CRIPMAGAZINE ISSUE 4, 2021 - DIE WIENER AUSGABE / THE VIENNA EDITION - KUNSTHALLE WIEN

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CRIPMAGAZINE ISSUE 4, 2021 - DIE WIENER AUSGABE / THE VIENNA EDITION - KUNSTHALLE WIEN
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magazine                issue 4, 2021
Die Wiener Ausgabe / The Vienna Edition
CRIPMAGAZINE ISSUE 4, 2021 - DIE WIENER AUSGABE / THE VIENNA EDITION - KUNSTHALLE WIEN
Impressum                                                                                                   Inhalt
Crip Magazine #4

Beitragende dieser Ausgabe                         Das Crip Magazine #4 wird einer Teilauflage             Anne Faucheret und WHW Vorwort, 3
Tobi Adebajo, Persson Perry Baumgartinger,         der Ausgabe 4/2021 der Zeitschrift an.schläge
                                                                                                           Katta Spiel Wheelchair Games, 4
Martin Bruch, Julius Deutschbauer / Gerhard        (Abonennt*innen in Wien) beigelegt. Eine
Spring, David Ernesto García Doell, Eva            elektronische Version des Crip Magazine #4               Eva Egermann
Egermann, Anne Faucheret, Candy Flip &             wird ab Sommer 2021 unter                               „Unforgetting“ von Formen der Kollektivität, 5
Theo Meow, Em Gruber, Hanna Hacker,                http://cripmagazine.evaegermann.com/
Zinaida Hierzer, Nataša Ilić, Ianina Ilitcheva,    zum Download verfügbar sein. Unter diesem                Em Gruber Barrikaden statt Barrieren, 6
Iris Kopera, MOB Industries, Leroy F. Moore Jr.,   Link findet ihr auch alle bisherigen Ausgaben           Martin Bruch Bruchlandungen, 7
Barbara Putz-Plecko, Rick Reuther, Katja Rothe,    gratis zum Download.
Sickness Affinity Group, Nicole (voec) spiders,                                                            Sickness Affinity Group „In Liebe, das
Katta Spiel, Julischka Stengele, Two Pigs under    Die Crip Convention 2021 “Anti Stigma”                  erschöpfte mitfühlende Orakel“, 8–9
One Umbrella, Amelieh Zadeh                        (Präsentation, Filmprogramm, Crip Magazine              “Non-compliance is a social skill”, ein Nachruf
                                                   Gründungsgipfel) findet am Freitag 11. Juni 19           auf Mel Baggs, 10
In Erinnerung an                                   Uhr & Sonntag 13. Juni 15 Uhr im Belvedere 21
Mel Baggs, Linda Bilda, Bob Flanagan,              Skulpturengarten, Arsenalstrasse 1,                     Julischka Stengele Bodypainting, 11
Peter Gorsen, Ianina Ilitcheva                     1030 Wien statt, Nähere Info:                           Linda Bilda & Eva Egermann
                                                   belvedere.at/public-program-2021                        Zeitreisende gesucht!, 12
Redaktion
Eva Egermann, Anne Faucheret, WHW                  Die jeweilige Form der gendersensiblen                  Katja Rothe
(Ivet Ćurlin, Nataša Ilić, Sabina Sabolović)       Sprache bleibt den Autor*innen überlassen.              Unendliche Arbeit, unendliche Müdigkeit und
                                                   Reproduktionen mit schriftlicher Genehmigung            die Verletzlichkeit der Wünsche, 13, 14, 16
Graphik                                            der Autor*innen und Redaktion. Hiermit geben
                                                                                                           Amelie Zadeh o.T., 15, 17
Lana Grahek                                        wir bekannt, dass namentlich gekennzeichnete
                                                   Beiträge nicht unbedingt die Meinung der                Hanna Hacker
Cover                                              Herausgeber*innen wiedergeben müssen.                   Feministisch mit/ohne Behinderung, 18–19
Katta Spiel, VR Hand
                                                                        ————                                Das Sad Girl Manifest, 20
Produktion                                         Danke an Sickness Affinity Group, Patrick               Leroy Moore Jr. Beautiful Kripple Angel, 21
Hektor Peljak                                      Anthofer, Bildbalance, Christiane Erharter,
                                                                                                           Persson Perry Baumgartinger
                                                   Manuel Fronhofer, Lana Grahek, Em Gruber,
                                                                                                           Crip Queeropedia, 22–23
Übersetzung Vorwort                                Adina Hasler, Zinaida Hierzer, Günther
Bert Rebhandl                                      Hopfgartner, Jonathan Hörnig, Eliah Lüthi,              IANINA ILITCHEVA @ blutundkaffee, 24–25
                                                   Rebecca Maskos, Hektor Peljak, Rick Reuther,
Lektorat                                           Matthias Julian, Eliah Lüthi, Katharina                 Two Pigs Under One Umbrella For Bob, 26
Manuel Fronhofer, Katharina Schniebs,              Schniebs, Claudia Slanar, Lea Susemichel,                RICK REUTHER feat. IANINA ILITCHEVA, 27
Nicole Suzuki                                      Nicole Suzuki, Cordula Thym, sowie den
                                                   Mitarbeiter*innen der Kunsthalle Wien und des           David Ernesto García Doell und Eva
Druck                                              Anschläge Magazins und allen Mitwirkenden.              Egermann Gemeinsam aus der Einsamkeit
Gugler print GmbH, Melk, Österreich/Austria                                                                sprechen, 28–30
                                                   Zugänglichkeit Das Crip Magazine                        AMELIE ZADEH o.T., 31
Herausgeberinnen der Ausgabe #4                    entwickelt sich im Prozess. Ziel ist es, möglichst
Eva Egermann, Anne Faucheret, WHW                  barrierearme Zugänge zu schaffen. Die Texte            Tobi ADEbajo
(Ivet Ćurlin, Nataša Ilić, Sabina Sabolović)       dieser Ausgabe liegen auf Deutsch oder                  Ableism Is, 32 / Utterances, 33
                                                   Englisch vor. Der Fließtext wurde in der Schrift         Barbara Putz-Plecko und Eva Egermann
Adresse der Redaktion                              Canela Text gesetzt, einer lesefreundlichen             „Wir sind empfindlich geworden für die
Kunsthalle Wien                                    Schrift mit ausgestellten Serifen. Das Magazin           alltägliche Wahnwelt, die man Normalität
Museumsplatz 1, A-1070 Wien                        wird ab Sommer 2021 als barrierefreies                   nennt“(Peter Gorsen), 34–35
                                                   PDF gratis zum Download angeboten. Auf
                       ————
                                                   Wunsch bieten wir Textformate an, die von                Nicole (voec) spiders Ins schmelzende
(Offenlegung gem. § 24 Mediengesetz)               Screen-Readern gelesen werden können.                   Spinnennetz kuscheln, 36–38
Medieninhaberin und Herausgeberin Eva              Wir arbeiten an der Übertragung in Alt Text
                                                                                                           Iris Kopera Hexenschuss, 37
Egermann E-mail cripmagazine@gmail.com             (Bildbeschreibungen). Bitte kontaktiert uns falls
Web http://cripmagazine.evaegermann.com/           ihr etwas beitragen wollt.                              Julischka Stengele Bodypainting, 39
Grundlegende Ausrichtung: Das Crip Magazine
ist ein Projekt, das 2011 von der Künstlerin Eva
Egermann initiiert wurde.
                                                   kunsthalle wien                               KISS      Julius Deutschbauer / Gerhard Spring
                                                                                                           Sprache der Behinderung, 40–42

                                                                                                           MARTIN BRUCH Bruchlandungen, 43
                                                   In Kooperation mit          Mit freundlicher
Das Crip Magazine #4 wird im Rahmen von
                                                   Belvedere 21                Unterstützung                Kurzbiographien, 44, 46
KISS produziert und herausgegeben. KISS sind
                                                                               von DISTA
eine Reihe von künstlerischen Beiträgen und                                                                Mob Industries Crip Vogue, 45
                                                                               (Disability
Auftragsarbeiten der Kunsthalle Wien, die im
                                                                               Studies Austria)            Anzeigen, 47
Frühjahr 2020 nach dem ersten Lockdown in
der COVID-19 Pandemie initiiert wurde.                                                                      Eva Egermann Wagen zum Ausruhen,
                                                                              Disability Studies Austria    Backcover

