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Mehrsprachigkeit als Normalität bei Ivan Ivanji Semih Murić Ivan Ivanji, Sohn einer säkularisierten jüdischen Arztfamilie, wurde am 24. Januar 1929 in Zrenjanin, einer serbischen Provinzstadt im Banat1 geboren. Er ist ein jugoslawischer beziehungsweise serbischer Schriftsteller, Übersetzer, Diplomat und Journalist. Der Dichter und politische Essayist hat über zehn Romane geschrieben (z.B. Schattenspringen [1993]; Mein schönes Leben in der Hölle [2014]) und jeweils drei Bände mit Gedichten und Erzählungen so- wie zahlreiche Zeitungsartikel, Essays und Sachbücher. Darüber hinaus hat er Werke von Bertolt Brecht, Heinrich Böll (Frauen vor Flusslandschaft – Žene u pejzažu sa rekom [1988]), Günter Grass, Karl Jaspers, Max Frisch und von weiteren Autoren aus dem Deutschen ins Serbische übersetzt; aus dem Serbi- schen ins Deutsche sind es die Werke von Danilo Kiš (Frühe Leiden [1989]; Familienzirkus [2014]) und David Albahari. Seine Beiträge zu Zeitfragen kann man heute noch regelmäßig in der internationalen Presse lesen (z.B. auf spiegel.de, taz.de. dw.com oder im sn.at). Die Mechanismen von Politik und Macht hat Ivan Ivanji hautnah erlebt: Er war lange Jahre Dolmetscher des Jugoslawischen Staatschefs Josip Broz Tito sowie von einigen Belgrader Außen- ministern. Dazu war er in den 1970er Jahren als Botschaftsrat Jugoslawiens in Deutschland, und zwar in Bonn, tätig. In diesen oft sehr heiklen Funktionen vor und hinter den Kulissen des Kalten Krieges lernte er viele der damaligen deutschen politischen Akteure kennen: von dem SPD-Politiker Herbert Wehner bis zum Generalsekretär der SED Walter Ulbricht, vom Bundeskanzler Willy Brandt über den FDP-Politiker und den langjährigen Bundesminister des Aus- wärtigen Hans-Dietrich Genscher bis zum Bundeskanzler der deutschen Wie- dervereinigung Helmut Kohl. Der jüdische Autor, ein Überlebender der Konzentrationslager Ausschwitz und Buchenwald, verliert bereits mit 15 Jahren seine ganze Familie. Seine Großeltern nahmen sich 1941 nach dem Einmarsch der Deutschen ins Banat das Leben, und seine Eltern wurden von den deutschen Soldaten ermordet. Als er deportiert wurde, sagte der damals 15-jährige zu dem Schutzstaffel-Arzt am Eingangstor des Konzentrationslagers Auschwitz: „Ich bin arbeitsfähig!“ (Rujevic 2018) Diese lebensrettenden Worte beruhten auf einer falschen An- nahme: Der 15-jährige dachte, wer arbeite, bekomme besseres Essen. Den 1 Das Banat ist eine historische Region in Südosteuropa, die heute in den Staaten Rumänien, Serbien und Ungarn liegt. Der Begriff ‚Banat‘ leitet sich vom Herrschaftsbereich eines Ban (serbisch/kroatisch/ungarisch für Graf/Markgraf) ab. Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1 © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
254 Semih Murić Geschichten über die Vernichtung der Juden glaubte er nicht – erst nach dem Krieg erfuhr er, dass seine Eltern in Belgrad getötet worden waren (Rujevic 2018). Er war eng mit Günter Grass befreundet, aber im Gegensatz zu Günter Grass, der mehrere Jahre vor seinem Tod sagte, er wolle nichts mehr als Schriftsteller anfangen, weil er nicht wisse, ob er es zu Ende bringen kann, war Ivan Ivanji einer anderen Meinung: „Ich beginne immer wieder etwas Neues, und wenn ich es nicht beenden kann, bleibt es eben unvollendet. Hat es ja auch schon gegeben.