DISPUT - Partei DIE LINKE

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DISPUT - Partei DIE LINKE
DISPUT
                                                           ISSN 0948–2407 | 67485

                                                   Strategiedebatte
MITGLIEDER ZEITSCHRIF T DER PARTEI DIE LINKE
JANUAR 2020 2 EURO                             Jan Korte, Sahra Mirow,
                                               Stefan Hartmann, Katina
                                               Schubert und Amira Moha-
                                               med Ali machen Vorschläge,
                                               wie sich DIE LINKE in
                                               Zukunft aufstellen sollte. 8

                                                 Mietenkampagne
                                               Dreiklang Deckeln, Enteignen
                                               und sozialer Wohnungsbau
                                               – so läuft es mit der bundes-
                                               weiten Mietenkampagne in
                                               Wustermark, Lüneburg und
                                               Hamburg. 14

                                                  Digitalkonferenz
                                               Auf der Digitalkonferenz der
                                               LINKEN wurden die Auswir-
                                               kungen der Digitalisierung
                                               diskutiert und emanzipato-
                                               rische Gestaltungsmöglich-
                                               keiten aufgezeigt 4

Foto: Martin Heinlein
DISPUT - Partei DIE LINKE
INHALT

                                                         habe sie eine große Chance, insbeson-                     Waffen im Wert von 242,8 Millionen
                                                         dere von jungen Menschen gewählt zu                       Euro an die Türkei geliefert. Über
                                                         werden. Sein leidenschaftliches Plädo-                    die deutsche Komplizenschaft ei-
                                                         yer lest ihr auf den Seiten 6 und 7.                      nes Kriegsverbrechens in Rojava
                                                         Sicherlich habt ihr mitbekommen, dass                     berichtet unsere Bundestagsabge-
                                                         am 29. Februar und 1. März 2020 die                       ordnete Helin Evrim Sommer auf
                                                         Strategiekonferenz der LINKEN in Kas-                     den Seiten 24 und 25.
                                                         sel stattfindet. Alle Parteimitglieder                    Wenn ihr diese Ausgabe des DIS-
                                                         sind aufgerufen, sich zu Wort zu mel-                     PUT in euren Händen haltet, ist
                                                         den. Auch im DISPUT führen wir die                        es kurz vor Weihnachten. Nutzt
                                                         Debatte. Ab Seite 8 findet ihr sechs                      diese Tage für zur Entspannung,

    I
         ch habe keine Lust, bei der                     Beiträge zur Strategiedebatte, u. a. von                  zur Sammlung neuer Kräfte und:
         Bundestagswahl 2021 die                         unserer neuen Fraktionsvorsitzenden                       Kommt gut ins neue Jahrzehnt.
         Grünen zu wählen«, schmet-                      Amira Mohamed Ali.
         tert der Satiriker Jean-Philippe                Unsere Partei bewegt eine Menge: 9,1                          Thomas Lohmeier, Leiter Bereich
         Kindler, den ihr vielleicht mit                 Prozent holte Björn Thoroe als Bürger-                        Öffentlichkeitsarbeit
    seiner Poetry-Slam-Performance                       meisterkandidat in Kiel. Ein herausra-
    »Mindestlohn« vom Leipziger Par-                     gendes Ergebnis! Wie er das gemacht
    teitag oder von unserem YouTube-                     hat, erfahrt ihr auf den Seiten 14 und
    Kanal kennt, und schreibt uns ins                    15. Auf den folgenden Seiten berichten                                  DISPUT 1/2020
    Stammbuch: Wenn DIE LINKE es                         wir über tolle Kreisverbandsaktionen
    schafft, »jene Mythen der Unverein-                  im Rahmen unserer Mietenkampagne.
    barkeit von radikalem Klimaschutz                    Trotz der Militärinvasion gegen Afrin                                      VOR-GELESEN VON
    und Sozialpolitik zu überwinden«,                    hat die Bundesregierung 2018 noch                                         THOMAS  -GELESEN
                                                                                                                                        VORLOHMEIER
                                                                                                                                            VON ???

DIGITALKONFERENZ                                                                                                   INTERNATIONAL
Eindrücke von der ersten                                                                                           Die Umbrüche in Lateinamerika
Digitalkonferenz der LINKEN 3                                                                                      sind auch eine Herausforderung
                                                                                                                   für die deutsche Linke 22
AUSBLICK
Jean-Philippe Kindler wünscht sich                                                                                 INTERNATIONAL
für 2020, wieder DIE LINKE wählen                                                                                  Helin Evrim Sommer über die
zu können 6                                                                                                        deutsche Beteiligung am Krieg
                                                                                                                   in Syrien 24
STR ATEGIEDEBAT TE
Neue Beiträge zur                                                                                                  GESCHICHTE
Strategiedebatte 8                                                                                                Die blutigste Demonstration der
                                                                                                                  deutschen Geschichte fand vor
OB - WAHL                                                                                                         100 Jahren statt 28
Björn Thoroe spricht im Interview
über seinen erfolgreichen                                   JEDEN MONAT
Wahlkampf in Kiel 14                                        AUS DEM HAUS 5
                                                            FEUILLE TON 19
MIE TENK AMPAGNE                                            PRES SEDIENST 26
Update aus Hamburg, Lüneburg                                DAS KLEINE BL ABL A 27
und Wustermark 16                                           NEU IM KINO 29
                                                            KULTUR 30
AFD - PAR TEITAG                                            JANUARKOLUMNE 31
Zwischen Rechtsruck und
Regierungsverantwortung 20                                                                                         Foto: Julien Then

IMPRESSUM DISPUT ist die Mitgliederzeitschrift der Partei DIE LINKE, herausgegeben vom Parteivorstand, und erscheint einmal monatlich über Neue Zeitungsverwaltung GmbH,
Weydingerstraße 14–16, 10178 Berlin REDAKTION Nina Rink, Kleine Alexanderstraße 28, 10178 Berlin, Telefon: 030 24009346, disput@die-linke.de
GRAFIK UND LAYOUT Herbell, Berlin DRUCK EVERSFRANK BERLIN GmbH | Ballinstraße 15 | Postfach 470355 | 12359 Berlin ABOSERVICE Neues Deutschland, Druckerei
und Verlag GmbH, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin, Telefon: (030) 29 78 18 00 ISSN 0948-2407
REDAKTIONSSCHLUSS HEFT 01/2020: 13. Dezember 2019. DISPUT 02/2020 erscheint am 30. Januar 2020.

2                                                                                                                                                DISPUT Januar 2020
DISPUT - Partei DIE LINKE
DIGITALKONFERENZ

Digital und emanzipatorisch
Unter dem Titel »(K)eine automatische Revolution« hat DIE LINKE ihre erste Konferenz zu
Digitalisierung und sozialer Gerechtigkeit ausgerichtet VON NINA RINK

                                        »Gibt es überhaupt einen neu-

N
        icht nur weil es draußen grau   en digitalen Kapitalismus?«               und nicht nur den Reichtum und die
        und nasskalt ist, beginnt der   Diese und andere Fragen dis-              Kontrolle weniger stärkt.« Dazu soll-
        Tag mit einem Warm-Up. Ge-      kutierten Nina Scholz, Bernd              ten in Workshops, aber auch auf Po-
nauer: Einem digitalen Warm-Up zur      Riexinger und Evgeny Morozov              dien Lösungen zusammengetragen
Einstimmung und Erklärung wichti-                                                 und Standpunkte weiterentwickelt
ger Begriffe, die im Laufe des Tages                                              werden.
noch fallen werden. Katalin Genn-       Welt zu reproduzieren, ist Aufgabe ei-       Politiker*innen, IT-Spezialist*in-
burg, Sprecherin für Smart City         ner sozialistischen Partei.«              nen, Aktivist*innen, Gewerkschaf-
der Linksfraktion Berlin hat Elisa-        Diese Konferenz am 7. Dezember         ter*innen und Wissenschaftler*innen
beth Calderon-Luening von der For-      2019 ist die erste der Partei DIE LIN-    kamen in acht Slots zusammen. Im
schungsgruppe »Ungleichheit und         KE, die sich intensiv mit dem The-        Workshop »Welchen Sozialstaat brau-
digitale Souveränität« an der Uni-      ma Digitalisierung auseinandersetzt.      chen wir für den digitalen Wandel«
versität der Künste und Walter Pal-     Im Ankündigungstext heißt es: »Der        wurden in Kleingruppen konkrete
metshofer, Projektleiter der Open       technische Fortschritt und die Fol-       Kriterien festgehalten, während bei
Knowledge Foundation, eingeladen,       gen der Digitalisierung stellen uns       »Demokratie- und Eigentumsfrage
um über einige Buzzwords im Zusam-      alle vor neue Herausforderungen,          stellen: sozial-ökologische Transfor-
menhang mit Digitalisierung und so-     manche davon können wir heute nur         mation der Wirtschaft und Digitali-
zialer Gerechtigkeit zu fachsimpeln.    erahnen. Umso wichtiger, dass DIE         sierung« im ersten Teil analysiert und
Gennburg lässt schon in der ersten      LINKE Antworten parat hat, wie wir        im zweiten Teil nach Umsetzungs-
Veranstaltung anklingen, worum es       auf diese Herausforderungen reagie-       möglichkeiten gesucht wurde. Auch
heute gehen wird: »Scheiße aus der      ren sollten, damit die Vorteile der Di-   die kritische Auseinandersetzung
analogen Welt nicht in der digitalen    gitalisierung allen zu Gute kommen        mit gefährlichen Aspekten digitaler

