CRIPMAGAZINE ISSUE 4, 2021 - DIE WIENER AUSGABE / THE VIENNA EDITION - KUNSTHALLE WIEN
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Impressum Inhalt Crip Magazine #4 Beitragende dieser Ausgabe Das Crip Magazine #4 wird einer Teilauflage Anne Faucheret und WHW Vorwort, 3 Tobi Adebajo, Persson Perry Baumgartinger, der Ausgabe 4/2021 der Zeitschrift an.schläge Katta Spiel Wheelchair Games, 4 Martin Bruch, Julius Deutschbauer / Gerhard (Abonennt*innen in Wien) beigelegt. Eine Spring, David Ernesto García Doell, Eva elektronische Version des Crip Magazine #4 Eva Egermann Egermann, Anne Faucheret, Candy Flip & wird ab Sommer 2021 unter „Unforgetting“ von Formen der Kollektivität, 5 Theo Meow, Em Gruber, Hanna Hacker, http://cripmagazine.evaegermann.com/ Zinaida Hierzer, Nataša Ilić, Ianina Ilitcheva, zum Download verfügbar sein. Unter diesem Em Gruber Barrikaden statt Barrieren, 6 Iris Kopera, MOB Industries, Leroy F. Moore Jr., Link findet ihr auch alle bisherigen Ausgaben Martin Bruch Bruchlandungen, 7 Barbara Putz-Plecko, Rick Reuther, Katja Rothe, gratis zum Download. Sickness Affinity Group, Nicole (voec) spiders, Sickness Affinity Group „In Liebe, das Katta Spiel, Julischka Stengele, Two Pigs under Die Crip Convention 2021 “Anti Stigma” erschöpfte mitfühlende Orakel“, 8–9 One Umbrella, Amelieh Zadeh (Präsentation, Filmprogramm, Crip Magazine “Non-compliance is a social skill”, ein Nachruf Gründungsgipfel) findet am Freitag 11. Juni 19 auf Mel Baggs, 10 In Erinnerung an Uhr & Sonntag 13. Juni 15 Uhr im Belvedere 21 Mel Baggs, Linda Bilda, Bob Flanagan, Skulpturengarten, Arsenalstrasse 1, Julischka Stengele Bodypainting, 11 Peter Gorsen, Ianina Ilitcheva 1030 Wien statt, Nähere Info: Linda Bilda & Eva Egermann belvedere.at/public-program-2021 Zeitreisende gesucht!, 12 Redaktion Eva Egermann, Anne Faucheret, WHW Die jeweilige Form der gendersensiblen Katja Rothe (Ivet Ćurlin, Nataša Ilić, Sabina Sabolović) Sprache bleibt den Autor*innen überlassen. Unendliche Arbeit, unendliche Müdigkeit und Reproduktionen mit schriftlicher Genehmigung die Verletzlichkeit der Wünsche, 13, 14, 16 Graphik der Autor*innen und Redaktion. Hiermit geben Amelie Zadeh o.T., 15, 17 Lana Grahek wir bekannt, dass namentlich gekennzeichnete Beiträge nicht unbedingt die Meinung der Hanna Hacker Cover Herausgeber*innen wiedergeben müssen. Feministisch mit/ohne Behinderung, 18–19 Katta Spiel, VR Hand ———— Das Sad Girl Manifest, 20 Produktion Danke an Sickness Affinity Group, Patrick Leroy Moore Jr. Beautiful Kripple Angel, 21 Hektor Peljak Anthofer, Bildbalance, Christiane Erharter, Persson Perry Baumgartinger Manuel Fronhofer, Lana Grahek, Em Gruber, Crip Queeropedia, 22–23 Übersetzung Vorwort Adina Hasler, Zinaida Hierzer, Günther Bert Rebhandl Hopfgartner, Jonathan Hörnig, Eliah Lüthi, IANINA ILITCHEVA @ blutundkaffee, 24–25 Rebecca Maskos, Hektor Peljak, Rick Reuther, Lektorat Matthias Julian, Eliah Lüthi, Katharina Two Pigs Under One Umbrella For Bob, 26 Manuel Fronhofer, Katharina Schniebs, Schniebs, Claudia Slanar, Lea Susemichel, RICK REUTHER feat. IANINA ILITCHEVA, 27 Nicole Suzuki Nicole Suzuki, Cordula Thym, sowie den Mitarbeiter*innen der Kunsthalle Wien und des David Ernesto García Doell und Eva Druck Anschläge Magazins und allen Mitwirkenden. Egermann Gemeinsam aus der Einsamkeit Gugler print GmbH, Melk, Österreich/Austria sprechen, 28–30 Zugänglichkeit Das Crip Magazine AMELIE ZADEH o.T., 31 Herausgeberinnen der Ausgabe #4 entwickelt sich im Prozess. Ziel ist es, möglichst Eva Egermann, Anne Faucheret, WHW barrierearme Zugänge zu schaffen. Die Texte Tobi ADEbajo (Ivet Ćurlin, Nataša Ilić, Sabina Sabolović) dieser Ausgabe liegen auf Deutsch oder Ableism Is, 32 / Utterances, 33 Englisch vor. Der Fließtext wurde in der Schrift Barbara Putz-Plecko und Eva Egermann Adresse der Redaktion Canela Text gesetzt, einer lesefreundlichen „Wir sind empfindlich geworden für die Kunsthalle Wien Schrift mit ausgestellten Serifen. Das Magazin alltägliche Wahnwelt, die man Normalität Museumsplatz 1, A-1070 Wien wird ab Sommer 2021 als barrierefreies nennt“(Peter Gorsen), 34–35 PDF gratis zum Download angeboten. Auf ———— Wunsch bieten wir Textformate an, die von Nicole (voec) spiders Ins schmelzende (Offenlegung gem. § 24 Mediengesetz) Screen-Readern gelesen werden können. Spinnennetz kuscheln, 36–38 Medieninhaberin und Herausgeberin Eva Wir arbeiten an der Übertragung in Alt Text Iris Kopera Hexenschuss, 37 Egermann E-mail cripmagazine@gmail.com (Bildbeschreibungen). Bitte kontaktiert uns falls Web http://cripmagazine.evaegermann.com/ ihr etwas beitragen wollt. Julischka Stengele Bodypainting, 39 Grundlegende Ausrichtung: Das Crip Magazine ist ein Projekt, das 2011 von der Künstlerin Eva Egermann initiiert wurde. kunsthalle wien KISS Julius Deutschbauer / Gerhard Spring Sprache der Behinderung, 40–42 MARTIN BRUCH Bruchlandungen, 43 In Kooperation mit Mit freundlicher Das Crip Magazine #4 wird im Rahmen von Belvedere 21 Unterstützung Kurzbiographien, 44, 46 KISS produziert und herausgegeben. KISS sind von DISTA eine Reihe von künstlerischen Beiträgen und Mob Industries Crip Vogue, 45 (Disability Auftragsarbeiten der Kunsthalle Wien, die im Studies Austria) Anzeigen, 47 Frühjahr 2020 nach dem ersten Lockdown in der COVID-19 Pandemie initiiert wurde. Eva Egermann Wagen zum Ausruhen, Disability Studies Austria Backcover 2 Crip Magazine #4
Vorwort erstreckte sich über den Sommer 2020; das zweite Kapitel findet im Frühling und Sommer 2021 statt.1 Der lose zeitliche Ablauf des gesamten Projekts folgt dem Rhythmus der Arbeiten und beteilig- ten Personen. von Anne Faucheret und WHW Kunsthalle Wien, März 2021 Halt dich fern, aber halt mich (2020), die Intervention von Eva Eger- mann für das erste Kapitel von KISS, fand an verschiedenen Orten im öffentlichen Raum in Wien statt. Sie bestand aus Plakaten und Die Covid-19-Pandemie verkörpert die komplexe Verflechtung al- einem Banner mit Texten der 2016 verstorbenen usbekisch-öster- ler Krisen, mit denen die Welt derzeit konfrontiert ist – und steht reichischen Autorin Ianina Ilitcheva, verbunden mit Fotografien, exemplarisch für die mangelnde Klarheit über einen möglichen mit denen Eva Egermann die Disability & Mad Pride Parade 2019 Ausweg. Die gegenwärtige Lage hat sich als Gelegenheit erwie- in Berlin wie auch ihre eigenen Krankenhausaufenthalte doku- sen, neoliberale Politiken zu beschleunigen, die Kontrolle über mentierte. Ianina Ilitcheva (@blutundkaffee) schrieb ihre Texte Körper auszuweiten, die Unterdrückung der arbeitenden Klassen und Verse u.a. während einer Selbstisolierung, in die sie sich 2015 zu intensivieren, soziale Mobilisierung zu behindern, Grenzen für ein halbes Jahr begab. Durch den Dialog dieser Texte mit zu verfestigen, Rassismus und Nationalismus zu schüren – und ihren eigenen Fotografien schuf Eva Egermann eine Kontaktzone die Herrschaft über Frauen und Minderheiten zu verschärfen. und einen Assoziationsraum.2 Gleichzeitig lassen sich die Pandemie und die damit verbundene Gesundheitskatastrophe auf ebendiese neoliberalen Logiken Die engagierte künstlerische Forschung von Eva Egermann zurückführen. Covid-19 konnte sich deswegen so stark verbreiten, ermöglicht das Teilen und das Zirkulieren von Praktiken und Wis- weil die Kürzungen im öffentlichen Gesundheitssystem, der un- sen – und knüpft somit neue Zusammenhänge. Unterschiedliche gehemmte Abbau von Rohstoffen, die anarchische Urbanisierung, Materialien kommen auf einer Wand, einem Plakat oder in einer die Entwaldung und Zerstörung natürlicher Lebensräume, die Zeitschrift zusammen. Seit 2012 gibt sie das Crip Magazine heraus, Privatisierung der Forschung sowie die Gewinnorientierung der eine kostenlose Publikation, die als kollektive Plattform fungiert pharmazeutischen Industrie schon weit vorangeschritten waren. und Beiträge von vielen verschiedenen Kulturproduzent*innen und Künstler*innen versammelt. Ausgehend von der Aneignung Gleichwohl haben die Menschen in ihrem Umgang mit der des Begriffs „Crip“, wie er sich in den Disability Studies und in Krise keine andere Wahl, als den Akteur*innen aus Politik und aktivistischen Zusammenhängen entwickelt hat, bringt das Maga- Wirtschaft zu vertrauen, denen es geradezu obsessiv um die zin die ableistische und hyperproduktive Rahmung von Körpern schnellstmögliche „Wiederbelebung der Wirtschaft“ geht. Diese im Kapitalismus zum Kippen. Bisher sind drei Ausgaben des Crip Akteur*innen setzen auf eine Stärkung der kollektiven Immunität Magazine erschienen: #1 Cripping Tyrol (2012), #2 Crip Art Resources und wollen „Risikogruppen“ strikt absondern, ohne dabei zu be- (2017) und #3 Actually, the Dead Are Not Dead (2019). rücksichtigen, dass es für viele Menschen schlichtweg unmöglich ist, sich zu isolieren. Die Pandemie betrifft jene Menschen beson- Im Rahmen von KISS hat Eva Egermann die vierte Ausgabe des ders stark, die aus den normativen Formen der Produktion, des Crip Magazine produziert – ihr haltet sie nun in den Händen. Diese Konsums und der Repräsentation ausgeschlossen sind und die Ausgabe setzt einen Schwerpunkt auf Wien, ohne andere Teile der Norm eines weißen, heterosexuellen, leistungsfähigen Körpers der Welt zu vernachlässigen. Sie versammelt Collagen, Gedichte, nicht entsprechen. Das Ausmaß der Pandemie verstärkt bestehen- Fotos, Zeichnungen, Instagram-Posts, Interviews und Faksimiles. de Unterschiede (und wird dies weiterhin tun), und zwar gar nicht Viele Beiträge entstanden eigens für dieses Heft, andere sind so sehr aus virologischen, sondern vielmehr aus sozialen und Nachdrucke, Neuformulierungen und Adaptionen. Alle teilen politischen Gründen. Es existieren skandalöse Ungleichheiten im gegenhegemoniale Erfahrungen und Wissensformen. In „Ausnah- Zugang zu Care-Leistungen und in den Möglichkeiten, sich und mesituationen“ erinnern uns diese Texte und Bilder an die Leben- nahestehende Menschen zu schützen. Der Ausschluss bestimmter digkeit kultureller Praktiken und die Notwendigkeit künstlerischer Existenzen aus dem sozialen Körper und ihre Opferung auf dem Interventionen. Kritisch und queer, radikal und crip, lassen sich Altar der Wirtschaft geschieht ganz bewusst. So sieht die sozial- die Beiträge auf Opazität und Unruhe ein, re-politisieren das täg- darwinistische Logik der Kontrollgesellschaft aus. liche Leben und stellen eine starke Verbindung zwischen Reprä- sentation und Widerstand her. Und: Sie beschwören eine Zukunft, In diesem Ausnahmezustand gilt Kultur als unwesentlich. Dabei die für Gleichberechtigung und Solidarität steht. sind künstlerische Beiträge nicht nur wertvolles Hilfsmittel gegen Melancholie, Trauer und Depression. Künstler*innen leisten auch tagtäglich politische Arbeit und zeigen uns neue Wege auf, mit Begriffen wie Immunität, Virulenz, Einsamkeit, Intimität, Ge- 1 Das erste Kapitel umfasste Beiträge von Eva Egermann, Thomas meinschaft und Widerstand umzugehen. Unmittelbar nach der Geiger, Margot Pilz und Johanna Tinzl. Eva Egermann und Rade Petrasevic tragen nun zum zweiten Teil von KISS bei. ersten Welle von Covid-19 stand dieser Glaube an das Potenzial 2 Die Künstlerin organisierte auch ein öffentliches Event im Central von Kunst hinter der Einladung der Kunsthalle Wien an einige Garden am Wiener Donaukanal mit einer Lecture-Performance Künstler*innen, sich mit den Auswirkungen der Pandemie und von Em Gruber, einer Lesung aus den Texten von Ianina Ilitcheva der sozialen Distanz auf Intimität, Begehren und Gemeinschaft und einem Screening von Romily Alice Waldens Film Notes from auseinanderzusetzen. Daraus entstand KISS, ein vielschichtiges the Underlands (2019). Der Abend unter dem Titel Halt mich fest! Langzeitprojekt im öffentlichen Raum. Das erste Kapitel von KISS fand im Juli 2020 statt. Vorwort / Crip Magazine #4 3
Editorial „Unforgetting“ von Formen der Kollektivität1 von Eva Egermann Einige von uns kennen sich mittlerweile Wenn Körper aufeinander aufpassen, Candy Flip & Theo Meow, Em Gruber, ziemlich gut damit aus. Der Ausbruch Verantwortung umverteilt wird, indivi- Hanna Hacker, Zinaida Hierzer, Ianina von Covid-19 führte zu einem Anstieg duelle Zusammenbrüche in kollektive In- Ilitcheva (†), Iris Kopera, MOB Industries, von psychischen Erkrankungen. Manche timität verwandelt werden2, können wir Leroy F. Moore Jr., Barbara Putz-Plecko, sind schon länger eher isoliert oder füh- die Zukunft gemeinschaftlich, solida- Rick Reuther, Katja Rothe, der Sickness len sich unten, an der Talsohle angekom- risch und nachhaltig gestalten. Um dort Affinity Group, Nicole (voec) spiders, men. Vor allem körperliche und soziale hinzukommen, müssen wir aufhören, Katta Spiel, Julischka Stengele, Two Pigs Stigmatisierungen erzeugen Hoffnungs- uns gegenseitig in einen Wettbewerb zu Under One Umbrella und Amelie Zadeh. losigkeit, Apathie und soziale Ängste. versetzen, sondern Allianzen schließen, Besonders danke ich den Mitarbei- Depressionen sind sowohl individuali- um uns weniger einsam zu fühlen. Die ter*innen der Kunsthalle Wien, die das sierte Leidenserfahrung als auch Aus- neoliberale Idee von Unabhängigkeit Projekt mit sehr viel Einsatz ermöglicht druck von sozialen Kräfteverhältnissen. hat ausgedient, denn es sollte um Inter- und diese Ausgabe gemeinsam mit mir dependenz, Kollektivität und Bezogen- produziert haben, insbesondere Anne Einerseits höchst persönlich und intim heit gehen. Faucheret und Lana Grahek. sind Emotionen gleichzeitig auch ge- sellschaftlich-strukturell und Motor Wenn es eine Stimmung gibt, die ich mit Mit Sommer 2021, genauer gesagt mit der von Ein- und Ausschlussprozessen. Sie dem Projekt vermitteln