Carlos Miguel Prieto & - Martin Fröst - NDR
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Carlos Miguel Prieto & Martin Fröst Donnerstag, 02.12.21 — 20 Uhr Freitag, 03.12.21 — 20 Uhr Elbphilharmonie Hamburg, Großer Saal
CARLOS MIGUEL PRIETO Dirigent MARTIN FRÖST Klarinette NDR ELBPHILHARMONIE ORCHESTER E S A - P E K K A S A L O N E N (*195 8) L. A. Variations Entstehung: 1996 | Uraufführung: Los Angeles, 16. Januar 1997 / Dauer: ca. 20 Min. W I T O L D L U T O S Ł AW S K I (191 3 – 19 9 4) Preludia taneczne (Tanzpräludien) Fassung für Klarinette, Harfe, Klavier, Schlagzeug und Streicher Entstehung: 1954/55 | Uraufführung: Warschau, 15. November 1955 (Fassung für Klarinette und Klavier); Aldeburgh, 1963 (vorliegende Fassung) / Dauer: ca. 10 Min I. Allegro molto II. Andantino III. Allegro giocoso IV. Andante V. Allegro molto
A A R O N C O P L A N D (19 0 0 – 19 9 0) Konzert für Klarinette und Streichorchester mit Harfe und Klavier Entstehung: 1948 | Uraufführung: NBC Radioübertragung, 6. November 1950 | Dauer: ca. 18 Min. I. Slowly and expressively – Cadenza (Freely) – II. Rather fast Pause I G O R S T R AW I N S K Y (1 8 82 – 1971) Petruschka Burleske in vier Bildern (Konzertversion von 1947) Entstehung: 1910–11; rev. 1947 | Uraufführung: Paris, 13. Juni 1911 | Dauer: ca. 32 Min. Erstes Bild Jahrmarkt in der Fastnachtswoche Russischer Tanz Zweites Bild Petruschka Drittes Bild Der Mohr Walzer (Der Mohr und die Ballerina) Viertes Bild Jahrmarkt in der Fastnachtswoche (gegen Abend) Tanz der Ammen Ein Bauer und der Bär Die Zigeunerinnen und ein genusssüchtiger Kaufmann Tanz der Kutscher Die Maskierten Ende des Konzerts gegen 22 Uhr Einführungsveranstaltungen mit Julius Heile um 19 Uhr im Großen Saal der Elbphilharmonie Das Konzert am 03.12.21 ist live zu hören auf NDR Kultur.
ESA-PEKKA SALONEN L. A. Variations 2 Akkorde, 12 Töne Mehrfachbegabungen sind in der Musikszene keine Seltenheit. Man hört von Pianisten, die nebenbei kom- ponieren, Komponisten, die auch mal eigene Werke dirigieren, oder Dirigenten, die gelegentlich am Instru- ment brillieren. Nicht oft aber findet man im heutigen Konzertbusiness noch Musiker wie ehemals Gustav Mahler, Sergej Rachmaninow oder Leonard Bernstein, bei denen diese Zuordnung zu einer Hauptdisziplin schwer fällt. Esa-Pekka Salonen ist eine von wenigen Esa-Pekka Salonen Ausnahmen: Ist er komponierender Dirigent oder diri- gierender Komponist? Oder gar komponierender, diri- Die „L. A. Variati- gierender Musikvermittler und Festivalleiter? Der umtriebige Finne ist aktuell nicht „nur“ Chef des San ons“ spiegeln den Francisco Symphony Orchestra und begehrter Gastdi- Großstadtlärm von rigent bei allen großen Orchestern weltweit. Der Absol- vent der legendären Talentschmiede an der Sibelius- Salonens Wahlhei- Akademie in Helsinki findet unter anderem auch mat Los Angeles … immer wieder Zeit, eindrucksvolle Werke zu schreiben, die rund um den Globus aufgeführt werden. Wie bei Sibelius herrscht unter alle- Dass sich die verschiedenen Schaffensbereiche dabei immer wieder durch innere Bänder verknüpft zeigen, dem aber diese überrascht kaum. Die meisten der Werke Salonens ver- poetische Magie danken ihre Idee konkreten Eindrücken oder Anlässen seiner Aktivität im Konzertbetrieb. So tragen die „L. A. und starke Klar- Variations“ – wie später das „Stockholm Diary“ – den heit, die uns auf Namen einer Wirkstätte sogar im Werktitel: Von 1992 bis 2009 war Salonen Chef des Los Angeles Philharmo- der Stuhlkante nic Orchestra und schuf in dessen Auftrag 1996 eine fesselt. Großstadtmusik, die „speziell für die Musiker“ ent- stand, über deren „Virtuosität und Energie“ ihr dama- Diane Peterson im „Press Democrat“ (2004) liger Chef sich im Vorwort zur Partitur überaus stolz zeigte. „Salonen weiß, was sein Konzertmeister und 4