DISPUT Januar 2020                                                                                                    3
DISPUT - Partei DIE LINKE
DIGITALKONFERENZ

                                         Die Teilnehmer*innen er-
Technologie spielte eine Rolle, so im    arbeiteten in Kleingruppen                ping, Anke-Domscheit-Berg und Kata-
Workshop »Digitale Macht«, der die       konkrete Anforderungen an                 lin Gennburg. »Viel zu zahm« sei dies
Entwicklungen in China und die neu       den Sozialstaat im Digitalen              angesichts der real bereits viel wei-
entstandenen Kontrollmöglichkeiten       Zeitalter                                 ter fortgeschrittenen Klassenkämp-
für autoritäre Staaten unter die Lupe    Foto: Martin Heinlein                     fe rund um Tech-Konzerne wie Ama-
nahm. Im Workshop »Digitale Gewalt                                                 zon oder Deliveroo. Bernd Riexinger
gegen Frauen« wurde ebenfalls deut-      rich und Benjamin. Das Match sorgte       erklärte, »öffentliche Kontrolle und
lich, dass zum Beispiel sexualisierte    für kurzweilige Unterhaltung – und        Demokratisierung stärker in den Fo-
Gewalt durch technologische Innova-      zeigte auch, dass noch viel Entwick-      kus unserer Politik« stellen zu wol-
tionen eine neue Dimension bekom-        lungsarbeit nötig ist, bis ein Roboter-   len und nannte es eine »LINKE Dau-
men hat – und sie mit klassischen        Team die menschliche Weltmeister-         eraufgabe«, zu überlegen, wie neue
Mitteln polizeilicher Ermittlungen       Elf besiegen können wird.                 Entwicklungen sich zuerst am Wohle
und strafrechtlicher Verfolgung noch        Den offiziellen Abschluss des Ta-      der Menschen ausrichten ließen. Das
schwieriger als bisher zu bekämpfen      ges bildete das Podium »Digitaler         hätte auch als Fazit dienen können –
ist. Austausch, Vernetzung und Ge-       Klassenkampf – Die Zukunft des di-        Einigkeit herrschte bei den meisten
genstrategien waren Teil der Arbeits-    gitalen Kapitalismus und Perspek-         der rund 250 Teilnehmer*innen da-
gruppen. Auch die Auswirkungen di-       tive des neuen Sozialismus«. Sabine       rin, dass die Konferenz erst der An-
gitaler Technologie auf viele andere     Nuss moderierte die Diskussion mit        fang der dauerhaften Auseinander-
Lebensbereiche wurden untersucht         Bernd Riexinger, Parteivorsitzender       setzung mit dem Thema war.
und Gestaltungsmöglichkeiten disku-      der LINKEN, Politikwissenschaftlerin
tiert: Ob Bildung und Wissenschaft,      und Autorin Nina Scholz und dem aus
Gesundheit, Arbeit, Medien und Öf-       Mailand unter abenteuerlichen tech-
fentlichkeit oder ländlicher Raum.       nischen Bedingungen zugeschalteten
    Ein Highlight war das Roboter-       Publizisten Evgeny Morozov. Dieser                                     INFO
Fußballspiel des »RoboCup«-Teams         erläuterte zu Beginn, warum es jen-
der Humboldt-Universität in der Mit-     seits der Regulierung großer Plattfor-      Auf www.die-linke.de/
tagspause. Das rote »Team« konnte        men und Tech-Unternehmen vor al-            digitalkonferenz2019 werden
drei Tore gegen Blau erzielen. Der       lem um soziale Transformation gehen         in den kommenden Wochen
Torjubel fiel allerdings aus – die Ro-   müsse. »Ich bin froh, dass die Klassen-     Audio- und Video-Mitschnitte
boter sind nicht intelligent genug, um   kämpfe zurück sind«, konstatierte Ni-       der Impulsreferate, Workshops
zu merken, wann sie ein Tor geschos-     na Scholz und kritisierte das kürzlich      und Podien online gestellt.
sen haben, erklärten die Informatik-     veröffentliche Papier zu demokrati-
studenten und Roboter-Trainer Hein-      scher Digitalisierung von Katja Kip-

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DISPUT - Partei DIE LINKE
AUS DEM HAUS

I
      m Januar 2020 wird das Hartz-                                               Möglichkeit, eine vielfältige Erwerbs-
      IV-Gesetz 15 Jahre alt – für                                                biografie zu haben, kann positiv sein.
      uns kein Grund zum Feiern. Ein                                              Unterschiedliche Lebensphasen bie-
      Grund, Revue passieren zu las-                                              ten unterschiedlich viel Raum für Er-
      sen, dass Hartz IV kein rot-grü-                                            werbsarbeit – wer Kinder hat, will
ner Betriebsunfall war, sondern neo-                                              sich vielleicht mehr Zeit für sie neh-
liberales Programm: »Wir werden                                                   men. Manche Menschen haben einige
soziale Leistungen kürzen«, hatte                                                 intensive Berufsjahre hinter sich und
Bundeskanzler Schröder die Reform                                                 möchten kürzer treten. Mancherorts
begründet, um die Wirtschaft anzu-                                                schließen Firmen und die Beschäftig-
kurbeln. Zugleich sollte mit Verfol-                                              ten brauchen eine Weile, etwas Pas-
gungsbetreuung – Neusprech: »för-                   JÖRG SCHINDLER                sendes zu finden. Die Gründe sind
dern und fordern« – den Betroffenen                                               vielfältig – keiner von Ihnen darf dazu
buchstäblich jede Würde genom-                                                    führen, dass ökonomische und sozia-
men werden. »Wie ein Penner« wer-                     Kämpfen                     le Teilhabe nicht mehr möglich ist.
de er vom Jobcenter behandelt, be-                    für einen                   Hier müssen wir Neues schaffen. Ein
schwerte sich ein älterer Betroffe-                                               Sozialstaat, der es ermöglicht, dass
ner mir gegenüber. Löhne senken,                 Sozialstaat der                  die Arbeit zum Leben passt. Solidari-
Profit erhöhen, dann ginge es allen                     Zukunft                   sche Umlagesysteme, finanziert da-
gut. DIE LINKE ist im Kampf gegen                                                 durch, dass alle Einkommensarten
Hartz IV entstanden und gewach-                                                   beteiligt werden, müssen eine unkom-
sen. Wir haben gegen die damali-                                                  plizierte Mindest- und Lebensstan-
ge Allparteien-Koalition gestanden.                                               dardsicherung sicherstellen.
Und die Geschichte hat uns recht         nes leistet, gehört gut bezahlt. Wir     Der zweite Punkt, der debattiert wur-
gegeben: Wir haben Hartz IV de-          möchten Hartz IV nach vorn auflö-        de, macht deutlich, dass wir auch für
legitimiert und die Sanktionen be-       sen: Unser Sozialstaat kennt nicht       Altes kämpfen müssen. Arbeitsrech-
kämpft.                                  mehr die Angst, von gesellschaft-        te und Tarifbindung sind der beste
Heute ist Anlass, grundlegend über       licher Teilhabe ausgeschlossen zu        Schutz vor prekärer Arbeit. Hier dür-
den Sozialstaat zu sprechen – einen      werden.                                  fen wir nicht zulassen, dass Unter-
neuen Sozialstaat. Wie sieht der So-     Wir wollen nicht einfach nur etwas       nehmen die Rechte von Beschäftigten
zialstaat der Zukunft aus? Kann er       Vergangenes zurück. Der Sozialstaat      aushöhlen. Der Kampf für diese alten
in einer digitalen und automatisier-     der Nachkriegszeit war auf erwart-       Konzepte wird sich auch in Zukunft
ten Welt bestehen? Um einen star-        bare Berufsbiografien ausgelegt. Er      lohnen. Denn auch zukünftige Kämpfe
ken Sozialstaat zu entwickeln, müs-      ging oftmals von Einkommensver-          um eine gerechtere Gesellschaftsord-
sen wir klar benennen, was dieser        hältnissen aus, bei denen ein Ein-       nung werden von solidarischen Orga-
für uns als demokratische Sozialis-      kommen eine ganze Familie versor-        nisationsformen Erwerbstätiger stark
ten leisten soll. Es geht dabei um       gen könnte und musste. Unser neu-        profitieren.
mehr als einen löchrigen Schutz vor      er Sozialstaat muss und wird diese
extremer Armut.                          Abhängigkeiten kappen und die Frei-         Jörg Schindler ist Bundesgeschäfts-
Unser Leitbild ist Schutz vor Angst:     heit der Lebensentwürfe ermögli-            führer der LINKEN
dem Schutz davor, dass gesell-           chen.
schaftliche Teilhabe unmöglich wird,     An dieser Stelle bietet die Digitali-
weil ein Mensch, in einer bestimm-       sierungskonferenz vom vergangenen        Fotos: Mark Mühlhaus/attenzione,
ten Lebenslage, nicht den kapita-        Dezember Inspiration. In den Debat-      DIE LINKE
listischen Leistungsansprüchen ge-       ten wurde deutlich: Erwerbsbiogra-
nügt. Unserem Sozialstaat liegt die      fien sind nicht mehr linear und die
Idee zugrunde, die Angst vor Armut       Beschäftigungsverhältnisse finden
und Isolation, die uns im kapitalis-     über Freiberuflichkeit und Plattform-
tischen System in die Lohnarbeit         arbeit in der Peripherie des alten So-
zwingt, zu überwinden.                   zialstaatskonzeptes statt. In den De-
Das heißt nicht, dass Arbeit sich        batten um neue Arbeitswelten zeig-
nicht lohnen sollte. Wer Großes,         te sich, warum wir für Neues und
Kleines, Mühseliges und Schö-            für Altes kämpfen wollen. Denn die