möchte, dann ist Crip Convention 20214, wird dieses Maga- können uns in Bewegung versetzen es eine Atmosphäre der Solidarität, die zinprojekt von einem Neugründungs- oder lähmend wirken, uns aufeinander Dinge in Bewegung versetzen kann. Es komitee5 weitergeführt werden und ich zu- oder voneinander wegbewegen. Es klingt vielleicht nicht sonderlich beschei- freue mich auf alles, was daraus entsteht. gibt materielle Bedingungen, die uns den, aber das Crip Magazine möchte so entfremden, isolieren und krank machen. etwas sein. Eine solidarische Struktur Altersarmut fällt zusammen mit Einsam- und Anti-Represssionsmittel inmitten 1 Mark Fisher, „Acid Communism“, keit, oft, zum Beispiel. Menschen mit Vitalismus und Selbstoptimierung. Ein Einleitung, https://my-blackout. Behinderungen sind Gewalt, Missbrauch, fahrender Raum für Austausch und Fer- com/2019/04/25/mark-fisher-acid-com- Diskriminierung und Beleidigung ausge- mentation von Diskursen, materialisiert munism-unfinished-introduction Mark setzt. Dabei geht es nicht um Einzelfälle, als künstlerisches Zeitschriftenprojekt. Fisher, „Acid Communism“, Einleitung, es ist eine diskriminierende Struktur, die Es ist ein fantastischer Ort.3 https://my-blackout.com/2019/04/25/ mark-fisher-acid-communism-unfinished- man Ableismus nennt. Das soziale Ver- introduction hältnis der Abwertung durchzieht auch In dieser Ausgabe geht es um unendliche 2 Mikkel Krause Frantzen, „A Future with das kulturelle Feld. Müdigkeit, utopische Zeitreisen, works No Future: Depression, the Left and the in progress, grausamen Optimismus, Politics of Mental Health“, https://la Die Covid-19-Krise hat gesellschaftliche Bruchlandungen, das unternehmerische reviewofbooks.org/article/future-no-futu- Gräben verstärkt, aber vor allem auch Selbst, Kunst und Krankheit, feministi- re-depression-left-politics-mental-health sichtbar gemacht. Sie hat uns nicht sches Sprechen im Plural, Blutergüsse, 3 Das Crip Magazine bezieht sich auf die zuletzt gezeigt, wie sehr wir Sozialität Vielsamkeiten und Barrierefreiheit, pan- historischen Kämpfe und die Geschichte brauchen und dass der Imperativ von cakes and pain, Berührung, den Form- der Behindertenrechtsbewegungen. Das Projekt entstand aus der Motivation her- Individualität und kompletter Auto- wandel von Lohnarbeit, Sich-Ausruhen, aus, einen gemeinschaftlichen Kontext zu nomie eine ableistische Fiktion ist. Wohlsein und klassenlose Gesellschaf- schaffen und künstlerische Perspektiven Während ich das hier schreibe, kämpft ten, Patriarchat und Psyche, Zen-Gär- aufzusuchen und zu versammeln. die Welt gerade mit der globalen Pan- ten, klebrige Dis-Identifikationen, den 4 Crip Convention, Anti Stigma (11. und demie. Und ich denke, es muss einfach Frühling und die Zerbrechlichkeit der 13. Juni 2021, Belvedere 21, in Wien). noch mehr möglich sein. Trotz all dem Wünsche. Herzliche Einladung! Mist, den wir erlebt haben. Dennoch. 5 Zum Zeitpunkt des Redaktionsschlus- Und gerade deswegen. Nach diesem un- Ich möchte allen danken, die mitgewirkt ses besteht das Gründungskomitee aus Persson Perry Baumgartinger, Tobias glaublichen Jahr habe ich die Hoffnung, haben und mit ihren Arbeiten in dieser Buchner, Lena Freimüller, Em Gruber, Su- dass noch mehr möglich ist. Und dass Ausgabe vertreten sind. In alphabeti- sanne Hamscha, Günther Hopfgartner, es anders sein kann. Vergesellschaftung, scher Reihenfolge: Tobi Adebajo, Pers- Gertraud Kremsner, Elisabeth Löffler, Anerkennung, Teilhabe und Inklusion. son Perry Baumgartinger, Linda Bilda (†), Lisa Pfahl, Vera Rebl, Katta Spiel, Julisch- Und immer wieder: das Zurückweisen Martin Bruch, Julius Deutschbauer / Ger- ka Stengele, Josefine Thom, Cordula von Scham und Beschämung. hard Spring, David Ernesto García Doell, Thym und Ruth Weismann. Eva Egermann • Editorial / Crip Magazine #4 5
Barrikaden statt Barrieren von Em Gruber Hallo, mein Name ist Em. Ich bin Die Lockerungen bedeuten, dass Untersuchungen und Schikanen be-hindert, ich bin verrückt, ich viele Leute jetzt wieder allein in durch unsensible Mediziner:innen bin queer, ich bin trans. Isolation sind. Lasst uns weiterhin und Therapeut:innen sind alles solidarisch bleiben und aufeinan- andere als hilfreich. Und ich bin im Stimmbruch – hof- der schauen! fe, ihr haltet das aus. Dieses Gesundheitssystem trau- Psychisch kranke Menschen wer- matisiert immer wieder. Viele Leute können heute nicht den oft dämonisiert – dabei sind hier sein – ein erhöhtes Risiko wir häufiger von Gewalt betroffen Mehrfach diskriminierte Akti- wegen Corona ist nur ein Grund als psychisch gesunde Menschen. vist:innen brennen nacheinan- davon. Die Ausgangsbeschränkun- Besonders Schwarze Menschen der aus, weil sie nicht nur all die gen waren schwer für viele. Zum und People of Color mit psychi- Scheiße der Mehrheitsgesellschaft Beispiel mussten queere Jugend- schen Krankheiten und Behinde- ertragen müssen, sondern auch liche und Kinder in oft nicht rungen sind von Polizeigewalt und jeden Tag gegen Windmühlen in unterstützenden oder feindlichen von medizinischem Rassismus den eigenen Communities kämp- Umgebungen bleiben. Wichtige betroffen. fen müssen. medizinische Maßnahmen wurden auf unbekannte Zeit verschoben. Auch in der Linken wird sich Ich will, dass wir alle nicht nur lustig gemacht über vermeintliche überleben können, sondern leben! Ich habe auch so oft gelesen, wie und wirkliche psychische Defizi- Ein gutes, selbstbestimmtes Leben wenig mein Leben und das Leben te, Krankheiten und körperliche für alle ist nicht zu viel verlangt. aller besonders gefährdeten Men- Merkmale von Rassist:innen und Wir müssen den Kapitalismus schen wert ist. Wie leicht man auf Co. Man versucht sich so von ih- zerschlagen. uns verzichten würde und wie viel nen abzugrenzen – kritisiert aber Wir müssen Bedürfnisse erfüllen, wichtiger Profit ist. nicht die diskriminierenden Aus- statt Menschen in Not zu krimina- sagen und Taten, sondern drängt lisieren und zu kontrollieren. Eugenik und Kapitalismus gehen nur kranke und behinderte Men- Wir müssen Grenzen öffnen. eben Hand in Hand. schen weiter an den Rand. Als weiße queere Leute müssen wir mit Schwarzen queeren, trans Einige Dinge waren auch gut: Psychische Krankheiten sind kein Menschen kämpfen. Viele Menschen haben jetzt einen individuelles Problem – sie entste- Wie Marsha P. Johnson sagte: Einblick davon, wie es ist, nicht hen oft durch den Leistungs- und „No pride for some of us without selbstbestimmt in Lokale und Konkurrenzdruck im Kapitalismus liberation for all of us.“ Veranstaltungen oder einkaufen und durch ständige Ausgrenzung gehen zu können. So ist es für und Diskriminierung. Es kann nicht Lasst uns Barrikaden bauen viele be-hinderte und chronisch sein, dass man Therapie dafür statt Barrieren. kranke und arme Menschen immer auch noch oft selbst bezahlen – auch vor Corona und nachher. muss. Vielleicht können wir all die barrie- refreien Maßnahmen beibehalten. Viele trans Personen brauchen Die Maßnahmen, die immer schon überlebenswichtige Maßnah- Em Gruber hat diesen Text am gefordert wurden und erst mach- men, um Geschlechtsdysphorie 24. Juli 2020 bei der Veranstaltung bar waren, als es alle Menschen zu lindern. Fehlende Akzep- Halt mich fest im Rahmen von betroffen hat. tanz, lange Wartezeiten, teure KISS vorgetragen. 6 Crip Magazine #4 / Em Gruber
