NACH DEM NRW-SCHULKONSENS: AUF DEM WEG ZU EINER SCHULE FÜR ALLE? - MARC MULIA, PETER PROFF

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NACH DEM NRW-SCHULKONSENS: AUF DEM WEG ZU EINER SCHULE FÜR ALLE? - MARC MULIA, PETER PROFF
Studien

Marc Mulia, Peter Proff

Nach dem NRW-
Schulkonsens:
auf dem Weg zu einer
Schule für alle?
Marc Mulia, Peter Proff

     Nach dem NRW-
      Schulkonsens:
auf dem Weg zu einer
    Schule für alle?

        Studie im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Marc Mulia arbeitet als Studienrat in der AG Schulforschung an der Ruhr-Universität Bochum.
Er war zehn Jahre als Lehrer in Duisburg beschäftigt und arbeitete von 2011 bis 2014 als pädagogischer
Mitarbeiter im Regionalen Bildungsbüro Duisburg.

Peter Proff ist Mitarbeiter der Ratsfraktion der Partei DIE LINKE. in Krefeld. Er hat an der Universität
Duisburg Sozialwissenschaften studiert und sich in seinem Studium und als AStA-Vorsitzender vor allem
mit Hochschulpolitik beschäftigt.

IMPRESSUM
STUDIEN 12/2016
wird herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung
V. i. S. d. P.: Ulrike Hempel
Franz-Mehring-Platz 1 · 10243 Berlin · www.rosalux.de
ISSN 2194-2242 · Redaktionsschluss: September 2016
Illustration Titelseite: Frank Ramspott/iStockphoto
Lektorat: TEXT-ARBEIT, Berlin
Layout/Herstellung: MediaService GmbH Druck und Kommunikation
Gedruckt auf Circleoffset Premium White, 100 % Recycling
Inhalt

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Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

1 Zielsetzung und Aufbau der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6

2 Die Situation nach der Wahl der neuen rot-grünen Landesregierung im Jahr 2010  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
2.1 Die Bildungskonferenz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
2.2 Der NRW-Schulkonsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

3 Schulstruktur und Schulentwicklung in NRW  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
3.1 Die Grundschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
3.1.1 Die Bekenntnisgrundschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
3.1.2 Die Entwicklung des Ganztags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
3.2 Der Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
3.3 Die Hauptschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
3.4 Die Realschule  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
3.5 Das Gymnasium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
3.6 Die Gesamtschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
3.7 Die Sekundarschule  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
3.8 Die Schulversuche der Landesregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
3.8.1 Die Gemeinschaftsschule  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
3.8.2 Die PRIMUS-Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
3.9 Das Berufskolleg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
3.10 Die Förderschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
3.11 Zum Stand der Inklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
3.12 Entwicklung der Schulabschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

4 Schulentwicklung vor Ort am Beispiel der Stadt Krefeld und des Kreises Viersen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
4.1 Bevölkerungsstruktur und Schullandschaft der Stadt Krefeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
4.2 Bevölkerungsstruktur und Schullandschaft im Kreis Viersen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

5 Medialer und politischer Diskurs zur Schulentwicklung in Krefeld und im Kreis Viersen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

6 Schulneugründungen in Krefeld und im Kreis Viersen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                              33
6.1 Gesamtschulneugründungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                    33
6.2 Sekundarschulneugründungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                     33
6.3 Die PRIMUS-Schule Viersen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                 33

7 Einschätzungen zur Schulentwicklung in Krefeld und im Kreis Viersen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

8 Einschätzungen zum nordrhein-westfälischen Sonderweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37

9 Schlussfolgerungen und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                   38
9.1 Thesen zur bildungspolitischen Entwicklung seit dem Schulkonsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                        38
9.2 Thesen zur zukünftigen Entwicklung der Schullandschaft in NRW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                       38
9.3 Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .              39

Anhang/Schulkarte Krefeld  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
Vorwort der Herausgeber

Vorwort der Herausgeber

Der 2011 in Nordrhein-Westfalen (NRW) zwischen            das Gymnasium unangetastet lässt. Die Frage, ob ein
CDU, SPD und Grünen geschlossene Schulkonsens             zweigegliedertes Schulsystem ein Schritt in Richtung
sollte die Luft aus dem Streit um die verschiedenen       der einen Schule für alle ist oder aber im Gegenteil Ex-
Schulformen nehmen. Er schreibt das Nebeneinan-           klusion verfestigt, kann nicht mit einer solchen Studie
der von gegliederten Schulen und Formen des ge-           beantwortet werden. Ebenso bleiben didaktische Fra-
meinsamen Lernens fest. Sekundarschulen konnten           gen offen: wie beispielsweise eine «Schule der Viel-
eingerichtet werden und die Bedingungen für Ge-           falt» einer immer heterogeneren Schülerschaft gerecht
samtschulgründungen wurden etwas erleichtert. Die         werden kann.
Landesregierung machte keine schulpolitischen Struk-         Wie sieht allgemeine Bildung, die Verbindung von
turvorgaben: Die Gemeinden müssen selbst entschei-        praktischem und theoretischem Lernen, von Schule
den, ob sie stärker auf Gesamtschulen, Sekundarschu-      und Gesellschaft heute aus – all diesen Fragen muss
len oder auf Gymnasien und Realschulen setzen.            sich eine demokratische, fortschrittliche Bildungspoli-
   Mit dem Schulkonsens wollten die beteiligten Par-      tik stellen.
teien der Tatsache Rechnung tragen, dass die Ge-             Die künftige Schulentwicklung wird in politischen
meinden nicht mehr in der Lage sind, flächendeckend       Auseinandersetzungen entschieden. Auch wenn sich
Hauptschulen anzubieten, die die Landesverfassung         die Landesregierung NRW mit dem Schulkonsens um
bis dahin zwar vorschrieb, von Eltern und SchülerInnen    politische Entscheidungen gedrückt hat, geht die Ent-
aber nicht mehr nachgefragt wurden. Damit wurde           wicklung hin zu einem zweigliedrigen Schulsystem.
die Schullandschaft in Nordrhein-Westfalen und in der     Eltern und Schülerschaft wollen eine Schule, die zum
ganzen Republik noch unübersichtlicher: Neben den         Abitur führt. Die einen bevorzugen den traditionellen
klassischen drei weiterführenden Schulformen gibt es      Weg über das Gymnasium, doch immer mehr werden
Gesamtschulen, berufliche Gymnasien, Berufskollegs,       die Vorzüge einer Gesamtschule erkannt, die den un-
Gemeinschaftsschulen, Verbundschulen und Sekun-           terschiedlichen Begabungen und Interessen der Schü-
darschulen, dazu noch nach wie vor die Förderschulen.     lerInnen besser gerecht werden kann. Noch werden
   Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat die vorliegende        Gesamtschulen nicht in ausreichender Zahl angebo-
Studie in Auftrag gegeben, um für das Land Nordrhein-     ten – jedes Jahr müssen Kinder abgewiesen werden.
Westfalen sowie exemplarisch an einer Stadt und ei-       Solange es noch unterschiedliche allgemeinbildende
nem Landkreis zu untersuchen, wie sich durch den          Schultypen gibt, die zum Abitur führen, wäre ein Ab-
Schulkonsens und die «Politik der Ermöglichung» die       schulungsverbot für die Gymnasien notwendig. Damit
Schullandschaft seitdem verändert hat.                    würde nicht nur die Hierarchisierung von Gymnasien
   So unabweisbar es ist, dass sich Schulen und schul-    und Gesamtschulen durchbrochen. Gymnasien wären
politische Strukturen unter dem Druck der demogra-        auch veranlasst, sich intensiver um die Förderung aller
fischen Entwicklung und der wachsenden Qualifi-           ihrer SchülerInnen zu kümmern. Langfristig wäre da-
kationsanforderungen verändern – für uns steht der        mit eine gemeinsame Schule aus Gesamtschule und
Anspruch im Vordergrund, allen Menschen die größt-        Gymnasium vorstellbar.
möglichen Lebensperspektiven zu eröffnen, die sie            Wir hoffen, mit der vorliegenden Studie einen Bei-
sich in der und durch die Teilnahme an gesellschaft-      trag zu einer zukunftsorientierten Bildungspolitik leis-
licher Tätigkeit in- und außerhalb der Arbeit schaffen    ten zu können. Die schulpolitische Debatte fokussiert
können.                                                   heute auf zweifellos wichtige Einzelfragen: Ganztags-
   Die größten Bildungschancen für alle Gesellschafts-    schule, Inklusion, Sinn und Unsinn eines achtjährigen
schichten eröffnet eine gemeinsame Schule für alle        Gymnasiums (G8). Diese Aspekte werden in der Studie
Kinder und Jugendlichen. Sie müsste sich auf die Schü-    gestreift, unser Hauptaugenmerk liegt aber bewusst
lerschaft in ihrer ganzen Heterogenität von heute ein-    auf der Strukturfrage – die in jüngster Zeit gar nicht
stellen und die unterschiedlichen kulturellen, sozialen   mehr zur Debatte stand –, um damit den Stillstand zu
und sprachlichen Voraussetzungen und Fähigkeiten          durchbrechen, der diesbezüglich in der Schulpolitik
berücksichtigen. Eine Gesamtschule in diesem Sinne        momentan herrscht.
würde die im Schulkonsens angestrebte individuelle
Förderung am besten verwirklichen können. Von dieser      Karl-Heinz Heinemann, Vorstand der Rosa-Luxem-
Zielvorstellung sind wir jedoch weit entfernt.            burg-Stiftung NRW e. V., und die Begleitgruppe der
   Der Schulkonsens ist ein deutlicher Schritt in die     Studie: Chris Brückner, Jürgen Helmchen, Norbert
Richtung eines zweigegliederten Schulsystems, das         Müller, Anne Ratzki, August 2016