ESA-PEKKA SALONEN L. A. Variations Erster Trompeter können, und führt sie auf eine Art SALONEN BEIM NDR EO zusammen, die sich andere Komponisten ohne solche Musiker an der Hand wohl niemals vorstellen könn- Esa-Pekka Salonen ist beim NDR Elbphilharmonie Orchester ten“, bemerkte denn auch ein Kritiker der Urauffüh- seit vielen Jahren ein gern rung der „L. A. Variations“ 1997. Wie in einem „Konzert gesehener und gehörter Gast. für Orchester“ stellt das Werk die verschiedenen Sekti- Im Jahr 2002 dirigierte Chris- toph Eschenbach hier erst- onen eines großen Klangkörpers heraus; solistische, mals die „L. A. Variations“. kammermusikalische und Tutti-Abschnitte wechseln Für „Insomnia“, das Eschen- einander ab. An einer Stelle etwa prallen hohe Holzblä- bach 2003 präsentierte, hatte der NDR Salonen einen ser unvermittelt auf tiefe Bässe, gefolgt von einem Kompositionsauftrag erteilt. karikaturistischen Kontrabass-Solo. Und nachdem Seit 2005 gab es den finni- gleich zu Beginn das Grundmaterial der Musik in einer schen Maestro dann auch live zu erleben: Die Reihe NDR das aufsteigenden Tonleiter des ganzen Orchesters vorge- neue werk widmete Salonen stellt wurde, folgt eine klanglich exotische Passage für ein Porträtkonzert, bei dem er Altflöte, Englischhorn, Bassklarinette, Fagotte und erstmals das NDR Elbphilhar- monie Orchester dirigierte. Solo-Bratschen. Salonen charakterisierte sie als „syn- Seither kommt der Stardiri- thetische Volksmusik“, als Typus einfacher, direkter gent regelmäßig nach Ham- Musik ohne konkretes ethnologisches Vorbild, den er burg und führt hier immer wieder auch eigene Werke auf: auch in seinem Klavierkonzert verwandte. Noch 2005 war seine Raummusik andere Salonen’sche „Archetypen“ kommen in den „Wing on Wing“ in der Laeisz- über 20 kurzen, miteinander verbundenen Abschnitten halle zu erleben, 2008 folgte das Klavierkonzert, 2012 das der „L. A. Variations“ vor: der „Choral“, bei dem alle Violinkonzert. In der aktuel- Stimmen gleiche Notenwerte spielen, die „Maschine“, len Saison ist Salonen in die eine Art Mantra-Rhythmus im Schlagwerk etab- Hamburg gleich mehrfach präsent. Mit Aufführungen liert, oder der „Kanon“, ein diffiziles Stimmengeflecht seiner Werke und zwei Pro- für ausgewählte Instrumentengruppen. Bleibt die grammen unter seiner Leitung Frage nach dem „Thema“, über das all diese Abschnitte im Januar feiert der NDR die langjährige Zusammenarbeit variieren. Salonen beschrieb es wie folgt: „zwei mit dem herausragenden Akkorde, jeder bestehend aus sechs Tönen. Zusammen Künstler. Die Konzerte sind umfassen sie alle zwölf Töne der chromatischen Teil des „Multiversums“, mit dem Elbphilharmonie und Skala“. Das muss man nicht unbedingt wahrnehmen. NDR über zwei Spielzeiten Aber fast ist man versucht, dieses „Thema“ als Aus- hinweg die vielseitige Musi- druck von Salonens künstlerischem Wirken zu deuten: kerpersönlichkeit Salonens in all ihren Facetten beleuchten. universal, beinahe unerschöpflich und doch durch ein zwingendes inneres Band zusammengehalten … Julius Heile 5
WITOLD LUTOSŁ AWSKI Tanzpräludien Folkloristisches Frühwerk VON DER FOLKLORE ZUR „Wie alle Komponisten meiner Generation, musste A L E AT O R I K auch ich dem Einfluss Strawinskys erliegen“, bekannte Witold Lutosławski. Doch auch die Musik Béla Bar- Rückblickend bezeichnete tóks, die „in einem bestimmten Abschnitt meines Lutosławski die „Tanzprä- ludien“ als seinen „Abschied Lebens“ einen „gewaltigen Einfluss“ auf ihn ausgeübt von der Folklore“. Eine erste habe, schätzte der polnische Komponist über alle Wende in seinem Schaffen Maßen. „Spuren dieses Einflusses sind sogar in mei- erfolgte Mitte der 1950er Jahre und war vor allem mit den nen letzten Werken zu finden, obgleich diese ihrem politischen Veränderungen Wesen nach der Musik Bartóks recht fernstehen.