Mikko Franck Leif Ove Andsnes & - NDR

Die Seite wird erstellt Christopher Wetzel
 
WEITER LESEN
Mikko
 Franck
    &
Leif Ove
Andsnes
    Donnerstag, 01.12.22 — 20 Uhr
      Freitag, 02.12.22 — 20 Uhr
 Elbphilharmonie Hamburg, Großer Saal
M IKKO FR ANCK
                        Dirigent
               LEIF OVE ANDSNES
                        Klavier

            NDR ELBPHILHARMONIE
                    ORCHESTER

       Einführungsveranstaltungen mit Julius Heile
  jeweils um 19 Uhr im Großen Saal der Elbphilharmonie

Das Konzert am 02.12.22 wird live auf NDR Kultur gesendet.
Der Audio-Mitschnitt bleibt im Anschluss online abrufbar.
M AG N U S L I N D B E R G (*195 8)
Serenades
for orchestra
Entstehung: 2020 | Uraufführung: Chicago, 2. Dezember 2021 | Dauer: ca. 15 Min.

E D VA R D G R I EG (1 8 4 3 – 19 07)
Konzert für Klavier und Orchester a-Moll op. 16
Entstehung: 1868 | Uraufführung: Kopenhagen, 3. April 1869 / Dauer: ca. 30 Min.
        I. Allegro molto moderato
        II. Adagio – attacca:
        III. Allegro moderato molto e marcato – Quasi Presto – Andante maestoso

        Pause

R I C H A R D S T R AU S S (1 8 6 4 – 19 49)
Also sprach Zarathustra
Tondichtung frei nach Friedrich Nietzsche für großes Orchester op. 30
Entstehung: 1894–96 | Uraufführung: Frankfurt am Main, 27. November 1896 | Dauer: ca. 35 Min.
        Einleitung –
        Von den Hinterweltlern –
        Von der großen Sehnsucht –
        Von den Freuden und Leidenschaften –
        Das Grablied –
        Von der Wissenschaft –
        Der Genesende –
        Das Tanzlied –
        Nachtwandlerlied

        R O L A N D G R E U T T E R Solo-Violine

Ende des Konzerts gegen 22.15 Uhr
MAGNUS LINDBERG
                               Serenades

   Klangfarbenzauber mit
     strahlendem Blech
                      Magnus Lindberg, „eine der wichtigsten Stimme des
                      21. Jahrhunderts“ („The Times”), gehört zu den weltweit
                      bekanntesten und erfolgreichsten Gegenwartskompo-
                      nisten. Mit seinen Werken, die sich durch eine faszi-
                      nierende Klangdichte, überbordende Vitalität und eine
                      hochvirtuose Instrumentation auszeichnen, ist es ihm
                      gelungen, nicht nur bei Spezialisten für Neue Musik,
                      sondern auch beim breiten Konzertpublikum großen
                      Zuspruch zu finden. Immer wieder bedient er sich
Magnus Lindberg
                      Kompositionstechniken, die in der Tradition der klas-
                      sischen Moderne fest verankert sind – nicht umsonst
Es ist in der Musik   erwähnt der Finne, wenn er nach stilistischen Bezugs-
                      punkten befragt wird, immer wieder Igor Strawinsky.
der Ausdruck, der
sie mitteilsam        Lindberg hat seine besondere Fähigkeit, mit der breit
                      gefächerten Klangfarbenpalette großer Besetzungen in
macht. Es geht
                      virtuosester Weise umzugehen, oft bewiesen: „Das
nicht darum, ein      Orchester“, sagt er, „ist mein Lieblingsinstrument“.
                      Letzteres zeigt sich auch in „Serenades“, einem vielfar-
Manifest zu ver-
                      big schimmernden, mit großem Schlagwerk besetzten
lesen. Musik hat      Orchesterstück, das am 2. Dezember 2021 beim Chicago
                      Symphony Orchestra unter Hannu Lintu erfolgreiche
mit Emotionen zu
                      Premiere hatte. Obwohl der Werktitel an die unterhalt-
tun! Sie ist ein      same, pastorale Serenadentradition aus der Mozartzeit
                      denken lässt, scheint Lindbergs zerklüftete Partitur mit
Erlebnis.
                      ihrem vorherrschend angespannten, explosiven Stil die
Magnus Lindberg       historischen Modelle geradezu ins Gegenteil zu verkeh-
                      ren – abgesehen von einigen lyrischen Passagen, die
                      allerdings eher von kurzer Dauer sind. Denn in diesem