                                                                                                                5
1 Zielsetzung und Aufbau der Studie

1 Zielsetzung und Aufbau der Studie

Die vorliegende Studie untersucht die Entwicklung der      bot umliegender Nachbarkommunen nachhaltig zer-
Schullandschaft in NRW infolge des Schulkonsenses.         stören.
Insofern umfasst der Beobachtungszeitraum, auf den            Die Wahl fiel auf die Stadt Krefeld und den Kreis Vier-
sich die Studie bezieht, die Jahre 2011 bis 2016. Zum      sen, weil es sich hier um mittelgroße und (schulpoli-
Teil wird auch auf weiter zurückliegende Entwicklun-       tisch) relativ unauffällige Gebietskörperschaften han-
gen eingegangen, soweit das zum Verständnis der dar-       delt. Es wurde sich bewusst dagegen entschieden,
gestellten Zusammenhänge sinnvoll ist.                     Städte oder Kreise mit besonders zahlreichen Schul-
   Zunächst betrachten wir die Entwicklungen auf der       neugründungen (wie z. B. den Rhein-Sieg-Kreis oder
Ebene des Landes Nordrhein-Westfalen und nutzen da-        den Kreis Gütersloh) oder mit einer vollkommenen Sta-
zu in weiten Teilen Daten aus der öffentlichen Schulsta-   gnation (wie z. B. die Stadt Oberhausen) auszuwählen.
tistik des Landes.1 Wir gehen dabei auch auf regional      In diesen Fällen wäre mit der Auswahl schon ein Teil
unterschiedliche Prozesse ein, insbesondere auf Unter-     des Ergebnisses festgelegt worden. Stattdessen wur-
schiede zwischen städtischen und ländlichen Räumen         den Kommunen gesucht, in denen kontroverse schul-
im Hinblick auf den Erfolg der Sekundarschule.             politische Diskussionen stattfinden und in denen es
   Im Anschluss werden am Beispiel der Stadt Krefeld       unterschiedliche Entwicklungen zu beobachten gibt.
und des angrenzenden Kreises Viersen die Schulent-            Neben den Entwicklungen auf kommunaler Ebene
wicklung und die damit verbundene politische Diskus-       werden die seit 2011 in Krefeld und dem Kreis Vier-
sion untersucht. Dieses Vorgehen ist von der Einschät-     sen neu gegründeten Schulen sowie deren Erfolge in
zung geprägt, dass die «Politik der Ermöglichung» der      den letzten Anmeldeverfahren vorgestellt. Eine kleine
rot-grünen Landesregierung letztlich die Verantwor-        Besonderheit, die aufgrund der oben beschriebenen
tung für Fragen der Schulstruktur auf die kommuna-         Auswahl eher zufällig Eingang in die Studie fand, ist
le Ebene verlagert: Jede einzelne Kommune muss für         die PRIMUS-Schule in Viersen. Es handelt sich hierbei
sich entscheiden, welches Schulangebot sie vorhält         um eine von fünf PRIMUS-Schulen (mehr dazu unter
bzw. wie sie mit einem sich wandelnden Elternwahl-         3.8.1), die in NRW gegründet wurden.
verhalten hinsichtlich unterschiedlicher Schulformen          Im Anschluss daran soll noch einmal ausführlicher
umgeht. Es wurden bewusst ein Kreis und eine kreis-        diskutiert werden, inwiefern die Ergebnisse der Unter-
freie Stadt ausgewählt, um diesbezüglich Gemein-           suchung auf die Entwicklung in ganz Nordrhein-West-
samkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. Es ist        falen übertragbar sind. Zum Abschluss werden die
zu bedenken, dass sich in eher ländlichen Räumen mit       Besonderheiten der Schullandschaft in NRW im bun-
kleinen Städten oder Gemeinden ein erheblicher Ko-         desweiten Vergleich dargestellt und es wird der Frage
ordinierungsbedarf unter den Kommunen ergibt. So           nachgegangen, wie der nordrhein-westfälische Son-
kann die Entscheidung einer einzelnen Kleinstadt (z. B.    derweg der Schaffung der Sekundarschule als fünfter
für die Gründung einer Gesamtschule) das Schulange-        Regelschulform der Sekundarstufe I einzuschätzen ist.

                                                           1 Soweit nicht anders ausgewiesen, stammen alle Daten aus der am 8.6.2016 ver-
                                                           öffentlichten Datensammlung «Das Schulwesen in Nordrhein-Westfalen aus quan-
                                                           titativer Sicht 2015/16» vom Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes
                                                           NRW. Aus diesem Grund finden sich in den Abschnitten, in denen wir die Schul-
                                                           entwicklung in NRW vorstellen, nahezu keine zusätzlichen Quellenangaben.

6
2 Die Situation nach der Wahl der neuen rot-grünen Landesregierung im Jahr 2010