“ Und nach dem „polnischen Okto- weiter: „Selbstverständlich sehe ich in Bartók eine ber“ 1956 verbunden, der eine Lockerung des politischen Schlüsselfigur der Musik des zwanzigsten Jahrhun- Klimas mit sich brachte. Vier derts. Diese Wahrheit wird jedermann akzeptieren, Jahre später hörte er zufällig der die Musikgeschichte unseres Zeitalters kennt.“ in einer Radioübertragung das Klavierkonzert von John Cage, in dem ihm der Klangein- Kein Wunder, dass sich Witold Lutosławski zu Beginn druck eines von Elementen seiner künstlerischen Entwicklung an einem folkloris- des Zufalls bestimmten freien und nicht durch ein gemeinsa- tischen Klassizismus orientierte, der sowohl an Bartók mes Metrum reglementierten als auch an Strawinsky denken lässt – zu einer Zeit, als Ensemblespiels derart faszi- im Zuge der „Sowjetisierung“ Osteuropas in den spä- nierte, dass er sofort an die Möglichkeit dachte, ähnliche ten 1940er Jahren auch das polnische Musikleben einer Strukturen auf das eigene immer stärker werdenden politischen Reglementie- Komponieren zu übertragen. rung und Kontrolle durch die kommunistische Partei So entwickelte Lutosławski die von ihm so bezeichnete unterworfen war. Ein Beispiel dieser frühen Stilphase „begrenzte Aleatorik“ (alea = sind die „Preludia taneczne“ (Tanzpräludien) von 1954, lat. Würfel) und ließ in seinen eine Folge von fünf Miniaturen für Klarinette und Kla- Werken fortan präzise notierte Abschnitte und metrisch vier, die Lutosławski 1955 für Ensemble bzw. vier Jahre variable Passagen aufeinander später für Orchester arrangiert hat. Die Volkstänze, folgen. deren breite Ausdruckspalette von in sich gekehrt über 6
WITOLD LUTOSŁ AWSKI Tanzpräludien fröhlich bis hin zu humorvoll-ausgelassen reicht, reflektieren melodisch, harmonisch und rhythmisch traditionelle Tanzweisen aus dem Norden Polens. Allerdings ist eine genaue Identifikation der Originale, deren Tempo sich „nahezu jeden Takt ändert“ (Lutosławski), kaum mehr möglich, da Vorlagen geschickt in die zum Teil in unterschiedlichen Metren gegeneinander gesetzten Stimmen eingeflochten wer- den. Diese sogenannten „polymetrischen“ Strukturen, Witold Lutosławski (1972) durch die die Musik ihre außergewöhnliche Lebendig- keit erlangt, ist am deutlichsten in den Präludien BEFREIUNG DER KUNST Nummer eins, drei und fünf zu hören, wobei das dritte in dieser Hinsicht besonders charakteristisch ist. Noch 1949 war Lutosławskis Erste Sinfonie von Stalins mächtigstem Kulturpolitiker Das erste der fünf Stücke wird von einem abwärtsge- Andrej Schdanow als „forma- richteten Es-Dur-Vierklang der Klarinette eingeleitet, listisch“ gebrandmarkt und mit Aufführungsverbot belegt aus dem sich ein wirbelnder Staccato-Tanz entwickelt, worden. Erst 1956 kam es der mit einer wie improvisiert wirkenden Floskel des infolge des politischen Blasinstruments ausklingt. An zweiter Stelle steht ein Umschwungs, an deren Anfängen Nikita Chruscht- schwermütiges Andantino mit langsam-fließender schows Rede vom XX. KPdSU- Melodieführung samt bewegterem Mittelteil, der an Parteitag über die Verbrechen die Musik Bartóks denken lässt. Es folgt ein scherzo- Stalins stand, in Polen zu mehr künstlerischer Bewe- haftes Allegro giocoso, zu dessen Beginn die von gungsfreiheit. Das internatio- Schlagzeug und Klavier unterstützte Klarinette prus- nal renommierte Musikfest tendes Gelächter zu imitieren scheint. Der überaus „Warschauer Herbst“ ent- wickelte sich zu einem unab- effektvolle Einsatz von Klavier und kleiner Trommel