                                   4
MAGNUS LINDBERG
                                       Serenades

turbulenten Werk lauern elementare Kräfte, die immer       SERENADE

wieder eruptiv an die brodelnde Oberfläche kommen.
Die Musik lässt dabei teilweise an eine ins 21. Jahrhun-   „Serenade“, „Divertimento“,
                                                           „Cassation“ und „Nachtmu-
dert versetzte Variante des größten finnischen Sinfoni-
                                                           sik“: Sie alle bezeichnen von
kers denken – Sibelius in der Zeitmaschine –, bzw. an      Wolfgang Amadeus Mozart
die ambivalente schwarze Romantik der Mittelsätze          und seinen Zeitgenossen teils
                                                           synonym verwendete freie
aus Gustav Mahlers Siebenter Sinfonie, in denen das
                                                           Formtypen der im 18. Jahr-
Bedrohliche der Nacht im Zentrum steht.                    hundert weit verbreiteten
                                                           gesellschaftsgebundenen
                                                           Unterhaltungsmusik. Ihrer
„Serenades“, ein einsätziges Werk von rund 15 Minuten
                                                           Funktion nach waren der-
Aufführungsdauer, beginnt mit einem imposanten             artige Stücke abendliche oder
Bläserthema, das über changierendem Klangteppich           nächtliche Freiluft- oder
                                                           Huldigungsmusiken und
der Streicher eingeführt wird. Nach wenigen Takten
                                                           wurden zu den unterschied-
kommt es zu einer Tempobeschleunigung, die in einen        lichsten Gelegenheiten
ersten Ausbruch von Blechbläsern und Pauken mün-           gespielt: Neben der festlichen
                                                           Begleitung von Banketten
det, gefolgt von spannungsvoll zurückgenommenen
                                                           oder einer musikalischen
Passagen, in denen Blechbläserfanfaren und Holzblä-        Untermalung von Schlitten-
serskalen Akzente setzen. Auf halbem Weg beruhigt          oder Bootsfahrten waren
                                                           „Nachtmusiken“, Ständchen
sich die Musik und mündet in einen scherzoartigen
                                                           zu Hochzeit und Namenstag
Abschnitt, bevor gegen Ende ein hochfliegendes Strei-      oder „Finalmusiken“ zu
cherthema endlich für echte Serenaden-Assoziationen        Universitätsabschlussfeiern
                                                           weit verbreitet.
sorgt und das Ganze dann einem ruhigen Abschluss
im Pianissimo entgegensteuert.

„Serenades“ entstand im Auftrag des Chicago Sym-
phony Orchestra, das als eines der großen Orchester der
USA unter Chefdirigenten wie Georg Solti, Daniel Baren-
boim, Bernard Haitink, Pierre Boulez und Riccardo
Muti für seinen unverwechselbaren Blechbläserklang
berühmt geworden ist – die Musiker*innen der „Brass
section“ gehören traditionell zu den besten der Welt.
Insofern überrascht es nicht, dass Lindberg „Serenades“
mit besonderem Blick auf Glanz und Virtuosität der
Blechbläser geschrieben hat, die sich in diesem Stück
tatsächlich in allerbestem Licht präsentieren können.

Harald Hodeige

                                           5
EDVARD GRIEG
                                    Klavierkonzert a-Moll op. 16

   Schwarzbrot mit Kaviar
                                   „Bilde dir deine eigene Sprache. Du hast sie in dir.“ –
                                   Wie oft wohl mögen junge Musiker und Komponisten
                                   rund um den Globus schon Worte wie diese gehört
                                   haben? Die Nachahmung heiß geliebter und eifrig stu-
                                   dierter Vorbilder zu überwinden und einen individuel-
                                   len Stil zu finden, ist der zweifellos wichtigste, aber
                                   auch schwierigste Schritt auf der Karriereleiter eines
                                   Künstlers. Doch nicht immer können oder wollen
                                   gelehrte Professoren, gutmeinende Lehrer und viel-
Edvard Grieg
                                   leicht noch seltener ehrgeizige Schüler selbst dieses
ZUTIEFST MENSCHLICH                „Eigene“ entdecken. Im Fall des Norwegers Edvard
                                   Grieg etwa wurden die zitierten Worte nicht am altehr-
In seiner von zarter Melancholie   würdigen Leipziger Konservatorium gesprochen, sie
durchdrungenen Musik, in der
                                   fielen auch nicht im ersten Klavierunterricht bei der
sich gleichsam die Schönheiten
der bald großartig erhabenen,      Mutter und schon gar nicht im Kopf des werdenden
bald verhangenen, bald kargen,     Komponisten. Es waren die Besuche beim „Paganini
aber für den Nordländer stets
                                   des Nordens“, seinem frühen Förderer Ole Bull im hei-
unaussprechlich reizvollen
norwegischen Natur widerspie-      matlichen Bergen, die Grieg nach seiner Lehrzeit in
geln, hören wir Russen heimat-     Deutschland die Augen öffneten: „Nachdem Ole Bull
liche, verwandte Töne, die uns
                                   ein von mir komponiertes Klavierstück gehört hatte,
ans Herz rühren. Mag Grieg viel
weniger Meisterschaft besitzen     das den Einfluss Niels Wilhelm Gades [eines däni-
als Brahms, mag er weniger         schen, aber stark von der Leipziger Schule um Felix
hochfliegende Pläne verfolgen
                                   Mendelssohn Bartholdy geprägten Komponisten] deut-
und auch keinen Anspruch auf
abgründige Tiefsinnigkeit          lich zeigte“, erinnerte sich Grieg später an den Sommer
erheben, so ist er uns doch        1864, „sagte er zu mir: ‚Edvard, diese Richtung ist nicht
verständlicher und innerlich
                                   der dir vorgezeichnete Weg. Wirf diesen Einfluss über
verwandter, denn er ist zutiefst
menschlich.                        Bord. Schreibe Musik, die deine Heimat ehrt, schaffe
                                   eine echt norwegische Atmosphäre’ … Die Schuppen
Peter Tschaikowsky in seinen
                                   fielen mir von den Augen. Ich befolgte den Rat und ent-
„Erinnerungen“
                                   wickelte den für mich charakteristischen Stil.“