2 Die Situation nach der Wahl der neuen
rot-grünen Landesregierung im Jahr 2010

2.1 Die Bildungskonferenz                                 sel, Qualifikationsanforderungen für Lehrkräfte und
Als eine der ersten bildungspolitischen Maßnahmen         andere im Ganztag tätige Fachkräfte, ihre Einbindung
hatte die neue rot-grüne Landesregierung im Herbst        in der Schule und auch die Arbeitsbedingungen von
2010 eine Bildungskonferenz unter dem Titel «Zusam-       Fachkräften, die bei außerschulischen Trägern be-
men Schule machen für NRW» eingerichtet, in der           schäftigt sind.
etwa 50 Verbände und die damaligen Landtagsfrak-             Im Gegensatz zu den Empfehlungen anderer Ar-
tionen (außer der FDP) mitgearbeitet haben. Diese Bil-    beitsgruppen werden hier Ziele formuliert, die hinrei-
dungskonferenz traf sich regelmäßig und richtete fünf     chend konkret sind, um ihre Umsetzung zu überprüfen.
Arbeitsgruppen ein. Die Empfehlungen der Bildungs-        Deshalb wird insbesondere im Abschnitt zur Entwick-
konferenz wurden im Mai 2011 offiziell der Landesre-      lung der Grundschule (3.1) noch einmal auf diese Zie-
gierung übergeben und überwiegend mit breiter Mehr-       le der Bildungskonferenz eingegangen. Denn faktisch
heit beschlossen. Zum Teil gab es Minderheitenvoten,      geht es hier um den Ganztag an Grundschulen, der in
die in den Empfehlungen ausgewiesen sind. Einzelne        der Regel bislang als sogenannter offener Ganztag or-
Verbände wie die Landeselternschaft der Gymnasi-          ganisiert ist, während an den weiterführenden Schu-
en haben ganze Bereiche (z. B. die Empfehlungen zur       len, insbesondere an Gesamt- und Sekundarschulen,
Schulstruktur) nicht mitgetragen.                         schon heute der gebundene Ganztag die Regel ist.
   Die Empfehlungen gliedern sich entsprechend den           Das Thema Inklusion wurde bei der Bildungskonfe-
Arbeitsgruppen in die folgenden fünf Bereiche: 2          renz ausgespart, denn im Herbst 2010 gab es bereits
   (1) Individuelle Förderung: von der Qualitätsanaly-    einen ähnlich zusammengesetzten «Gesprächskreis
se bis zur systematischen Unterrichtsentwicklung und      Inklusion», der parallel zur Bildungskonferenz arbeite-
Lehrerfortbildung                                         te. Dieser wurde bereits von der Vorgängerregierung
   (2) Übergänge gestalten – Anschlussfähigkeit sichern   eingerichtet, hat aber weit weniger regelmäßig als die
   (3) Ganztag weiterentwickeln                           Bildungskonferenz getagt und auch keinen vergleich-
   (4) Eigenverantwortliche Schule in regionalen Bil-     bar breiten Konsens der beteiligten Verbände erreichen
dungsnetzwerken                                           können.
   (5) Schulstruktur in Zeiten demografischen Wandels
Sie betreffen überwiegend Strukturfragen in Verbin-       2.2 Der NRW-Schulkonsens
dung mit kommunalen Handlungsmöglichkeiten. Die-          Hinsichtlich der Schulstruktur hatte die Landesregie-
se sollen in allen Handlungsfeldern verbessert werden;    rung parallel zur Bildungskonferenz das Konzept einer
oftmals wird dies mit der Forderung nach mehr finan­      Gemeinschaftsschule entwickelt, das später noch aus-
ziellen Mitteln verbunden.                                führlicher dargestellt werden soll. Als schon im Frühjahr
   Hinsichtlich der Schulstruktur sind die Empfehlun-     2011 klar wurde, dass der Plan der Landesregierung,
gen relativ unkonkret. So wird in Anbetracht des de-      die neue Schulform im Rahmen eines Schulversuchs
mografischen Wandels auch weiterhin ein wohnortna-        auf den Weg zu bringen, rechtlich nicht haltbar war,
hes Schulangebot angestrebt. Es sollen unter anderem      wurden schnell Verhandlungen mit der CDU gestartet.
Schulverbünde und flexiblere Lösungen für Teilstand-      SPD und Grünen war zu diesem Zeitpunkt vermutlich
orte ermöglicht werden. Bezogen auf die Schulstruktur     klar, dass sie eine andere Lösung finden mussten, um
kann der Schulkonsens (siehe 2.2) durchaus als Kon-       die von ihnen gewünschte neue inte­grierte Schulform
kretisierung der Empfehlungen der Bildungskonferenz       neben der Gesamtschule einzuführen. Nachdem der
angesehen werden.                                         erste Anlauf gerichtlich gekippt worden war, wurde nun
   Von besonderem Interesse für die vorliegende Stu-      eine Schulgesetzänderung angestrebt.
die sind die Empfehlungen der Arbeitsgruppe 3 zur           Vor fünf Jahren, im Juli 2011, haben sich SPD, CDU
Weiterentwicklung des Ganztags. Die Empfehlungen          und Bündnis 90/Die Grünen auf den «Schulpolitischen
in diesem Bereich sind sicherlich in finanzieller Hin-    Konsens für Nordrhein-Westfalen» verständigt. Darin
sicht am gravierendsten für NRW. So soll das Land bis     wurden unter anderem Festlegungen zur Schulstruk-
zum Jahr 2020 einen Stufenplan zur flächendeckenden       tur getroffen, die in der vereinbarten Form bis 2023
Einführung des gebundenen Ganztags in allen Schul-        nicht mehr angetastet werden sollen. Es wurde ver-
formen und Schulstufen entwickeln. Damit verbunden        einbart, dass alle drei Schulformen des gegliederten
ist die Abschaffung der Elternbeiträge und der kommu-     Systems, also Hauptschule, Realschule und Gymnasi-
nalen Beiträge zur Finanzierung des Personals. Es ist     um, erhalten bleiben. Zusätzlich soll es weiterhin die
sogar angedacht, auch das Mittagessen kostenlos an-
zubieten, auch hier müsste das Land also die Kosten
vollständig tragen. Gleichzeitig fordert die Bildungs-    2 Die Empfehlungen der Bildungskonferenz sind vollständig auf der Homepage
                                                          des Schulministeriums dokumentiert: www.schulministerium.nrw.de/docs/Schul-
konferenz landeseinheitliche Qualitätsstandards für       entwicklung/Bildungskonferenz/Ergebnispapiere-der-Arbeitsgruppen-2011/index.
den Ganztag. Das umfasst etwa den Personalschlüs-         html. Deshalb werden sie hier nicht im Einzelnen aufgeführt.

                                                                                                                                    7
2 Die Situation nach der Wahl der neuen rot-grünen Landesregierung im Jahr 2010

Gesamtschule geben. Als fünfte Schulform der Sekun-         Artikel 10 der Landesverfassung NRW: «Das Land ge-
darstufe I wurde die Sekundarschule eingeführt. Un-         währleistet ein ausreichendes und vielfältiges öffentli-
angetastet blieben die Grundschulen, Berufskollegs,         ches Schulwesen, das ein gegliedertes Schulsystem,
Weiterbildungskollegs und Förderschulen. Es wurde           integrierte Schulformen sowie weitere andere Schul-
festgelegt, dass die zwölf Gemeinschaftsschulen, die        formen ermöglicht.»
im Sommer 2011 im Rahmen eines Schulversuchs ge-              Neben diesen Kernpunkten des Schulkonsenses
gründet werden sollten, spätestens nach Ablauf der          wurde festgelegt, dass die durchschnittliche Klassen-
Versuchszeit in Gesamtschulen oder Sekundarschulen          größe für Grundschulen von 24 auf 22,5 und für Gym-
umgewandelt werden. Außerdem wurde ein weiterer             nasien, Gesamtschulen und Realschulen von 28 auf 26
Schulversuch ermöglicht: eine integrierte Schulform         SchülerInnen pro Klasse stufenweise gesenkt werden
von der ersten bis zur zehnten Klasse (PRIMUS-Schu-         soll. Für Sekundarschulen wurde sie auf 25 Lernende
le). Es ist ersichtlich, dass der Schulkonsens keines-      pro Klasse festgelegt. Diese Maßnahmen sollten aus
wegs eine Vereinfachung der Schulstruktur, sondern          den sogenannten Demografiegewinnen finanziert
im Gegenteil eine größere Vielfalt und damit auch Un-       werden – mit rückläufigen Schülerzahlen sollten die
übersichtlichkeit der Schulformen beinhaltet.               Klassen also kleiner werden. Die Umsetzung dieser
  Teil des verhandelten Pakets war die Streichung der       Maßnahme an den Grundschulen ist inzwischen voll-
Hauptschulgarantie aus der Landesverfassung. Statt-         ständig erfolgt. An den weiterführenden Schulen ist
dessen wurde eine Bestandsgarantie für ein geglie-          bisher nur der Klassenfrequenzrichtwert für die Klas-
dertes Schulsystem in die Verfassung aufgenommen.           sen 5 bis 7 (bezogen auf das Schuljahr 2016/17) von 28
Dies war der ausschlaggebende Grund dafür, dass die         auf 27 abgesenkt worden. Wenn es bei diesem Tempo
Landtagsfraktion der LINKEN den Schulkonsens ab-            bleiben sollte, wird es bis zur kompletten Umsetzung
lehnte. Konkret heißt es nach dem Schulkonsens in           noch weitere neun Jahre dauern.3

                                                            3 Die Absenkung auf 27 SchülerInnen für die Klassen 5 bis 10 wird noch drei Jah-
                                                            re dauern; danach wird vermutlich beginnend mit der Klasse 5 und dann aufstei-
                                                            gend die Absenkung auf 26 SchülerInnen pro Klasse erfolgen, was erneut sechs
                                                            Jahre dauern wird.