hängigen und weltoffenen erinnert an das Capriccio notturno aus dem Konzert Forum der Moderne, das die für Orchester, das Lutosławski kurz vorher vollendet Komponistengenerationen um Lutosławski grundlegend hatte. Im sich anschließenden Andante bildet eine prägen sollte. Auch viele erneut an Bartók erinnernde, chromatisch angelegte sowjetische Tonsetzer konn- Begleitung einen spannungsvollen Kontrast zur in sich ten hiervon profitieren, etwa Alfred Schnittke, Edison kreisenden Melodielinie. Abgerundet wird das Werk Denissow und Sofia mit einem metrisch verwickelten Finale, das mit volks- Gubaidulina. liedartigem Thema und synkopierter Begleitung einem ausgelassenen Höhepunkt entgegensteuert. Harald Hodeige 7
AARON COPLAND Klarinettenkonzert Lyrik und Jazz Aaron Copland ging als Schöpfer eines unverwechsel- bar „amerikanischen“ Klangidioms in die Musikge- schichte ein: Bis heute nehmen die Filmscores unzähliger US-Blockbuster auf seine Werke Bezug – spätestens, wenn die amerikanische Flagge in den Fokus der Kamera rückt. Die Anregungen hierzu erhielt der in Brooklyn geborene Sohn jüdisch-litaui- scher Einwanderer allerdings nicht in seiner Heimat, sondern in Paris, wo Nadia Boulanger zu seiner wich- Aaron Copland tigsten Lehrerin wurde. Hier begann Copland „zu UNTER BEOBACHTUNG überlegen, ob Jazzrhythmen nicht am geeignetsten wären, um Musik einen amerikanischen Sound zu ver- Die frühen 1950er Jahre waren passen.“ Aufgrund seiner linken politischen Einstel- in den USA in den Worten lung und nicht zuletzt infolge einer Mexiko-Reise 1932 Leonard Bernsteins „die Zeit der Fernsehzensur, der ver- wandte er sich schließlich einem musikalischen Folk- lorenen Jobs, der Selbstmorde lorismus zu, bevor er unter Rückgriff auf Cowboylieder und Ausbürgerungen“ – eine und -tänze einen Orchesterstil entwickelte, der einem Zeit, in der „alles, wofür Amerika stand, von diesem breiten Publikum unmittelbar verständlich war. Junior-Senator aus Wisconsin, Joseph McCarthy, und seinen Das Klarinettenkonzert entstand 1947/48 für den inquisitorischen Handlangern mit Füßen getreten wurde“ „King of Swing“, Benny Goodman, wobei der und in der „das halbe Holly- berühmte Jazzklarinettist bei seinem lukrativen wood auf der schwarzen Liste Auftrag Copland nicht eine einzige Vorgabe machte stand“. Auch Bernsteins Lehrer Aaron Copland geriet – außer, dass er sich für zwei Jahre die exklusiven Auf- wie so viele andere amerikani- führungsrechte an dem neuen Werk sicherte: „Ich sche Linksintellektuelle habe 2000 Dollar bezahlt und das ist schließlich rich- wegen echter oder angeblicher kommunistischer Kontakte tig viel Geld.“ Natürlich ließ Copland diverse Jazz- ins Fadenkreuz des „Aus- Klänge in seine Partitur einfließen, allerdings ohne schusses für unamerikanische dabei auf ein jazz-spezifisches Instrumentarium Umtriebe“ des Repräsentan- tenhauses. Die Ermittlungen zurückzugreifen: „Da die Orchestrierung sich auf Kla- gegen ihn wurden erst 1975 rinette, Streicher, Harfe und Klavier beschränkt, offiziell eingestellt. hatte ich kein großes Schlagzeug zur Verfügung, um Jazz-Effekte zu erzielen. Also verwendete ich ‚slapping 8
AARON COPLAND Klarinettenkonzert basses‘ [sogenannte Bartók-Pizzicati, bei denen die ZU HOCH, SELBST FÜR GOODMAN Saite auf dem Griffbrett aufschlägt] und geschlagene Harfenklänge, um diese zu simulieren.