“ (APA 2019) Ivanji schreibt seine Romane auf Deutsch und auf for personal use only / no unauthorized distribution Serbisch. Seine Werke sind auf Deutsch größtenteils im Wiener Picus Verlag erschienen. Was noch wichtig ist und später ausführlicher behandelt werden soll, ist die Tatsache, dass Ivan Ivanji von klein auf drei Sprachen lernte und sprach, und zwar Serbisch, Ungarisch und Deutsch. Der Autor ist demzufolge ein mehrsprachiger Verfasser par excellence. Winter Journals Hinzu kommt, dass er seine Muttersprache im traditionellen Sinn nicht be- stimmen kann, womit Konzepte zum Schreiben in Zweitsprachen hinfällig werden und offensichtlich zu kurz greifen (Lughofer 2014: 54). In seinem großen Erinnerungsbuch Mein schönes Leben in der Hölle (2014) blickt der Erzähler zurück auf sein Leben. Gezielt zieht Ivan Ivanji die Leser/innen in sein Spiel mit ungelebten Möglichkeiten hinein, mischt Fanta- sien mit Fakten und hinterfragt kritisch die Verlässlichkeit der eigenen Erin- Powered by TCPDF (www.tcpdf.org) nerung: Hat mich mein eigener Onkel an die Nazis ausgeliefert? Verraten? Oder einfach nur im Stich gelassen? Das ist nicht die einzige Frage, die ich mir stellen werde, es schwirren auch viele ande- re herum in der Luft, die ich atme, Fragen, die bisher unbeantwortet geblieben sind. Zumindest aussprechen muss ich sie. Auch das ist mehr als nichts, besser, als an ihnen nur zu würgen, um sie am Ende einfach hinunterzuschlucken. Wo wären sie dann, falls sie unverdaulich sind? Ob ich Antworten finden werde, ist eine andere Frage. Die erste Frage? (Ivanji 2014b: 8) Der autobiographische Roman enthält auch viele eindringliche Geschichten von Reisen, von Begegnungen und Gesprächen während der Jahre als Titos Dolmetscher und als Botschaftsrat Jugoslawiens in Deutschland, von Verwand- ten und Frauen, von Büchern und Filmen. Schöne Geschichten in der ‚schlim- men großen‘ Geschichte, die Ivanji mit nicht nachlassender Geduld und Heiter- keit wiedergibt, die selbst den Tod nicht fürchtet. Hier beichtet ein wortgenauer und erinnerungsskeptischer Schriftsteller sein eigenes Leben, der viele seiner Bücher auf Serbisch und auch auf Deutsch geschrieben hat. Sein Erinnerungs- buch allerdings nur auf Deutsch. Auf Serbisch ginge es nicht, in gar keiner Weise, meint Ivanji. Deutsch sei zwar seine Sprache, aber nicht seine Mutter- sprache. Die Muttersprache wäre Ungarisch, aber Ungarisch könne er nicht so gut. (Ivanji 2014a: 4-7) Übersetzen im eigentlichen Sinne aus einer Sprache in die andere wollte Ivan Ivanji eigentlich nicht, denn er müsste dasselbe schreiben, und zwar in Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1 © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
Mehrsprachigkeit als Normalität bei Ivan Ivanji 255 einer anderen Sprache, oder besser gesagt anderssprachig ‚neu‘ schreiben. Ein konkretes Beispiel für diese ‚Übersetzungsproblematik‘ ist das Wort drug, welches Ivan Ivanji aus dem Serbokroatischen ins Deutsche übersetzte. Das Wort drug kann man in einem bestimmten Kontext als Genosse übersetzen, aber in um- gekehrter Richtung ist dieses deutsche Wort fast unübersetzbar. Wahrscheinlich wissen die wenigsten Deutschen, falls sie nicht zufällig Sprachwissenschaftler/innen sind, dass dieses Wort vom altdeutschen ginoz abstammt und dieses Genießen heißt, d. h. ursprünglich redeten sich so Leute an, die etwas gemeinsam genossen haben. Dieser Sinn ist allerdings im Laufe der Zeit verloren gegangen. Der heutige Deutsche weiß nur, dass sich die Mitglieder kommunisti- scher, sozialistischer und anarchistischer Parteien oder Gruppen mit Genosse ansprechen. Gewerkschaftler sagen zueinander Kollege. Das Wort drug heißt bei denjenigen, die gemein- sam beim Militär waren, Kamerad. Im Zweiten Weltkrieg, insbesondere bei SS-Männern, hieß es oft Kriegskamerad. Zu Hitlers Zeiten wurden Mitglieder seiner Partei Parteigenossen, Pg’s, genannt. Der Rest der