                                   Der Geiger Ole Bull war ein Wegbereiter für die Ent-
                                   deckung norwegischer Folklore im klassischen

                                                 6
EDVARD GRIEG
                               Klavierkonzert a-Moll op. 16

Konzertsaal gewesen. Aber erst Edvard Grieg setzte            VOLLER APPL AUS

seine Heimat auf die internationale Landkarte der
Kunstmusik. Seine historische Errungenschaft ist es,          Am Sonnabend erklang Ihr
                                                              göttliches Konzert im großen
den Charakter der Melodien und Rhythmen Norwe-
                                                              Saal des Casinos. Ich feierte
gens auf dem „Umweg“ großer Orchester- und Klavier-           dabei einen wahrhaftig groß-
stücke in die wichtigsten Musikhallen der Welt und in         artigen Triumph. Schon nach
                                                              der Kadenz im ersten Teil brach
die Wohnzimmer aller Kontinente gebracht zu haben.
                                                              im Publikum ein wahrer Sturm
Seit den 1870er Jahren rissen sich die Verleger förm-         aus. Die drei gefährlichen
lich um seine geliebten Stücke. Der Norweger wurde            Kritiker, [der Komponist Niels
                                                              Wilhelm] Gade, [der russische
mit seiner genialen Strategie, das „Schwarzbrot“ der
                                                              Klaviervirtuose Anton] Rubin-
norwegischen Folklore mit „Austern und Kaviar“ der            stein und [der Komponist
Kunstmusik anzurichten – wie er sich auszudrücken             Johann P. E.] Hartmann, saßen
                                                              in der Loge und applaudierten
pflegte – zum Weltstar. Und das neben „Peer Gynt“
                                                              aus voller Kraft. Von Rubinstein
wohl am häufigsten gespielte und für diesen Erfolg            soll ich grüßen und ausrichten,
typischste Werk ist das Klavierkonzert.                       dass er recht überrascht war,
                                                              eine solche geniale Komposition
                                                              zu hören; er freut sich darauf,
Als Inspiration für das im Sommer 1868 in Søllerød bei        Ihre Bekanntschaft zu machen…
Kopenhagen komponierte Werk gilt das ebenfalls in
                                                              Brief des norwegischen
a-Moll stehende Klavierkonzert von Robert Schumann,
                                                              Pianisten Edmund Neupert an
das Grieg während seiner Studienzeit in Leipzig ken-          Grieg. Neupert berichtet hier
nengelernt hatte. Mehr als die Tonart, einige formale         von der Uraufführung des
                                                              Klavierkonzerts, die er 1869 in
Details und insgesamt einen gewissen „romantischen“
                                                              Kopenhagen spielte. Grieg
Tonfall hat das Werk des Norwegers mit demjenigen             konnte selbst nicht dabei sein,
des Deutschen aber nicht gemein. Denn spätestens hier         weil er seinen Verpflichtungen
                                                              als Orchesterleiter in Oslo
hatte Grieg tatsächlich seine „eigene Sprache“ gefun-
                                                              nachkommen musste.
den. So erklingt gleich zu Beginn eine Art „norwegische
Visitenkarte“: Ein dramatisch anrollender Paukenwir-
bel bildet die „Zündschnur“ für wuchtige Klavierak-
korde, die den Ohren der Zuhörer gleich sechs Mal
hintereinander das sogenannte „Grieg-Motiv“ eintrich-
tern, jene Intervallfolge „Oktave – große Septime –
Quinte“, die man in fast jedem Stück des Norwegers
aufspüren kann (prominent u. a. in „Solveigs Lied“ aus
„Peer Gynt“). Grieg fand sie in zahlreichen Volksliedern
seiner Heimat vor und integrierte sie wie eine Signatur
fürs „Norwegische“ in viele seiner eigenen Melodien.
Das nächste Indiz für diese Verbundenheit von