1 2 1) Wien, Schottenfeldgasse/ Apollogasse 02.07.96, 17:27 2) Wien, U-Bahnstation Längenfeldgasse mit Andreas 20.06.96, 19:13 3) Hall i. T., Friedhof, nach Großmutter Ernestines Begräbnis 18.10.97, 10:32 3 Martin Bruch • Bruchlandungen / Crip Magazine #4 7
„In Liebe, to take the space and time we need while still being our fully creative selves, maybe needing different ideas das erschöpfte, around time and commitment. And I know there is a deep disappoint- ment in having to cancel, however canceling offers honesty that many mitfühlende can learn from. You have a lot to offer, we all do! Sincerely, your Oracle — Orakel …“ Kann ich mich auf einen fernen Stern träumen? Und wenn ja, was passiert dort? Was sehe, rieche, fühle ich dort? von der Sickness Affinity Group 1) Liebes Orakel, wie kann ich gut und kommunizieren kannst, desto Der ferne Stern sagt: „Guten Mor- mit mir und anderen sein, wie mehr kennt sich dein Kollektiv aus gen“, er nimmt dich in den Arm, kann ich arbeiten, kreativ, kollek- und kann das in Pläne einbeziehen. wenn du schlaflose Nächte hast. Er tiv schaffend, und Pläne machen, Natürlich ist die Unregelmäßigkeit schmeckt nach Geborgenheit. Wenn wenn meine Schmerzen zeitweise nicht leicht, aber das ist eben so und du magst, fühlst du Getragenheit. so unregelmäßig sind, dass ich das ist okay. Was passiert, ist das Sein ganz im selbst nicht weiß, was jetzt oder in Geh mit dir selbst um wie mit einer Jetzt, ganz im Licht, aufgehoben. einer Stunde oder morgen mög- gut befreundeten Person: Das ist lich oder unmöglich sein wird? eine gute Übung, wenn du dir stän- 2) dig Gedanken machst, schon wieder Natürlich kann ich das, und dort 1) nichts zu machen, obwohl du Grün- sehe, rieche und fühle ich alles, was My dear questioner, de hast (Freizeit ist auch ein Grund). mir guttut! My wish for you is that the peop- Love, Orakel — le and collectives you are making plans with can be supportive in this. 3) Wie findest du trotzdem einen My experience as a multi-voiced, Dear möglich oder unmöglich, Weg, mit dem Show- und Leis- collective being is that if you take This is such an important question. tungsdruck im Kunst- und Kultur- responsibility for a task or event, it I have struggled with it myself. I feld umzugehen, wenn Sich-Zeigen is helpful to have one or two “back- think the biggest tool you have is ein Problem ist und Angst macht? up” people, in case some of you can’t to be honest with yourself, and also make it. communicate your needs (which I 1) Danke für deine Frage, mit dieser I also want to tell you, that it is OK to totally know can be hard, and vulne- Angst bist du nicht allein! Es wäre cancel and to not be able to commit rable). Maybe it’s good to start with schön, wenn es mehr Austausch 100 %. The people in your life should the people with whom it is easier in darüber gäbe. Viele Leute, die damit help you plan with your pain, and your life, good friends, family, etc. Probleme haben, trauen sich nicht, not make it your burden alone. Those who will not blink if you need das zu sagen, und wirken so, als Big big Love to cancel but rather respond with würde ihnen der Druck gar nichts Your oracle an “Okay! take care, do you need ausmachen. Es würde schon helfen, anything?’’. When we practice taking wenn es sich etablieren würde, dass 2) space for our needs it slowly beco- es okay ist, rauszugehen, zu sagen, Wir alle haben den Leistungsdruck mes easier. When we find people in dass etwas zu viel ist, und öfter und Kapitalismus so verinnerlicht, our lives who accept and understand von den Dingen zu reden, die nicht dass wir immer damit hadern, nicht our needs the possibility to develop geklappt haben, die ich mich nicht produktiv genug zu sein. Aber: access intimacy and care around getraut habe usw. Rasten ist auch produktiv. Und je the needs we have begin to grow. It Und es wäre toll, eine Plattform zu mehr du deine Bedürfnisse kennst is slow and sometimes painful work haben, auf der Leute sich gegenseitig 8 Crip Magazine #4 / Sickness Affinity Group
unterstützen und Hilfe anbieten 2) Wie gehe ich besser mit Wut auf können, z. B. einander zu Veranstal- Ich finde, dass wir unbedingt Institutionen und auf ableistische tungen zu begleiten oder von einer über andere Formate nachdenken Handlungsweisen um? Veranstaltung zu erzählen, oder sollten. Das interessiert mich auch auch auf einer Veranstaltung von sehr. Hybride Veranstaltungen (die 1) einer Person zu erzählen, die nicht vor Ort, mit physischer Präsenz, Anfangen, sich Gehör zu verschaffen teilnehmen kann, aber gerne würde in kleineren Gruppen funktionie- und die Institutionen, vor allem die und darum gebeten hat, dass von ren und auch online übertragen Leitungsfunktionen, anzuschrei- ihr erzählt oder etwas gezeigt wird. werden) haben dasselbe Problem. ben. Wenn viele das machen, kön- Damit diese Form der Kunst- und Sie sind technisch wahrscheinlich nen sie uns irgendwann nicht mehr Kulturunterstützung irgendwann zum Alltag dazugehört. noch aufwändiger und kostspie- liger. Aber mir gefällt dabei, dass überhören. — — Diskussionen übertragen werden können und sich Menschen von Für Leute, die nicht sehen können Dear Oracle, außen durch (Schrift-)Nachrichten oder autistisch sind, ist es eben Lately I’ve been moving lots of beteiligen können. gut, wenn die eine Veranstaltung events into digital space. But it online und ohne Kamera ist, und doesn't give me the same sense of 3) es ist nicht gut, wenn Sichtbarkeit joy as meeting in person. I don’t An Zoom-Fatigue: Neue Formate verlangt wird. get paid extra for the extra tech- zu finden, ist total wichtig. Mir hilft nical and administrative work, es oft, die guten Seiten zu sehen. 1) which is exhausting. Is it always Wir könnten heute nicht live in Als verletzliches Orakel muss ich das worth to move things online? How dieser Konstellation zusammen bestätigen: Es ist viel schöner, online do we do it in a way that’s joyful? sein, wenn wir diese Technologie und, ohne sichtbar sein zu müssen, How can we radically reimagine nicht hätten. Ich denke, wenn wir dabei sein zu dürfen, dazuzugehören formats to fit the Corona setting, schnellere Verbindungen haben, ohne jegliche Erwartung, und alles rather than just doing the same bessere Audio- und Videoqualitä- mitmachen zu können, was mich in- thing as before, but now online? ten, wird das Ganze besser werden. teressiert, zu hören, was mich betrifft Is it sometimes better simply to Dennoch, Live-Begegnungen und und berührt, und mich ausruhen cancel? menschliche Berührung wird es zu können in jedem Moment, wenn Love, nicht ersetzen. nötig. In anderen Worten, bedin- Zoom Fatigue gungslose Zugehörigkeit wäre ideal. 