DISPUT Januar 2020                                                                                                         5
DISPUT - Partei DIE LINKE
AUSBLICK

D
             ie Wahrheit ist: Ich ha-                                  arbeit beider Parteien an meinen al-
             be bei der Bundestags-                                    ten Schulfreund Louis, der bei Face-
             wahl 2021 keine Lust,                                     book regelmäßig so etwas postete wie
             die Grünen wählen zu                                      »Manchmal läuft auch wirklich AL-
             müssen, weil sich die                                     LES gegen einen« und dann auf nach-
Partei, bei der ich eigentlich über-                                   fragende Anteilnahme in den Kom-
zeugtes Mitglied bin, ignorant wei-                                    mentarspalten mit den Worten »Ach,
gert, ihre klimapolitische Konzept-                                    ist egal« reagierte. Was muss inner-
losigkeit zu überwinden. Ich weiß,                                     halb der LINKEN passieren, damit
ich weiß, die Antwort liegt euch al-                                   man möglichst wenig wie Louis ist?
len schon auf der Zunge: »Aber wir
machen doch eigentlich grünere Po-
litik als die Grünen, es weiß nur nie-                                 Konservative Mythen
mand!« Leute, beim besten Willen. Es
ist wirklich höchste Zeit, diese Selbst-
beweihräucherung zu beenden. Vor
                                              Ich will                 radikal entzaubern
                                                                       Das radikaler Klimaschutz sozia-
allem, weil das einfach nicht stimmt.                                  le Strukturen aufspaltet, sich gegen
Klar, wir können jetzt alle noch hun-                                  Gewerkschaftsarbeit richtet und am
dertmal auf das Parteiprogramm                                         ehesten die Armen unserer Gesell-
der LINKEN verweisen, um zu un-
terstreichen, dass wir wirklich wirk-
lich wirklich mehr Windkraftanla-
                                                  DIE                  schaft belastet, ist ein konservatives
                                                                       Märchen, welches einige Linke der-
                                                                       artig akkurat nachplappern, als wä-
gen aufstellen wollen als die Grü-                                     re die komplette klimapolitische Ei-
nen, aber es ist nun mal so, dass sich                                 geninitiative in der oralen Phase ste-
niemand für Parteiprogramme inte-
ressiert. Wofür sich vor allem junge
Leute eher interessieren, sind Reak-
                                               LINKE                   ckengeblieben. Wie Naomi Klein in
                                                                       der Dezemberausgabe der »Blätter
                                                                       für deutsche und internationale Poli-
tionen auf ein Klimapaket der Bun-                                     tik« richtigerweise betont, zwingt das
desregierung, welches wirklich lä-                                     Konzept des Green New Deal die Men-

                                              wählen
cherlicher kaum sein könnte. Und da                                    schen eben nicht, »sich zwischen der
hat es DIE LINKE wieder einmal ver-                                    Sorge um das Ende der Welt und der
passt, sich klar zu positionieren. Der                                 um das Monatsende zu entscheiden«.
Aufschrei kam wieder einmal in ers-                                    Nehmen wir das viel zitierte Beispiel
ter Linie von den Grünen. Das Ziel für                                 der Arbeiter*innen in der Kohlein-
2020 ist aus meiner Sicht aber ganz                                    dustrie: Längst hat die Union den ste-
klar die Konstituierung eines rot-rot-
grünen Lagers, welches sich scharf
vom konservativen Parteienspekt-
                                             können                    reotypen Kohlearbeiter aus der Lau-
                                                                       sitz zu einer politischen Figur hochge-
                                                                       jazzt, die DRAUF UND DRAN ist, sich
rum unterscheidet. Die SPD hat sich,                                   in seine gelbe Weste zu werfen, um
so scheint es zumindest zum gegen-                                     in Cottbus mal schön ein paar Klein-
wärtigen Zeitpunkt, bereits auf den        VON JEAN-PHILIPPE KINDLER   wagen anzuzünden. Und diese Chi-
richtigen Kurs gebracht, so bestätig-                                  märe hat man geglaubt, obwohl die
te der neue SPD-Vorsitzende Norbert                                    Entstehung der Gelbwestenproteste
Walter-Borjans doch genau dieses                                       in Frankreich unter völlig anderen
Vorhaben im »Aufwachen«-Podcast                                        sozialen Bedingungen stattfand, die
mit der Aussage, alles für einen La-                                   in Deutschland keinesfalls gegeben
gerwahlkampf tun zu wollen. Damit                                      sind. Und der Feind ist auch schnell
dies gelingt, müssen DIE LINKE und                                     ausgemacht: Die »Fridays for Future«-
die SPD allerdings ihre Klimakonzep-                                   Aktivistin, die mit ihrer Radikalität
te überarbeiten, vor allem in puncto                                   das soziale Wohl eben jenes Kohlear-
Wähler*innenbindung. Denn zum ge-                                      beiters gefährdet. Zwei Anmerkun-
genwärtigen Zeitpunkt erinnert mich                                    gen: Erstens: Die Union interessiert
die klimapolitische Öffentlichkeits-                                   sich natürlich nicht wirklich für das