8
3 Schulstruktur und Schulentwicklung in NRW

3 Schulstruktur und Schulentwicklung in NRW

Abbildung 1 beinhaltet eine offizielle Darstellung des      Neben den in Abbildung 1 dargestellten Schulformen
Schulministeriums Nordrhein-Westfalen und zeigt die         der Sekundarstufe I gibt es noch drei weitere Schul-
im nachfolgenden Text einzeln vorgestellten Schul-          formen: die Verbundschule, die Gemeinschaftsschule
formen. Sie verzerrt allerdings bezogen auf die Ver-        und die PRIMUS-Schule. Bei den letzten beiden Schul-
bindung zwischen Sekundarstufe I und II stark die           formen handelt es sich um Schulversuche, die von der
tatsächlichen Gegebenheiten, denn in der Grafik ist         Landesregierung auf den Weg gebracht wurden (sie-
nicht hinreichend deutlich, dass Gymnasien und Ge-          he Abschnitt 3.8). Die Verbundschule stellt einen Ver-
samtschulen eine eigene Oberstufe haben, die ande-          such der vorherigen CDU-geführten Landesregierung
ren Schulformen jedoch nicht. Des Weiteren erschei-         dar, Haupt- und Realschulbildungsgänge unter einem
nen die jeweiligen Übergänge zur Sekundarstufe II           Dach anzubieten. Bis 2010 wurden insgesamt 27 Ver-
völlig gleichberechtigt, tatsächlich gibt es aber von der   bundschulen in NRW eingerichtet. Zum Schuljahr
Hauptschule fast gar keine Übergänge in die gymna-          2016/17 werden nur noch drei von ihnen weiterlau-
siale Oberstufe, während fast alle GymnasiastInnen in       fen. Alle anderen Verbundschulen wurden in den letz-
die Oberstufe wechseln.                                     ten Jahren aufgelöst oder in Sekundarschulen umge-

Abbildung 1: Das Schulsystem in NRW

   Quelle: MSW NRW 2016

                                                                                                                 9
3 Schulstruktur und Schulentwicklung in NRW

Abbildung 2: Entwicklung der Grundschulen in NRW

                       800                                                                               3.500

                                                                                                         3.300
                       750
     Schüler­zahlen                                                                                                  Anzahl der
     in Tsd.                                                                                             3.100       Grundschulen
                       700
                                                                                                         2.900

                       650
                                                                                                         2.700

                       600                                                                               2.500
                              2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016

Quelle: eigene Darstellung auf der Grundlage der statistischen Daten aus: MSW NRW: Das Schulwesen in Nordrhein-Westfalen aus quantitativer
Sicht 2015/16 und MSW NRW: Entwicklung der Schülerzahlen im Schuljahr 2016/2017

wandelt. Aus diesem Grund wird die Entwicklung der                      greifende Schuleingangsphase (Klassen 1 und 2) und
Verbundschulen im Abschnitt über die Sekundarschu-                      eine jahrgangsübergreifende Klasse 3 und 4. Die be-
le (3.7) noch einmal kurz aufgegriffen. Im Folgenden                    reits bestehende Möglichkeit solcher jahrgangsüber-
sollen alle genannten Schulformen vorgestellt werden.                   greifender Klassen wurde durch die Schulrechtsän-
                                                                        derung erleichtert. Zusätzlich wurde die Option eines
3.1 Die Grundschule                                                     komplett jahrgangsübergreifenden Unterrichts an den
Grundschulen werden von etwa 95 Prozent der Schüle-                     Grundschulen (Klassen 1 bis 4) geschaffen.
rInnen der Primarstufe besucht. Weitere 4 Prozent von
ihnen besuchen Förderschulen, das restliche 1 Prozent                   3.1.1 Die Bekenntnisgrundschule
verteilt sich auf integrierte Schulen von Klasse 1 bis 10               Eine Besonderheit der nordrhein-westfälischen Grund-
oder darüber hinaus (z. B. Waldorf- und PRIMUS-Schu-                    schullandschaft ist die hohe Zahl der sogenannten
len). Damit kommt die Grundschule dem Ideal einer                       Bekenntnisgrundschulen. Hierbei handelt es sich um
Schule für alle Kinder relativ nahe, zumal der Anteil der               öffentliche Grundschulen, die einer Konfession zu-
SchülerInnen, die die Grundschule besuchen, mit stei-                   geordnet sind. Von den 2.845 Grundschulen in NRW
gender Inklusionsquote und einer abnehmenden Zahl                       sind 845 katholisch, also mehr als ein Viertel. Dane-
von Förderschulen weiter ansteigt.                                      ben gibt es 90 evangelische und zwei jüdische Grund-
   Insgesamt haben im Schuljahr 2015/16 nach offi-                      schulen. Die restlichen 1.908 Schulen werden als «Ge-
zieller Schulstatistik knapp 620.000 SchülerInnen die                   meinschaftsgrundschulen» bezeichnet. Das System
Grundschule besucht. Es gab 2.845 Grundschulen, da-                     der Bekenntnisgrundschulen ist ein Relikt aus Zeiten,
runter 2 Prozent in privater Trägerschaft.                              in denen evangelische nicht mit katholischen Kindern
   An den Grundschulen Nordrhein-Westfalens nimmt                       spielen durften. Es ist sogar in der Landverfassung ver-
die Zahl der SchülerInnen seit Jahren ab. Das liegt an                  ankert. Im Gegensatz zu fast allen anderen Bundeslän-
den kleiner werdenden Jahrgängen. Die Bildungskon-                      dern hat es NRW versäumt, die Unterscheidung dieser
ferenz hat diese Entwicklung problematisiert, sie fin-                  beiden Grundschultypen abzuschaffen. Heute gibt es
det im Schulkonsens insofern ihren Niederschlag, als                    Bekenntnisgrundschulen nur noch in NRW und in ver-
vereinbart wurde, ein möglichst wohnortnahes Grund-                     gleichsweise kleiner Zahl auch in Niedersachsen. Diese
schulangebot zu sichern und dafür kleine Schulen zu                     Parallelstruktur behindert es, ein umfassendes Ange-
erhalten. Auch die Bildung von Teilstandorten sollte er-                bot wohnortnaher Grundschulen aufrechtzuerhalten,
leichtert werden. Wie bereits erwähnt, wurde ebenfalls                  denn in Großstädten existieren oft zwei Grundschulen
vereinbart, die Klassengröße von durchschnittlich 24                    nebeneinander, während andernorts Eltern ungeach-
auf 22,5 SchülerInnen pro Klasse abzusenken, was bis                    tet ihrer weltanschaulichen Überzeugung gezwungen
zum Jahr 2015 schrittweise umgesetzt wurde.                             sind, ihr Kind in der – wohnortnahen – Grundschule
   Mit dem 8. Schulrechtsänderungsgesetz wurden die                     anzumelden, die wiederum die Anmeldung ablehnen
veränderten Vorgaben für die Größe von Grundschu-                       kann, um den Platz für ein Kind ihres Bekenntnisses
len im November 2012 beschlossen. Seitdem können                        freizuhalten.
Grundschulen mit weniger als 92 SchülerInnen als Teil-                     Eine konfessionell homogene Schülerschaft gibt es
standorte von Grundschulverbünden fortgeführt wer-                      an den Bekenntnisschulen allerdings nicht mehr. So
den. Die einzige Grundschule einer Kommune kann mit                     ist an den katholischen Grundschulen mittlerweile nur
mindestens 46 SchülerInnen fortgeführt werden. In                       noch die Hälfte aller SchülerInnen katholisch; an den
diesen Fällen gibt es in der Regel eine jahrgangsüber-                  evangelischen Grundschulen beträgt der Anteil gera-

10
3 Schulstruktur und Schulentwicklung in NRW

Abbildung 3: Entwicklung des Ganztags

                    5.000                                                                                    300

                                                                                                             250
                    4.500
   SchülerInnen                                                                                                             SchülerInnen
   im gebundenen                                                                                             200            im offenen
   Ganztag       4.000                                                                                                      Ganztag in Tsd.
                                                                                                             150

                    3.500
                                                                                                             100

                    3.000                                                                                      50
                              2006   2007 2008 2009      2010 2011 2012 2013 2014 2015