                                            7
EDVARD GRIEG
                                   Klavierkonzert a-Moll op. 16

BISSIGE KRITIK                    Komponist und Land folgt später im Seitenthema, das
                                  zuerst von den Celli, dann vom Klavier gespielt wird:
Das A-Moll-Konzert von Grieg      Hallt es hier nicht zum Ende jeder Melodiezeile wie ein
aber mögen die Konzertgeber
                                  Echo von den norwegischen Bergen wider? Von der stil-
sich und dem Publikum künftig-
hin schenken. Dieses musik-       len Einsamkeit dieser Landschaft scheint dann der
ähnelnde Geräusch mag             2. Satz im fernen Des-Dur zu erzählen. Auch hier hat
vielleicht gut genug sein,
                                  sich das „Grieg-Motiv“ versteckt; auffälliger ist jedoch
Brillenschlangen in Träume zu
lullen oder rhythmische Gefühle   die mehrmalige Wiederholung der berührenden
in abzurichtenden Bären           Schlussfigur des Themas mit ihrer überaus romanti-
erwecken; – in den Konzertsaal
                                  schen Dehnung. Ohne Pause geht es ins Finale, das mit
taugt es nicht, man hielte es
denn mit den Sudanesen und        trippelnden Bässen und stampfenden Akzenten einen
ließe sich die Pflege ihres       echten „Halling“ (norwegischen Bauerntanz) präsen-
melodischen Charivari angele-
                                  tiert. Wie aus einer anderen Welt setzt später über
gen sein – dann allenfalls.
                                  einem Streichernebel die Solo-Flöte mit einem neuen
Der für seine bösartigen          Thema ein – als ob sich die Kulisse schlagartig geän-
Rezensionen bekannte Kom-
                                  dert und Grieg uns vom Tanzboden mit an einen idylli-
ponist und Musikkritiker
Hugo Wolf nach einer Wiener       schen Platz im Tal genommen hätte. Das Klavier führt
Aufführung des Grieg-Kon-         diesen – ebenfalls vom „Grieg-Motiv“ und mit typisch
zerts 1885
                                  norwegischen Verzierungen gespickten – Einfall eine
                                  Weile lang fort, bis sich der „Halling“ zurückmeldet.
                                  Erst auf dem Höhe- und Endpunkt des Finales verwan-
                                  delt Grieg die ehemals zarte Flöten-Melodie ins Majes-
                                  tätische, jetzt vom kompletten Orchester gespielt. So
                                  wird der Schluss des Werks zu einem „Coup de théâ-
                                  tre“, dessen Wirkung selbst den Klavierpapst Franz
                                  Liszt nicht kalt ließ, als er das Konzert durchspielte: „In
                                  den letzten Takten unterbrach er plötzlich“, berichtete
                                  Grieg von seinem Besuch bei Liszt in Rom 1870, „erhob
                                  sich in seiner vollen Größe, verließ das Klavier und ging
                                  mit gewaltigen theatralischen Schritten und erhobe-
                                  nem Arm durch die große Klosterhalle und sang
                                  nahezu brüllend das Thema. Beim fortissimo streckte
                                  er wie ein Imperator seinen Arm aus und rief: ‚g, g,
                                  nicht gis! Famos!‘“ – Auch in diesem Sinne also hatte
                                  Grieg eine wirklich „eigene Sprache“ gefunden.

                                  Julius Heile

                                                 8
RICHARD STRAUSS
                              Also sprach Zarathustra op. 30

Volksausgabe Nietzsches?
Ist die Nachahmung krachender Donner, heulender
Winde und blökender Schafe eine niveauvolle kompo-
sitorische Disziplin? Kann man einen Musiker ernst
nehmen, der sich rühmte, „notfalls auch ein Speise-
karte komponieren“ zu können? Solchen Fragen hatte
sich seinerzeit Richard Strauss, einer der virtuosesten
Komponisten so genannter „Programmmusik“, zu
stellen. Seine Antwort: „Ich bin ganz und gar Musiker,
für den alle ‚Programme’ nur Anregungen zu neuen
                                                               Friedrich Nietzsche (1882)
Formen sind und nicht mehr.“ Strauss distanzierte
sich damit entschieden von all den Kritikern, die
seine ungemein plastische Musik als bloße Illustrations-       Zu lang hat die
kunst ohne musikalischen Eigenwert herabwürdig-
                                                               Musik geträumt;
ten. Das Programm (die inhaltliche Vorlage zur
Musik) lediglich als Gedankenanstoß, als zwar not-             jetzt wollen wir
wendiger, aber in der Substanz nicht alleinverantwort-
                                                               wachen. Nacht-
licher Katalysator für die Fantasie des Komponisten
– genau so muss man es insbesondere im Fall von                wandler waren wir,
Strauss’ „Also sprach Zarathustra“ verstehen.
                                                               Tagwandler wollen
Diesem Werk nämlich liegt keine wirkliche „Hand-               wir werden.
lung“ zu Grunde, sondern ein abstraktes Sujet, dem
                                                               Zeilen von Friedrich Nietz-
konkret zu schildernde Ereignisse weitgehend fehlen.           sche, die Richard Strauss
Gerade im Vergleich zum erzählerischen „Till Eulen-            seiner „Zarathustra“-Partitur
spiegel“, den der Münchner Kapellmeister zuvor kom-            mitgab