2                                                                                                                                      Crip Magazine #4
CRIPMAGAZINE ISSUE 4, 2021 - DIE WIENER AUSGABE / THE VIENNA EDITION - KUNSTHALLE WIEN
Vorwort
                                                                      erstreckte sich über den Sommer 2020; das zweite Kapitel findet
                                                                      im Frühling und Sommer 2021 statt.1 Der lose zeitliche Ablauf des
                                                                      gesamten Projekts folgt dem Rhythmus der Arbeiten und beteilig-
                                                                      ten Personen.
von Anne Faucheret und WHW
Kunsthalle Wien, März 2021                                            Halt dich fern, aber halt mich (2020), die Intervention von Eva Eger-
                                                                      mann für das erste Kapitel von KISS, fand an verschiedenen Orten
                                                                      im öffentlichen Raum in Wien statt. Sie bestand aus Plakaten und
Die Covid-19-Pandemie verkörpert die komplexe Verflechtung al-        einem Banner mit Texten der 2016 verstorbenen usbekisch-öster-
ler Krisen, mit denen die Welt derzeit konfrontiert ist – und steht   reichischen Autorin Ianina Ilitcheva, verbunden mit Fotografien,
exemplarisch für die mangelnde Klarheit über einen möglichen          mit denen Eva Egermann die Disability & Mad Pride Parade 2019
Ausweg. Die gegenwärtige Lage hat sich als Gelegenheit erwie-         in Berlin wie auch ihre eigenen Krankenhausaufenthalte doku-
sen, neoliberale Politiken zu beschleunigen, die Kontrolle über       mentierte. Ianina Ilitcheva (@blutundkaffee) schrieb ihre Texte
Körper auszuweiten, die Unterdrückung der arbeitenden Klassen         und Verse u.a. während einer Selbstisolierung, in die sie sich 2015
zu intensivieren, soziale Mobilisierung zu behindern, Grenzen         für ein halbes Jahr begab. Durch den Dialog dieser Texte mit
zu verfestigen, Rassismus und Nationalismus zu schüren – und          ihren eigenen Fotografien schuf Eva Egermann eine Kontaktzone
die Herrschaft über Frauen und Minderheiten zu verschärfen.           und einen Assoziationsraum.2
Gleichzeitig lassen sich die Pandemie und die damit verbundene
Gesundheitskatastrophe auf ebendiese neoliberalen Logiken             Die engagierte künstlerische Forschung von Eva Egermann
zurückführen. Covid-19 konnte sich deswegen so stark verbreiten,      ermöglicht das Teilen und das Zirkulieren von Praktiken und Wis-
weil die Kürzungen im öffentlichen Gesundheitssystem, der un-         sen – und knüpft somit neue Zusammenhänge. Unterschiedliche
gehemmte Abbau von Rohstoffen, die anarchische Urbanisierung,         Materialien kommen auf einer Wand, einem Plakat oder in einer
die Entwaldung und Zerstörung natürlicher Lebensräume, die            Zeitschrift zusammen. Seit 2012 gibt sie das Crip Magazine heraus,
Privatisierung der Forschung sowie die Gewinnorientierung der         eine kostenlose Publikation, die als kollektive Plattform fungiert
pharmazeutischen Industrie schon weit vorangeschritten waren.         und Beiträge von vielen verschiedenen Kulturproduzent*innen
                                                                      und Künstler*innen versammelt. Ausgehend von der Aneignung
Gleichwohl haben die Menschen in ihrem Umgang mit der                 des Begriffs „Crip“, wie er sich in den Disability Studies und in
Krise keine andere Wahl, als den Akteur*innen aus Politik und         aktivistischen Zusammenhängen entwickelt hat, bringt das Maga-
Wirtschaft zu vertrauen, denen es geradezu obsessiv um die            zin die ableistische und hyperproduktive Rahmung von Körpern
schnellstmögliche „Wiederbelebung der Wirtschaft“ geht. Diese         im Kapitalismus zum Kippen. Bisher sind drei Ausgaben des Crip
Akteur*innen setzen auf eine Stärkung der kollektiven Immunität       Magazine erschienen: #1 Cripping Tyrol (2012), #2 Crip Art Resources
und wollen „Risikogruppen“ strikt absondern, ohne dabei zu be-        (2017) und #3 Actually, the Dead Are Not Dead (2019).
rücksichtigen, dass es für viele Menschen schlichtweg unmöglich
ist, sich zu isolieren. Die Pandemie betrifft jene Menschen beson-    Im Rahmen von KISS hat Eva Egermann die vierte Ausgabe des
ders stark, die aus den normativen Formen der Produktion, des         Crip Magazine produziert – ihr haltet sie nun in den Händen. Diese
Konsums und der Repräsentation ausgeschlossen sind und die            Ausgabe setzt einen Schwerpunkt auf Wien, ohne andere Teile
der Norm eines weißen, heterosexuellen, leistungsfähigen Körpers      der Welt zu vernachlässigen. Sie versammelt Collagen, Gedichte,
nicht entsprechen. Das Ausmaß der Pandemie verstärkt bestehen-        Fotos, Zeichnungen, Instagram-Posts, Interviews und Faksimiles.
de Unterschiede (und wird dies weiterhin tun), und zwar gar nicht     Viele Beiträge entstanden eigens für dieses Heft, andere sind
so sehr aus virologischen, sondern vielmehr aus sozialen und          Nachdrucke, Neuformulierungen und Adaptionen. Alle teilen
politischen Gründen. Es existieren skandalöse Ungleichheiten im       gegenhegemoniale Erfahrungen und Wissensformen. In „Ausnah-
Zugang zu Care-Leistungen und in den Möglichkeiten, sich und          mesituationen“ erinnern uns diese Texte und Bilder an die Leben-
nahestehende Menschen zu schützen. Der Ausschluss bestimmter          digkeit kultureller Praktiken und die Notwendigkeit künstlerischer
Existenzen aus dem sozialen Körper und ihre Opferung auf dem          Interventionen. Kritisch und queer, radikal und crip, lassen sich
Altar der Wirtschaft geschieht ganz bewusst. So sieht die sozial-     die Beiträge auf Opazität und Unruhe ein, re-politisieren das täg-
darwinistische Logik der Kontrollgesellschaft aus.                    liche Leben und stellen eine starke Verbindung zwischen Reprä-
                                                                      sentation und Widerstand her. Und: Sie beschwören eine Zukunft,
In diesem Ausnahmezustand gilt Kultur als unwesentlich. Dabei         die für Gleichberechtigung und Solidarität steht.
sind künstlerische Beiträge nicht nur wertvolles Hilfsmittel gegen
Melancholie, Trauer und Depression. Künstler*innen leisten auch
tagtäglich politische Arbeit und zeigen uns neue Wege auf, mit
Begriffen wie Immunität, Virulenz, Einsamkeit, Intimität, Ge-         1   Das erste Kapitel umfasste Beiträge von Eva Egermann, Thomas
meinschaft und Widerstand umzugehen. Unmittelbar nach der                 Geiger, Margot Pilz und Johanna Tinzl. Eva Egermann und Rade
                                                                          Petrasevic tragen nun zum zweiten Teil von KISS bei.
ersten Welle von Covid-19 stand dieser Glaube an das Potenzial
                                                                      2   Die Künstlerin organisierte auch ein öffentliches Event im Central
von Kunst hinter der Einladung der Kunsthalle Wien an einige
                                                                          Garden am Wiener Donaukanal mit einer Lecture-Performance
Künstler*innen, sich mit den Auswirkungen der Pandemie und                von Em Gruber, einer Lesung aus den Texten von Ianina Ilitcheva
der sozialen Distanz auf Intimität, Begehren und Gemeinschaft             und einem Screening von Romily Alice Waldens Film Notes from
auseinanderzusetzen. Daraus entstand KISS, ein vielschichtiges            the Underlands (2019). Der Abend unter dem Titel Halt mich fest!
Langzeitprojekt im öffentlichen Raum. Das erste Kapitel von KISS          fand im Juli 2020 statt.

Vorwort / Crip Magazine #4                                                                                                                 3
CRIPMAGAZINE ISSUE 4, 2021 - DIE WIENER AUSGABE / THE VIENNA EDITION - KUNSTHALLE WIEN
4   Crip Magazine #4 / Katta Spiel • Wheelchair Games
CRIPMAGAZINE ISSUE 4, 2021 - DIE WIENER AUSGABE / THE VIENNA EDITION - KUNSTHALLE WIEN
Editorial

„Unforgetting“ von Formen der Kollektivität1
                                                                                                                 von Eva Egermann