6                                                                                            DISPUT Januar 2020
DISPUT - Partei DIE LINKE
Wohl der Kohlearbeiter*innen. Zwei-       Linke*r natürlich die Aufgabe, (un-)    Niemand verlangt,
tens: Umweltaktivist*innen dafür          freundlich darauf hinzuweisen, dass
verantwortlich zu machen, dass Leu-       bei 40 Prozent der Deutschen am En-     sozialpolitische
te durch klimapolitische Umstruk-         de des Monats kein Geld für Konsum-     Schwerpunktthemen
turierungsprozesse ihren Job verlie-      sucht übrig bleibt, weil die Miete zu
ren, ist ungefähr so, wie wenn ich        hoch ist. Wer außer die LINKE könn-
                                                                                  aufzugeben
den Mann verprügele, mit dem mei-         te effektiver darauf hinweisen, dass
ne Freundin geschlafen hat, obwohl        eine ethisch und moralisch korrekte     Es ist nämlich so: Wenn man sich klug
der nicht mal wusste, dass meine          Ernährung immer noch ein Luxusgut       anstellt, kann man die klimapolitische
Freundin vergeben ist, was sie auch       ist und nicht etwa einer demokrati-     Sensibilisierung der Gesellschaft auch
nicht war, weil ich sie vorher bereits    sierten Geisteshaltung entspricht,      dafür nutzen, um die ein oder ande-
betrogen habe. Klimaschutz und So-        für die sich jede*r, unabhängig vom     re soziale Transformation anzustoßen,
zialpolitik stehen sich nur innerhalb     Einkommen, einfach so entscheiden       die bisher tabuisiert scheint. Neolibe-
solcher Gesellschaftsformen diamet-       kann, nur weil Fans irgendwelcher       rale Denkangebote geraten durch die
ral gegenüber, in denen strukturpo-       Instagram-Blogger*innen der virtuel-    anhaltenden Umweltproteste zuneh-
litische Versäumnisse im großen Sti-      le Unterleib flattert, wenn man ihnen   mend unter Druck – wenn man es als
le auf die Schultern der arbeitenden      vorführt, dass »diese neue Fairtrade-   LINKE schafft, sich mit diesen Protes-
Bevölkerung übertragen wird, um           Unterwäsche wirklich von Tag zu Tag     ten zu solidarisieren, so verbessert
Argumente gegen eine Klimapolitik         glücklicher macht«.                     man automatisch auch seine sozialpo-
herbeizuzaubern, die wir JETZT brau-                                              litische Verhandlungsposition. Denn
chen, damit wir den Karren nicht                                                  wenn die Klimabewegung erst einmal
völlig an die Wand fahren. Deutsch-                                               entlarvt hat, dass der Markt eben nicht
land hat nämlich genug Geld, um                                                   alles zum Wohle aller regelt, so kann
Arbeiter*innen, die von klimapoliti-                                              man aus einer umweltpolitischen Per-
schen Maßnahmen betroffen wären,                                                  spektive heraus beispielsweise viel ef-
würdig abzusichern. Genau aus die-                                                fektiver die gegenwärtige Wohnungs-
sem Grund ist es leider peinlich, dass                                            politik kritisieren. Das ist übrigens ne-
linke Politiker*innen nicht ebenso                                                ben Klimaschutz der zweitwichtigste
lautstark auf die Barrikaden gingen,                                              Fokus des Jahres 2020 – denn seit 2011
wie ihre Kolleg*innen aus der grü-        Die viel zu leise Kritik                haben die Preissteigerungen deutsche
nen Mitte. Denn mit einer vernünfti-      aus der LINKEN beweist                  Immobilienbesitzer um drei Billionen
gen CO2-Steuer, die eine tatsächliche                                             Euro reicher gemacht. Die AfD beginnt
Lenkungswirkung entfaltet, hätte          die klimapolitische                     jetzt schon, dieses Thema für sich zu
man ein klimapolitisches Instrument       Verdrossenheit einer                    beanspruchen, die LINKE sollte also
schaffen können, welches durch-           Partei, dessen wichtige                 schleunigst an die jüngsten Erfolge in
aus sozialverträglich hätte sein kön-                                             Berlin anknüpfen, ohne dabei auf den
nen. Dafür hätte sie aber bei 40 Euro     Skepsis gegenüber grüner                Schulterschluss mit grüner Politik zu
pro Kilogramm CO2 einsteigen müs-         Politik zu einer lethargi-              verzichten.
sen. Die viel zu leise Kritik aus der                                                 Wenn die LINKE es schafft, partei-
LINKEN beweist die klimapolitische        schen Verweigerungs-                    intern jene Mythen der Unvereinbar-
Verdrossenheit einer Partei, dessen       haltung mutierte.                       keit von radikalem Klimaschutz und
wichtige Skepsis gegenüber grüner                                                 Sozialpolitik zu überwinden, so hat
Politik zu einer lethargischen Ver-                                               man die große Chance, vor allem von
weigerungshaltung mutierte. Denn                                                  jüngeren Wähler*innen wieder ernst
natürlich ist es wichtig, grüne Politik                                           genommen zu werden. Und vor allem
ideologiekritisch auf elitaristische                                              ermöglicht man dadurch eventuell
Fehlbildungen abzutasten, oder an-                                                2021 einen rot-rot-grünen Wahlaus-
ders gesagt: Wenn auf der »Fridays                                                gang, den man maßgeblich mit klu-
for Future«-Demonstration die Stu-                                                gen, linken Ideen herbeigeführt hat.
dentin verkündet, dass man all die
Konsumsüchtigen zu verurteilen hat,                                                  Jean-Philippe Kindler ist Satiriker
die am »Black Friday« auf Schnäpp-                                                   und derzeit mit seinem Programm
chenjagd gehen, dann hat man als                                                     »Mensch ärgere dich nicht« auf Tour

DISPUT Januar 2020                                                                                                         7
DISPUT - Partei DIE LINKE
STR ATEGIEDEBAT TE

Die Diskussion um künftige Herausforderungen und
die Strategie der LINKEN ist eröffnet. Auf den folgenden
Seiten: neue Beiträge von Sahra Mirow, Amira Mohamed
Ali, Jan Korte, Stefan Hartmann, Bettina Gutperl und
Katina Schubert.

                                         onen zwischen Partei- und Fraktions-        tik und Wohlfühlparolen zelebrieren
Zusammenbringen,                         spitze ist eine ehrliche Evaluation nö-     will, geht zu den Grünen. Darum ist es
was zusammen                             tig, wie wir miteinander arbeiten und
                                         reden wollen. Schließlich gilt es, ein
                                                                                     wichtig zu erkennen, was uns verbin-
                                                                                     det, statt nach innen und außen aus-
gehört                                   Projekt zu verteidigen.                     zugrenzen.
                                             Wer in DIE LINKE kommt, hat ei-             Mich erschreckt, wie vermeintli-
VON SAHRA MIROW                          nige Überlegungen angestellt. Schließ-      che Grenzen zwischen Gruppen gezo-
                                         lich geht es um die Entwicklung von         gen werden. Ich bin in Heidelberg ak-
Diese Strategiedebatte kommt zur         Alternativen zu einem Wirtschafts-          tiv, in einer Stadt mit 36.000 Studie-
richtigen Zeit, denn wir brauchen sie.   und Gesellschaftssystem, das Men-           renden. Unser Ortsvorstand besteht
   Nach unbefriedigenden Wahler-         schen ihrer elementaren Menschen-           mehrheitlich aus jungen Leuten, die
gebnissen (ausgenommen Thüringen         rechte beraubt. Wir gehen an die Wur-       sich in der Pflegekampagne, bei un-
und Bremen) und diversen Diskussi-       zel. Wer tatsächlich »Life-Style«-Poli-     serer landesweiten Weihnachtsaktion
                                                                                     für Beschäftigte im Einzelhandel, in
                                                             Foto: Martin Heinlein
                                                                                     der Seebrücke und vielem mehr en-
                                                                                     gagieren. Viele von ihnen studieren,
                                                                                     trinken auch mal gerne einen Latte
                                                                                     Macchiato und engagieren sich in so-
                                                                                     zialen Projekten, zum Beispiel bei un-
                                                                                     seren Aktionen vor dem Jobcenter.
                                                                                     Wir haben Langzeiterwerbslose, die
                                                                                     Jahren in der Geflüchtetenhilfe arbei-
                                                                                     ten. Sie alle sind DIE LINKE. Wer be-
                                                                                     hauptet, wir wären zu wenig sozial,
                                                                                     verkennt diese Realität vor Ort.
                                                                                         Wenn wir unser soziales Engage-
                                                                                     ment um die Ökologie erweitern, ist
                                                                                     das auch keine Reduktion des Sozia-
                                                                                     len, sondern eine überfällige Zusam-
                                                                                     menführung. Auch hier dürfen wir
                                                                                     nicht trennen, was zusammengehört.
                                                                                         Vielmehr müssen wir Brücken
                                                                                     schlagen. Brücken zwischen unse-
                                                                                     ren Mitstreiter*innen, aber auch zwi-
                                                                                     schen unseren Wählerinnen und Wäh-
                                                                                     lern. DIE LINKE bringt verschiede-
                                                                                     ne Milieus wie Erwerbslose und pre-
                                                                                     kär beschäftigte Akademiker*innen