“ Benny hatte den Klarinettisten David Oppenheim zur morali- Zu der ungewöhnlichen Konzertform, bei der zwei kon- schen Unterstützung mitge- trastierende Sätze mit Hilfe einer Solokadenz verbun- bracht. Ich hatte die letzte Seite zu hoch notiert, weshalb das den werden, fand Copland während einer Reise durch Ganze eine Stufe nach unten Südamerika. Über den langsamen Kopfsatz in dreiteili- verlegt werden musste. Benny ger Liedform, in dem die lyrischen Qualitäten der Kla- machte eine Reihe weiterer Vorschläge – einer bezog sich rinette zum Zug kommen, schrieb er aus Rio de Janeiro, auf zwei Spitzentöne innerhalb die bittersüße Musik werde „jedermann zum Weinen der Kadenz (von denen ich bringen“. Die ausnotierte Solokadenz, in der bereits wusste, dass Benny sie spielen könnte, weil ich seine Schall- Motive aus dem von lebhaften Jazzthemen dominierten plattenaufnahmen gehört Schlusssatz anklingen, gibt dem Solisten Gelegenheit, hatte). Er erklärte, dass er diese seine Virtuosität zu demonstrieren. Das „rather fast“ zu Höhe leicht erreichen könnte, wenn er vor Publikum spielt. Es spielende Finale beschrieb Copland als eine „unbe- wäre ihm aber unmöglich, wenn wusste Verschmelzung von Elementen nord- und süd- er im Rahmen einer Aufnahme amerikanischer Popularmusik“ – nicht zufällig habe er in eine Partitur sehen müsste. Deshalb haben wir es geändert. hier eine melodische Phrase eines aktuellen Songs ver- arbeitet, den er in Rio de Janeiro gehört hatte. Aaron Copland über eine erste Leseprobe seines Klarinettenkonzerts Zu Coplands Überraschung verschob Benny Good- man die Konzertpremiere mehrfach, offenbar auf- grund der hohen technischen Anforderungen des Soloparts. Erst als der Komponist kurz vor Ablauf des zweijährigen Exklusivaufführungsrechts die Urauf- führung mit einem anderen Solisten plante, präsen- tierte er das überaus wirkungsvolle Werk der Öffentlichkeit – am 6. November 1950 in einer Radio- übertragung mit dem NBC Symphony Orchestra unter der Leitung von Fritz Reiner. Anschließend nahmen es zahlreiche Klarinettisten in ihr Repertoire auf: „Von allen Konzerten, die ich in Auftrag gegeben habe“, so Goodman, „wird Coplands am häufigsten aufgeführt, es ist ein sehr populäres Stück.“ Harald Hodeige 9
IGOR STR AWINSKY Petruschka Anti-Held auf hölzernen Füßen AUSDRUCK? BIT TE NICHT! Die besten Ideen verdanken sich manchmal schlicht dem Zufall. So war es auch mit Igor Strawinskys Künstlerische Freiheit „Petruschka“. Eigentlich arbeitete der Komponist im gestand Igor Strawinsky nicht September 1910 gerade an einem anderen Werk, als ihn jedem zu. Dass er selbst komponieren durfte, was ein scheinbar absurder Einfall mit einem Mal gründ- immer er wollte, war das eine. lich ablenkte: „die hartnäckige Vorstellung einer Glie- Das hieß aber noch lange derpuppe, die plötzlich Leben gewinnt und durch das nicht – befand Strawinsky –, dass dann jeder Interpret mit teuflische Arpeggio ihrer Sprünge die Geduld des seinen Werken machen Orchesters so sehr erschöpft, dass es sie mit Fanfaren konnte, was er wollte. Ganz im bedroht. Daraus entwickelt sich ein schrecklicher Gegenteil: Im Widerspruch zum Ideal der „Interpretation“ Wirrwarr, der auf seinem Höhepunkt mit dem eines Werks durch den aus- schmerzlich-klagenden Zusammenbruch des armen übenden Künstler bestand der Hampelmannes endet“, wie Strawinsky in seinen Russe energisch darauf, dass die Musiker gefälligst genau „Erinnerungen“ erzählt. Aus einem Impuls heraus das – und nur das – spielten, machte der Komponist sich daran, diese Idee in ein was er ihnen in die Noten Konzertstück für Klavier und Orchester umzusetzen. geschrieben hatte. Wer hier eine eigene „Interpretation“ Kurz darauf erhielt er allerdings Besuch von dem Ballett- wagte, dem war der Zorn Impresario Serge Diaghilew. Der gewiefte Theater- Strawinskys gewiss. Auf den mann erkannte das Potenzial dieser neuen Idee sofort. Punkt brachte er diese Hal- tung einst mit dem legendär Kurzerhand bat er Strawinsky, die Arbeit an seinem gewordenen Ausspruch „Je aktuellen Projekt – dem später legendären „Le Sacre déteste l’Ausdruck!“ – „Ich du printemps“ – zurückzustellen und stattdessen seine verabscheue den Ausdruck!“ Idee vom Streit des Orchesters mit einem Hampel- mann in ein Ballett umzuarbeiten: „Petruschka“. Die Geschichte ist schnell erzählt. Auf einem Jahr- markt tritt ein Gaukler mit drei Marionetten auf – der hübschen Ballerina, dem schneidigen Mohren und 10