 Einige von uns kennen sich mittlerweile      Wenn Körper aufeinander aufpassen,            Candy Flip & Theo Meow, Em Gruber,
 ziemlich gut damit aus. Der Ausbruch         Verantwortung umverteilt wird, indivi-        Hanna Hacker, Zinaida Hierzer, Ianina
 von Covid-19 führte zu einem Anstieg         duelle Zusammenbrüche in kollektive In-       Ilitcheva (†), Iris Kopera, MOB Industries,
 von psychischen Erkrankungen. Manche         timität verwandelt werden2, können wir        Leroy F. Moore Jr., Barbara Putz-Plecko,
 sind schon länger eher isoliert oder füh-    die Zukunft gemeinschaftlich, solida-         Rick Reuther, Katja Rothe, der Sickness
 len sich unten, an der Talsohle angekom-     risch und nachhaltig gestalten. Um dort       Affinity Group, Nicole (voec) spiders,
 men. Vor allem körperliche und soziale       hinzukommen, müssen wir aufhören,             Katta Spiel, Julischka Stengele, Two Pigs
 Stigmatisierungen erzeugen Hoffnungs-        uns gegenseitig in einen Wettbewerb zu        Under One Umbrella und Amelie Zadeh.
 losigkeit, Apathie und soziale Ängste.       versetzen, sondern Allianzen schließen,       Besonders danke ich den Mitarbei-
 Depressionen sind sowohl individuali-        um uns weniger einsam zu fühlen. Die          ter*innen der Kunsthalle Wien, die das
 sierte Leidenserfahrung als auch Aus-        neoliberale Idee von Unabhängigkeit           Projekt mit sehr viel Einsatz ermöglicht
 druck von sozialen Kräfteverhältnissen.      hat ausgedient, denn es sollte um Inter-      und diese Ausgabe gemeinsam mit mir
                                              dependenz, Kollektivität und Bezogen-         produziert haben, insbesondere Anne
 Einerseits höchst persönlich und intim       heit gehen.                                   Faucheret und Lana Grahek.
 sind Emotionen gleichzeitig auch ge-
 sellschaftlich-strukturell und Motor         Wenn es eine Stimmung gibt, die ich mit       Mit Sommer 2021, genauer gesagt mit der
 von Ein- und Ausschlussprozessen. Sie        dem Projekt vermitteln möchte, dann ist       Crip Convention 20214, wird dieses Maga-
 können uns in Bewegung versetzen            es eine Atmosphäre der Solidarität, die     zinprojekt von einem Neugründungs-
 oder lähmend wirken, uns aufeinander        Dinge in Bewegung versetzen kann. Es          komitee5 weitergeführt werden und ich
 zu- oder voneinander wegbewegen. Es          klingt vielleicht nicht sonderlich beschei-   freue mich auf alles, was daraus entsteht.
 gibt materielle Bedingungen, die uns         den, aber das Crip Magazine möchte so
 entfremden, isolieren und krank machen.      etwas sein. Eine solidarische Struktur
 Altersarmut fällt zusammen mit Einsam-       und Anti-Represssionsmittel inmitten          1   Mark Fisher, „Acid Communism“,
 keit, oft, zum Beispiel. Menschen mit        Vitalismus und Selbstoptimierung. Ein             Einleitung, https://my-blackout.
 Behinderungen sind Gewalt, Missbrauch,       fahrender Raum für Austausch und Fer-            com/2019/04/25/mark-fisher-acid-com-
 Diskriminierung und Beleidigung ausge-       mentation von Diskursen, materialisiert           munism-unfinished-introduction Mark
 setzt. Dabei geht es nicht um Einzelfälle,   als künstlerisches Zeitschriftenprojekt.         Fisher, „Acid Communism“, Einleitung,
 es ist eine diskriminierende Struktur, die   Es ist ein fantastischer Ort.3                    https://my-blackout.com/2019/04/25/
                                                                                                mark-fisher-acid-communism-unfinished-
 man Ableismus nennt. Das soziale Ver-
                                                                                                introduction
 hältnis der Abwertung durchzieht auch        In dieser Ausgabe geht es um unendliche
                                                                                            2   Mikkel Krause Frantzen, „A Future with
 das kulturelle Feld.                         Müdigkeit, utopische Zeitreisen, works            No Future: Depression, the Left and the
                                              in progress, grausamen Optimismus,                Politics of Mental Health“, https://la­
 Die Covid-19-Krise hat gesellschaftliche     Bruchlandungen, das unternehmerische              reviewofbooks.org/article/future-no-futu-
 Gräben verstärkt, aber vor allem auch        Selbst, Kunst und Krankheit, feministi-           re-depression-left-politics-mental-health
 sichtbar gemacht. Sie hat uns nicht          sches Sprechen im Plural, Blutergüsse,        3   Das Crip Magazine bezieht sich auf die
 zuletzt gezeigt, wie sehr wir Sozialität     Vielsamkeiten und Barrierefreiheit, pan-          historischen Kämpfe und die Geschichte
 brauchen und dass der Imperativ von          cakes and pain, Berührung, den Form-              der Behindertenrechtsbewegungen. Das
                                                                                                Projekt entstand aus der Motivation her-
 Individualität und kompletter Auto-          wandel von Lohnarbeit, Sich-Ausruhen,
                                                                                                aus, einen gemeinschaftlichen Kontext zu
 nomie eine ableistische Fiktion ist.         Wohlsein und klassenlose Gesellschaf-             schaffen und künstlerische Perspektiven
 Während ich das hier schreibe, kämpft        ten, Patriarchat und Psyche, Zen-Gär-             aufzusuchen und zu versammeln.
 die Welt gerade mit der globalen Pan-        ten, klebrige Dis-Identifikationen, den       4   Crip Convention, Anti Stigma (11. und
 demie. Und ich denke, es muss einfach        Frühling und die Zerbrechlichkeit der             13. Juni 2021, Belvedere 21, in Wien).
 noch mehr möglich sein. Trotz all dem        Wünsche.                                          Herzliche Einladung!
 Mist, den wir erlebt haben. Dennoch.                                                       5   Zum Zeitpunkt des Redaktionsschlus-
 Und gerade deswegen. Nach diesem un-         Ich möchte allen danken, die mitgewirkt           ses besteht das Gründungskomitee aus
                                                                                                Persson Perry Baumgartinger, Tobias
 glaublichen Jahr habe ich die Hoffnung,      haben und mit ihren Arbeiten in dieser
                                                                                                Buchner, Lena Freimüller, Em Gruber, Su-
 dass noch mehr möglich ist. Und dass         Ausgabe vertreten sind. In alphabeti-
                                                                                                sanne Hamscha, Günther Hopfgartner,
 es anders sein kann. Vergesellschaftung,     scher Reihenfolge: Tobi Adebajo, Pers-            Gertraud Kremsner, Elisabeth Löffler,
 Anerkennung, Teilhabe und Inklusion.         son Perry Baumgartinger, Linda Bilda (†),         Lisa Pfahl, Vera Rebl, Katta Spiel, Julisch-
 Und immer wieder: das Zurückweisen           Martin Bruch, Julius Deutschbauer / Ger-          ka Stengele, Josefine Thom, Cordula
 von Scham und Beschämung.                    hard Spring, David Ernesto García Doell,          Thym und Ruth Weismann.

 Eva Egermann • Editorial / Crip Magazine #4                                                                                              5
CRIPMAGAZINE ISSUE 4, 2021 - DIE WIENER AUSGABE / THE VIENNA EDITION - KUNSTHALLE WIEN
Barrikaden statt Barrieren
von Em Gruber