4) Am besten wäre es, wenn auch der 1) Hallo Zoom-Erschöpfung, barrierefreie Live-Anlass noch statt- Es ist voll anstrengend in der globa- das scheint mir eine verzwickte finden könnte. len Stresssituation, die die Pandemie Situation zu sein. Ich schlage vor, mit sich bringt. die Vorteile der Zoom-Meetings Hybride Formen aus virtuell/im zu nutzen, sich mit den Dingen Das erschöpfte, mitfühlende Orakel Raum werden uns aber sicher auch und Eindrücken zu umgeben oder ist eine kollektive Stimme, die Künst- nach Corona beschäftigen und nicht zu umgeben, wie ich es mir ler*innen und Kulturarbeiter*innen mit wir können vielleicht auch virtuelle wünsche. Vielleicht ist es auch eine Krankheit, Behinderung oder Fürsorge- Formen finden, die lustvoll sind, Chance, die eigenen Wünsche dies- arbeit unterstützt, wenn sie sich mit deswegen sind Räume, in denen wir bezüglich mal ganz unabhängig Zugänglichkeit und Arbeitsbedingungen diese ausprobieren können, umso von anderen kennenzulernen. herumplagen. Der hier abgedruckte Text wichtiger. Schön wäre es, wenn es eine Mög- entstand während des Orakel-Work- Aus Zoom-Fatigue Dinge abzusa- lichkeit gäbe, sich auch in Zoom shops der Sickness Affinity Group (durch gen oder auch Extra-Bezahlung zu zwischendrin oder nachher noch RC, Fran & Clay) im Rahmen des „Sym- verlangen, wenn Extra-Arbeit an- zu treffen für Gespräche oder ein- posium der Unvernunft”. Danke an alle fällt, um Dinge virtuell zu gestalten: fach beieinanderzusitzen — da be- Teilnehmer*innen für die Zustimmung beides sind gute Strategien, um mit fragt das Orakel die Technik, sich zur Veröffentlichung. dieser Stresssituation umzugehen. dahingehend zu verbessern. Ich wünsche dir viel Kraft und In Liebe, das erschöpfte, http://www.sicknessaffinity.org/ Liebe (das Orakel hat auch Zoom- mitfühlende Orakel https://akademie-der-unvernunft.org/ Fatigue). — symposium-der-unvernunft/ Sickness Affinity Group / Crip Magazine #4 9
„NON- COMPLIANCE IS A SOCIAL SKILL“ — Mel Baggs (1980–2020) von Eva Egermann Es ist normal und völlig menschlich, auf nicht-traditionel- Kranken haus oder Pflegeeinrichtungen und institutionel- le Weise zu denken und zu kommunizieren. Menschsein ist le Räume als Orte der Erniedrigung beschreibt. ein Spektrum. Die autistische Bloggerin und Aktivistin Mel Baggs starb am 11. April 2020 im Alter von nur 39 Jahren Die bekannteste ihrer Veröffentlichungen ist wahrschein- an einem Atemversagen. Ihre Arbeit war für viele einfluss- lich das Video „In My Language“ aus dem Jahr 2007, reich und hatte einen enormen Einfluss auf heutige Dis- das die Erfahrung des Lebens als Person mit Autismus kurse in der Neurodiversitätsbewegung. beschreibt. Das fast neunminütige Video wurde online mehr als eine Million Mal angesehen. Auf CNN widmete Amanda Melissa Baggs wurde am 15. August 1980 in Baggs dieses Video all jenen, die von der Gesellschaft Mountain View, Kalifornien, geboren und wuchs umgeben ausgegrenzt und abgeschoben werden, weil ihre Form von Redwood-Bäumen auf, die später zu einem Bestand- der Kommunikation zu ungewöhnlich erscheint. teil ihrer Gedichte und Aquarelle wurden. Mel Baggs studierte am De Anza College in Kalifornien und am Ihre Videoarbeiten lösten Staunen und Stunden angereg- Bard College in Massachusetts. Sie entwickelte sich zur ter Diskussionen aus. Mels Arbeit hatte großen Einfluss Online-Aktivistin. auf etliche Kunst- und Kulturschaffende. Künstler*innen wie Mark Leckey, Wu Tsang oder Simon Vera Harder Zu Mel Baggs’ Blogs zählte z. B. Ballastexistenz, benannt bezogen sich in ihren Projekten auf die Arbeit von Mel nach einem Propagandabegriff im Nationalsozialismus. Baggs. Das Video „In My Language“ wurde 2020 auf der Ihre Blogbeiträge, so Sarah Cavar bei der Society for Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst gezeigt. Disability Studies Conference 2021, beschreiben ihre Er- fahrungen in der institutionellen Pflege, die Macht gewalt- Baggs veröffentlichte auch Gedichte und Fotos ihrer Kat- tätiger institutioneller Akteur*innen und analysieren, wie zen Fey und Igor. Sie häkelte und stellte selbst gestrick- Gewalt in die Architektur der „Pflege“ eingeschrieben ist. te Handschuhe und Schals her, die sie in Plastiktüten steckte und auf Parkbänke legte, zusammen mit einem Mel Baggs erlebte, was der Soziologe Erving Goffman die Hinweis: „Wenn dir kalt ist, nimm sie bitte mit. Ich habe „totale Institution“ nannte. Die Institution ist das Narra- sie für dich gemacht.“ tiv, dem man unterworfen ist: „Sie können alles über dich schreiben. Und was sie schreiben, kann die Art der Mani- Mels Leben war ein ständiger Wille zur Autonomie und pulations- und Verhaltensprogramme ändern, denen du ein Streben danach, Bedingungen zu schaffen, unter ausgesetzt bist, dich aus deinem eigenen Zuhause heraus- denen ihre Personhood/ihr Menschsein nicht abgestritten holen und dich in ein Gruppenheim oder eine andere Ins- würde. Baggs unschätzbare kritische Arbeit hat unser titution bringen.“1 Eine ähnliche Beobachtung macht sie in kollektives Verständnis von Disability Justice verändert dem Text „Why I’d sometimes feel safer dying on a street und lebt in die Gegenwart weiter. corner than going to the hospital“,2 in welchem sie das „There is ableism somewhere at the heart of your oppres- sion, no matter what your oppression might be.“ 1 https://cussinanddiscussin.wordpress.com/2018/05/04/ — Mel Baggs they-dont-even-pretend-about-due-process/ 2 https://cussinanddiscussin.wordpress.com/2018/06/05/why-id-so- metimes-feel-safer-dying-on-a-street-corner-than-going-to-the- https://ballastexistenz.wordpress.com hospital/ https://ameliabaggs.wordpress.com 10 Crip Magazine #4 / Non-compliance is a Social Skill
Julischka Stengele • Body Painting / Crip Magazine #4 11