IGOR STR AWINSKY Petruschka dem ungelenken Petruschka. Was er nicht weiß: Hin- ter den Kulissen, wenn niemand hinschaut, werden die Puppen lebendig. Petruschka ist unsterblich in die Ballerina verliebt, diese jedoch hat nur Augen für den Mohren. Das Ganze endet tragisch: Nach einem Eifersuchtsdrama und einem Kampf zwischen den beiden Konkurrenten erschlägt der Mohr Petruschka. Während die Handlung des Balletts noch ganz tradi- Igor Strawinsky (1913) tionell und linear verläuft, ging Strawinsky mit der Musik zu „Petruschka“ schon den Schritt von der G E TA N Z T E R E VO L U T I O N Spätromantik in die Moderne. So verzichtet er bei- spielsweise auf die bis dahin übliche emotionale Bis heute ist ihr Name Legende: Von 1909 bis 1929 Identifikation mit der Hauptfigur zugunsten einer begeisterten und revolutio- gleichsam „objektiven“ Darstellung der Gescheh- nierten Serge Diaghilews nisse. Eines der musikalischen Mittel, die der Kom- „Ballets Russes“ die Ballett- welt des 20. Jahrhunderts. Der ponist dafür verwendete, ist die Collagetechnik, die umtriebige Impresario hatte bereits im ersten Bild hörbar zum Einsatz kommt. sich den Anspruch auf die Hier vermischen sich Volks- und Trinklieder, Drehor- Fahnen geschrieben, die russische Kunst in die Welt zu gel- und Spieluhrmusik zu einem kunstvoll-chaoti- tragen. Und das ist ihm schen Abbild realistischen Jahrmarkttrubels. gelungen: Künstlerisch Klanglich überschneiden sich diese musikalischen bahnten Diaghilews Produk- tionen dem modernen Tanz- Schlaglichter auf das bunte Treiben immer wieder, so theater den Weg. Die Musik dass verschiedene Taktarten, Rhythmen oder Harmo- stammte von jungen Wilden nien gleichzeitig zu hören sind. Kompositorisch war wie Igor Strawinsky, Erik Satie, Claude Debussy, Sergej ein solches Verfahren zu Beginn des 20. Jahrhunderts Prokofjew oder Manuel de revolutionär, und auch heutzutage erzeugen die viel- Falla. Tanzstars wie Vaslav fältigen Klangschichten beim Zuhören noch reizvolle Nijinsky und Anna Pavlova begeisterten durch ihre Kunst, akustische Irritationen. und die Bühnenbilder und Kostüme von Leon Bakst, Den zentralen Figuren seiner Geschichte ordnete Alexandre Benoîs oder Pablo Picasso setzten neue ästheti- Strawinsky gut wiedererkennbare Klänge oder Motive sche Maßstäbe. Zu den her- zu: Petruschka wird charakterisiert durch zwei ausragenden Produktionen Akkorde, die im Abstand einer übermäßigen Quarte der „Ballets Russes“ zählen etwa Strawinskys „Le Sacre du stehen – des sogenannten Tritonus oder „Diabolus in printemps“ und Debussys musica“. Dieser „Teufel in der Musik“ symbolisiert „L’après-midi d’un faune“. seit jeher das Diabolische, Düstere, Unheimliche – 11
IGOR STR AWINSKY Petruschka das passende Intervall also für den eifersüchtigen und aufbrausenden Petruschka. Zum ersten Mal sind diese Akkorde unmittelbar nach der eröffnenden Jahrmarktsszene zu hören. Mit einem kräftigen Pau- kenwirbel leitet der Komponist in die neue Szene über, die sich in Petruschkas Kammer abspielt. Nun erklingt sein Motiv in den Klarinetten. Die Wirkung des Tritonus verschärfte Strawinsky hier noch, indem Alexandre Benoîs: Entwurf für er die Töne der beiden gleichzeitig erklingenden ein Plakat oder Programmheft Akkorde so anordnete, dass sie möglichst dicht zu „Petruschka“ (1948) zusammenstehen. So erzeugte er maximalen