Hallo, mein Name ist Em. Ich bin        Die Lockerungen bedeuten, dass        Untersuchungen und Schikanen
be-hindert, ich bin verrückt, ich       viele Leute jetzt wieder allein in    durch unsensible Mediziner:innen
bin queer, ich bin trans.               Isolation sind. Lasst uns weiterhin   und Therapeut:innen sind alles
                                        solidarisch bleiben und aufeinan-     andere als hilfreich.
Und ich bin im Stimmbruch – hof-        der schauen!
fe, ihr haltet das aus.                                                       Dieses Gesundheitssystem trau-
                                        Psychisch kranke Menschen wer-        matisiert immer wieder.
Viele Leute können heute nicht          den oft dämonisiert – dabei sind
hier sein – ein erhöhtes Risiko         wir häufiger von Gewalt betroffen     Mehrfach diskriminierte Akti-
wegen Corona ist nur ein Grund          als psychisch gesunde Menschen.       vist:innen brennen nacheinan-
davon. Die Ausgangsbeschränkun-         Besonders Schwarze Menschen           der aus, weil sie nicht nur all die
gen waren schwer für viele. Zum         und People of Color mit psychi-       Scheiße der Mehrheitsgesellschaft
Beispiel mussten queere Jugend-         schen Krankheiten und Behinde-        ertragen müssen, sondern auch
liche und Kinder in oft nicht           rungen sind von Polizeigewalt und     jeden Tag gegen Windmühlen in
unterstützenden oder feindlichen        von medizinischem Rassismus           den eigenen Communities kämp-
Umgebungen bleiben. Wichtige            betroffen.                            fen müssen.
medizinische Maßnahmen wurden
auf unbekannte Zeit verschoben.         Auch in der Linken wird sich          Ich will, dass wir alle nicht nur
                                        lustig gemacht über vermeintliche     überleben können, sondern leben!
Ich habe auch so oft gelesen, wie       und wirkliche psychische Defizi-      Ein gutes, selbstbestimmtes Leben
wenig mein Leben und das Leben          te, Krankheiten und körperliche       für alle ist nicht zu viel verlangt.
aller besonders gefährdeten Men-        Merkmale von Rassist:innen und        Wir müssen den Kapitalismus
schen wert ist. Wie leicht man auf      Co. Man versucht sich so von ih-      zerschlagen.
uns verzichten würde und wie viel       nen abzugrenzen – kritisiert aber     Wir müssen Bedürfnisse erfüllen,
wichtiger Profit ist.                   nicht die diskriminierenden Aus-      statt Menschen in Not zu krimina-
                                        sagen und Taten, sondern drängt       lisieren und zu kontrollieren.
Eugenik und Kapitalismus gehen          nur kranke und behinderte Men-        Wir müssen Grenzen öffnen.
eben Hand in Hand.                      schen weiter an den Rand.             Als weiße queere Leute müssen
                                                                              wir mit Schwarzen queeren, trans
Einige Dinge waren auch gut:            Psychische Krankheiten sind kein      Menschen kämpfen.
Viele Menschen haben jetzt einen        individuelles Problem – sie entste-   Wie Marsha P. Johnson sagte:
Einblick davon, wie es ist, nicht       hen oft durch den Leistungs- und      „No pride for some of us without
selbstbestimmt in Lokale und            Konkurrenzdruck im Kapitalismus       liberation for all of us.“
Veranstaltungen oder einkaufen          und durch ständige Ausgrenzung
gehen zu können. So ist es für          und Diskriminierung. Es kann nicht    Lasst uns Barrikaden bauen
viele be-hinderte und chronisch         sein, dass man Therapie dafür         statt Barrieren.
kranke und arme Menschen immer          auch noch oft selbst bezahlen
– auch vor Corona und nachher.          muss.
Vielleicht können wir all die barrie-
refreien Maßnahmen beibehalten.         Viele trans Personen brauchen
Die Maßnahmen, die immer schon          überlebenswichtige Maßnah-            Em Gruber hat diesen Text am
gefordert wurden und erst mach-         men, um Geschlechtsdysphorie          24. Juli 2020 bei der Veranstaltung
bar waren, als es alle Menschen         zu lindern. Fehlende Akzep-           Halt mich fest im Rahmen von
betroffen hat.                          tanz, lange Wartezeiten, teure        KISS vorgetragen.

6                                                                                    Crip Magazine #4 / Em Gruber
CRIPMAGAZINE ISSUE 4, 2021 - DIE WIENER AUSGABE / THE VIENNA EDITION - KUNSTHALLE WIEN
1                                                  2

                                                       1) Wien, Schottenfeldgasse/
                                                       Apollogasse
                                                       02.07.96, 17:27

                                                       2) Wien, U-Bahnstation
                                                       Längenfeldgasse mit
                                                       Andreas
                                                       20.06.96, 19:13

                                                       3) Hall i. T., Friedhof,
                                                       nach Großmutter
                                                       Ernestines Begräbnis
                                                       18.10.97, 10:32

3

Martin Bruch • Bruchlandungen / Crip Magazine #4                                  7
CRIPMAGAZINE ISSUE 4, 2021 - DIE WIENER AUSGABE / THE VIENNA EDITION - KUNSTHALLE WIEN
„In Liebe,
                                                                                     to take the space and time we need
                                                                                     while still being our fully creative
                                                                                     selves, maybe needing different ideas

 das erschöpfte,
                                                                                     around time and commitment. And
                                                                                     I know there is a deep disappoint-
                                                                                     ment in having to cancel, however
                                                                                     canceling offers honesty that many

 mitfühlende
                                                                                     can learn from. You have a lot to
                                                                                     offer, we all do!
                                                                                     Sincerely, your Oracle
                                                                                                       —

 Orakel …“                                                                           Kann ich mich auf einen fernen
                                                                                     Stern träumen? Und wenn ja, was
                                                                                     passiert dort? Was sehe, rieche,
                                                                                     fühle ich dort?
von der Sickness Affinity Group
                                                                                     1)
Liebes Orakel, wie kann ich gut             und kommunizieren kannst, desto          Der ferne Stern sagt: „Guten Mor-
mit mir und anderen sein, wie               mehr kennt sich dein Kollektiv aus       gen“, er nimmt dich in den Arm,
kann ich arbeiten, kreativ, kollek-         und kann das in Pläne einbeziehen.       wenn du schlaflose Nächte hast. Er
tiv schaffend, und Pläne machen,            Natürlich ist die Unregelmäßigkeit       schmeckt nach Geborgenheit. Wenn
wenn meine Schmerzen zeitweise              nicht leicht, aber das ist eben so und   du magst, fühlst du Getragenheit.
so unregelmäßig sind, dass ich              das ist okay.                            Was passiert, ist das Sein ganz im
selbst nicht weiß, was jetzt oder in        Geh mit dir selbst um wie mit einer      Jetzt, ganz im Licht, aufgehoben.
einer Stunde oder morgen mög-               gut befreundeten Person: Das ist
lich oder unmöglich sein wird?              eine gute Übung, wenn du dir stän-       2)
                                            dig Gedanken machst, schon wieder        Natürlich kann ich das, und dort
1)                                          nichts zu machen, obwohl du Grün-        sehe, rieche und fühle ich alles, was
My dear questioner,                         de hast (Freizeit ist auch ein Grund).   mir guttut!
My wish for you is that the peop-           Love, Orakel                                             —
le and collectives you are making
plans with can be supportive in this.       3)                                       Wie findest du trotzdem einen
My experience as a multi-voiced,            Dear möglich oder unmöglich,             Weg, mit dem Show- und Leis-
collective being is that if you take        This is such an important question.      tungsdruck im Kunst- und Kultur-
responsibility for a task or event, it      I have struggled with it myself. I       feld umzugehen, wenn Sich-Zeigen
is helpful to have one or two “back-        think the biggest tool you have is       ein Problem ist und Angst macht?
up” people, in case some of you can’t       to be honest with yourself, and also
make it.                                    communicate your needs (which I          1) Danke für deine Frage, mit dieser
I also want to tell you, that it is OK to   totally know can be hard, and vulne-     Angst bist du nicht allein! Es wäre
cancel and to not be able to commit         rable). Maybe it’s good to start with    schön, wenn es mehr Austausch
100 %. The people in your life should       the people with whom it is easier in     darüber gäbe. Viele Leute, die damit
help you plan with your pain, and           your life, good friends, family, etc.    Probleme haben, trauen sich nicht,
not make it your burden alone.              Those who will not blink if you need     das zu sagen, und wirken so, als
Big big Love                                to cancel but rather respond with        würde ihnen der Druck gar nichts
Your oracle                                 an “Okay! take care, do you need         ausmachen. Es würde schon helfen,
                                            anything?’’. When we practice taking     wenn es sich etablieren würde, dass
2)                                          space for our needs it slowly beco-      es okay ist, rauszugehen, zu sagen,
Wir alle haben den Leistungsdruck           mes easier. When we find people in       dass etwas zu viel ist, und öfter
und Kapitalismus so verinnerlicht,          our lives who accept and understand      von den Dingen zu reden, die nicht
dass wir immer damit hadern, nicht          our needs the possibility to develop     geklappt haben, die ich mich nicht
produktiv genug zu sein. Aber:              access intimacy and care around          getraut habe usw.
Rasten ist auch produktiv. Und je           the needs we have begin to grow. It      Und es wäre toll, eine Plattform zu
mehr du deine Bedürfnisse kennst            is slow and sometimes painful work       haben, auf der Leute sich gegenseitig