Quelle: eigene Darstellung auf der Grundlage der statistischen Daten aus:
MSW NRW: Das Schulwesen in Nordrhein-Westfalen aus quantitativer Sicht 2015/16

de einmal 40 Prozent. An evangelischen wie katholi-                  Ganztag können Kinder für den Ganztag angemeldet
schen Grundschulen lernen mehr als 10 Prozent Kinder                 werden, müssen aber nicht – ein Teil der Kinder ver-
islamischen Glaubens und mehr als 15 Prozent konfes­                 lässt die Schule am Mittag und ein anderer Teil bleibt
sionslose. Unabhängig davon erscheint es aus heuti-                  bis zum Nachmittag in der Schule. Da der Ganztag hier
ger Sicht grundsätzlich nicht sinnvoll, Grundschulen                 ein Wahlangebot ist, müssen die Eltern Beiträge zah-
nach religiösen Bekenntnissen zu trennen.                            len. Die Schulen erhalten eine Kopfpauschale für jedes
   Mit dem 11. Schulrechtsänderungsgesetz hat der                    Kind, das am Ganztag teilnimmt, und schließen in der
Landtag NRW im Jahr 2015 immerhin die Umwand-                        Regel einen Vertrag mit einem freien Träger, der mit ei-
lung von Bekenntnisgrundschulen in Gemeinschafts-                    genem Personal ein Angebot für den Nachmittag or-
grundschulen erleichtert. Nun müssen nur noch die                    ganisiert.
Hälfte der Eltern (vorher: zwei Drittel) für eine Um-                   Die Praxis des offenen Ganztags ist mit zahlreichen
wandlung stimmen. Ob dies dazu führt, dass nun eine                  Problemen verbunden. Zum einen übersteigt die Nach-
relevante Zahl von Bekenntnisschulen umgewandelt                     frage nach Ganztagsplätzen bei Weitem das Angebot.
wird, kann zurzeit kaum abgeschätzt werden.                          Das zeigen zahlreiche Berichte aus einzelnen Kommu-
                                                                     nen sowie etwa Schätzungen von Klaus-Jürgen Till-
3.1.2 Die Entwicklung des Ganztags                                   mann in der Jako-O-Bildungsstudie.4 Eine landeswei-
Immer mehr Kinder werden im offenen Ganztag an ih-                   te Übersicht zum Verhältnis zwischen Angebot und
rer Schule angemeldet. Aktuell nehmen fast 42 Prozent                Nachfrage nach Ganztagsplätzen gibt es nicht, in gro-
der SchülerInnen am offenen Ganztag teil. Einen ge-                  ßen Städten ist der Bedarf jedoch deutlich größer als in
bundenen Ganztag haben hingegen bislang nur neun                     kleineren Kommunen.
Grundschulen in Nordrhein-Westfalen.                                    Die Finanzierung des offenen Ganztags steht auf wa-
   Das Ziel der Bildungskonferenz (siehe Abschnitt 2.1),             ckeligen Beinen. Die Kommunen mussten im Schul-
bis zum Jahr 2020 ein flächendeckendes Angebot des                   jahr 2015/16 einen Anteil von jährlich mindestens 422
gebundenen Ganztags zu schaffen, ist für den Grund-                  Euro pro Platz aufbringen. Ein Teil dieses Geldes wird
schulbereich nicht erkennbar verfolgt worden.                        durch Elternbeiträge gedeckt, deren Höhe von Kom-
   Bundesweit und auch in Nordrhein-Westfalen un-                    mune zu Kommune unterschiedlich ist. Zusammen mit
terscheiden sich die Formen der Ganztagsschulen                      dem Landeszuschuss von 722 Euro pro Platz reicht das
erheblich voneinander, etwa hinsichtlich des Stun-                   Geld insgesamt aber nicht für eine solide Finanzierung
denvolumens und der personellen und räumlichen                       aus. Stattdessen sind die offenen Ganztagsschulen ein
Ausstattung. Dabei sind zwei grundlegend verschie-                   Ort prekärer Beschäftigung im Bildungsbereich. In ei-
dene Formen zu unterscheiden: Beim gebundenen                        ner Stichprobe für den Bildungsbericht Ganztagsschu-
Ganztag handelt es sich um eine Ganztagsschule für                   le NRW 20145 zeigt sich insbesondere, dass es kaum
alle SchülerInnen, die diese Schule besuchen. Hier                   Vollzeitbeschäftigte im offenen Ganztag gibt: Nicht ein-
bekommt die Schule in der Regel einen Lehrerstel-                    mal 10 Prozent arbeiten hier in Vollzeit und mehr als
lenzuschlag von 20 Prozent sowie einen weiteren Zu-
schuss vom Land. Da der Ganztag für alle Kinder gilt,
fallen keine Elternbeiträge an. Der gebundene Ganztag                4 Vgl. Tillmann, K.-J.: Die Ganztagsschule und die Wünsche der Eltern, in: Killus,
                                                                     D./Tillmann, K.-J. (Hrsg.): Eltern zwischen Erwartungen, Kritik und Engagement.
ist in der Sekundarstufe I die Regel, wenn eine Schu-                Ein Trendbericht zu Schule und Bildungspolitik in Deutschland. 3. Jako-O-Bildungs-
                                                                     studie, Münster/New York 2014, S. 71–88. 5 Vgl. Börner, Nicole/Conraths, An­
le Ganztagsschule ist. Im Bereich der Grundschulen ist               drea/Gerken, Ute/Steinhauer, Ramona/Stötzel, Janina/Tabel, Agathe: Bildungsbe-
hingegen der offene Ganztag der Regelfall. Im offenen                richt Ganztagsschule NRW 2014, Dortmund 2014.