8                                                                                                         DISPUT Januar 2020
DISPUT - Partei DIE LINKE
schließlich nicht nur an der Wahlur-       KEN wird in der Post-Merkel-Ära die
ne zusammen, sondern auch in der           dringend notwendige soziale und
Partei selbst.                             ökologische Wende eine Chance ha-
    Eine verbindende Partei braucht        ben. Wir müssen schnell klären, wa-
neue, verbindende Strukturen. Seit         rum das steigende gesellschaftli-
2017 verbuchen wir in Baden-Würt-          che Bedürfnis nach einer sozialeren        »Wir müssen denjenigen,
temberg viele Neuzugänge und oh-           Politik bisher bundesweit bei uns          die von allen anderen im Stich
ne diesen Zulauf hätten wir bei der        nicht zu steigenden Stimmenantei-          gelassen werden, zeigen, dass es
letzten Bundestagwahl keine 6,4 Pro-       len führt, obwohl von unseren For-         in unserer Politik um sie geht.«
zent geholt. Wie also stellen wir uns      derungen Arbeitnehmer*innen und
künftig auf und welche Angebote            Rentner*innen mit niedrigen und
wollen wir entwickeln? Feministische       mittleren Einkommen sowie Arbeits-         Kasse gebeten werden. Wir stehen für
Stammtische, kleinteiligere Arbeits-       lose am meisten profitieren würden.        massive öffentliche Investitionen und
strukturen in Projekten, gemeinsame        Dafür ist entscheidend, dass wir so-       sozialen Klimaschutz. Das muss eben-
kulturelle Projekte – das alles kön-       wohl in unseren internen Debatten          so unser Markenzeichen sein wie die
nen Beiträge für eine moderne Partei-      als auch in der Kommunikation nach         Friedenspolitik. Hier muss sich DIE
arbeit sein.                               außen die Solidarität leben und aus-       LINKE weiter konsequent gegen Aus-
    Das und vieles andere müssen wir       strahlen, die wir uns für unsere Gesell-   landseinsätze der Bundeswehr, Rüs-
diskutieren – gemeinsam, inklusiv          schaft wünschen. Es ist unsere Verant-     tungsexporte und den neuen Kalten
und auf Augenhöhe.                         wortung, unsere klassischen Zielgrup-      Krieg mit Russland einsetzen. Auch
                                           pen wieder zu erreichen und in noch        müssen wir die sozialen Folgen der
   Sahra Mirow ist Landessprecherin        breiteren Teilen der Bevölkerung als       Hochrüstungspolitik benennen. Im
   der LINKEN Baden-Württemberg            glaubwürdige und unterstützenswer-         Haushalt ist die Rüstungsquote inzwi-
   sowie Stadträtin und Fraktions-         te politische Kraft wahrgenommen           schen höher als die Investitionsquote!
   vorsitzende im Gemeinderat              und angenommen zu werden. Denn                Es gilt, gesellschaftliche Bündnis-
   Heidelberg                              DIE LINKE macht Politik für die gro-       se zu organisieren, um gemeinsam
                                           ße Mehrheit der Bevölkerung.               mit der Friedensbewegung, Gewerk-
                                               Wir müssen konsequent unseren          schaften und sozialen Initiativen ge-
In den Zeiten der                          Kern nach vorne stellen. Wir stellen
                                           als einzige Partei die Machtverhältnis-
                                                                                      gen diese verantwortungslose Politik
                                                                                      vorzugehen, die auch von einer Mehr-
Krise                                      se infrage und legen uns mit den Su-       heit der Bevölkerung abgelehnt wird.
                                           perreichen an – zum Wohle der Allge-       Ob es gelingt, dieser Mehrheit eine
VON AMIRA MOHAMED ALI                      meinheit. DIE LINKE will eine Umver-       Stimme zu geben, liegt nicht zuletzt
                                           teilung von oben nach unten. Nur wir       an uns. Es wäre ein Fortschritt, soll-
Die Ära Merkel und der Großen Koa-         fordern eine angemessene Vermögen-         te sich die SPD mit ihrer neuen Füh-
lition als schwarz-rotes Bündnis geht      steuer, die Multimillionäre zur Kasse      rung endlich wieder auf ihre sozialde-
zu Ende. Der damit verbundene Um-          bittet. Nur wir fordern konsequent,        mokratischen Wurzeln besinnen und
bruch wird in einem verunsicherten         dass Kernaufgaben der öffentlichen         in diesen Kampf einreihen. Es wäre
Land stattfinden, das von den neoli-       Daseinsvorsorge wie Infrastruktur,         aber bekanntlich nicht das erste Mal,
beralen Regierungen in eine katast-        Stromversorgung, Gesundheitsvorsor-        dass die SPD links blinkt und dann ei-
rophale Lage geführt wurde, geprägt        ge, Rentenversicherung vollständig in      nen anderen Kurs einschlägt. Ein gro-
durch eine tiefe soziale Spaltung, stei-   öffentlicher Hand bleiben beziehungs-      ßes Ziel für uns bleibt, die Politik in
gende Altersarmut, eine sich entfal-       weise in diese wieder überführt wer-       Deutschland und Europa insgesamt
tende Strukturkrise in der deutschen       den. DIE LINKE will einen bundes-          nach links zu verschieben. In jedem
Automobil- und Zulieferindustrie, un-      weiten Mietendeckel, die Enteignung        Fall muss klar bleiben: Für uns LINKE
bewältigte Herausforderungen durch         privater Immobilienkonzerne sowie          darf es nicht darum gehen, bloß mitre-
den Klimawandel, eklatante Investiti-      ein ambitioniertes Wohnungsbaupro-         gieren zu wollen. Unsere Rolle ist es,
onsdefizite bei Bildung, Pflege und In-    gramm in öffentlicher Hand. Auch           der Garant für einen wirklichen Poli-
frastruktur – um nur einige Probleme       bei der Frage der Klimagerechtigkeit       tikwechsel zu sein.
grob zu nennen.                            muss unsere Botschaft sein, dass nicht
    Was bedeutet das für DIE LINKE?        – wie im Falle der Bankenkrise – vor          Amira Mohamed Ali ist Vorsitzende
Natürlich müssen wir an Stärke ge-         allem wieder die Menschen mit klei-           der Fraktion DIE LINKE im
winnen. Nur mit einer starken LIN-         nen und mittleren Einkommen zur               Bundestag

DISPUT Januar 2020                                                                                                           9
DISPUT - Partei DIE LINKE
STR ATEGIEDEBAT TE

Niemanden im                             ihrer Situation möchte ich auf zwei
                                         Publikationen hinweisen. Der Publi-
                                                                                  Herausforderungen
Stich lassen                             zist Robert Misik bringt die Lage auf    der LINKEN aus
                                         den Punkt, wenn er schreibt: »Die tra-
VON JAN KORTE                            ditionellen Milieus haben das Gefühl,    sächsischer Sicht
                                         die Angehörigen der urbanen kosmo-
Nach etlichen herben Wahlnieder-         politischen Gruppen blickten auf sie     VON STEFAN HARTMANN
lagen der LINKEN und einem Sink-         und ihren Lebensstil herab. Zur öko-
flug in den Umfragen stagniert un-       nomischen Verunsicherung kommt           Der Parteitag der sächsischen LIN-
sere Partei nach dem Wahlsieg von        eine soziale Verunsicherung, der         KEN im November stand ganz im
Bodo Ramelow und unseren Thürin-         Status ist in doppelter Hinsicht be-     Zeichen der drei Wahlniederlagen
ger Genoss*innen in der Sonntagsfra-     droht.« Der Soziologe Andreas Reck-      des Jahres 2019 bei den Europa-, den
ge bei acht Prozent. Im Gegensatz zu     witz stellt eine »Kulturalisierung der   Kommunal- und den Landtagswah-
den französischen und italienischen      Ungleichheit« fest, wonach der Le-       len. Unser Landesverband steht nicht
Linksparteien, die in der Bedeutungs-    bensstil der neuen Mittelklasse ge-      nur mit diesen Ergebnissen, sondern
losigkeit verschwunden sind, sind wir    sellschaftlich als »wertvolle Lebens-    einer damit eng verbundenen Reihe
(noch) in der Situation, unsere Partei   form« wahrgenommen würde, die            organisationspolitischer Probleme
für die Zukunft aufstellen zu können.    Lebensform der neuen Unterklasse         vor einigen strategischen Fragen.
Wir sollten diese Chance dringend        hingegen als »wertlos und defizitär«         Unsere Verwurzelung auf der
nutzen, wenn wir nicht denselben         – und zwar auch in ihrer Selbstwahr-     kommunal(politisch)en Ebene schwin-
Weg nehmen wollen.                       nehmung.                                 det, es zeigen sich weiße Flecken, die
   Unsere Gesellschaft befindet sich        Für die Arbeit der LINKEN, für die    Altersstruktur unserer Räte in Krei-
in einer gefährlichen Lage. Der Hass     Definition unserer Handlungsfelder       sen, Städten und Gemeinden ist durch
wächst im Netz und auf der Straße,       und unsere Kommunikation halte ich       einen signifikanten Mangel an jün-
die in weiten Teilen faschistische AfD   diese Analysen für grundlegend. Sie      geren Menschen geprägt. Zwei Drit-
trägt ihn bis ins Parlament. Wir müs-    beschreiben die Lücke, die wir zu lan-   tel unserer schrumpfenden Mitglied-
sen analysieren, was in unserer Ge-      ge nicht erkannt haben und unsere        schaft ist im Rentenalter, besonders
sellschaft passiert und wirksam auf      Aufgabe in der Zukunft: Uns wieder       im Raum außerhalb der drei Großstäd-
diese negativen Entwicklungen re-        um sie zu kümmern. Und sie zeigen,       te verlieren wir zunehmend unsere
agieren. Vor welchen Aufgaben wir        dass wir diese Aufgabe nicht auf an-     Stärke, die in der engen Partnerschaft
stehen, kann in diesem Format nur        dere abschieben können, auch nicht       mit zivilgesellschaftlichen Organisati-
skizziert werden. Im Zentrum sollten     auf Bewegungen wie »Fridays for Fu-      onen und Bewegungen bestand.
diejenigen stehen, für die DIE LINKE     ture«, die wichtig und unterstützens-        Diese Probleme haben erhebli-
und ihre Vorgängerinnen gegründet        wert sind, aber keine Lösung für un-     che Auswirkungen. In den 1990er
wurden: Die dort unten, die Erwerbs-     sere Klientel. Wir müssen denjenigen,    Jahren hatte die PDS etwas für eine
losen, die Arbeiter*innen, nach der      die von allen anderen im Stich gelas-    linke Partei in Deutschland eher Un-
Agenda 2010 ergänzt durch Schein-        sen werden, zeigen, dass es in unserer   gewöhnliches geschafft: Sie wandel-
selbstständige, Leiharbeiter*innen,      Politik um sie geht.                     te sich von einer Organisation, die
Ein-Euro-Jobber*innen.                                                            in ihren Beschlüssen (vermeintlich)
   Die linken Erfolge und der gesell-       Jan Korte ist erster Parlamentari-    Wahres und Notwendiges feststellte
schaftliche Fortschritt in den vergan-      scher Geschäftsführer der Fraktion    und verkündete, zu einem anderen
genen Jahren haben für viele von ih-        DIE LINKEN. Ende Januar erscheint     Typ von Partei. Die gesellschaftliche
nen keine Verbesserung gebracht,            zum Thema sein Buch »Die Verant-      Wirklichkeit in ihrer konkreten Wi-
sondern das Gefühl verstärkt, ausge-        wortung der Linken« im Verbrecher     dersprüchlichkeit wurde zur Grund-
grenzt zu werden. Zum Verständnis           Verlag.                               lage ihrer Politik. Ein Beispiel: Es war