poniert hatte, überraschte die Wahl des Stoffes für
seine nächste Tondichtung – es handelt sich um das
1883–85 entstandene Hauptwerk von Friedrich Nietz-
sche – viele Zeitgenossen: Ausgerechnet der Meister
technisch perfekter musikalischer Deskriptionen
nahm sich nun eine philosophische Schrift vor, zumal
von einem nicht gerade unumstrittenen, lebenden
Denker? Das musste sowohl die Nietzsche-Anhänger

                                            9
RICHARD STRAUSS
                                  Also sprach Zarathustra op. 30

                                  befremden, die eine musikalische Kurzfassung der
                                  großen Gedanken ihres Helden für einen Frevel hiel-
                                  ten, als auch jene Fans des Komponisten Strauss, die
                                  dessen gesunde Diesseitigkeit als erfrischende Erho-
                                  lung von manch metaphysisch „der Welt abhanden
                                  gekommenen“ Genies ihrer Epoche schätzten. Letz-
                                  tere Gruppe freilich dürfte sich nach dem Hören des
                                  Stücks beruhigt zurückgelehnt haben, denn was bei
                                  Strauss’ Nietzsche-Adaption herausgekommen war,
Richard Strauss (Porträt von
Józef Faragó, 1905)               konnte man getrost auch – wie der Strauss-Biograf
                                  Ernst Krause formulierte – als „musikalische Volks-
EIN „ÜBERMENSCH“                  ausgabe Nietzsches“ goutieren. Strauss habe „nicht
                                  die Philosophie Nietzsches in Notenköpfe übertragen,
Richard Strauss hat weder eine    sondern nur den lyrisch-hymnischen Gehalt des Zara-
närrisch wilde Lockenmähne
                                  thustra-Buches zum Ausgangspunkt des Werkes
noch die Bewegungen eines
Rasenden. Er ist groß und wirkt   genommen.“ Und es spricht dabei nicht unbedingt
in seiner freien entschlossenen   gegen Strauss, wenn die Popularität seiner Tondich-
Haltung wie einer jener großen
                                  tung – bedenkt man nur die cineastische Karriere des
Forscher, die mit einem Lächeln
auf den Lippen die Gebiete        Beginns – bis heute auch abseits ihrer intellektuellen
wilder Völkerschaften durch-      Konzeption eine Folge der mitreißenden Musik ist.
queren. […] Seine Stirn ist
übrigens die eines Musikers,
aber die Augen und das Mienen-    Was aber mag Strauss überhaupt dazu verleitet haben,
spiel sind die eines „Übermen-    Nietzsches Buch über Selbstfindung, die „Umwertung
schen“, von dem der sprach, der
                                  aller Dinge“ und die Lehre vom „Übermenschen“ als
sein Lehrmeister in der Energie
gewesen sein muss: Nietzsche.     Ausgangspunkt seiner musikalischen Fantasie heran-
                                  zuziehen? Nicht unentscheidend wird die offene Ichbe-
Claude Debussy
                                  zogenheit gewesen sein – eine verbreitete künstlerische
                                  Haltung der Jahrhundertwende, in der sich der Kompo-
                                  nist so subjektiver Werke wie des „Heldenlebens“ mit
                                  Nietzsche traf. Dessen Auflehnung gegen die konforme
                                  Masse und dessen Vorstellung vom Außenseiter, der
                                  durch ewiges Schaffen und durch Vertrauen in seine
                                  eigenen Fähigkeiten zum „Übermenschen“ wird, muss
                                  Strauss gefallen haben. Den Kampf gegen die „Philis-
                                  ter“ hatte er schließlich schon Till Eulenspiegel führen
                                  lassen … Und zu Selbstbekenntnissen neigte Strauss
                                  auch in Bezug auf seine eigenen Werke: „Zarathustra ist

                                               10
RICHARD STRAUSS
                                Also sprach Zarathustra op. 30

herrlich – weitaus das Bedeutendste, Formvollendetste,           BERÜHMTER BEGINN