                                                                                                                                                    11
3 Schulstruktur und Schulentwicklung in NRW

80 Prozent weniger als 35 Stunden pro Woche. Dabei        Die Hauptschule schließlich muss seit 1970 perma-
handelt es sich größtenteils um unfreiwillige Teilzeit,   nent sowohl in absoluten Zahlen als auch hinsichtlich
wie die Studie weiter gezeigt hat. Zum Vergleich: In      des relativen Anteils einen Rückgang verzeichnen und
Kitas arbeiten immerhin 55 Prozent der Beschäftigten      bewegt sich offenkundig auf die Nulllinie zu.
in Vollzeit. Aufgrund der vergleichsweise schlechten         Interessant für die vorliegende Studie ist neben der
Arbeitsbedingungen gibt es offensichtlich erhebliche      Entwicklung seit dem Schulkonsens 2011 auch die
Probleme der Träger, Fachkräfte für offene Stellen zu     Phase der CDU-FDP-Landesregierung von 2005 bis
gewinnen.                                                 2010. Ab 2006 waren die Übergangsempfehlungen
   Das Hauptproblem des offenen Ganztags liegt in         der Grundschulen für die Anmeldung an den weiter-
seinem grundsätzlichen Konzept der Trennung des           führenden Schulen verbindlich. Es soll nun ein Blick
schulischen Unterrichts, der durch LehrerInnen ge-        darauf geworfen werden, welche Folgen das für den
staltet wird, und des «Ganztagsangebots», das in der      Übergang hatte. Es scheint so, dass sich durch die Ver-
Regel durch einen freien Träger organisiert wird. Die     bindlichkeit der Grundschulempfehlungen nichts an
Kooperation zwischen Lehrenden auf der einen Seite        den Trends geändert hat, die Entwicklung aber verlang-
und MitarbeiterInnen im offenen Ganztag auf der an-       samt wurde. Die Übergangsquoten bei den Gymnasi-
deren ist schwach ausgeprägt (siehe Bildungsbericht       en, Realschulen und Gesamtschulen stiegen zwischen
Ganztagsschule NRW) und institutionell nicht abgesi-      2005 und 2010 nur geringfügig an, der Rückgang der
chert. Das führt dazu, dass für alle an der Schule Be-    Übergänge zur Hauptschule wurde hingegen kaum
schäftigten der offene Ganztag nicht als ganzheitliches   aufgehalten. Die Abschaffung der Verbindlichkeit der
Konzept der Schulgestaltung wahrgenommen wird,            Grundschulempfehlungen zum Schuljahr 2011/12 hat
sondern als Abfolge von zwei relativ unverbundenen        jedoch offensichtlich dazu geführt, dass die Übergän-
Zeitabschnitten in der Schule: des Unterrichts am Vor-    ge zum Gymnasium leicht anstiegen (von 39,5 Prozent
mittag und einer Betreuung am Nachmittag.                 im Jahr 2010 auf 41 Prozent 2011) und sich bei den
   Die aufgeführten Probleme könnten durch die Über-      Hauptschulen deutlich verringerten (von 12,3 Prozent
führung in einen gebundenen Ganztag gelöst werden,        im Jahr 2010 auf 9,9 Prozent 2011).
was jedoch mit erheblichen Kosten verbunden wäre.            Tatsächlich gab es auch bei den Realschulen ei-
Klemm und Zorn6 schätzen die Kosten für den Wechsel       nen Effekt, der auf den ersten Blick nicht augenfällig
von der Halbtagsschule zum vollen Ganztag (5 Tage/        ist. Vergleicht man die Übergangsempfehlungen der
Woche x 8 Zeitstunden) auf etwa 1.400 Euro pro Platz      SchülerInnen, die im Jahr 2010 an die Realschule ge-
jährlich. Bei den etwa 360.000 GrundschülerInnen, die     kommen sind, mit denen von 2011, so ist zu erkennen,
noch im Halbtag sind, würden für eine Umstellung auf      dass die Realschule etwa 2.000 SchülerInnen mit Real-
den gebundenen Ganztag also Kosten von etwa 500           schulempfehlung verloren hat und dafür 2.500 Schü-
Millionen Euro jährlich anfallen. Hinzu käme mehr als     lerInnen mit Hauptschulempfehlung dazugekommen
eine Milliarde Euro an Investitionskosten, um vor allem   sind. So erklärt sich auch der leichte Anstieg der Über-
den notwendigen Mehrbedarf an Räumen (etwa für so-        gänge zur Realschule von 2010 (28,7 Prozent) zu 2011
zialpädagogische Freizeitangebote) und Personal an je-    (28,9 Prozent).
der Schule zu decken.                                        Der Übergang von der Grundschule zur weiterfüh-
                                                          renden Schule ist für Eltern wie für SchülerInnen in
3.2 Der Übergang von der Grund­                           Hinblick auf ihre weiteren Bildungschancen von enor-
schule zur weiterführenden Schule                         mer Bedeutung. Aus diesem Grund gibt es zahlreiche
Verfolgt man die langjährige Entwicklung der Über-        Untersuchungen, die diesen Bildungsübergang in den
gangsquoten, gibt es recht klare Trends. Die Über-        Fokus nehmen. Tatsächlich konnte vielfach gezeigt
gänge zum Gymnasium haben seit den 1970er Jahren          werden, dass die Chancen für einen Wechsel zum
kontinuierlich zugenommen, wobei dieser Anstieg im        Gymnasium in hohem Maße abhängig von der sozia-
Zuge der ersten Expansionswelle der Gesamtschulen         len Herkunft sind, sogar bei gleichen Schulleistungen.
ab 1985 ins Stocken geriet und ab 2002 noch einmal        Das belegt etwa die IGLU-Studie,7 nach der die Chan-
deutlich anzog (siehe Abbildung 4). Bei den Gesamt-       cen für Kinder aus Akademikerfamilien, zum Gymna-
schulen gab es zwei deutlich erkennbare Expansions-       sium zu wechseln, deutlich höher sind als für Kinder,
wellen: Mitte der 1980er Jahre und ab 2011. Zwischen      deren Eltern selbst niedrige Bildungsabschlüsse ha-
1998 und 2010 stagnierten die (absoluten) Schülerzah-     ben.
len bei den Gesamtschulen. In absoluten Zahlen waren         Bezogen auf Nordrhein-Westfalen gibt es leider kei-
die Übergänge zum Gymnasium im Jahr 2010 geringer         ne landesspezifischen Zahlen. Unterstellt man, dass
als 1998. Die Quote steigt hingegen leicht an, wie aus    der grundlegende Selektionsmechanismus sich hier
der Abbildung 4 ersichtlich wird, da die Schülerzahl      nicht wesentlich von anderen Bundesländern unter-
insgesamt gesunken ist.
  Bei den Realschulen hat es seit den 1970er Jahren ei-
                                                          6 Klemm, Klaus/Zorn, Dirk: Die landesseitige Ausstattung gebundener Ganztags-
nen Anstieg der Übergangsquoten in den 5. Jahrgang        schulen mit personellen Ressourcen. Ein Bundesländervergleich. Gutachten im
                                                          Auftrag der Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2016. 7 Bos, Wilfried u. a. (Hrsg.):
bis zum Jahr 2000 gegeben. Danach gab es eine Phase       IGLU 2011 – Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im inter-
der Stagnation und 2011 einen drastischen Einbruch.       nationalen Vergleich, Münster u. a. 2012.

12
3 Schulstruktur und Schulentwicklung in NRW

Abbildung 4: Übergangsquoten in den 5. Jahrgang

   45 %

   40 %

   35 %

   30 %

   25 %

   20 %

   15 %

   10 %

    5%

    0%
           1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015

                          Gymnasium                             Hauptschule                             Sekundar- und
                          Realschule                            Gesamtschule                            Gemeinschaftsschule

Quelle: eigene Darstellung auf der Grundlage der statistischen Daten aus:
MSW NRW: Das Schulwesen in Nordrhein-Westfalen aus quantitativer Sicht 2015/16

scheidet, lassen sich trotzdem einige Vermutungen an-                     «überholt». Eine mögliche Erklärung für dieses Phäno-
stellen: Dass der Anteil der SchülerInnen, die zu Schu-                   men liegt darin, dass die Expansion der Gesamtschule
len wechseln, an denen man das Abitur machen kann                         in den letzten Jahren überwiegend im ländlichen Raum
(Gymnasien und Gesamtschulen) kontinuierlich an-                          stattgefunden hat, also in Gebieten, in denen weniger
steigt (auf zuletzt 67,4 Prozent), führt zu einer Verbes-                 Kinder mit Migrationshintergrund leben, sodass ihr re-
serung der Bildungschancen für benachteiligte Kinder                      lativer Anteil an Gesamtschulen dadurch landesweit
und Jugendliche. Das Aussterben der Hauptschule ist                       gesunken ist.
in der Tendenz ebenfalls positiv, weil damit eine Schul-
form wegfällt, von der es in der Vergangenheit kaum                       3.3 Die Hauptschule
Übergänge in die Oberstufe gab.                                           Die Hauptschule ist ihrem Namen nur in den ersten
   Für SchülerInnen mit Zuwanderungsgeschichte lie-                       Jahren ihres Bestehens gerecht geworden. Sie ent-
fert die Landesstatistik immerhin Zahlen für einzelne                     stand 1964 nach dem Hamburger Abkommen der Kul-
Schulformen für die vergangenen neun Jahre, sodass                        tusministerkonferenz (KMK), das die Aufteilung der
sich einige Entwicklungen nachzeichnen lassen. Den                        damals noch achtjährigen Volksschule in die vierjähri-
deutlichsten Zuwachs an SchülerInnen mit Migrati-                         ge Grundschule und die daran anschließende Haupt-
onshintergrund haben die Gymnasien zu verzeichnen.                        schule vorsah. Damit verbunden war die Einführung
Waren vor neun Jahren gerade einmal 12 Prozent der                        des neunten Schuljahres. Mit den Bildungsreformen
SchülerInnen in der Sekundarstufe I am Gymnasium                          der 1970er Jahre kam dann das zehnte Schuljahr hin-
nicht deutscher Herkunft, so sind es mittlerweile über                    zu, verbunden mit der Möglichkeit, einen mittleren
24 Prozent. Ergänzend muss gesagt werden, dass die                        Schulabschluss zu erwerben. Insofern hat die Haupt-
Anzahl der SchülerInnen mit Zuwanderungsgeschich-                         schule, die anfangs von der Mehrheit der SchülerInnen
te an allen Schulformen zugenommen hat: von 24 auf                        besucht wurde, durch die Verlängerung der Schulzeit
34 Prozent. Hauptschulen weisen den größten prozen-                       einen wichtigen Beitrag zur Anhebung des Bildungs­
tualen Anteil auf, bei deutlich gesunkenen absoluten                      niveaus geleistet.
Zahlen. Realschulen haben offenbar eine besondere                            Aufgrund der Stellung der Hauptschule im dreiglied-
Anziehungskraft für SchülerInnen aus Familien mit Mi-                     rigen Schulsystem hat sie aber mit dem wachsenden
grationshintergrund – hier stieg ihr Anteil sowohl abso-                  Elternwunsch nach einem höheren Schulabschluss
lut als auch relativ –; trotz insgesamt rückläufiger Schü-                für ihre Kinder kontinuierlich SchülerInnen verloren.
lerzahlen haben die Realschulen die Gesamtschulen                         Im Jahr 1970 lag die Übergangsquote zur Hauptschule