ZEITREISENDE GESUCHT! n teilzunehmen. Wir laden dich ein, am Utopie-Treffe dieser Galaxie die Möglichkeiten Auch heuer wird ein Team aus Leuten t wirkende Veränderungen ausloten. auf Terra in Bezug auf in die Zukunf Ereignisse herbeizudenken und da- Es geht darum, konkrete zukünftige nen. durch als Potential herbeiführen zu kön smal Der Fokus des Utopie-Treffens liegt die nung der bisherigen nationalen 1. auf Ereignissen, die eine völlige Öff irken und jenseits eines angst- Grenzen global und intergalaktisch bew stehen würden. (Stichworte: besetzten Szenarios dieses Vorgangs zwerkkarte, Reisegesellschaften, Weltenbürger*innenschaft, globale Net Campingplatz auf dem Mond). ZEIT in den Mittelpunkt gestellt, das 2. Damit verbunden wird das Thema ihren Planeten nicht verlassen vor allem jenen Bewohner*innen, die lches sind Möglichkeiten abseits können, große Probleme schafft. We biopolitischen Zeitregimen? normativer – geradliniger Zeiten und der Jetzt-Zeit (dem Aktionsraum Neben den Brüchen und Vielheiten in h transhistorischen und futuristi- der Gegenwart) fragen wir dabei nac schen Aktionen. konkreter Wunschproduktion bis Die Mittel dieses Treffens reichen von r die fernste Zukunft, die tiefste zur Erschaffung von Geschichten übe ensionen in Bezug auf die genannten Vergangenheit und andere linke Dim und unorthodoxe Gesprächsab- Themen. Sie umfassen nützliche Spiele Bezug auf mind+body. läufe bzw. Minimalinterventionen in Teilnehmer*innen mögen einen Die mit uns in die Zukunft reisenden t und/oder Bewegung/Räumlichkeit/ Wunsch/Idee zu Zeit/Tempo/Zukunf Grenzen mitnehmen. en sich Auf das Zusammenreffen mit euch freu EVA+LINDA vulgo evalinda 1+2 rischen Grill mit! Bitte nehmt Elemente für den vegeta 12 Crip Magazine #4 / Linda Bilda & Eva Egermann • Einladung zum Utopieclub-Treffne 2011 in der Zacherlfabrik
UNENDLICHE ARBEIT, UNENDLICHE MÜDIGKEIT UND DIE VERLETZLICHKEIT DER WÜNSCHE von Katja Rothe Depression als Symptom psychopolitischer Zurichtung durch Arbeit im skizziert 1998 den medizinischen und sozialen Aufstieg der De- Neoliberalismus, inspirierte Müdigkeit sowie Kritik an dem Unendlich- pression in Frankreich und beschreibt diese Erfolgsgeschichte als werden der Arbeit und der Positivität des Könnens, wofür es eine andere Parallelerscheinung zum Niedergang des disziplinierten Subjekts Art von Kritik und Sorge braucht. (Ehrenberg, 2011: 53). Depression bildet heute die Gegenthese zur Allgegenwärtigkeit „[I]m Verlauf der letzten drei oder vier Jahrzehnte des 20. Jahr- von Arbeit und Produktivität. Menschen mit Depressionen sind hunderts wurden völlig neue soziale Handlungsideale einge- Gegenfiguren des überall geforderten flexiblen unternehmerischen richtet. Schrittweise wurde eine auf Disziplin, mechanischen Selbst, meint die Psychologin und Kulturwissenschaftlerin Katja Gehorsam, Konformität und Verboten gegründete Gesellschaft Rothe und geht anhand verschiedener soziologischer und philo- durch eine Gesellschaft verdrängt, die auf Autonomie, das heißt sophischer Texte den Bedeutungszuschreibungen von Depression persönliche Leistung, Wahlfreiheit, Eigenverantwortung und die als Pathologie oder Symptom moderner Gesellschaften nach und Initiative des Einzelnen setzt.“ (Ehrenberg, 2011: 53) schlägt schließlich vor, das Depressive als eine Form der Bindung an unsere uneinholbaren Wünschen und Fantasien zu verstehen. Ehrenberg geht es um ein Verständnis der Depression als „Patho- logie der Größe“, die die globalen Veränderungen der Subjektivie- Arbeit ist überall. In „Wissensgesellschaften“, die auf Kommunika- rung begleitet. Der Depressive ist eine Figur des Scheiterns in der tion und Innovation, Kompetenzen und Projekte setzen, scheint modernen Arbeitswelt und die Depression ein Grenzwert inner- es kein Entkommen vor der Arbeit zu geben. Auch Beziehung halb einer „Demokratisierung des Außergewöhnlichen“. Während und Erziehung ist Arbeit, erst recht die eigene Persönlichkeit und Ehrenberg sich dagegen wehrt, die Depression als Folge des Karriere. Jeder soziale Aushandlungsprozess, jede schöpferische Kapitalismus zu verstehen (Ehrenberg, 2010: 53) und dezidiert Auseinandersetzung unterliegt der Logik des Arbeitens, einer nicht auf die immanente Gewalt von Arbeitsverhältnissen und Logik der aktiven Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen und der Ökonomisierung der Lebensverhältnisse verweist, beschreibt der Selbstverwirklichung. Arbeit wird gegenwärtig vor allem als beispielsweise Alexandra Rau die Depression als Formation eine schöpferische und kreative Auseinandersetzung gesehen, innerhalb einer „Psychopolitik““1, welche Folge dieses „seit den die für das Selbstwertgefühl des Einzelnen von zentraler Bedeu- 1980er Jahren beobachtbaren fundamentalen Formwandels von tung ist, so jedenfalls die Diagnose der deutschsprachigen und Lohnarbeit und der Ware Arbeitskraft“ sei (Rau, 2009: 71). französischen Soziologie (Boltanski, Chiapello, 2003; Reckwitz, 2006; Bröckling, 2007; Ehrenberg, 2008 [1998], 2012 [2010]). Das Die „Psychopolitik“ stehe im Zeichen von Gouvernementalität2 „Ideal der kreativen Selbstverwirklichung“ ist zur zentralen und Selbststeuerung, die in der Subjektivität selbst zum Pro- Kategorie des Arbeitens geworden. Gerade hier setze auch die duktivfaktor wird. Die Psyche ist „Schauplatz der Macht in Depression ein. postfordistischen Arbeitsverhältnissen“ (Rau, 2009: 72). Gerade auch das Leiden der Psyche, die Depression, sei „noch Teil der In welchem Verhältnis stehen aber Arbeit und Nicht-Arbeit zur psychischen Arbeit am Selbst“ (ebd.). Für Rau ist also die De- Depression? Auf den ersten Blick scheint hier die Antwort leicht: pression nicht nur Pathologie der Arbeit, sondern Institution Die Depression ist eine Form der Nicht-Arbeit, welche die Arbeit der psychopolitischen Zurichtung durch Arbeit, in der auch das unterbricht, eine Art Negativpol zum positivistischen Selbstver- Leiden für eine Regierung seiner selbst funktionalisiert wird. Die wirklichungsimperativ der permanent Arbeitenden. Aber das De- pressive ist nicht einfach das (stigmatisierte) Gegenteil der Arbeit 1 Mit dem Begriff „Psychopolitik“ charakterisiert Rau eine neue (wie etwa Arbeitslosigkeit). Regierungsweise, die die neoliberale Gesellschaft kennzeichnet und sich durch die Entstehung der modernen Psyche und damit Der französische Soziologe Alain Ehrenberg etwa legte bereits korrespondierender Kämpfe herausgebildet hat (Rau, 2010). 1998 eine Untersuchung zur Depression vor, in der diese als 2 Der Begriff „Gouvernementalität“ geht auf den französischen Krankheit definiert wird, welche die Verwerfungen und Verletz- Gesellschaftstheoretiker Michel Foucault zurück und beschreibt lichkeiten einer Subjektwerdung im Zeichen von Autonomie eine neue Form von Macht, die nicht durch Disziplin, Norm und und Aktivität thematisiert (Ehrenberg, 2008 [1998]). Ehrenberg Kontrolle, sondern durch das Selbstregieren funktioniert. Katja Rothe / Crip Magazine #4 13