Inhaltsreichste, Eigentümlichste meiner Stücke“,
schrieb er nach der Generalprobe zur Uraufführung                Die Eröffnungsfanfare aus
                                                                 Strauss’ „Also sprach Zara-
1896 an seine Frau. „Der Anfang ist herrlich, alle die vie-
                                                                 thustra“ ist weltberühmt
len Streichquartettstellen sind mir famos geglückt …             geworden: Seitdem Stanley
Die Steigerungen sind gewaltig und instrumentiert!!! ...         Kubrick sie seiner „Odysee im
                                                                 Weltraum“ unterlegte, wird
Kurz und gut: ich bin doch ein ganzer Kerl und habe
                                                                 sie immer wieder in Film und
wieder einmal bißchen Freude an mir“.                            Fernsehen zitiert. Strauss lässt
                                                                 die Trompete hier die ersten
                                                                 Töne der so genannten Natur-
Dem komplexen Inhalt von Nietzsches „Zarathustra“
                                                                 tonreihe (Grundton, Quinte
hat sich Strauss, wie Ernst Krause meinte, tatsächlich           und Oktave) spielen, die in der
zum Teil mit „bajuwarischer Vitalität“ genähert – zu-            Musik nicht erst seit Wagners
                                                                 „Rheingold“ mit der Idee des
mindest an der Oberfläche. Seine Partitur versah er
                                                                 Anfangens bzw. der Reinheit
mit einigen Kapitelüberschriften aus Nietzsches Buch,            der Natur verknüpft ist. Auf
so dass man sogar einige Wegstationen des Protago-               bildlicher Ebene zeichnet die
                                                                 Einleitung bei Strauss so den
nisten im Sinne eines Programms bestimmen kann.
                                                                 zu Beginn von Nietzsches
Romain Rolland hat es einmal wie folgt beschrieben:              Buch geschilderten Sonnen-
„Man sieht darin den Menschen, der anfangs, vom                  aufgang nach, auf tieferer
                                                                 Ebene kann sie aber auch als
Rätsel der Natur erschüttert eine Zuflucht im Glauben
                                                                 Symbol einerseits für das
sucht. Dann empört er sich gegen die asketischen                 Erhabene, Universale und
Ideen und stürzt sich toll in die Leidenschaften. Doch           Ursprüngliche, andererseits
                                                                 für das Einfache, Triviale oder
bald ist er übersättigt, angeekelt, lebensüberdrüssig;
                                                                 Nietzsches „ewige Wieder-
er versucht es mit der Wissenschaft, verwirft sie wieder         kunft des Gleichen“ gedeutet
und gelangt dahin, sich von der Unruhe nach Erkennt-             werden. Dass der erreichte
                                                                 C-Dur-Akkord sofort in c-Moll
nis zu befreien, indem er schließlich seine Befreiung
                                                                 umschlägt, weist freilich auch
im Lachen findet. Das Lachen ist der Herr der Welt,              schon auf ein anderes zentra-
der glückselige Tanz, der Rundtanz des Weltalls, wo              les Thema in Nietzsches Buch
                                                                 hin: die Unentschiedenheit.
alle menschlichen Gefühle mitspielen … Dann ent-
fernt sich der Tanz, verliert sich in überirdischen Regi-
onen. Zarathustra entschwindet tanzend jenseits der
Welten – aber er hat nicht für die andern Menschen
das Welträtsel gelöst …“ Diesem Verlauf entsprechend,
hören wir zu Beginn den „Hymnus an die Sonne“ mit
seinen berühmten Fanfarenklängen. Es folgt in den
Streichern der Gesang des Glaubens, bald treten die in
der Musikliteratur so genannten Motive der Sehnsucht
(ein rhythmisierter Dreiklang) und des Lebenstriebs