                                                                                                                                               13
3 Schulstruktur und Schulentwicklung in NRW

Abbildung 5: Entwicklung der Hauptschulen in NRW

                       300                                                                               800

                                                                                                         700
                       250

     Schüler­zahlen                                                                                      600         Anzahl der
     in Tsd.           200                                                                                           Hauptschulen
                                                                                                         500
                       150
                                                                                                         400

                       100
                                                                                                         300

                        50                                                                               200
                              2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016

Quelle: eigene Darstellung auf der Grundlage der statistischen Daten aus: MSW NRW: Das Schulwesen in Nordrhein-Westfalen aus quantitativer
Sicht 2015/16 und MSW NRW: Entwicklung der Schülerzahlen im Schuljahr 2016/2017

noch bei 56 Prozent, aber schon seit 1986 ist das Gym-                  anderen Schulen (vor allem von Gesamtschulen) ab-
nasium die Schulform mit den meisten Übergängen in                      gewiesene SchülerInnen aufnehmen und Schulform-
die fünfte Klasse. 1970 gab es fast 1.500 Hauptschulen                  wechslerInnen höherer Jahrgänge von Realschulen
in NRW, aktuell sind es noch 456, von denen wiederum                    und Gymnasien zu ihnen kommen.
251 auslaufend sind.                                                      Inzwischen gibt es eine Reihe von Kommunen, die
   Betrachtet man die Entwicklung der Hauptschulen                      sich dazu entschieden haben, dieser Entwicklung
in NRW in den letzten zehn Jahren, wird deutlich, dass                  nicht weiter tatenlos zuzusehen. Einzelne Kommu-
die Schülerzahlen kontinuierlich abgenommen ha-                         nen (etwa die Städte Oberhausen und Krefeld) haben
ben und dass der Schulkonsens dabei keinen beson-                       beschlossen, alle Hauptschulen zu schließen, sodass
deren Bruch verursacht hat. Auch wenn im Rahmen                         schon jetzt keine SchülerInnen mehr aufgenommen
des Schulkonsenses die Hauptschulgarantie aus der                       werden. Andere Kommunen ersetzen Hauptschu-
Landesverfassung gestrichen wurde, war das nicht ur-                    len durch Sekundar- oder Gesamtschulen, wozu in-
sächlich für das Absterben der Hauptschule, sondern                     teressanterweise nicht immer Schulneugründungen
eine Reaktion auf diese Situation, die vermutlich auch                  notwendig sind. Es gab auch den (vorher nicht ab-
nicht durch politische Entscheidungen aufzuhalten ist.                  sehbaren) Weg zu Zeiten der CDU-geführten Landes-
Sowohl die vorherige CDU/FDP-Landesregierung als                        regierung, Haupt- in Verbundschulen umzuwandeln
auch viele CDU-regierte Kommunen haben versucht,                        (diese verfügen über einen Haupt- und einen Real-
die Hauptschule als Schulform zu retten. Alle Elternbe-                 schulbildungsgang) und diese nun in Sekundarschu-
fragungen zeigen aber, dass die Hauptschule fast gar                    len zu überführen. Ein Beispiel für eine solche Ent-
nicht mehr als Wunschschule angewählt wird. Statt-                      wicklung ist die Sekundarschule in Grefrath, die in
dessen leben viele Hauptschulen davon, dass sie von                     Abschnitt 6.2 vorgestellt wird.

Abbildung 6: Entwicklung der Realschulen in NRW

                       340                                                                               570

                       320
                                                                                                         560
     Schüler­zahlen    300                                                                                           Anzahl der
     in Tsd.                                                                                                         Realschulen
                       280                                                                               550

                       260
                                                                                                         540
                       240

                       220                                                                               530
                               2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016

Quelle: eigene Darstellung auf der Grundlage der statistischen Daten aus: MSW NRW: Das Schulwesen in Nordrhein-Westfalen aus quantitativer
Sicht 2015/16 und MSW NRW: Entwicklung der Schülerzahlen im Schuljahr 2016/2017

14
3 Schulstruktur und Schulentwicklung in NRW

Abbildung 7: Entwicklung der Gymnasien in NRW

                       600                                                                                    640

                       580                                                                                    630
   Schüler­zahlen                                                                                                            Anzahl der
   in Tsd.                                                                                                                   Gymnasien
                       560                                                                                    620

                       540                                                                                    610

                       520                                                                                    600
                              2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016

Quelle: eigene Darstellung auf der Grundlage der statistischen Daten aus: MSW NRW: Das Schulwesen in Nordrhein-Westfalen aus quantitativer
Sicht 2015/16 und MSW NRW: Entwicklung der Schülerzahlen im Schuljahr 2016/2017

3.4 Die Realschule                                                      der Hauptschule die Stellung der Realschule im geglie-
Die Realschule hatte traditionell im dreigliedrigen                     derten Schulsystem. Sie verliert den Status einer mitt-
Schulsystem eine relativ stabile Stellung in der Mitte                  leren Schulform, die sich nach unten abgrenzen kann.
zwischen Hauptschule und Gymnasium. Die Bezeich-                        Stattdessen wird sie zur unteren Schulform im geglie-
nung «Realschule» geht – wie die Hauptschule – auf                      derten Schulsystem und befindet sich zugleich in Kon-
das Hamburger Abkommen der KMK zurück (siehe                            kurrenz zur Gesamtschule, die ihren SchülerInnen ei-
Abschnitt 3.3). Ihr Vorläufer war die preußische Mit-                   nen direkten Weg zum Abitur ermöglicht.
telschule. Während bei vielen Diskussionen um das                         Auf der anderen Seite ist zu beobachten, dass grö-
dreigliedrige Schulsystem seit den 1960er Jahren die                    ßere Realschulen eine beachtliche Stabilität bei den
Rolle des Gymnasiums oder der Hauptschule proble-                       Anmeldezahlen aufweisen. Die Entwicklung lässt sich
matisiert wurde, war die Realschule kaum Gegenstand                     vereinfacht so skizzieren: Kleinere Realschulen mit
gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Sie war rela-                  niedrigen Anmeldezahlen werden zugunsten neu ge-
tiv unauffällig, profitierte aber wie das Gymnasium von                 gründeter Sekundar- oder Gesamtschulen aufgelöst,
der Bildungsexpansion der 1970er Jahre. Die Über-                       während starke Realschulen größer werden. In den
gangsquote zur Realschule in NRW stieg von etwa                         Städten, in denen durchschnittlich gut die Hälfte der
19 Prozent im Jahr 1970 auf knapp unter 30 Prozent im                   Realschulen aufgelöst wird, erfreuen sich die verblie-
Jahr 2000 an. Bis 2011 schwankte sie nur leicht, seit-                  benen Realschulen umso größerer Beliebtheit.
dem sinkt sie erkennbar.                                                  Dabei ist offenbar die Möglichkeit, nach der Real-
   In Abbildung 6 wird ersichtlich, dass die Zahl der Re-               schule in die gymnasiale Oberstufe zu wechseln, ein
alschulen bis 2013 anstieg – dies ist auf die Gründung                  wichtiger Faktor. Hier hat sich in den letzten 20 Jah-
von 16 privaten Realschulen in dieser Zeit zurückzufüh-                 ren – von der Bildungsforschung relativ unbemerkt –
ren; die Zahl der staatlichen Realschulen blieb bis zum                 eine erstaunliche Entwicklung vollzogen: Inzwischen
Schulkonsens konstant. Gleichzeitig nahm die Zahl der                   wechseln 37 Prozent der RealschülerInnen nach der
SchülerInnen über den gesamten Zeitraum erst lang-                      zehnten Klasse in die gymnasiale Oberstufe oder an
sam und dann verstärkt ab. Anders als bei den Haupt-                    ein Berufsgymnasium. Damit ist Nordrhein-Westfalen
schulen, die kontinuierlich SchülerInnen verloren ha-                   eine Ausnahme unter den Flächenländern. Den Real-
ben, gab es bei den Realschulen im Jahr 2012 einen                      schulen kommt also funktional eine ähnliche Rolle zu
klar erkennbaren Bruch hinsichtlich der Anmeldequo-                     wie den Sekundarschulen (siehe Abschnitt 3.7).
te. Bis zum Jahr 2015 sackte sie um knapp acht Pro-
zentpunkte ab. Das dürfte mit den zahlreichen Schul-                    3.5 Das Gymnasium
neugründungen zusammenhängen, bei denen in                              Im gegliederten Schulsystem hat sich ganz klar eine
vielen Fällen zeitgleich ein Auflösungsbeschluss für ei-                Schulform durchgesetzt: das Gymnasium. Alle Dis-
ne Realschule getroffen wurde. Aktuell befinden sich                    kussionen über Chancenungleichheit, alle Reformen –
167 Realschulen, also fast ein Drittel von ihnen, in Auf-               von der Gesamtschule bis zur Sekundarschule – und
lösung.                                                                 auch die Einführung von G8 konnten dem Gymnasium
   Angesichts dieser Entwicklung ist die Zukunft der
Realschule ungewiss. Ernst Rösner8 geht davon aus,
dass die Realschule mit einer zeitlichen Verzögerung                    8 Rösner, Ernst: Fortgesetzter Niedergang von Hauptschulen und Realschulen in
                                                                        Nordrhein-Westfalen. Ein Blick auf einige Eckdaten des Schuljahres 2013/14, in:
die Entwicklung der Hauptschule nachvollziehen wird.                    Integrierte Schulen Aktuell (ISA) 2/2014, S. 5–7, unter: www.ggg-nrw.de/webpa-
Tatsächlich ändert sich mit dem absehbaren Wegfall                      ge/download/michael/schulentwicklung-niedergang-roesner.pdf.