8                                                                                Crip Magazine #4 / Sickness Affinity Group
CRIPMAGAZINE ISSUE 4, 2021 - DIE WIENER AUSGABE / THE VIENNA EDITION - KUNSTHALLE WIEN
unterstützen und Hilfe anbieten          2)                                        Wie gehe ich besser mit Wut auf
können, z. B. einander zu Veranstal-     Ich finde, dass wir unbedingt             Institutionen und auf ableistische
tungen zu begleiten oder von einer       über andere Formate nachdenken            Handlungsweisen um?
Veranstaltung zu erzählen, oder          sollten. Das interessiert mich auch
auch auf einer Veranstaltung von         sehr. Hybride Veranstaltungen (die        1)
einer Person zu erzählen, die nicht      vor Ort, mit physischer Präsenz,          Anfangen, sich Gehör zu verschaffen
teilnehmen kann, aber gerne würde        in kleineren Gruppen funktionie-          und die Institutionen, vor allem die
und darum gebeten hat, dass von          ren und auch online übertragen            Leitungsfunktionen, anzuschrei-
ihr erzählt oder etwas gezeigt wird.     werden) haben dasselbe Problem.           ben. Wenn viele das machen, kön-
Damit diese Form der Kunst- und          Sie sind technisch wahrscheinlich         nen sie uns irgendwann nicht mehr
Kulturunterstützung irgendwann
zum Alltag dazugehört.
                                         noch aufwändiger und kostspie-
                                         liger. Aber mir gefällt dabei, dass
                                                                                   überhören.       —
                 —                       Diskussionen übertragen werden
                                         können und sich Menschen von              Für Leute, die nicht sehen können
Dear Oracle,                             außen durch (Schrift-)Nachrichten         oder autistisch sind, ist es eben
Lately I’ve been moving lots of          beteiligen können.                        gut, wenn die eine Veranstaltung
events into digital space. But it                                                  online und ohne Kamera ist, und
doesn't give me the same sense of        3)                                        es ist nicht gut, wenn Sichtbarkeit
joy as meeting in person. I don’t        An Zoom-Fatigue: Neue Formate             verlangt wird.
get paid extra for the extra tech-       zu finden, ist total wichtig. Mir hilft
nical and administrative work,           es oft, die guten Seiten zu sehen.        1)
which is exhausting. Is it always        Wir könnten heute nicht live in           Als verletzliches Orakel muss ich das
worth to move things online? How         dieser Konstellation zusammen             bestätigen: Es ist viel schöner, online
do we do it in a way that’s joyful?      sein, wenn wir diese Technologie          und, ohne sichtbar sein zu müssen,
How can we radically reimagine           nicht hätten. Ich denke, wenn wir         dabei sein zu dürfen, dazuzugehören
formats to fit the Corona setting,       schnellere Verbindungen haben,            ohne jegliche Erwartung, und alles
rather than just doing the same          bessere Audio- und Videoqualitä-          mitmachen zu können, was mich in-
thing as before, but now online?         ten, wird das Ganze besser werden.        teressiert, zu hören, was mich betrifft
Is it sometimes better simply to         Dennoch, Live-Begegnungen und             und berührt, und mich ausruhen
cancel?                                  menschliche Berührung wird es             zu können in jedem Moment, wenn
Love,                                    nicht ersetzen.                           nötig. In anderen Worten, bedin-
Zoom Fatigue                                                                       gungslose Zugehörigkeit wäre ideal.
                                         4)                                        Am besten wäre es, wenn auch der
1)                                       Hallo Zoom-Erschöpfung,                   barrierefreie Live-Anlass noch statt-
Es ist voll anstrengend in der globa-    das scheint mir eine verzwickte           finden könnte.
len Stresssituation, die die Pandemie    Situation zu sein. Ich schlage vor,
mit sich bringt.                         die Vorteile der Zoom-Meetings
Hybride Formen aus virtuell/im           zu nutzen, sich mit den Dingen            Das erschöpfte, mitfühlende Orakel
Raum werden uns aber sicher auch         und Eindrücken zu umgeben oder            ist eine kollektive Stimme, die Künst-
nach Corona beschäftigen und             nicht zu umgeben, wie ich es mir          ler*innen und Kulturarbeiter*innen mit
wir können vielleicht auch virtuelle     wünsche. Vielleicht ist es auch eine      Krankheit, Behinderung oder Fürsorge-
Formen finden, die lustvoll sind,        Chance, die eigenen Wünsche dies-         arbeit unterstützt, wenn sie sich mit
deswegen sind Räume, in denen wir        bezüglich mal ganz unabhängig             Zugänglichkeit und Arbeitsbedingungen
diese ausprobieren können, umso          von anderen kennenzulernen.               herumplagen. Der hier abgedruckte Text
wichtiger.                               Schön wäre es, wenn es eine Mög-          entstand während des Orakel-Work-
Aus Zoom-Fatigue Dinge abzusa-           lichkeit gäbe, sich auch in Zoom          shops der Sickness Affinity Group (durch
gen oder auch Extra-Bezahlung zu         zwischendrin oder nachher noch            RC, Fran & Clay) im Rahmen des „Sym-
verlangen, wenn Extra-Arbeit an-         zu treffen für Gespräche oder ein-        posium der Unvernunft”. Danke an alle
fällt, um Dinge virtuell zu gestalten:   fach beieinanderzusitzen — da be-         Teilnehmer*innen für die Zustimmung
beides sind gute Strategien, um mit      fragt das Orakel die Technik, sich        zur Veröffentlichung.
dieser Stresssituation umzugehen.        dahingehend zu verbessern.
Ich wünsche dir viel Kraft und           In Liebe, das erschöpfte,                 http://www.sicknessaffinity.org/
Liebe (das Orakel hat auch Zoom-         mitfühlende Orakel                        https://akademie-der-unvernunft.org/
Fatigue).                                                 —                        symposium-der-unvernunft/

Sickness Affinity Group / Crip Magazine #4                                                                               9
CRIPMAGAZINE ISSUE 4, 2021 - DIE WIENER AUSGABE / THE VIENNA EDITION - KUNSTHALLE WIEN
„NON-
COMPLIANCE IS
A SOCIAL SKILL“                                                                                    — Mel Baggs (1980–2020)
von Eva Egermann

Es ist normal und völlig menschlich, auf nicht-traditionel-           Kranken haus oder Pflegeeinrichtungen und institutionel-
le Weise zu denken und zu kommunizieren. Menschsein ist               le Räume als Orte der Erniedrigung beschreibt.
ein Spektrum. Die autistische Bloggerin und Aktivistin Mel
Baggs starb am 11. April 2020 im Alter von nur 39 Jahren              Die bekannteste ihrer Veröffentlichungen ist wahrschein-
an einem Atemversagen. Ihre Arbeit war für viele einfluss-            lich das Video „In My Language“ aus dem Jahr 2007,
reich und hatte einen enormen Einfluss auf heutige Dis-               das die Erfahrung des Lebens als Person mit Autismus
kurse in der Neurodiversitätsbewegung.                                beschreibt. Das fast neunminütige Video wurde online
                                                                      mehr als eine Million Mal angesehen. Auf CNN widmete
Amanda Melissa Baggs wurde am 15. August 1980 in                      Baggs dieses Video all jenen, die von der Gesellschaft
Mountain View, Kalifornien, geboren und wuchs umgeben                 ausgegrenzt und abgeschoben werden, weil ihre Form
von Redwood-Bäumen auf, die später zu einem Bestand-                  der Kommunikation zu ungewöhnlich erscheint.
teil ihrer Gedichte und Aquarelle wurden. Mel Baggs
studierte am De Anza College in Kalifornien und am                    Ihre Videoarbeiten lösten Staunen und Stunden angereg-
Bard College in Massachusetts. Sie entwickelte sich zur               ter Diskussionen aus. Mels Arbeit hatte großen Einfluss
Online-Aktivistin.                                                    auf etliche Kunst- und Kulturschaffende. Künstler*innen
                                                                      wie Mark Leckey, Wu Tsang oder Simon Vera Harder
Zu Mel Baggs’ Blogs zählte z. B. Ballastexistenz, benannt             bezogen sich in ihren Projekten auf die Arbeit von Mel
nach einem Propagandabegriff im Nationalsozialismus.                  Baggs. Das Video „In My Language“ wurde 2020 auf der
Ihre Blogbeiträge, so Sarah Cavar bei der Society for                 Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst gezeigt.
Disability Studies Conference 2021, beschreiben ihre Er-
fahrungen in der institutionellen Pflege, die Macht gewalt-           Baggs veröffentlichte auch Gedichte und Fotos ihrer Kat-
tätiger institutioneller Akteur*innen und analysieren, wie            zen Fey und Igor. Sie häkelte und stellte selbst gestrick-
Gewalt in die Architektur der „Pflege“ eingeschrieben ist.            te Handschuhe und Schals her, die sie in Plastiktüten
                                                                      steckte und auf Parkbänke legte, zusammen mit einem
Mel Baggs erlebte, was der Soziologe Erving Goffman die               Hinweis: „Wenn dir kalt ist, nimm sie bitte mit. Ich habe
„totale Institution“ nannte. Die Institution ist das Narra-           sie für dich gemacht.“
tiv, dem man unterworfen ist: „Sie können alles über dich
schreiben. Und was sie schreiben, kann die Art der Mani-              Mels Leben war ein ständiger Wille zur Autonomie und
pulations- und Verhaltensprogramme ändern, denen du                   ein Streben danach, Bedingungen zu schaffen, unter
ausgesetzt bist, dich aus deinem eigenen Zuhause heraus-              denen ihre Personhood/ihr Menschsein nicht abgestritten
holen und dich in ein Gruppenheim oder eine andere Ins-               würde. Baggs unschätzbare kritische Arbeit hat unser
titution bringen.“1 Eine ähnliche Beobachtung macht sie in            kollektives Verständnis von Disability Justice verändert
dem Text „Why I’d sometimes feel safer dying on a street              und lebt in die Gegenwart weiter.
corner than going to the hospital“,2 in welchem sie das
                                                                      „There is ableism somewhere at the heart of your oppres-
                                                                      sion, no matter what your oppression might be.“
1    https://cussinanddiscussin.wordpress.com/2018/05/04/
                                                                      — Mel Baggs
     they-dont-even-pretend-about-due-process/
2    https://cussinanddiscussin.wordpress.com/2018/06/05/why-id-so-
     metimes-feel-safer-dying-on-a-street-corner-than-going-to-the-   https://ballastexistenz.wordpress.com
     hospital/                                                        https://ameliabaggs.wordpress.com