                                             11
RICHARD STRAUSS
                                  Also sprach Zarathustra op. 30

FIESE FUGE                        (aufbegehrende Celli), das ausgreifende Freuden- und
                                  Leidenschafts-Thema sowie das Zweifels-Motiv (chro-
Für den Abschnitt „Von der        matischer Aufgang in den Posaunen) gleichsam in
Wissenschaft“ bedient sich
                                  einen Diskurs miteinander. Die „Wissenschaft“ wird
Strauss einer besonders
„gelehrten“ musikalischen         mit einer schleichenden Fuge dargestellt; nach einer
Form: der Fuge. Das Thema         Generalpause folgt „Der Genesende“ als eine Art
dieser Fuge könnte zudem
                                  Reprise oder Durchführung der zentralen Motive,
„allwissender“ nicht sein,
enthält es doch sämtliche         woraus dann das walzerselige „Tanzlied“ hervorgeht.
Töne der chromatischen
Skala, weshalb diese Stelle von
                                  Wie nun aber bereits Rolland in seiner Schilderung
manchen Interpreten schon
als Vorausnahme von Schön-        des äußerlichen „Programms“ bemerkte, bleiben am
bergs Zwölftontechnik gedeu-      Ende alle Fragen offen: In diesem Kosmos aus gegen-
tet wurde. Wie in einer Fuge
                                  sätzlichen Welten und Weltsichten kann es keine ver-
üblich, setzen nach der
Vorstellung des Themas in         lässliche Lösung geben. Und so ist auch Strauss
den Bässen die Stimmen            keineswegs an der Oberfläche deskriptiver Detailfülle
nacheinander mit demselben
                                  stehen geblieben. Vielmehr hat er seiner Partitur sub-
Thema ein, wodurch sich ein
kunstvolles Stimmengeflecht       til noch eine übergreifende, illusionslose Botschaft
ergibt. Besonders gut kommt       mitgegeben. Dass Unentschiedenheit nämlich das
die „Wissenschaft“ bei Strauss
                                  zentrale Thema von „Also sprach Zarathustra“ sein
jedoch nicht weg: Die Fuge
wirkt bewusst uninspiriert,       könnte, vielleicht gar als Abbild der Geisteshaltung
pedantisch und um sich selbst     einer Epoche, in der die Aufbrechung überkommener
kreisend. In ähnlicher Weise
                                  Moralvorstellungen eben auch zur modernetypischen
schildert Strauss in seinem
autobiografisch auslegbaren       Haltlosigkeit führte, wird schon aus den ständigen
„Heldenleben“ später übrigens     musikalischen Mutationen des Werks deutlich – wie es
auch die „Widersacher“ …
                                  der Musikwissenschaftler Mathias Hansen formu-
                                  lierte: „das Einzige, was in dieser Musik festzustehen
                                  scheint, ist, dass – nichts feststeht.“ Die Schlusstakte
                                  der Tondichtung dann ziehen die ernüchternde
                                  Summe aus all dem vorhergehenden Auf und Ab: Das
                                  gleichsam als höhere Sphäre erreichte H-Dur im Dis-
                                  kant wird dem tiefen Grundton der Natur vom Beginn,
                                  dem gezupften C der Bässe gegenüber gestellt. Strauss
                                  überlässt seine Hörer einem Gefühl des Unaufgeho-
                                  benseins. Vielleicht steckt in seinem „Zarathustra“
                                  eben doch mehr als eine „Volksausgabe Nietzsches“ …

                                  Julius Heile

                                                 12
DIRIGENT

                          Mikko Franck
Mikko Franck wurde 1979 in Helsinki geboren. Er
begann seine Dirigentenlaufbahn bereits im Alter
von 17 Jahren und hat seitdem weltweit mit den
großen Orchestern und Opernhäusern zusammenge-
arbeitet. Von 2002 bis 2007 war Franck Musikdirektor
des Belgischen Nationalorchesters. Im Jahr 2006
übernahm er die Position des Generalmusikdirektors
der Finnischen Nationaloper, zu deren Künstleri-
schem Leiter und Generalmusikdirektor er im folgen-
den Jahr ernannt wurde – eine Doppelfunktion, die er     H Ö H E P U N K T E 2 0 2 2/2 0 2 3

bis August 2013 innehatte. Im September 2015 wurde
Franck Musikdirektor des Orchestre Philharmonique        • Rückkehr zum Chicago
                                                           Symphony Orchestra, zu den
de Radio France. Dort setzt er sich seitdem sehr für
                                                           Münchner Philharmonikern
die kreative und vielseitige Programmgestaltung des        und den Berliner
Orchesters ein und führte es auf Tourneen durch            Philharmonikern
                                                         • Strauss‘ „Salome“ an der
Europa und Asien. Sein Vertrag wurde bereits zwei-
                                                           Bayerischen Staatsoper in
mal verlängert, zuletzt bis September 2025. Zusätzlich     München
zu seinem vollen Konzertkalender in Paris arbeitet       • Deutschland-Tournee mit
                                                           dem Orchestre Philharmoni-
Franck regelmäßig mit führenden Orchestern und
                                                           que de Radio France
Opernhäusern in Europa und darüber hinaus zusam-         • Veröffentlichung einer
men. Seine beachtliche Diskografie umfasst sowohl          neuen CD (Strawinskys „Le
                                                           sacre du printemps“ und
Opern als auch sinfonische Werke. Auf seinen jüngs-
                                                           „Capriccio“) mit dem
ten Einspielungen mit dem Orchestre Philharmoni-           Orchestre Philharmonique
que de Radio France sind etwa Werke von César              de Radio France
Franck, Richard Strauss, Claude Debussy und Igor
Strawinsky zu hören. Im Februar 2018 wurde Mikko
Franck Sonderbotschafter für UNICEF Frankreich.
Bei seiner Ernennung sagte er: „Jedes Kind ist einzig-
artig, jedes Leben ist wichtig. Jedes Kind, unabhängig
von seiner Herkunft, sollte das Recht haben, in einer
sicheren und gesunden Umgebung zu leben, seinen
Träumen zu folgen und sein volles Potenzial
auszuschöpfen“.