Miss- klang – ein sprechendes Symbol für den zornig- EIN RÜPEL ALS HELD tragischen Helden des Balletts. Ebenso wie das deutsche Auffahrende musikalische Gesten charakterisieren Kasperle oder der italienische den jähzornigen Mohren in der ebenfalls durch einen Pulcinella ist auch Petruschka eine Figur des volksnahen Paukenwirbel eingeleiteten Folgeszene. Die faszinie- Puppentheaters. Traditionell rende Andersartigkeit, mit der der schneidige Krieger war er denn auch ein vulgärer die Ballerina in seinen Bann zieht, schlägt sich in der und manchmal durchaus gewalttätiger Rüpel, der auf Verwendung exotischer Instrumente und Harmonien russischen Jahrmärkten und nieder. Der Ballerina selbst schließlich ordnete Stra- auf den Plätzen der Dörfer winsky einen holzschnittartigen und leicht karikier- und Städte als Held schlichter Slapstick-Komödien für ten Walzer zu, mit dem sie versucht, ihren Schwarm Unterhaltung sorgte. Seine zu umgarnen – sehr zum Missfallen Petruschkas. Geschichte geht bis ins 17. Jahrhundert zurück und er erfreute sich bis ins 20. Für eine Konzertfassung der 1911 uraufgeführten Jahrhundert hinein größter Ballettmusik ersetzte Strawinsky den letzten Beliebtheit. Dass Petruschka Abschnitt im vierten Bild durch einen wirkungsvolle- in den Geschichten oft den Sieg selbst über Tod und ren Abschluss, der den Kampf des Mohren mit Teufel davontrug, machte ihn Petruschka und dessen Tod auslässt. Die Frage, ob in den Augen Maxim Gorkis die Marionetten wahrhaftig lebendig oder eben doch zu einem anarchischen Helden des Volkes. „nur“ Puppen sind – ob also die Geschichte nur ein Theaterstück auf dem Jahrmarkt oder doch eine reale Tragödie ist – lässt der Komponist allerdings in bei- den Fassungen unbeantwortet. Juliane Weigel-Krämer 12
DIRIGENT Carlos Miguel Prieto Carlos Miguel Prieto wurde in eine Musikerfamilie spa- nischer und französischer Abstammung in Mexiko- Stadt geboren. Er ist der führende mexikanische Dirigent seiner Generation und seit 2007 Music Director des Orquesta Sinfónica Nacional de México sowie seit 2008 des handverlesenen Orquesta Sinfónica de Mine- ría, das zweimonatige Sommerkonzertserien in Mexiko- Stadt spielt. Als Chef des Louisiana Philharmonic Orchestra seit 2005 hat er die kulturelle Wiederauferste- hung von New Orleans nach dem Hurrikane entschei- G A S T D I R I G AT E D E R J Ü N G E - REN VERGANGENHEIT dend mitgestaltet. 2021 wurde er zum Artistic Advisor des North Carolina Symphony Orchestra ernannt. Eine • London Philharmonic enge Zusammenarbeit verbindet ihn auch mit dem Chi- Orchestra cago Symphony Orchestra. Seit 2002 dirigiert Prieto • Minnesota Orchestra darüber hinaus regelmäßig das Youth Orchestra of the • National Symphony Orches- tra Washington Americas, dessen Music Director er seit 2011 ist und das • BBC National Orchestra of er 2018 auf eine Sommertournee durch Europa führte. Wales Auch zum National Youth Orchestra of Great Britain • Los Angeles New Music Group und NYO2 kehrt er immer wieder zurück. Prieto ist für • NDR Elbphilharmonie seinen großen Einsatz für lateinamerikanische und Orchester zeitgenössische Musik bekannt und hat über 100 Werke • hr-Sinfonieorchester • Hallé Orchestra mexikanischer oder amerikanischer Komponist*innen • Royal Liverpool Philharmo- uraufgeführt. Dabei legt er großes Gewicht auch auf nic Orchestra Musik von schwarzen und afroamerikanischen Kompo- • Bournemouth Symphony Orchestra nist*innen. Seine umfangreiche Diskografie enthält • Cleveland Orchestra u. a. eine mit dem OPUS KLASSIK 2018 ausgezeichnete • Dallas Symphony Orchestra Aufnahme des Klavierkonzerts Nr. 2 von Rachmaninow • Toronto Symphony Orchestra mit Boris Giltburg und eine für zwei Grammys nomi- • Houston Symphony nierte Einspielung des Violinkonzerts von Korngold mit Orchestra Philippe Quint. Ende 2018 erschien eine Einspielung der Violinkonzerte von Elgar und Finzi mit Ning Feng. Prieto ist Absolvent der Universitäten von Princeton und Harvard und hat bei Jorge Mester, Enrique Diemecke, Charles Bruck und Michael Jinbo studiert. 13