Depression ist hier nicht als Abweichung von einer „normalen“ ständig Folgeprojekte, Arbeit immer neue Arbeit, sie scheint an Arbeitsfähigkeit und Zeichen des persönlichen Scheiterns zu ver- kein Ende mehr zu kommen. stehen, sondern als Symptom der Psychomacht und neoliberaler Arbeitsverhältnisse. Philosophen wie Byung-Chul Han sehen in diesem Imperativ zur Produktivität und dem Unendlich-Werden der Arbeit ein Übermaß Depression und Arbeitsverhältnisse stehen also in unmittelba- an Positivität, die zu einem „psychischen Infarkt“ (Han, 2010: 7) füh- rem Zusammenhang. Die gegenwärtigen Arbeitsverhältnisse und re. Wie Alain Ehrenberg beschreibt auch Byung-Chul Han Depres- damit verbundenen Subjektivierungen schaffen ein psychisches sion als Teil der „pathologischen Landschaft des beginnenden 21. Leiden, das gewissermaßen den anderen Pol der Arbeit bildet. Jahrhunderts“ (Han, 2010: 7). Die Leistungsgesellschaft sei von einer Während Depression im öffentlichen Diskurs lange als „(Haus-) „Positivität des Könnens“ bestimmt, in der das Paradigma der Dis- Frauenkrankheit“ galt und gerade diejenigen betraf, die keiner ziplin durch das „Positivschema des Könnens“ ersetzt wurde (Han, Lohnarbeit nachgingen, und unter dem Verdacht stand, eine 2010: 21), welches eine weitere Steigerung der Effizienz verspricht: Folge der „Langeweile“ zu sein, befällt die Depression in Europa „Nicht der Imperativ, nur sich selbst zu gehören, sondern der Leis- seit dem 21. Jahrhunderts medienwirksam Führungskräfte der tungsdruck verursacht die Erschöpfungsdepression.“ (Han, 2010: 22) sogenannten Leistungsgesellschaft. 2006 bringen sich Manager Die Depression ist eine logische Konsequenz einer Leistungsgesell- von Renault um, es folgt eine Suizidwelle im unter Managern in schaft, in der die Gewalttätigkeit der übersteigerten Positivität zu Frankreich. Seit dem Selbstmord des deutschen Nationaltor- einem „internalisierten Krieg“ (Han, 2010: 24) gegen sich selbst führt. warts Robert Enke 2010 ist das Thema Depression im deutschen Die Depression sei eine „Schaffens- und Könnensmüdigkeit. Die Klage Profifußball und den Medien angekommen. Allgegenwärtig in den des depressiven Individuums Nichts ist möglich ist nur in einer Ge- Führungsetagen scheint zudem das Burnout. Es gehört zum guten sellschaft möglich, die glaubt, Nichts ist unmöglich.“ (Han, 2010: 23f, Ton, burnoutgefährdet zu sein, denn es zeigt an, wie stark man Hervorhbg. der Autor). sich engagiert und über seine Grenzen geht. Diesem „Übermaß an Positivität oder Möglichkeit“ (Han, 2010: 50) der gegenwärtigen Gesellschaft setzt Han eine „negative Potenz“ Arbeit und Nicht-Arbeit des Nicht-Handelns und Nicht-Wollens, die sich in „Müdigkeit“ ausdruckt (Han, 2010: 56f ) als utopisches Gegenbild entgegen, die Die Beziehung zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit selbst hat in den sich bewusst dem „Primat des Handels“ (Han, 2010: 32) entzieht, letzten Jahren eine radikale Veränderung erfahren. Durch den aber alles andere als passiv ist. Taylorismus wurde Zeit als objektive Größe der Messung von Arbeit eingeführt. Die im Postfordismus immaterieller werdende Arbeit wurde immer ununterscheidbarer von Nicht-Arbeit. Im- Depressiver Realismus materielle Arbeit ist geprägt von sprachlicher, körperlicher und sozialer Kommunikation und ist heute in den Zyklus der Kapital- Diese Dichotomie von Arbeit und Nicht-Arbeit weicht bei Lauren reproduktion integriert (Lazzarato, 1998: 53). Berlant einer Ambivalenz, in der die „bloße Impotenz“ des Depres- siven jede Form einer Utopie bzw. Möglichkeit eines guten Lebens Wenn Arbeit aber mehr und mehr zur Kommunikation wird, kritisch hinterfragt. Die Depression sei eine Form des Realismus dann wird immer unklarer, wo Arbeit von Nicht-Arbeit zu unter- und eine Art der ambivalenten Bindung an die Wünsche und Uto- scheiden ist (Eikels, 2012: 20). Dementsprechend wurde z.B. die pien eines besseren, inspirierteren, freieren Lebens in Arbeit bzw. sogenannte „workperformance“ statt der Arbeitsleistung zum Nicht-Arbeit. Kriterium der Wertmessung von Arbeit. In der „workperfor- mance“, also in den Inszenierungen der Arbeit, spitzen sich die In ihrem Buch Cruel Optimism von 2006 skizziert Berlant eine prekäre Schwierigkeiten, Arbeit bewertend zu erfassen (und eben von Welt der Krisen, die das Nachkriegsversprechen auf ein gutes Leben Nicht-Arbeit zu unterscheiden) vor allem im Dienstleistungssek- nicht mehr einlösen kann. Nichtsdestotrotz spukt diese Fanta- tor (die Bereiche Handel, Verkehr und öffentliche Haushalte), zu. sie vom guten Leben weiter in unseren Köpfen herum. Während Es werden Zielvereinbarungen getroffen und somit den Arbei- Träume und optimistische Fantasien für ein Überleben im Alltag tenden selbst die Gestaltung und auch Kontrolle ihres Arbeitsab- zwar wichtig (Berlant, 2006: 35) sind, beschreibt Berlant grausamen laufes auferlegt. Die Deadline ist nun der Punkt, der über Erfolg Optimismus als Zustand, in dem eine verletzende und destruktive und Misserfolg von Arbeit bestimmt. Eine Bewertung ist letztlich Bindung („attachement“) mit der Hoffnung auf ein besseres Leben erst im Nachhinein möglich und drückt sich im Erfolg des Pro- überwiegt. Dem grausamen Optimismus stellt Berlant den „depres- jektes aus. Es besteht so für die Arbeitenden die „Notwendigkeit, siven Realismus“ gegenüber, der ganz im psychoanalytischen Sinne Tätigkeit als Erfüllung von Zielen auszuweisen, deren Ermittlung einer Depression das Begehren nach dem besseren Leben selbst in zur Bewertung von Arbeit gehört“, was wiederum „ein perfor- Frage stellt, die Hoffnung und das Versprechen (z.B. auf Arbeit oder matives Format etabliert [...]: die Präsentation“ (Eikels, 2012: Nicht-Arbeit) nicht mehr glauben kann. Die Grundfrage dieses de- 23f ). Die Arbeitenden sind in der Beweispflicht, dass das, was pressiven Realismus würde lauten: „Why do people stay attached to sie tun, Arbeit ist. Dabei sollen sie nicht einfach nur darstellen, lives that don’t work?” (Berlant im Interview, McCabe, 2011). dass sie ein vereinbartes Ziel erreicht haben. Vielmehr müssen sie Zukunftspotentiale aufzeigen oder Innovationen erzeugen. Depression ist dabei für Berlant ein affektiver Modus. Affekte Ein durch eine Präsentation abgeschlossenes Projekt gebiert so sind Möglichkeiten, etwas Authentisches über sich auszudrücken, 14 Crip Magazine #4 / Katja Rothe
Amelie Zadeh • o.T. / Crip Magazine #4 15
