sucht genutzt. Wenn man jederzeit und überall spielen kann man Freunde anlügt, beklaut oder Job- – es bekommt auch eventuell niemand oder Wohnungsverlust droht und trotz- mit, wenn neben einem im Bus gerade dem immer noch weiter gespielt wird, jemand sein Monatsgehalt verpokert. sollten demnach die Alarmglocken Der Besuch einer Spielothek ist mit schrillen. Im Angloamerikanischen mehr Aufwand verbunden und außer- Raum wird ein System verwendet, dem mit stärkerer sozialer Kontrolle. In welches Frau Krüger bevorzugt, weil es den Spielhallen ist das Personal ange- differenzierter ist: DSM 4. Hier wird halten, Suchtverhalte zu erkennen und früher eingesetzt, zum Beispiel wenn auffällige Besucher*innen gegebenen- jemand Einsätze immer weiter steigert, falls anzusprechen. Das, so Angelina um dem Gewöhnungsprozess entge- Krüger, funktioniere mal mehr, mal genzuwirken oder Entzugssymptome weniger gut, jedoch gebe es eine soziale aufweist. Kontrolle. Frau Krüger ergänzt: „Außer- dem ist die Werbung im Netz sehr prä- Digitales Bezahlen macht Angelika Krüger leitet das Präventions- sent und niedrigschwellig.“ Sogar in- unbekümmerter projekt Glücksspiel nerhalb anderer Computerspiele tauche „Es fängt damit an, dass man einfach Glücksspielwerbung auf, berichtet sie. mal Bock hat zu spielen und zu gewin- Hinzu kommt, und das sei besonders nen und dann häufiger noch mit ande- dass Menschen, die phasenweise mal für junge Leute problematisch, wenn ren zusammen“ erklärt Frau Krüger länger vor dem PC sitzen, nicht gleich Idole wie Sebastian Schweinsteiger oder den Beginn. „Im Verlauf der Problema- süchtig sind.“ Viele spielen in ihrer Ju- Oliver Kahn für Online-Sportwetten tisierung übernimmt das Spielen selbst gend eine Menge und heute wird die mit Slogans wie „Ihre Wette in sicheren eine immer geringere Rolle.“ Das Fül- Laiendiagnose „Sucht“ von Eltern und Händen“ Werbung machen. Die Ge- len von Zeit oder die Ablenkung wird Lehrern schnell erstellt, wenn das Kind setzgebung hinkt, wie so häufig im dabei immer wichtiger, ebenso wie das gefühlt zu viel am Smartphone oder Netz, stets hinterher und findet keine steigern von Selbstwertgefühlen. Auch vor dem PC hänge. Aber die Feststel- konkrete Anwendung. Online-Poker Geldgewinne würden parallel immer lung der Diagnostik hält die Expertin beispielsweise ist in Deutschland verbo- unwichtiger werden, ebenso wie der Be- dennoch für wichtig, um wirklich pa- ten, aber die Server stehen im Ausland zug zum Geld insgesamt. Das Gefühl thologisches Verhalten zu erkennen. und die deutsche Exekutive ist macht- für Geld geht komplett verloren. Ver- Und meistens ist es ganz einfach, so los. Hinzu kommen völlig unterschied- stärkt wird im Internet noch der As- Angelina Krüger: „Der entscheidende liche Regelungen in jedem Bundesland. pekt, dass digital bezahlt wird. Ein ähn- Punkt ist immer: Kriege ich mein Le- Während man sich in dem einen Land liches Problem wie beim Shopping oder ben auf die Reihe?“ als Spieler generell sperren lassen kann, dem Bezahlen mit Kredit- oder EC-Kar- Philipp Meinert gilt die Regelung woanders schon nicht te. „Es fühlt sich ja anders an, ob ich mehr. Das macht die praktische Arbeit einen 500-Euro-Schein auf den Tisch schwieriger. lege oder mit einer Plastikkarte bezah- le“ sagt die Expertin. Eine weitere Tü- Kontakt In die Lebenswelt der Klienten gehen cke: Gewinne werden beim Online- Wie kommt das Projekt überhaupt an Glücksspiel selten direkt dem Bankkon- Präventionsprojekt Glücksspiel | pad seine Klienten? „Für uns als Präventi- to zugeschrieben, sondern bleiben im gGmbH onsprojekt ist es immer wichtig, sich in Kundenkonto und können einfach für Charlottenburger Str. 2 der Lebenswelt zu bewegen, wo unsere weitere Spiele verwendet werden. 13086 Berlin Klienten letztendlich unterwegs sind.“ Vor kurzem gab es eine Änderung. On- Telefon: (+49 30) 84 52 21 12 Gerade bei jüngeren Leuten spielt sich line-Spielsucht wird seit Mai durch die praevention.gluecksspiel@ vieles im Smartphone ab, also muss Weltgesundheitsorganisation WHO als pad-berlin.de auch das Präventionsprojekt dort hinge- Krankheit anerkannt. Dies beinhaltet hen und zum Beispiel WhatsApp-Bera- auch Gaming, also das Spielen norma- tung anbieten, so Krüger. ler Computerspiele. Frau Krüger sieht Internet: Ein Problem ist dabei die Festlegung die Entscheidung gemischt: „Es war ja www.faules-spiel.de der Sucht. Anders als bei vielen Erkran- nicht unumstritten. Ob Gaming oder www.facebook.com/faulesspiel kungen kann man Online-Glücksspiel- Spielsucht – es ist wichtig zu sagen, www.der-paritaetische.de 4 | 2019 15