So geht                 10. Januar 2020          18. Januar                19. Januar              Ende Januar
es weiter               Einsendeschluss          Regionalkonferenz         Regionalkonferenz       Veröffentlichung
                        Debattenbeiträge         Mecklenburg-              Baden-Württem-          des Kongress
                                                 Vorpommern                berg (Ulm)              readers mit
                                                 (Güstrow)                                         Positionspapieren

10                                                                                                      DISPUT Januar 2020
Foto: Martin Heinlein
                                                                      INFO
nicht das Ergebnis großdenkerischer
Analyse, die Frage von Kleingärten,       Debattenbeiträge zur
                                                                                 Den sozialistischen
Garagen oder Kleinkläranlagen zu ei-
nem typischen Profilierungsfeld von
                                          Anmeldung zur Konferenz:
                                          strategiedebatte.die-linke.de
                                                                                 Kurs halten!
PDS-Politik zu machen, sondern es                                                VON BETTINA GUTPERL
resultierte aus unserer gesellschaft-
lichen Verankerung. Unsere Kompe-                                                Wir leben in stürmischen Zeiten. Da-
tenz als Vertreterin ostdeutscher In-                                            her brauchen wir eine Partei, die Wel-
teressen entsprang nicht einem »Gro-    kutierten Feld der Migrationspolitik     len reiten kann. Die sich von einem
ßen Plan Ost«, sondern konkreter In-    konnten wir mit einer klaren Hal-        autoritärer werdenden Kapitalismus
teressenvertretung.                     tung glänzen. Von den Wähler*innen       und von einer (wieder)erstarkenden
   Schon bei der Europawahl war         wurde sehr deutlich wahrgenommen,        Rechten weder herunterziehen noch
das etwas anders. Mit der aus vor       dass die politischen Auseinanderset-     treiben lässt. Die sich vor der drohen-
allem innerparteilichen taktischen      zungen in der LINKEN eindeutig ent-      den Kulisse nicht selbst zerreißt, son-
Erwägungen erarbeiteten Strategie       schieden wurden. Das hat uns gehol-      dern mit Luxemburg allem zum Trotz
des »Dritten Pols« (die dann im Übri-   fen, Menschen mit einer ebenso kla-      ruft: »Ich lebe am fröhlichsten im
gen auch nur halbgar realisiert wur-    ren Haltung von uns zu überzeugen.       Sturm!«
de) standen wir außerhalb der ent-      Interessenpolitik war dies jedoch lei-      Es kommt darauf an, nicht »nur«
scheidenden Debattenlinie. Mögli-       der noch nicht – der Weg zurück da-      Fragen zu beantworten, sondern auch
cherweise haben wir ja damit auch       hin ist unsere wichtigste strategische   Kräfteverhältnisse und uns selbst zu
in irgendeinem theoretischen Paral-     Aufgabe.                                 verändern. Um einen sozialistischen
leluniversum recht – es interessiert                                             Kurs zu halten, brauchen wir Koordi-
allerdings auch nur dort. Auf dem          Stefan Hartmann ist Landes-           naten.
gesellschaftlich extrem intensiv dis-      vorsitzender der LINKEN in Sachsen       Die LINKE muss organisierend wir-

8. Februar             29. Februar/1. März      März                     15. April               12. bis 14. Juni
Regionalkonferenz      Strategiekonferenz       Verarbeitung der         Veröffentlichung        1. Tagung des
Hessen (Frankfurt      in Kassel                Ergebnisse der           des Leitantrages        7. Parteitages
a. M.)                                          Strategiekonferenz       für den Parteitag
                                                in den Leitantrag
                                                zum Parteitag
DISPUT Januar 2020                                                                                                    11
STR ATEGIEDEBAT TE

ken: Mit einer starken Basis, die neue   und Praxen muss aufgehoben werden,         eignen«, in denen wir als Partei Teil
Mitglieder einbindet, ihre Ideen ernst   denn wir geben uns nicht mit Brotkru-      sind, haben die institutionelle Poli-
nimmt und mit ihnen umsetzt. Partei      men zufrieden, wir bestehen auf Brot       tik massiv unter Druck gesetzt. In
vor Ort zu verankern und Strukturen      UND Rosen – dem guten Leben für die        diesem Zusammenspiel ergeben sich
auf allen Ebenen zu schaffen, ist zen-   Vielen.                                    solche Räume gesellschaftlicher Ver-
tral. DIE LINKE soll ein Ort sein, an                                               änderung. Berlin wird ein Vergabe-
dem Politik von allen gemacht wird,         Bettina Gutperl ist Geschäfts-          gesetz bekommen, das die Tariftreue
nicht nur von »Spezialist*innen« oder       führerin des Studierendenverban-        der Unternehmen für öffentliche Auf-
Stellvertreter*innen, die keine Ah-         des DIE LINKE.SDS und Mitglied          träge vorschreibt und den Vergabe-
nung von unseren Lebensverhältnis-          des Parteivorstandes                    und Landesmindestlohn auf 12,50 Eu-
sen haben. Unser Mitmach-Angebot                                                    ro anhebt. Auch das ist ein Beispiel
darf sich nicht im »Sitzungssozialis-                                               vom Wechselspiel institutioneller Po-
mus« erschöpfen.                         Räume gesell-                              litik und in diesem Fall gewerkschaft-
    Die LINKE muss sich und ande-
re bilden: (Hoch)Schule besteht nur
                                         schaftlicher                               lichem Druck.
                                                                                        Die Frage heißt also nicht Bewe-
noch aus Auswendiglernen und Wie-        Veränderung                                gung oder Regierung. Die strategi-
derkäuen. Lernen für eine bessere                                                   sche Herausforderung heißt für uns:
Welt steht nicht auf dem Stunden-        VON KATINA SCHUBERT                        Aus der Bewegung heraus linke Mehr-
plan. Statt für Frieden und ökologi-                                                heiten organisieren und dabei immer
sche Alternativen wird für Rüstung       In unserer Gesellschaft zeichnen sich      weiter auf die Wechselwirkungen von
und SUVs geforscht. Mit der Weiter-      gegenläufige Entwicklungen ab. Die         Bewegung und Institutionen setzen
gabe und Erneuerung marxistischer        Auseinandersetzung um den Zuzug            und mit ihnen arbeiten. Wir dürfen
Analyse können wir die Welt erklä-       geflüchteter Menschen hat dazu ge-         als Partei Politik nicht an Parlamente
ren, um sie zu verändern. Die Par-       führt, dass der Takt von rechts vor-       und Regierungen delegieren. Das ist
tei muss organische Intellektuelle       gegeben wird und die Union und Tei-        ein anstrengendes Unterfangen, weil
ausbilden, angefangen bei solid und      le der SPD versuchen, den Rechtspo-        Veränderungsprozesse immer auch
SDS. Diese sollen organisieren und       pulisten durch vorauseilenden Gehor-       Gegenstand politischer Aushandlung
Erfahrungen von Menschen mit po-         sam und migrationsfeindliche Politik       und Kompromissbildung zwischen
litischen Ideen verbinden.               zuvor zu kommen. Eine Strategie, die       verschiedenen Akteur*innen und ih-
    DIE LINKE muss das strategische      nachweislich dazu führt, dass die AfD      ren Interessen sind.
Zentrum von Veränderung sein: sie        als Partei und die hinter ihr stehenden        Anderes Beispiel: Wir werden die
muss auf Revolutionäre Realpolitik       gesellschaftlichen Kräfte gestärkt wer-    Klimakrise nicht durch individuel-
orientieren. Greifbar sein, Verbesse-    den. Auf der anderen Seite steht gesell-   le Verzichtsversprechen in den Griff
rungen im Hier und Jetzt durchset-       schaftlicher Aufbruch von progressi-       bekommen, sondern durch tiefe Ein-
zen, mit denen wir Terrain gewinnen,     ven, von linken Leuten, jungen Men-        griffe in kapitalistische Produktions-
um Siege zu erringen auf dem Weg         schen, Mieter*innen, Beschäftigten,        weisen, die Stärkung öffentlicher In-
zum Sozialismus. Es reicht nicht aus,    Migrant*innen und vielen mehr. Sie         frastruktur und sozialen Ausgleich.
in Regierungen zu sitzen. Es braucht     eröffnen Räume, in denen in den letz-      Klimagerechte Mobilität, Energieer-
die Mehrheit der Bevölkerung hinter      ten Jahrzehnten kaum Denkbares jetzt       zeugungen oder Gebäudesanierungen
einem linken Projekt und Druck der       politisch umsetzbar wird.                  dürfen nicht zu sozialem Ausschluss
Bewegung und Gewerkschaft.                   Beispiel Mietendeckel: Er stellt       führen, im Gegenteil. Auch hier wird
    DIE LINKE muss Klasse verbinden      einen tiefen Eingriff in die Verwer-       Politik zu wenig bewerkstelligen,
und Bündnisse schmieden: Eine ge-        tungslogik der Immobilienunter-            wenn die Bewegung den Druck nicht
spaltene Arbeiter*innenklasse ist Nor-   nehmen dar, beschränkt ihr Eigen-          aufrechterhält und konkret umsetzba-
malzustand im Kapitalismus. Aufgabe      tumsrecht im Interesse der Berliner        re Konzepte einfordert.
der LINKEN ist es, diese Spaltung(en),   Mieter*innen. Möglich wurde er, weil           Das auf Bundesebene hinzubekom-
die nur den Herrschenden nutzen, zu      sich Bewegung und institutionelle Po-      men, wird ein langer Weg von Wider-
benennen, um sie zu überwinden. Wir      litik in Gestalt unserer Partei und der    sprüchen, Erfolgen und Rückschrit-
stehen auf den Schultern von histori-    rot-rot-grünen Landesregierung in ei-      ten. Darunter wird gesellschaftlicher
schen Bewegungen, die wir in der LIN-    nen dynamischen Prozess der Gesell-        Fortschritt nicht zu haben sein.
KEN versuchen zu einigen.                schaftsveränderung begeben haben.
    Die Trennung von materiellen und     Die großen Demos, das Volksbegeh-             Katina Schubert ist Landes-
identitätspolitischen Forderungen        ren »Deutsche Wohnen und Co. ent-             vorsitzende der LINKEN Berlin