10                                                                          Crip Magazine #4 / Non-compliance is a Social Skill
Julischka Stengele • Body Painting / Crip Magazine #4   11
ZEITREISENDE GESUCHT!
                                                 n teilzunehmen.
       Wir laden dich ein, am Utopie-Treffe
                                              dieser Galaxie die Möglichkeiten
       Auch heuer wird ein Team aus Leuten
                                            t wirkende Veränderungen ausloten.
       auf Terra in Bezug auf in die Zukunf
                                            Ereignisse herbeizudenken und da-
       Es geht darum, konkrete zukünftige
                                                nen.
       durch als Potential herbeiführen zu kön
                                                smal
        Der Fokus des Utopie-Treffens liegt die
                                                nung der bisherigen nationalen
        1. auf Ereignissen, die eine völlige Öff
                                                     irken und jenseits eines angst-
           Grenzen global und intergalaktisch bew
                                                  stehen würden. (Stichworte:
           besetzten Szenarios dieses Vorgangs
                                                    zwerkkarte, Reisegesellschaften,
           Weltenbürger*innenschaft, globale Net
           Campingplatz auf dem Mond).

                                              ZEIT in den Mittelpunkt gestellt, das
         2. Damit verbunden wird das Thema
                                                 ihren Planeten nicht verlassen
            vor allem jenen Bewohner*innen, die
                                                lches sind Möglichkeiten abseits
            können, große Probleme schafft. We
                                                 biopolitischen Zeitregimen?
            normativer – geradliniger Zeiten und
                                                  der Jetzt-Zeit (dem Aktionsraum
            Neben den Brüchen und Vielheiten in
                                                 h transhistorischen und futuristi-
            der Gegenwart) fragen wir dabei nac
            schen Aktionen.

                                                konkreter Wunschproduktion bis
         Die Mittel dieses Treffens reichen von
                                               r die fernste Zukunft, die tiefste
         zur Erschaffung von Geschichten übe
                                              ensionen in Bezug auf die genannten
         Vergangenheit und andere linke Dim
                                                 und unorthodoxe Gesprächsab-
         Themen. Sie umfassen nützliche Spiele
                                              Bezug auf mind+body.
         läufe bzw. Minimalinterventionen in
                                               Teilnehmer*innen mögen einen
          Die mit uns in die Zukunft reisenden
                                               t und/oder Bewegung/Räumlichkeit/
          Wunsch/Idee zu Zeit/Tempo/Zukunf
          Grenzen mitnehmen.
                                              en sich
          Auf das Zusammenreffen mit euch freu

           EVA+LINDA vulgo evalinda 1+2
                                              rischen Grill mit!
           Bitte nehmt Elemente für den vegeta

12   Crip Magazine #4 / Linda Bilda & Eva Egermann • Einladung zum Utopieclub-Treffne 2011 in der Zacherlfabrik
UNENDLICHE ARBEIT,
UNENDLICHE MÜDIGKEIT
UND DIE VERLETZLICHKEIT
DER WÜNSCHE                                                               von Katja Rothe

Depression als Symptom psychopolitischer Zurichtung durch Arbeit im       skizziert 1998 den medizinischen und sozialen Aufstieg der De-
Neoliberalismus, inspirierte Müdigkeit sowie Kritik an dem Unendlich-     pression in Frankreich und beschreibt diese Erfolgsgeschichte als
werden der Arbeit und der Positivität des Könnens, wofür es eine andere   Parallelerscheinung zum Niedergang des disziplinierten Subjekts
Art von Kritik und Sorge braucht.                                         (Ehrenberg, 2011: 53).

Depression bildet heute die Gegenthese zur Allgegenwärtigkeit             „[I]m Verlauf der letzten drei oder vier Jahrzehnte des 20. Jahr-
von Arbeit und Produktivität. Menschen mit Depressionen sind              hunderts wurden völlig neue soziale Handlungsideale einge-
Gegenfiguren des überall geforderten flexiblen unternehmerischen         richtet. Schrittweise wurde eine auf Disziplin, mechanischen
Selbst, meint die Psychologin und Kulturwissenschaftlerin Katja           Gehorsam, Konformität und Verboten gegründete Gesellschaft
Rothe und geht anhand verschiedener soziologischer und philo-             durch eine Gesellschaft verdrängt, die auf Autonomie, das heißt
sophischer Texte den Bedeutungszuschreibungen von Depression              persönliche Leistung, Wahlfreiheit, Eigenverantwortung und die
als Pathologie oder Symptom moderner Gesellschaften nach und              Initiative des Einzelnen setzt.“ (Ehrenberg, 2011: 53)
schlägt schließlich vor, das Depressive als eine Form der Bindung
an unsere uneinholbaren Wünschen und Fantasien zu verstehen.              Ehrenberg geht es um ein Verständnis der Depression als „Patho-
                                                                          logie der Größe“, die die globalen Veränderungen der Subjektivie-
Arbeit ist überall. In „Wissensgesellschaften“, die auf Kommunika-       rung begleitet. Der Depressive ist eine Figur des Scheiterns in der
tion und Innovation, Kompetenzen und Projekte setzen, scheint             modernen Arbeitswelt und die Depression ein Grenzwert inner-
es kein Entkommen vor der Arbeit zu geben. Auch Beziehung                 halb einer „Demokratisierung des Außergewöhnlichen“. Während
und Erziehung ist Arbeit, erst recht die eigene Persönlichkeit und       Ehrenberg sich dagegen wehrt, die Depression als Folge des
Karriere. Jeder soziale Aushandlungsprozess, jede schöpferische          Kapitalismus zu verstehen (Ehrenberg, 2010: 53) und dezidiert
Auseinandersetzung unterliegt der Logik des Arbeitens, einer              nicht auf die immanente Gewalt von Arbeitsverhältnissen und
Logik der aktiven Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen und            der Ökonomisierung der Lebensverhältnisse verweist, beschreibt
der Selbstverwirklichung. Arbeit wird gegenwärtig vor allem als          beispielsweise Alexandra Rau die Depression als Formation
eine schöpferische und kreative Auseinandersetzung gesehen,              innerhalb einer „Psychopolitik““1, welche Folge dieses „seit den
die für das Selbstwertgefühl des Einzelnen von zentraler Bedeu-         1980er Jahren beobachtbaren fundamentalen Formwandels von
tung ist, so jedenfalls die Diagnose der deutschsprachigen und            Lohnarbeit und der Ware Arbeitskraft“ sei (Rau, 2009: 71).
französischen Soziologie (Boltanski, Chiapello, 2003; Reckwitz,
2006; Bröckling, 2007; Ehrenberg, 2008 [1998], 2012 [2010]). Das         Die „Psychopolitik“ stehe im Zeichen von Gouvernementalität2
„Ideal der kreativen Selbstverwirklichung“ ist zur zentralen              und Selbststeuerung, die in der Subjektivität selbst zum Pro-
Kategorie des Arbeitens geworden. Gerade hier setze auch die              duktivfaktor wird. Die Psyche ist „Schauplatz der Macht in
Depression ein.                                                           postfordistischen Arbeitsverhältnissen“ (Rau, 2009: 72). Gerade
                                                                          auch das Leiden der Psyche, die Depression, sei „noch Teil der
In welchem Verhältnis stehen aber Arbeit und Nicht-Arbeit zur            psychischen Arbeit am Selbst“ (ebd.). Für Rau ist also die De-
Depression? Auf den ersten Blick scheint hier die Antwort leicht:         pression nicht nur Pathologie der Arbeit, sondern Institution
Die Depression ist eine Form der Nicht-Arbeit, welche die Arbeit          der psychopolitischen Zurichtung durch Arbeit, in der auch das
unterbricht, eine Art Negativpol zum positivistischen Selbstver-          Leiden für eine Regierung seiner selbst funktionalisiert wird. Die
wirklichungsimperativ der permanent Arbeitenden. Aber das De-
pressive ist nicht einfach das (stigmatisierte) Gegenteil der Arbeit
                                                                          1   Mit dem Begriff „Psychopolitik“ charakterisiert Rau eine neue
(wie etwa Arbeitslosigkeit).
                                                                              Regierungsweise, die die neoliberale Gesellschaft kennzeichnet
                                                                              und sich durch die Entstehung der modernen Psyche und damit
Der französische Soziologe Alain Ehrenberg etwa legte bereits                korrespondierender Kämpfe herausgebildet hat (Rau, 2010).
1998 eine Untersuchung zur Depression vor, in der diese als               2   Der Begriff „Gouvernementalität“ geht auf den französischen
Krankheit definiert wird, welche die Verwerfungen und Verletz-                Gesellschaftstheoretiker Michel Foucault zurück und beschreibt
lichkeiten einer Subjektwerdung im Zeichen von Autonomie                      eine neue Form von Macht, die nicht durch Disziplin, Norm und
und Aktivität thematisiert (Ehrenberg, 2008 [1998]). Ehrenberg               Kontrolle, sondern durch das Selbstregieren funktioniert.