Schwerpunkt Digitale Medien und Kinder: Kompetenzen Fördern statt verbieten M it ihren kleinen Fingern greift Malia nach der Wasserflasche, klemmt sie sich zwischen Ohr und Schulter und beginnt zu brabbeln: „Alo?“. Wer glaubt, Kinder kommen erst in der Schule in Berührung mit digitalen Medien, wenn es darum geht, wer schon alles ein eigenes Smart- phone hat oder vielleicht schon im Kin- dergarten, wenn auf dem Tablet erste kleine Kunstwerke entstehen, liegt falsch. Erste Medienerfahrung ma- chen schon die ganz Kleinen, bevor sie überhaupt Laufen oder Sprechen kön- nen. „Die Kinder liegen noch im Kin- derwagen und sehen ihre Eltern am Handy“, weiß Sophie Pohle vom Deut- schen Kinderhilfswerk zu berichten. Malia hat aufgehört zu brabbeln. Mit der Flasche hinterm Ohr steht sie ru- damit machen. Nicht ohne Grund hat Bis in die sozialen Netzwerke hat es hig da, nur ihr Kopf bewegt sich zu das Deutsche Kinderhilfswerk im Jahr Malia noch nicht geschafft. Aber einem verständnisvollen Nicken. Digi- 2017 die Social-Media-Kampagne Mama Sarah gibt zu, dass das eine tale Medien üben nicht nur auf Er- #ErstDenkenDannPosten gestartet. oder andere Töpfchen-Bild schon sei- wachsene eine große Faszination aus. nen Weg in Familien-WhatsApp-Grup- Wie in vielen anderen Lebensbereichen „Kinder haben das Recht am eigenen Bild pen gefunden hat. „Ich hoffe, das sieht gilt auch hier: Die Kleinen wollen, was – von Anfang an“ sie nie“, sagt Sarah fast peinlich be- die Großen haben. „Je jünger die Kin- Die Share-Pics der Kampagne zeigen rührt und gibt zu „da muss ich wirk- der sind, desto mehr orientieren sie Kinder in vermeintlich lustigen oder lich besser aufpassen“. Gleichzeitig sich am Verhalten der Eltern“, erklärt niedlichen Situationen – mit Spaghetti fragt sie sich wie es mal werde, wenn Pohle. Als Vorbilder würden sie den im Gesicht oder auf der Toilette. Dazu Malia in ein paar Jahren selbst in den Umgang mit Medien stark beeinflus- der Satz: „Liebe Mama, lieber Papa, Genuss eines eigenen Handys oder Ta- sen. Malia sagt noch einmal „Ja“, dann denkt nach, bevor ihr postet!“ „Das, blets komme. beendet die Eineinhalbjährige das Te- was Eltern süß und toll finden, möch- Um Antworten auf diese Fragen zu fin- lefonat indem sie die Flasche zufrieden ten sie in die Welt hinausschreien“, den, darauf zielt die Kampagne des in den Sand fallen lässt. Mama Sarah erklärt Pohle, gibt aber zu bedenken: Deutschen Kinderhilfswerks: „Medien lacht kopfschüttelnd, hebt die Flasche „Die Eltern wissen nicht, wo ein Foto wirken. Ein Leben lang.“ Die Kampa- aus dem Sand auf, klopft sie ab und irgendwann mal auftauchen kann. Das gne soll Eltern dazu sensibilisieren, packt sie in ihre Tasche. Seit sie wieder kann für die Kinder sehr unangenehm ihre Kinder von Anfang an bei der Me- arbeite, klingle auch das Handy wieder werden.“ Eltern müssten sich bei ihren diennutzung zu begleiten und ihre öfter, auch mal nach Feierabend. „Und Kindern vor dem Veröffentlichen die Kompetenzen aufzubauen. Wann der die Großeltern möchten auch zwi- Erlaubnis einholen. Das gelte auch für richtige Zeitpunkt sei, könne man pau- schendurch skypen, natürlich nur um das Versenden der Bilder über Messen- schal nicht beantworten, da alle Kinder Malia zu sehen.“ ger-Dienste an Freunde oder Verwand- unterschiedlich seien. „Begleiten heißt Digitale Medien sind aus unserem All- te. „Kinder haben das Recht am eige- hier auch nicht Kontrolle oder Ver- tag nicht mehr wegzudenken. „Des- nen Bild – von Anfang an“, bekräftigt bote“, betont Pohle. In der eigenen halb ist es wichtig, dass wir bei der die Medienpädagogin. Bis zu einem Überforderung mit den Medien grif- Mediennutzung mit gutem Beispiel gewissen Alter könnten die Kleinen fen Eltern häufig auf Kontrollmecha- vorangehen und auch die eigene Medi- aber noch gar nicht abschätzen, was es nismen wie z.B. Jugendschutz-Apps ennutzung überdenken“, sagt Pohle. bedeutet, wenn ihre Bilder online ge- oder sogar Tracking-Uhren zurück. Dazu gehöre nicht nur, wie oft Eltern stellt werden. Hier seien die Eltern ge- „Dabei geht es vor allem darum, Ver- in der Gegenwart ihrer Kinder digitale fragt, ganz genau zu überlegen und es trauen zu schaffen und gemeinsam die Medien nutzen, sondern auch, was sie im Zweifel lieber sein zu lassen. Medienwelt zu entdecken“, sagt Pohle. 16 www.der-paritaetische.de 4 | 2019
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