                                                                                                                                                    15
3 Schulstruktur und Schulentwicklung in NRW

Abbildung 8: Entwicklung der Gesamtschulen in NRW

                       320                                                                                    320

                                                                                                              300
                       300

     Schüler­zahlen                                                                                           280            Anzahl der
     in Tsd.           280                                                                                                   Gesamtschulen
                                                                                                              260
                       260
                                                                                                              240

                       240
                                                                                                              220

                       220                                                                                    200
                              2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016

Quelle: eigene Darstellung auf der Grundlage der statistischen Daten aus: MSW NRW: Das Schulwesen in Nordrhein-Westfalen aus quantitativer
Sicht 2015/16 und MSW NRW: Entwicklung der Schülerzahlen im Schuljahr 2016/2017

nichts anhaben. Seit den 1970er Jahren ist die Über-                    mehr Gewicht beimessen. Aufgrund dieser Konstella-
gangsquote zum Gymnasium von 24 auf 41 Prozent                          tion ist die Chance für Akademikerkinder, auf das Gym-
der SchülerInnen eines Jahrgangs gestiegen, wobei                       nasium zu kommen, nach wie vor bedeutend höher als
der stärkste Anstieg in den 1970er Jahren zu verzeich-                  für Kinder von NichtakademikerInnen.
nen war. Seit 1986 ist das Gymnasium die am stärks-
ten nachgefragte Schulform der Sekundarstufe I. Zwi-                    3.6 Die Gesamtschule
schen 1990 und 2004 hatte sich die Übergangquote                        Mit dem Beschluss des Deutschen Bildungsrates im
recht stabil bei 36 Prozent eingependelt, danach stieg                  Jahr 1969, einen Schulversuch zur Gesamtschule zu
die Quote noch einmal an, allerdings nicht mehr auf-                    starten, wurden ab 1970 auch in NRW die ersten Ge-
grund real steigender Schülerzahlen, sondern bei einer                  samtschulen errichtet. Bis etwa 1984 entstanden 56
insgesamt sinkenden Schülerzahl.                                        Gesamtschulen, insbesondere in SPD-regierten Groß-
   Abbildung 7 zeigt, dass die Anzahl der nordrhein-                    städten. Gleichzeitig war die Gesamtschule in weiten
westfälischen Gymnasien in den letzten zehn Jahren                      Teilen Nordrhein-Westfalens gar nicht als Schulform
fast konstant geblieben ist. Der auffällige Rückgang                    vorhanden. Nachdem die Versuchsphase abgeschlos-
der Schülerzahlen im Jahr 2013 hängt mit dem doppel-                    sen war, gab es zwischen 1985 und 1995 eine Grün-
ten Abiturjahrgang zusammen, der die Gymnasien in                       dungswelle, in der 142 weitere Gesamtschulen ent-
NRW in diesem Jahr verlassen hat. Seit 2013 haben die                   standen. Danach ebbte diese Entwicklung deutlich ab.
Gymnasien nur noch acht statt zuvor neun Jahrgänge.                     Mit dem Schulkonsens 2011 wurde offensichtlich eine
   War das Gymnasium ursprünglich die Schule ei-                        zweite Welle der Gesamtschulneugründungen in NRW
ner kleinen Elite und damit sozial extrem selektiv, ver-                ausgelöst: Von 2011 bis 2016 entstanden 102 neue Ge-
band sich seine Expansion mit einer Öffnung zu brei-                    samtschulen.
teren Schichten der Bevölkerung. An seiner selektiven                     Während sich viele Kommunen mit der Gründung
Funktion im mehrgliedrigen Schulsystem hat das je-                      von Gesamtschulen ausgesprochen schwergetan ha-
doch nichts geändert. Noch immer findet nach der                        ben, erfreuen sich die bestehenden Gesamtschulen
vierten Klasse eine für Eltern und Kinder bedeutsame                    landesweit einer enormen Nachfrage. Seit die Gesamt-
Schulform­entscheidung statt, die unter anderem durch                   schule als Schulform angeboten wird, müssen jedes
Grundschulempfehlungen beeinflusst wird. Dabei ha-                      Jahr viele angemeldete SchülerInnen abgewiesen wer-
ben zahlreiche Studien (z. B. IGLU 2011) gezeigt, dass                  den, da nicht genügend Plätze zur Verfügung stehen.
die Wahrscheinlichkeit, eine Gymnasialempfehlung zu                       Hinsichtlich der Zahl der Abweisungen fällt seit vie-
erhalten, für Akademikerkinder viermal größer ist als für               len Jahren die Stadt Köln besonders auf. Obwohl hier in
Nichtakademikerkinder, bei gleichem Leistungsstand                      den vergangenen Jahren eine Reihe von Gesamtschu-
in der Grundschule (!). Dieser Effekt verstärkt sich so-                len neu gegründet wurde, ist die Zahl der Abweisun-
gar dadurch, dass Grundschulempfehlungen in NRW                         gen konstant hoch und zum neuen Schuljahr 2016/17
nicht verbindlich sind, denn mit höherer Bildung der                    sogar noch einmal angestiegen. Etwa 800 SchülerIn-
Eltern nimmt die Bedeutung der Grundschulempfeh-                        nen mussten im Frühjahr 2016 abgewiesen werden,9
lung ab. In einer aktuellen Elternbefragung der Stadt
Oberhausen haben nur 23 Prozent der Eltern mit Abitur/
Fachhochschulreife angegeben, dass Grundschulemp-                       9 Vgl. Frangenberg, Helmut: Anmeldung an den Gesamtschulen. Jedes dritte Köl-
                                                                        ner Kind wird abgelehnt, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 17.2.2016, unter: www.ksta.
fehlungen für sie wichtig sind, während Eltern mit nied-                de/koeln/anmeldung-an-den-gesamtschulen-jedes-dritte-koelner-kind-wird-ab-
rigeren Schulabschlüssen Grundschulempfehlungen                         gelehnt-23581278.

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