12                                                                                                         DISPUT Januar 2020
LINKSAK TIV

   Haustürwahlkampf Hamburg
   A
           m 23. Februar 2020 fin-
           den in Hamburg die Bür-
           gerschaftswahlen statt. Die
   Genoss*innen stehen in den Start-
   löchern, um das solidarische Ham-
   burg von morgen zu erkämpfen:
   sozial gerecht, echt demokratisch
   und ökologisch. Wer Lust und In-
   teresse hat, den hohen Norden zu
   besuchen, an Hamburger Haustü-
   ren zu klopfen und damit DIE LIN-
   KE. Hamburg im Wahlkampf zu un-
   terstützen, ist herzlich eingeladen!

   Unter https://www.die-linke.de/wahlkampfhamburg/ könnt ihr euch anmelden, um über Wahlkämpfe, Aktions-
   schwerpunkte und konkrete Aktivitäten informiert zu werden oder euch direkt für Wahlkampfaktionen einzutragen.

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DISPUT Januar 2020                                                                                                  13
OB - WAHL

Wahlerfolg im Norden
BJÖRN THOROE hat in Kiel für das Amt des Oberbürgermeisters kandidiert und
9,1 Prozent geholt. Im Interview erzählt er, wie er das gemacht hat

Erstmal herzlichen Glück-                ben wir ein echtes Ein-Euro-Tagesti-
wunsch zum guten Ergebnis.               cket gefordert, weil der Nahverkehr
Nicht alle kennen sich im Nor-           sehr teuer ist. Langfristig wollen
den aus – erzähl mal, wie ist            wir einen kostenfreien ÖPNV.
die Situation in Kiel?                   Dazu kommt: In den vergangenen
Kiel ist, zumindest in Westdeutsch-      Jahren wurden Schwerpunkte auf
land, die am stärksten sozial pola-      Großprojekte gelegt. Der nun wie-
risierte Stadt. Das heißt, wir haben     dergewählte Oberbürgermeister
Stadtteile, wo sehr viele Menschen       ist gleichzeitig noch Wirtschafts-
mit wenig Geld wohnen und Stadt-         dezernent, das merkt man an sei-
eile, in denen Menschen mit sehr         nem Agieren. Er hat zum Beispiel                        Grafiken: DIE LINKE. Kiel
viel Geld wohnen. Was in Kiel auf        in der Innenstadt einen riesengro-
jeden Fall eine Rolle spielt, ist Woh-   ßen Kanal graben lassen, aber kei-     hatten uns verschiedene Zielgrup-
nungspolitik. Hier, wie in vielen an-    ne Mitarbeiterinnen und Mitarbei-      pen eingerichtet: Menschen in den
deren Städten auch, sind die Mie-        ter, um Schulen zu sanieren.           ärmeren Stadtteilen haben wir mit
ten stark gestiegen in der letzten       Also unsere drei großen Themen-        dem Thema Wohnungspolitik be-
Zeit, Vonovia hat sehr viele Woh-        schwerpunkte waren: Bezahlbarer        spielt. In den studentischen Stadt-
nungen gekauft. Das war auch ein         Wohnraum, Klimanotstand und Ver-       teilen haben wir Klimanotstand
Schwerpunkt unseres Wahlkampf-           kehrspolitik plus unsinnige Pres-      und Verkehrswende gespielt. Auch
es, wir haben zum Beispiel gefor-        tige-Projekte, die nur den oberen      mit durchaus radikalen Themen.
dert, dass Vonovia in ärmeren            zehn Prozent etwas bringen.            Wir haben gesagt, wir wollen die
Stadtteilen nicht einfach moderni-       Wie habt ihr die Leute ange-           Parkplätze verringern, wir wollen
sieren darf, sondern eine Genehmi-       sprochen?                              alle vierspurigen Straßen zweispu-
gung braucht und wir wollten eine        Wir haben viel mehr als sonst über     rig machen und Radfahrer*innen
Kieler Wohnungsbaugesellschaft           Social Media gearbeitet. Ein Drittel   und Fußgänger*innen den Raum
auf den Weg bringen. Und dass bei        unseres Etats ist in Werbung auf       zurückgeben.
Neubauten mindestens 50 Prozent          Facebook und Instagram geflossen.      Und im Offline-Wahlkampf?
Sozialwohnungen sind.                    Wir hatten am Ende eine Reichwei-      Wir haben über 4.000 Aufkleber ge-
Was in Kiel noch eine große Rol-         te von über 40.000, so viele Flyer     druckt, die sind dann in der Stadt
le spielt, ist Verkehrspolitik. Es       kann man gar nicht verteilen. Und      verklebt worden. Und wir hatten
geht zum einen um den Neubau ei-         es hat natürlich den großen Vor-       noch Plakate, 200 Standorte, was
ner Straßenbahn. Zum anderen ha-         teil, dass es zielgerichtet ist. Wir   nicht so richtig viel ist in Kiel, aber
                                                                                gereicht hat, um flächendeckend
                                                                                sichtbar zu sein in der Stadt. Und
                                                                                dann haben wir noch ungefähr
                                                                                15.000 Flyer verteilt. Haustürwahl-
                                                                                kampf haben wir nur in Gaarden
                                                                                gemacht, wo wir auch unser bes-
                                                                                tes Ergebnis hatten, ansonsten ha-
                                                                                ben wir eher Infostände gemacht.
                                                                                Zum Beispiel direkt an der Uni,
                                                                                aber auch zu verschiedenen Zeiten
                                                                                in der Innenstadt, in Gaarden und
                                                                                Mettenhof. Damit haben wir viele
                                                                                Leute angesprochen.
                                                                                Was war wichtiger, Social Me-
                                                                                dia oder direkte Ansprache?
                                                                                Beides war wichtig. Nur so konnten
                                                                                wir die verschiedenen Zielgruppen
                                                                                erreichen. Also einmal die Men-
                                                                                schen in prekären Lagen über das
                                                                                Wohnungsthema, aber auch das
                                                                                studentisch-grüne Milieu.