Katja Rothe / Crip Magazine #4                                                                                                              13
Depression ist hier nicht als Abweichung von einer „normalen“         ständig Folgeprojekte, Arbeit immer neue Arbeit, sie scheint an
Arbeitsfähigkeit und Zeichen des persönlichen Scheiterns zu ver-      kein Ende mehr zu kommen.
stehen, sondern als Symptom der Psychomacht und neoliberaler
Arbeitsverhältnisse.                                                  Philosophen wie Byung-Chul Han sehen in diesem Imperativ zur
                                                                      Produktivität und dem Unendlich-Werden der Arbeit ein Übermaß
Depression und Arbeitsverhältnisse stehen also in unmittelba-         an Positivität, die zu einem „psychischen Infarkt“ (Han, 2010: 7) füh-
rem Zusammenhang. Die gegenwärtigen Arbeitsverhältnisse und           re. Wie Alain Ehrenberg beschreibt auch Byung-Chul Han Depres-
damit verbundenen Subjektivierungen schaffen ein psychisches          sion als Teil der „pathologischen Landschaft des beginnenden 21.
Leiden, das gewissermaßen den anderen Pol der Arbeit bildet.          Jahrhunderts“ (Han, 2010: 7). Die Leistungsgesellschaft sei von einer
Während Depression im öffentlichen Diskurs lange als „(Haus-)         „Positivität des Könnens“ bestimmt, in der das Paradigma der Dis-
Frauenkrankheit“ galt und gerade diejenigen betraf, die keiner        ziplin durch das „Positivschema des Könnens“ ersetzt wurde (Han,
Lohnarbeit nachgingen, und unter dem Verdacht stand, eine             2010: 21), welches eine weitere Steigerung der Effizienz verspricht:
Folge der „Langeweile“ zu sein, befällt die Depression in Europa      „Nicht der Imperativ, nur sich selbst zu gehören, sondern der Leis-
seit dem 21. Jahrhunderts medienwirksam Führungskräfte der            tungsdruck verursacht die Erschöpfungsdepression.“ (Han, 2010: 22)
sogenannten Leistungsgesellschaft. 2006 bringen sich Manager          Die Depression ist eine logische Konsequenz einer Leistungsgesell-
von Renault um, es folgt eine Suizidwelle im unter Managern in        schaft, in der die Gewalttätigkeit der übersteigerten Positivität zu
Frankreich. Seit dem Selbstmord des deutschen Nationaltor-            einem „internalisierten Krieg“ (Han, 2010: 24) gegen sich selbst führt.
warts Robert Enke 2010 ist das Thema Depression im deutschen          Die Depression sei eine „Schaffens- und Könnensmüdigkeit. Die Klage
Profifußball und den Medien angekommen. Allgegenwärtig in den         des depressiven Individuums Nichts ist möglich ist nur in einer Ge-
Führungsetagen scheint zudem das Burnout. Es gehört zum guten        sellschaft möglich, die glaubt, Nichts ist unmöglich.“ (Han, 2010: 23f,
Ton, burnoutgefährdet zu sein, denn es zeigt an, wie stark man       Hervorhbg. der Autor).
sich engagiert und über seine Grenzen geht.
                                                                      Diesem „Übermaß an Positivität oder Möglichkeit“ (Han, 2010: 50)
                                                                      der gegenwärtigen Gesellschaft setzt Han eine „negative Potenz“
Arbeit und Nicht-Arbeit                                               des Nicht-Handelns und Nicht-Wollens, die sich in „Müdigkeit“
                                                                      ausdruckt (Han, 2010: 56f ) als utopisches Gegenbild entgegen, die
Die Beziehung zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit selbst hat in den      sich bewusst dem „Primat des Handels“ (Han, 2010: 32) entzieht,
letzten Jahren eine radikale Veränderung erfahren. Durch den          aber alles andere als passiv ist.
Taylorismus wurde Zeit als objektive Größe der Messung von
Arbeit eingeführt. Die im Postfordismus immaterieller werdende
Arbeit wurde immer ununterscheidbarer von Nicht-Arbeit. Im-           Depressiver Realismus
materielle Arbeit ist geprägt von sprachlicher, körperlicher und
sozialer Kommunikation und ist heute in den Zyklus der Kapital-       Diese Dichotomie von Arbeit und Nicht-Arbeit weicht bei Lauren
reproduktion integriert (Lazzarato, 1998: 53).                        Berlant einer Ambivalenz, in der die „bloße Impotenz“ des Depres-
                                                                      siven jede Form einer Utopie bzw. Möglichkeit eines guten Lebens
Wenn Arbeit aber mehr und mehr zur Kommunikation wird,                kritisch hinterfragt. Die Depression sei eine Form des Realismus
dann wird immer unklarer, wo Arbeit von Nicht-Arbeit zu unter-        und eine Art der ambivalenten Bindung an die Wünsche und Uto-
scheiden ist (Eikels, 2012: 20). Dementsprechend wurde z.B. die       pien eines besseren, inspirierteren, freieren Lebens in Arbeit bzw.
sogenannte „workperformance“ statt der Arbeitsleistung zum            Nicht-Arbeit.
Kriterium der Wertmessung von Arbeit. In der „workperfor-
mance“, also in den Inszenierungen der Arbeit, spitzen sich die       In ihrem Buch Cruel Optimism von 2006 skizziert Berlant eine prekäre
Schwierigkeiten, Arbeit bewertend zu erfassen (und eben von           Welt der Krisen, die das Nachkriegsversprechen auf ein gutes Leben
Nicht-Arbeit zu unterscheiden) vor allem im Dienstleistungssek-       nicht mehr einlösen kann. Nichtsdestotrotz spukt diese Fanta-
tor (die Bereiche Handel, Verkehr und öffentliche Haushalte), zu.     sie vom guten Leben weiter in unseren Köpfen herum. Während
Es werden Zielvereinbarungen getroffen und somit den Arbei-           Träume und optimistische Fantasien für ein Überleben im Alltag
tenden selbst die Gestaltung und auch Kontrolle ihres Arbeitsab-      zwar wichtig (Berlant, 2006: 35) sind, beschreibt Berlant grausamen
laufes auferlegt. Die Deadline ist nun der Punkt, der über Erfolg     Optimismus als Zustand, in dem eine verletzende und destruktive
und Misserfolg von Arbeit bestimmt. Eine Bewertung ist letztlich      Bindung („attachement“) mit der Hoffnung auf ein besseres Leben
erst im Nachhinein möglich und drückt sich im Erfolg des Pro-         überwiegt. Dem grausamen Optimismus stellt Berlant den „depres-
jektes aus. Es besteht so für die Arbeitenden die „Notwendigkeit,     siven Realismus“ gegenüber, der ganz im psychoanalytischen Sinne
Tätigkeit als Erfüllung von Zielen auszuweisen, deren Ermittlung      einer Depression das Begehren nach dem besseren Leben selbst in
zur Bewertung von Arbeit gehört“, was wiederum „ein perfor-           Frage stellt, die Hoffnung und das Versprechen (z.B. auf Arbeit oder
matives Format etabliert [...]: die Präsentation“ (Eikels, 2012:      Nicht-Arbeit) nicht mehr glauben kann. Die Grundfrage dieses de-
23f ). Die Arbeitenden sind in der Beweispflicht, dass das, was       pressiven Realismus würde lauten: „Why do people stay attached to
sie tun, Arbeit ist. Dabei sollen sie nicht einfach nur darstellen,   lives that don’t work?” (Berlant im Interview, McCabe, 2011).
dass sie ein vereinbartes Ziel erreicht haben. Vielmehr müssen
sie Zukunftspotentiale aufzeigen oder Innovationen erzeugen.          Depression ist dabei für Berlant ein affektiver Modus. Affekte
Ein durch eine Präsentation abgeschlossenes Projekt gebiert so        sind Möglichkeiten, etwas Authentisches über sich auszudrücken,