                                        13
KL AVIER

                                 Leif Ove Andsnes
                                      Mit seiner eindrucksvollen Technik und seinen tief-
                                      schürfenden Interpretationen hat der norwegische Pia-
                                      nist Leif Ove Andsnes weltweite Anerkennung
                                      erworben. Er spielt Konzerte und Recitals in den wich-
                                      tigsten Häusern rund um den Globus, gastiert bei den
                                      international führenden Orchestern und kann auf eine
                                      umfassende, gefeierte Diskografie blicken. Selbst ein
                                      passionierter Kammermusiker, ist er Gründungsdirek-
                                      tor des Rosendal Chamber Music Festival, das jeden
H Ö H E P U N K T E 2 0 2 2/2 0 2 3   August in Westnorwegen stattfindet. Außerdem war er
                                      Co-Direktor des Risør Festival of Chamber Music und
• Interpretation von Dvořáks          Music Director des Ojai Music Festival in Kalifornien.
  Zyklus’ „Poetische Stim-
                                      Andsnes ist Kommandeur des Königlich Norwegischen
  mungsbilder“ für eine neue
  CD-Veröffentlichung sowie           Orden des heiligen Olav und wurde u. a. mit dem Peer
  auf Recital-Tour durch              Gynt Prize, dem Gilmore Artist Award, Royal Philhar-
  Europa und Nordamerika
                                      monic Society’s Instrumentalist Award sowie Ehrendok-
• Debussys „Fantaisie“ mit
  dem Cleveland Orchestra             torwürden der Juilliard School New York und der
• Griegs Klavierkonzert mit           Universitäten von Bergen und Oslo ausgezeichnet. Sine
  dem Gewandhausorchester
                                      vielfältige Diskografie reicht von Bach bis zu zeitgenös-
  Leipzig und den London
  Philharmonic Orchestra              sischer Musik, wurde für elf Grammys nominiert und
• Rachmaninows Klavierkon-            mit sechs Gramophone Awards ausgezeichnet. Zu den
  zert Nr. 3 u. a. mit dem Oslo
                                      jüngsten Veröffentlichungen zählen ein Bestseller mit
  Philharmonic und Royal
  Scottish National Orchestra         Musik von Sibelius, eine CD mit Balladen und Noc-
• Liederabende mit Matthias           turnes von Chopin, ein Strawinsky-Album mit Marc-
  Goerne
                                      André Hamelin, Schumann-Lieder mit Matthias Goerne
• Fortsetzung der erfolgrei-
  chen Zusammenarbeit mit             und Werke des Norwegers Ketil Hvoslef. 1970 in Karmøy
  dem Mahler Chamber                  geboren, studierte Andsnes am Bergener Konservato-
  Orchestra in einem – nach
                                      rium bei dem renommierten tschechischen Professor
  der „Beethoven Journey“ –
  weiteren mehrjährigen               Jirí Hlinka und erhielt wichtige Impulse von Jacques de
  Projekt namens „Mozart              Tiège, der – genau wie Hlinka – maßgeblich seinen Stil
  Momentum 1785/86“ mit
                                      und seine Spielphilosophie beeinflusst hat. Gegenwär-
  Interpretationen der Klavier-
  konzerte Nr. 20–24                  tig ist Andsnes Artistic Adviser der Prof. Jirí Hlinka
                                      Piano Academy in Bergen, wo er jährlich Meisterkurse
                                      gibt. Dort lebt er auch mit seiner Frau und drei Kindern.

                                                  14
IMPRESSUM

                    Herausgegeben vom
             NORDDEUTSCHEN RUNDFUNK
               Programmdirektion Hörfunk
               Orchester, Chor und Konzerte
                 Rothenbaumchaussee 132
                     20149 Hamburg
                Leitung: Achim Dobschall

         NDR ELBPHILHARMONIE ORCHESTER
                Management: Sonja Epping

              Redaktion des Programmheftes
                       Julius Heile

Die Einführungstexte von Dr. Harald Hodeige und Julius Heile
            sind Originalbeiträge für den NDR.

                          Fotos
             Marion Kalter / akg-images (S. 5)
                 akg-images (S. 6, 9, 10)
       Radio France / Christophe Abramowitz (S. 13)
      Helge Hansen / Sony Music Entertainment (S. 14)

         Druck: Warlich Druck Meckenheim GmbH
         Das verwendete Papier ist FSC-zertifiziert.

              Nachdruck, auch auszugsweise,
          nur mit Genehmigung des NDR gestattet.

                             15
ndr.de/eo
youtube.com/NDRKlassik
Sie können auch lesen