wofür man keine Worte hat und das rational oder semiotisch Literatur nicht einholbar ist. In der Depression erlebt man das In-der-Welt- Sein als eine schwierige Verbindung zwischen einem vagen Zu- — Berlant, Lauren (2006): Cruel Optimism, in: Differences: A kunftsversprechen und der gelebten Realität (Berlant, 2011: 96f ). Journal of Feminist Cultural Studies, 17.3, S. 20–36. Man erlebt sich zwischen dem Versprechen auf Glück und der — Berlant, Lauren (2011): Cruel Optimism. Durham (Duke lebendigen, schwierigen Realität der Ausführung dieses Verspre- University Press). chens. Wir reagieren affektiv auf dieses Glücksversprechen in dem Leben, welches diese Versprechen unmöglich/möglich werden — Boltanski, Luc, Chiapello, Ève (2003): Der neue Geist des lässt. Depressivität verbleibt in der Spannung zwischen Wunsch Kapitalismus. Konstanz (UVK Universitätsverlag). und Realität und findet keine „Erlösung“. Berlant fragt also eben- — Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie falls nach dem Möglichen, Potentiellen, aber nicht außerhalb der einer Subjektivierungsform. Frankfurt/Main (Suhrkamp). Realität. Die Depression ist hier nicht nur Symptom oder Patho- — Ehrenberg, Alain (2008): Das erschöpfte Selbst. Depression und logie einer Gesellschaft, sondern kritisches Moment innerhalb Gesellschaft in der Gegenwart. Aus dem Französischen von der Fantasien gemeinsamen Lebens. In dieser Spannung zwischen Manuela Lenzen, Martin Klaus. Frankfurt/Main (Suhrkamp). Wunsch und Realität öffnet sich laut Berlant ein Raum für kriti- Frz. Original: La Fatigue d’être soi. Verlag Editions Odile Jacob, sche Auseinandersetzung. 1998. Die Depression ist eine Form der affektiven, eben nicht bewusst — Ehrenberg, Alain (2011): Depression: Unbehagen in der Kultur gesetzten Kritik. Das Depressive rückt die „Verbundenheit“ oder neue Formen der Sozialität, in: Menke, Christoph, („attachment“) mit den Wünschen, die Affekte, die die Hoffnun- Rebentisch, Juliane (Hg.): Kreation und Depression. Freiheit im gen erzeugen, aber auch die Angst ins Blickfeld einer Selbstreflexi- gegenwärtigen Kapitalismus. Berlin (Kadmos), S. 52–62. on, die „realistisch“ ist, d.h. die die Realität als eine uneinholbare — Eikels, Kai van (2011): Nichtarbeitskämpfe, in: Etzold, Jörn, mit einbezieht. Berlant plädiert für ein realistisches Verständnis Schäfer, Martin Jörg (Hg.): Nicht-Arbeit. Politiken, Konzepte, von Fantasie und fragt dezidiert danach, wie diese Fantasien Ästhetiken. Weimar (Verlag der Bauhaus-Universität Weimar), funktionieren. Die Frage nach dem Funktionieren der fantasti- S. 17–39. schen Affektproduktion zielt somit ins Herz des Postfordismus. — Han, Byung-Chul (2012): Die Müdigkeitsgesellschaft. Berlin (Matthes & Seitz). Einerseits fordert uns Berlant also auf, die Fantasien des guten Lebens sowie die damit verbundenen Affekte zu respektieren, — Latour, Bruno (2007): Das Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten weil sie Menschen helfen, mit der Welt in Verbindung zu bleiben. zu Dingen von Belang. Aus dem Englischen von Heinz Jatho. Gleichzeitig nimmt sie die Haltung der depressiven Realistin ein Zürich (Diaphanes). und fragt nach dem Verhältnis der Fantasien des Dazugehörens — Lazzarato, Maurizio (1998b): Verwertung und Kommunikation. und den Bedingungen des Dazugehörens in einem konkreten Der Zyklus immatiereller Produktion, in: Atzert, Thomas historischen Moment, nach ihren machtvollen und grausamen (Hg.): Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Wirkungen. Subversion. Berlin (ID-Verlag), S. 53–65. — McCabe, Earl (2011): Depressive Realism: An Interview with Depression legt die Verletzlichkeit der Wünsche offen, welche mit Lauren Berlant, in: Hypocrite Reader, 6.5: Realism, unter: den Versprechen und Fantasien verbunden sind. Statt also die http://hypocritereader.com/5/depressive-realism/print, letzter Depression als Form der Überaffirmation, der Kritik oder Kampf- Download 13.5.2021. ansage an die Arbeit zu verstehen, möchte ich vorschlagen, das Depressive als eine Art und Weise der Verbundenheit mit unseren — Menke, Christoph, Rebentisch, Juliane (Hg.) (2011): Kreation Fantasien zu begreifen. Dieser depressive Realismus wiederum und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Berlin würde durchaus eine „kritische“ Kraft aufweisen, da er die affek- (Kadmos). tive Resonanz unseres Verbundenseins in Frage stellt. Allerdings — Rau, Alexandra (2009): Suizid und neue Leiden am müsste dann der Begriff der Kritik selbst der Befragung unter- Arbeitsplatz, in: Widerspruch, 29/56, S. 67–77. zogen werden. Und hier trifft sich Berlant mit Bruno Latour, der — Rau, Alexandra (2010): Psychopolitik. Macht, Subjekt und Arbeit eine neue Form der Kritik einfordert (Latour, 2007). Nicht mehr in der neoliberalen Gesellschaft. Frankfurt a.M., New York die Geste der Aufdeckung, sondern die gemeinsame Sorge um (Campus). die und die Verbundenheit mit den Dingen („matter of concern“) sollten, so Latour, die Haltung des Kritikers ausmachen. Berlant — Reckwitz, Andreas (2006): Das hybride Subjekt. Eine Theorie der und Latour stimmen darin überein, dass in einer Haltung der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Sorge eine neue kritische Praxis entstehe, die sich nicht auf eine Weilerswist (Velbrück Wissenschaft). aufklärerische Rationalität verlasse, sondern die Verletzlichkeit der Wünsche zur kritischen und realistischen Haltung macht. Stark gekürzte und redigierte Fassung. Die Originalfassung des Texts von Katja Rothe ist unter: https://rothespraxis.de/ zu finden. 16 Crip Magazine #4 / Katja Rothe
Amelie Zadeh • o.T. / Crip Magazine #4 17
Nachdenken über FEMINISTISCH BEHINDERUNG Körperpolitiken in den 1970ern von Hanna Hacker MIT / OHNE Was waren feministische Körperpolitiken in den 1970ern, und in welche Richtung gingen theoretische Analysen zu Krankheit/ Gesundheit? Welche Narrative entstanden im Bereich feministi- scher Literatur und Kunst? Wie hielten es andere soziale Bewe- gungen mit Dis/Abilities? Body Politics und erste kritische Forschungen Westlicher Feminismus in den 1970ern, das bedeutete ganz klassisch, Sturm zu laufen gegen dominante „pa- triarchale“ Körpernormen. Zu protestieren gegen das Ideal des schlanken, glatten, deodorierten Frauenkör- pers, gegen bruchlos bürgerlich-weibliches Styling. Auch in Österreich codierte feministische Politik Formen von Körperausdruck als politisch, gestaltete alternative Out- fit-Regeln und setzte im Privaten wie im Öffentlichen body politics zentral. Schließlich gehörten die Frauengesund- heits- und Selbsthilfebewegung in diese Phase der Frauen- bewegung. Das bedeutete offensive Kritik an Monopolen des Gesundheitssystems und der Pharmaindustrie und dabei alternative Wissensproduktionen, die heute als „DIY“ bezeichnet werden würden. „Wir sind alle Hexen, Lesben, Prostituierte, Mörderinnen, Hysterikerinnen“, hießen gelegentliche Demo-Parolen. Aber „Behinderte“ standen nicht auf dieser Liste der widerständi- gen Identifikationen. Nicht-Weiße ebenso wenig, übrigens. Beim Nachdenken über analytische Ansätze zu „abwei- chenden“ physischen und psychischen Zuständen, die in den 1970ern mit viel Begeisterung rezipiert wurden, kom- me ich auf zwei: In der Studie Zur Krankheit gezwungen (dt. 1976) konturierten Barbara Ehrenreich und Deirdre Eng- lish Frauen als das prototypisch „kranke“ Geschlecht des 19. Jahrhunderts; die ständig von Schwächen gezeichnete, von Ärzten auf Monate und Jahre zu Bett gelegte bürgerli- che Frau und ihr Gegenstück, die auf allerlei Weisen „anste- ckende“ Proletarierin. Ein anderer Analysestrang befasste sich mit Frauen als dem „verrückten“ Geschlecht. Roswitha 18 Crip Magazine #4 / Hanna Hacker
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