KLARINETTE Martin Fröst Der Klarinettist und Dirigent Martin Fröst ist für seine musikalischen Grenzüberschreitungen, seine unüber- troffene Virtuosität und Musikalität bekannt. Als Künst- ler, der stets auf der Suche nach Wegen ist, die klassische Konzertbühne neu zu beleben, spielt er ein Repertoire, das sowohl die bekannten Klarinettenwerke als auch zahlreiche zeitgenössische Stücke umfasst. Fröst war 2014 der erste Klarinettist, der den Léonie Sonning Music Prize gewann, womit er sich in eine Liste berühm- H Ö H E P U N K T E 2 0 21/2 0 2 2 ter Vorgänger wie Igor Strawinsky und Sir Simon Rattle einreihte. Als Solist hat er mit weltweit bedeutenden • Aufnahmeprojekte und Orchestern zusammengearbeitet, darunter das Royal zahlreiche Auftritte als Concertgebouw, New York und Los Angeles Philharmo- Chefdirigent des Swedish Chamber Orchestra, nic Orchestra, Gewandhausorchester Leipzig, Philhar- darunter eine Europa-Tour- monia Orchestra und die Münchner Philharmoniker. nee Anfang 2022 Regelmäßig musiziert er mit international bekannten • Recital-Tour durch Deutsch- land und die Schweiz mit Künstlern wie Yuja Wang, Janine Jansen, Leif Ove Ands- dem Quatuor Ébène nes und Antoine Tamestit, tritt bei den großen Festivals • Großbritannien- und Norwe- etwa in Verbier oder New York, in Konzertsälen wie der gen-Premiere von Sally Beamishs Doppelkonzert Carnegie Hall oder dem Concertgebouw sowie auf Tour- „Distans“ gemeinsam mit nee in Europa, Asien, Nordamerika und Australien auf. Janine Jansen und dem Mit seinen Multimedia-Projekten in Zusammenarbeit London Symphony bzw. Oslo Philharmonic Orchestra mit dem Royal Stockholm Philharmonic Orchestra hat • Gastspiel beim winterlichen er viel Aufmerksamkeit erregt. Nach „Dollhouse“ und Verbier Festival auf Schloss „Genesis“ ist „Retrotopia“ sein jüngstes Projekt, in dem Elmau • Französische Erstauffüh- er als Solist und Dirigent neues Repertoire erforscht rung von Jesper Nordins und die Konventionen des klassischen Konzerts hinter- „Emerging from Currents fragt. Mit dem Swedish Chamber Orchestra, dessen and Waves“ mit dem Orches- tre Philharmonique de Chefdirigent Fröst seit 2019 ist, hat er ein Projekt gestar- Radio France tet, das Mozarts musikalischem Einfluss in Europa • Neues Multimedia-Projekt nachspürt und auch als grüne Initiative für klima- „Xodus“ mit dem Royal Stockholm Philharmonic neutrales Reisen von sich Reden macht. 2019 rief er Orchestra zudem die Martin Fröst Foundation ins Leben, die sich der weltweiten Musikvermittlung verschrieben hat. 14
IMPRESSUM Herausgegeben vom NORDDEUTSCHEN RUNDFUNK Programmdirektion Hörfunk Orchester, Chor und Konzerte Rothenbaumchaussee 132 20149 Hamburg Leitung: Achim Dobschall NDR ELBPHILHARMONIE ORCHESTER Management: Sonja Epping Redaktion des Programmheftes Julius Heile Die Einführungstexte von Julius Heile, Dr. Harald Hodeige und Dr. Juliane Weigel-Krämer sind Originalbeiträge für den NDR. Fotos Benjamin Suomela (S. 4) akg-images / Imagno / Votava (S. 7) akg-images (S. 8) culture-images/fai (S. 11) Sotheby‘s / akg-images (S. 12) Benjamin Ealovega (S. 13) Martin Bäcker / Sony Music Entertainment (S. 14) Druck: Eurodruck in der Printarena Das verwendete Papier ist FSC-zertifiziert und chlorfrei gebleicht. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des NDR gestattet. 15
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