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Und wenn man ein gutes Ergeb-
nis bekommen will, muss man die
auch beide ansprechen. Das funk-
tioniert auch. Ich würde aber auch
sagen, dass Social Media ausschlag-
gebend war.
Wie seid ihr mit euren Themen
durchgedrungen?
Wohnen geht eigentlich alle an. Für
alle ist es ein Problem, wenn die
Mieten steigen. Bei anderen The-
men ist es kritischer – nicht jedem   Rat, beim Bündnis für bezahlbaren      Ich war überrascht. Der CDU-Kan-
gefällt, dass Parkplätze wegfallen,   Wohnraum. Das war natürlich gut.       didat hat versucht, die Autolobby
Aufmerksamkeit bringt es trotz-       Dazu muss man sagen, wir machen        hinter sich zu versammeln. Und
dem. Wir hatten 14 Podiumsdis-        in dem Bündnis schon sehr lan-         selbst auf Stadtteil-Podien außer-
kussionen in der Stadt, mit allen     ge mit, das heißt, wir waren auch      halb, wo viele Leute garantiert ein
vier Kandidat*innen. Und da merk-     glaubwürdig bei dem Thema.             Auto besitzen, ist er damit nicht
te man schon, dass unsere The-        Das heißt, die Verankerung             sonderlich gut angekommen. Das
men die Themen waren, über die        spielt da auch eine Rolle?             fand ich wirklich interessant. Weil
die Leute geredet haben. Besonders    Ja, das glaube ich schon. Ich mache    das ja zeigt, selbst wenn die Leu-
Wohnen und Verkehr, die Schwer-       seit 20 Jahren linke Politik, auch     te ein Auto haben, wissen sie, dass
punkte haben wir gut gewählt. Das     außerhalb der Partei, da lernt man     das keine Lösung für die Zukunft
größte Podium war von den Kieler      mit der Zeit viele Leute kennen.       ist. Also ja, da kann man wirklich
Nachrichten mit 600 Leuten im Au-     Und, das haben wir im Vorwahl-         ein bisschen mutiger sein.
dimax, aber auch kleinere, mit 20     kampf gemacht: Wir waren bei ver-      Wovon könnten andere LINKE
Leuten. Wir waren bei der IHK, bei    schiedenen Verbänden, Vereinen         Kandidat*innen lernen?
der »Digitalen Woche«, beim jungen    und Initiativen, das hat mir auch      Es gibt da so einen konstruierten
                                      nochmal neue Infos für meine Ar-       Konflikt in der Partei: Man müs-
                                      beit im Rat gebracht. Ich war bei      se sich zwischen den Zielgruppen
                                      der GEW, Umweltverbänden, im Be-       »Hipster-Großstadtmilieu« und »är-
                                      triebsrat vom städtischen Kranken-     meren Menschen« entscheiden.
                                      haus, im Frauenhaus und bei der        Man kann beide ansprechen! Auf
                     Björn Thoroe     türkischen Gemeinde, beim AStA,        jeden Fall Social Media nutzen, Ver-
                                      bei HAKI, das ist eine schwul-lesbi-   ankerung in Bündnissen und ir-
                                      sche Interessenvertretung, bei der     gendein Element, was auffällt und
   Björn Thoroe ist Landesge-         Deutsch-Kurdischen Gesellschaft,       aneckt, so wie die Aufkleber. Prä-
   schäftsführer der Partei DIE       bei ver.di, bei der alevitischen Ge-   senz vor Ort zeigen. Das kommt
   LINKE in Schleswig-Holstein        meinde und hab mich da vorge-          dann alles zusammen.
   und Mitglied im Kieler Bündnis     stellt. Damit erreicht man zwar kei-   Wie geht es für euch weiter?
   für bezahlbaren Wohnraum.          ne Massen, aber man bekommt gu-        Wir nehmen die Anregungen aus
   Bei der Oberbürgermeister-         te Ideen für den Wahlkampf und da      den Gesprächen mit für Anträge
   wahl in Kiel erreichte er im       kommt man nochmal ganz anders          für unsere Ratsarbeit. Wir haben
   Stadtteil Gaarden, wo vorwie-      ins Gespräch.                          gezeigt, dass wir eine eigenständige
   gend Menschen mit geringem         Und du bist da offensiv aufge-         politische Kraft sind, mit der man
   Einkommen leben, 23,9 Pro-         treten?                                rechnen kann. Jedes halbe Jahr
   zent und im Stadtteil Mitte, wo    In meinem Flyer habe ich ganz klar     machen wir eine kommunalpoliti-
   studentisch-grünes Milieu zu       geschrieben, dass ich Sozialist und    sche Konferenz auf Landesebene,
   Hause ist, 13,1 Prozent. Insge-    Antifaschist aus ganzem Herzen         das heißt, wir versuchen schon, uns
   samt wurde DIE LINKE mit 9,1       bin. Wir haben uns da nicht ver-       von unten zu verankern, damit wir
   Prozent drittstärkste Kraft in     steckt, die Leute wussten schon,       2022 wieder in den Landtag kom-
   der Landeshauptstadt.              worauf sie sich einlassen.             men.
                                      Das heißt, es lohnt sich, ein
                                      bisschen mutiger zu sein…                Interview: Nina Rink

DISPUT Januar 2020                                                                                            15
MIE TENK AMPAGNE

                       Foto: T. Marotzke

                   Hamburg
                     Lüneburg
            Wustermark

                                           Foto: Janis Wisliceny

■ W U ST E R M A R K                       lungsteile auf. Schleichend sind in      gels Mehrheiten scheiterten, wurden
                                           den vergangenen vier Jahren 90 Pro-      plötzlich Anträge der LINKEN zu Er-
Sozialer Wohnraum                          zent der Sozialwohnungen aus der Be-
                                           legungsbindung gefallen. Bei Neuver-
                                                                                    haltungssatzungen und der Kappungs-
                                                                                    grenze angenommen. Aktuell unter-
fehlt nicht nur in                         mietung liegen die Preise auf Berliner
                                           Niveau. Laut einem Gutachten, wel-
                                                                                    stützen die Genoss*innen die Mie-
                                                                                    terinitiative bei einer Petition für so-
den Städten                                ches auf Antrag der Fraktion DIE LIN-    zialen Wohnraum. Die Petition kann
                                           KE in der Gemeindevertretung 2019        noch bis zum 28. Dezember 2019 unter
VON TOBIAS BANK                            erstellt wurde, hätten 25 Prozent der    gleft.de/3e0 im Internet unterschrie-
                                           Menschen vor Ort einen Anspruch          ben werden.
Die Bundeshauptstadt vor der Tür und       auf sozial geförderten Wohnraum.
überall Grün. So könnte die branden-       Am Rande einer Veranstaltung im Mai         Tobias Bank ist Mitglied der
burgische Gemeinde Wustermark be-          2019, auf der DIE LINKE über den Ver-       Gemeindevertretung Wustermark
schrieben werden. Entsprechend groß        kauf eines Siedlungsteils an die DW
ist der Zuzugsdruck aus Berlin und die     die ahnungslosen Mieter*innen infor-
Investoren stehen Schlange. Einfami-       mierte, gründete sich eine Mieterini-    ■ LÜ N E B U RG
lienhäuser schießen auf immer klei-        tiative. Auf Anhieb kamen über 100
neren Grundstücken wie Pilze aus
dem Boden. Die Verdichtung nimmt
                                           Unterstützer*innen zusammen, die in
                                           mehreren Flugblattaktionen und Zei-
                                                                                    Vernetzung und
extremere Auswüchse an. In der             tungsberichten auf den fehlenden so-     Kooperation
Wohnraumpolitik der Gemeindever-           zialen Wohnraum und den Ausver-
waltung haben Wörter wie »sozialer         kauf an die DW aufmerksam mach-          VOM KREISVERBAND LÜNEBURG
Wohnungsbau«, »kommunaler Wohn-            ten, das Fernsehen nach Wustermark
raum« oder »Mietgeschosswohnungs-          holten und Unterschriften sammelten.     Welche Probleme sehen wir in der
bau« kein Gewicht. Unternehmen wie         Der öffentliche Druck zeigt Wirkung:     Wohnungsfrage und was kann dage-
Vonovia und Deutsche Wohnen (DW)           Während in den vergangenen Jahren        gen wie getan werden? Diese Frage
sicherten sich schon vor Jahren Filet-     alle Initiativen der LINKEN für sozia-   war der Ausgangspunkt der Überle-
grundstücke oder kauften ganze Sied-       len und bezahlbaren Wohnraum man-        gungen des Kreisverbandes. So hat-

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