deutschen Bevölkerung wurde mit Volksgenossen und Volksgenossinnen angesprochen. (Ivanji 2014a: 7) An einem weiteren Beispiel möchte ich versuchen, die angeschnittene Proble- matik zu vertiefen und anhand eines Buchtitels aufzeigen, womit Ivan Ivanji bei seiner Übersetzungsarbeit zu kämpfen hatte: Zuerst auf Serbisch habe ich eine Kurzgeschichte über die Experimente geschrieben, die SS- Ärzte in Dachau mit jüdischen Häftlingen gemacht haben. Man wollte prüfen, wie man halb- erfrorene, aus dem Ozean gefischte Piloten am besten wiederbeleben könnte. Unter anderem steckte man also Männer in Eiswasser, holte sie halbtot heraus, und brachte sie mit einer jungen nackten Frau zusammen. Oder mit zwei Frauen… Auf Serbisch war der Titel LEDENI LJUBAVNIK. Und dann wollte ich die kleine Erzählung auf Deutsch schreiben. Aber wie den Titel übersetzen? Wortwörtlich wäre es etwa EIN GEFRORENER GELIEBTER. Das konnte selbstverständlich nicht an der Spitze der Beschreibung einer so entsetzlichen Tat stehen. Es hat ziemlich lange gedauert bis ich den richtigen deutschen Titel gefunden habe, und zwar DER KÄLTESTE KUSS. Sogar eine Alliteration war wieder da. Nur dass ich im serbischen Text keinen Kuss erwähnt habe, den musste ich jetzt in den Text hineinschreiben, es passte gut. (Ivanji 2014a: 7) Ivanji führt zwei konkrete Beispiele aus seinem Werk Mein schönes Leben in der Hölle an, die sich mit den Übersetzungsvarianten des Wortes drug beschäf- tigen: „Er erzählte es im Vertrauen zwei oder drei seiner Kumpel.“ (Ivanji 2014b: 7). Jeder von ihnen hatte zwei, drei weitere besten Kameraden.“ Oder: „Mag sein, ich habe auf einem anderen Planeten gelebt als die meisten meiner Zeitgenossen nach dem Krieg.“ (Ivanji 2014b: 7) Das Kriterium des Schreibens in Sprachen, die nicht die eigene Mutter- sprache sind, gilt in der Debatte um Migrations- und interkulturelle Literatur als zentrales Phänomen (Rösch 1992: 5). Selbst die Bildungssprache lebte noch punktuell in einer mehrsprachigen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts wie im Geburtsort Ivanjis – im historischen Banat (Ivanji 2014: 4-7). Wie schon am Anfang erwähnt wurde, lernte Ivanji von Kindheit auf im Banat drei Sprachen: Serbisch war die zentrale Umgebungssprache, die Eltern sprachen unterein- ander ungarisch und mit dem Kind deutsch, ebenso wie das österreichische Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1 © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
256 Semih Murić ‚Kinderfräulein‘ das übrigens aus Slowenien war. Deswegen liest man oder hört man von Ivanji selbst, dass er statt der deutschen Sprache immer wieder die „Kinderfräulein-Sprache“ bevorzugte (Ivanji 2014a: 4). Später widmete er einen Roman dem Kindermädchen mit dem Titel Das Kinderfräulein (1998). Vielleicht wurden all diese Sprachen grammatikalisch nicht ganz fehlerfrei ge- sprochen, sie waren aber allgegenwärtig und wurden als Kommunikations- sprachen verwendet: „Serbisch, Deutsch und Ungarisch wurden durcheinander gesprochen, tatsächlich verstand hier jeder alle drei Sprachen, wenn jemand Fehler machte, wurde er nicht ausgelacht und schon gar nicht korrigiert.