14                                                                                                    Crip Magazine #4 / Katja Rothe
Amelie Zadeh • o.T. / Crip Magazine #4   15
wofür man keine Worte hat und das rational oder semiotisch               Literatur
nicht einholbar ist. In der Depression erlebt man das In-der-Welt-
Sein als eine schwierige Verbindung zwischen einem vagen Zu-             — Berlant, Lauren (2006): Cruel Optimism, in: Differences: A
kunftsversprechen und der gelebten Realität (Berlant, 2011: 96f ).        Journal of Feminist Cultural Studies, 17.3, S. 20–36.
Man erlebt sich zwischen dem Versprechen auf Glück und der              — Berlant, Lauren (2011): Cruel Optimism. Durham (Duke
lebendigen, schwierigen Realität der Ausführung dieses Verspre-            University Press).
chens. Wir reagieren affektiv auf dieses Glücksversprechen in dem
Leben, welches diese Versprechen unmöglich/möglich werden                — Boltanski, Luc, Chiapello, Ève (2003): Der neue Geist des
lässt. Depressivität verbleibt in der Spannung zwischen Wunsch             Kapitalismus. Konstanz (UVK Universitätsverlag).
und Realität und findet keine „Erlösung“. Berlant fragt also eben-       — Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie
falls nach dem Möglichen, Potentiellen, aber nicht außerhalb der          einer Subjektivierungsform. Frankfurt/Main (Suhrkamp).
Realität. Die Depression ist hier nicht nur Symptom oder Patho-
                                                                         — Ehrenberg, Alain (2008): Das erschöpfte Selbst. Depression und
logie einer Gesellschaft, sondern kritisches Moment innerhalb
                                                                           Gesellschaft in der Gegenwart. Aus dem Französischen von
der Fantasien gemeinsamen Lebens. In dieser Spannung zwischen
                                                                           Manuela Lenzen, Martin Klaus. Frankfurt/Main (Suhrkamp).
Wunsch und Realität öffnet sich laut Berlant ein Raum für kriti-
                                                                           Frz. Original: La Fatigue d’être soi. Verlag Editions Odile Jacob,
sche Auseinandersetzung.
                                                                           1998.

Die Depression ist eine Form der affektiven, eben nicht bewusst          — Ehrenberg, Alain (2011): Depression: Unbehagen in der Kultur
gesetzten Kritik. Das Depressive rückt die „Verbundenheit“                 oder neue Formen der Sozialität, in: Menke, Christoph,
(„attachment“) mit den Wünschen, die Affekte, die die Hoffnun-             Rebentisch, Juliane (Hg.): Kreation und Depression. Freiheit im
gen erzeugen, aber auch die Angst ins Blickfeld einer Selbstreflexi-       gegenwärtigen Kapitalismus. Berlin (Kadmos), S. 52–62.
on, die „realistisch“ ist, d.h. die die Realität als eine uneinholbare   — Eikels, Kai van (2011): Nichtarbeitskämpfe, in: Etzold, Jörn,
mit einbezieht. Berlant plädiert für ein realistisches Verständnis        Schäfer, Martin Jörg (Hg.): Nicht-Arbeit. Politiken, Konzepte,
von Fantasie und fragt dezidiert danach, wie diese Fantasien               Ästhetiken. Weimar (Verlag der Bauhaus-Universität Weimar),
funktionieren. Die Frage nach dem Funktionieren der fantasti-              S. 17–39.
schen Affektproduktion zielt somit ins Herz des Postfordismus.
                                                                         — Han, Byung-Chul (2012): Die Müdigkeitsgesellschaft. Berlin
                                                                           (Matthes & Seitz).
Einerseits fordert uns Berlant also auf, die Fantasien des guten
Lebens sowie die damit verbundenen Affekte zu respektieren,              — Latour, Bruno (2007): Das Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten
weil sie Menschen helfen, mit der Welt in Verbindung zu bleiben.           zu Dingen von Belang. Aus dem Englischen von Heinz Jatho.
Gleichzeitig nimmt sie die Haltung der depressiven Realistin ein           Zürich (Diaphanes).
und fragt nach dem Verhältnis der Fantasien des Dazugehörens             — Lazzarato, Maurizio (1998b): Verwertung und Kommunikation.
und den Bedingungen des Dazugehörens in einem konkreten                    Der Zyklus immatiereller Produktion, in: Atzert, Thomas
historischen Moment, nach ihren machtvollen und grausamen                  (Hg.): Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und
Wirkungen.                                                                 Subversion. Berlin (ID-Verlag), S. 53–65.
                                                                         — McCabe, Earl (2011): Depressive Realism: An Interview with
Depression legt die Verletzlichkeit der Wünsche offen, welche mit
                                                                           Lauren Berlant, in: Hypocrite Reader, 6.5: Realism, unter:
den Versprechen und Fantasien verbunden sind. Statt also die
                                                                           http://hypocritereader.com/5/depressive-realism/print, letzter
Depression als Form der Überaffirmation, der Kritik oder Kampf-
                                                                           Download 13.5.2021.
ansage an die Arbeit zu verstehen, möchte ich vorschlagen, das
Depressive als eine Art und Weise der Verbundenheit mit unseren          — Menke, Christoph, Rebentisch, Juliane (Hg.) (2011): Kreation
Fantasien zu begreifen. Dieser depressive Realismus wiederum               und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Berlin
würde durchaus eine „kritische“ Kraft aufweisen, da er die affek-          (Kadmos).
tive Resonanz unseres Verbundenseins in Frage stellt. Allerdings         — Rau, Alexandra (2009): Suizid und neue Leiden am
müsste dann der Begriff der Kritik selbst der Befragung unter-             Arbeitsplatz, in: Widerspruch, 29/56, S. 67–77.
zogen werden. Und hier trifft sich Berlant mit Bruno Latour, der
                                                                         — Rau, Alexandra (2010): Psychopolitik. Macht, Subjekt und Arbeit
eine neue Form der Kritik einfordert (Latour, 2007). Nicht mehr
                                                                           in der neoliberalen Gesellschaft. Frankfurt a.M., New York
die Geste der Aufdeckung, sondern die gemeinsame Sorge um
                                                                           (Campus).
die und die Verbundenheit mit den Dingen („matter of concern“)
sollten, so Latour, die Haltung des Kritikers ausmachen. Berlant         — Reckwitz, Andreas (2006): Das hybride Subjekt. Eine Theorie der
und Latour stimmen darin überein, dass in einer Haltung der               Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne.
Sorge eine neue kritische Praxis entstehe, die sich nicht auf eine         Weilerswist (Velbrück Wissenschaft).
aufklärerische Rationalität verlasse, sondern die Verletzlichkeit
der Wünsche zur kritischen und realistischen Haltung macht.

Stark gekürzte und redigierte Fassung. Die Originalfassung des
Texts von Katja Rothe ist unter: https://rothespraxis.de/ zu finden.

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Amelie Zadeh • o.T. / Crip Magazine #4   17
Nachdenken über
FEMINISTISCH
BEHINDERUNG
               Körperpolitiken in
               den 1970ern

               von Hanna Hacker
MIT / OHNE
               Was waren feministische Körperpolitiken in den 1970ern, und
               in welche Richtung gingen theoretische Analysen zu Krankheit/
               Gesundheit? Welche Narrative entstanden im Bereich feministi-
               scher Literatur und Kunst? Wie hielten es andere soziale Bewe-
               gungen mit Dis/Abilities?

               Body Politics und erste kritische Forschungen

                Westlicher Feminismus in den 1970ern, das bedeutete
                ganz klassisch, Sturm zu laufen gegen dominante „pa-
                triarchale“ Körpernormen. Zu protestieren gegen das
                Ideal des schlanken, glatten, deodorierten Frauenkör-
                pers, gegen bruchlos bürgerlich-weibliches Styling. Auch
                in Österreich codierte feministische Politik Formen von
                Körperausdruck als politisch, gestaltete alternative Out-
                fit-Regeln und setzte im Privaten wie im Öffentlichen body
                politics zentral. Schließlich gehörten die Frauengesund-
                heits- und Selbsthilfebewegung in diese Phase der Frauen-
                bewegung. Das bedeutete offensive Kritik an Monopolen
                des Gesundheitssystems und der Pharmaindustrie und
                dabei alternative Wissensproduktionen, die heute als
               „DIY“ bezeichnet werden würden.

               „Wir sind alle Hexen, Lesben, Prostituierte, Mörderinnen,
                Hysterikerinnen“, hießen gelegentliche Demo-Parolen. Aber
               „Behinderte“ standen nicht auf dieser Liste der widerständi-
                gen Identifikationen. Nicht-Weiße ebenso wenig, übrigens.

               Beim Nachdenken über analytische Ansätze zu „abwei-
               chenden“ physischen und psychischen Zuständen, die in
               den 1970ern mit viel Begeisterung rezipiert wurden, kom-
               me ich auf zwei: In der Studie Zur Krankheit gezwungen (dt.
               1976) konturierten Barbara Ehrenreich und Deirdre Eng-
               lish Frauen als das prototypisch „kranke“ Geschlecht des
               19. Jahrhunderts; die ständig von Schwächen gezeichnete,
               von Ärzten auf Monate und Jahre zu Bett gelegte bürgerli-
               che Frau und ihr Gegenstück, die auf allerlei Weisen „anste-
               ckende“ Proletarierin. Ein anderer Analysestrang befasste
               sich mit Frauen als dem „verrückten“ Geschlecht. Roswitha

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