“ (Ivanji 1998: 27) Wie die Lexik unterschiedlicher Sprachen verschmelzen kann, wird anhand eines amüsanten Beispiels veranschaulicht: Respektspersonen grüßt man mit „Küßdiehand“ (Ivanji 2008: 19) was ausgesprochen wird, als sei es eine einzige Silbe, oder auf Serbisch „ljubimruku“ (Ivanji 2008: 19), Ungarisch „kecitsco- kolom“ (Ivanji 2008: 19), oft aber, wenn man nicht weiß, welche Sprache gera- de passend ist, einfach zum Scherz oder nur unüberlegt, blitzschnell alles her- untermurmelnd: „Küßdiehandljubimrukukezitscokolom“ (Ivanji 2008: 19). Im Banat wurden sogar mehr als die drei erwähnten Sprachen verwendet: Nicht nur beim Arzt, beim Friseur, auf dem Bauernmarkt, sondern auch mit dem Trafikanten und dem Rechtsanwalt sprach man, wie es einem gerade ge- kommen ist und man sich im Augenblick bequemer und sicherer ausdrücken konnte – Serbisch, Deutsch, Ungarisch, Rumänisch, Slowakisch oder Ruthe- nisch: „Es ist das Gegenteil von Babylon, die Sprachenvielfalt führt zu keiner Verwirrung, jeder versteht den anderen.“ (Lughofer 2014: 19). Ivanjis große Bezugsperson Tito scheint von einer solchen Sprachverwendung auch betrof- fen gewesen zu sein: Sein Akzent war seltsam, man glaubte deshalb im Ausland, er sei eigentlich Russe, was nicht stimmt. Er wurde in Kumrovec in Kroatien geboren, war als Kind aber oft bei seinen Großeltern mütterlicherseits in Slowenien. So wuchs er zwischen dem Slowenischen und dem Dialekt seiner kroatischen Heimat, dem Zagorje, auf und lebte später zwischen Deutsch, Serbisch und Russisch. Daher sein ungewöhnlicher Duktus. (Ivanji 2007: 118) Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Ivan Ivanji seine eigene Mehrspra- chigkeit als Autor in seiner Literatur formal wenig nutzt – Ausdrücke und Sprichwörter aus dem Serbischen fließen in seine deutschen Werke ein, doch sie werden immer sofort übersetzt. Sein Stil ist und bleibt prosaisch klar, sachlich und nüchtern, obwohl er die Begebenheiten stets auf verschiedenen individuellen und subjektiven Ebenen darstellt. In Ivanjis Romanen wird Tito als wichtigste Bezugsperson betrachtet und als Galionsfigur Jugoslawiens dargestellt. Die Romanfiguren identifizieren sich mit ihm als einem verbinden- den Element im jugoslawischen Staatswesen. Mehrsprachigkeit scheint eine Selbstverständlichkeit bei den meisten Protagonisten in Ivanjis Romanen zu Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1 © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
Mehrsprachigkeit als Normalität bei Ivan Ivanji 257 sein. Die Texte verzichten auf eine verfremdende Einarbeitung der Mehrspra- chigkeit und auf Distanz und Brüche mit der deutschen literarischen Tradition, im Gegenteil: Sie führen die Einteilung seines literarischen Schaffens in einer Erst- oder einer Zweitsprache ad absurdum und zeichnen das Bild polyglotter Individuen als Normalität. Literatur APA (2019): Ivan Ivanji – der Autor wurde 90. – In: Salzburger Nachrichten (27. Januar 2019) [30.12.2020] Ivanji, Ivan (1998): Das Kinderfräulein. Wien: Picus. Ivanji, Ivan (2007): Titos Dolmetscher. Als Literat am Pulsschlag der Politik. Wien: Promedia. Ivanji, Ivan (2008): Geister aus einer kleinen Stadt. Wien: Picus. Ivanji, Ivan (2014a): Kinderfräuleinsprache und „naški jezik“, unsere Sprache. – In: Donko, Kristian/ Lughofer, Johann Georg/Ivanji, Ivan (Hgg.), Erinnerung an Jugoslawien in der deutschspra- chigen Literatur. Zur Exophonie. Ljubljana: Goethe-Institut. Ivanji, Ivan (2014b): Mein schönes Leben in der Hölle. Wien: Picus. Lughofer, Johann Georg (2014): Konstruktion kultureller Identität bei Ivan Ivanji. – In: Aussiger Beiträge 8, 49-65 [30.12.2020] Rösch, Heidi (1992): Migrationsliteratur im interkulturellen Kontext. Eine didaktische Studie zur Literatur von Aras Ören, Aysel Özakin, Franco Biaoni und Rafik Schami. Frankfurt/M.: Ver- lag für Interkulturelle Kommunikation. Rujevic, Nemanja (2018): Ivan Ivanji: NS-Opfer, Kommunist, Literat, Jugoslawien. – In: Deutsche Welle [30.12.2020]. Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1 © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
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