NACH DEM NRW-SCHULKONSENS: AUF DEM WEG ZU EINER SCHULE FÜR ALLE? - MARC MULIA, PETER PROFF
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Marc Mulia, Peter Proff Nach dem NRW- Schulkonsens: auf dem Weg zu einer Schule für alle? Studie im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Marc Mulia arbeitet als Studienrat in der AG Schulforschung an der Ruhr-Universität Bochum. Er war zehn Jahre als Lehrer in Duisburg beschäftigt und arbeitete von 2011 bis 2014 als pädagogischer Mitarbeiter im Regionalen Bildungsbüro Duisburg. Peter Proff ist Mitarbeiter der Ratsfraktion der Partei DIE LINKE. in Krefeld. Er hat an der Universität Duisburg Sozialwissenschaften studiert und sich in seinem Studium und als AStA-Vorsitzender vor allem mit Hochschulpolitik beschäftigt. IMPRESSUM STUDIEN 12/2016 wird herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung V. i. S. d. P.: Ulrike Hempel Franz-Mehring-Platz 1 · 10243 Berlin · www.rosalux.de ISSN 2194-2242 · Redaktionsschluss: September 2016 Illustration Titelseite: Frank Ramspott/iStockphoto Lektorat: TEXT-ARBEIT, Berlin Layout/Herstellung: MediaService GmbH Druck und Kommunikation Gedruckt auf Circleoffset Premium White, 100 % Recycling
Inhalt Inhalt Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1 Zielsetzung und Aufbau der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 2 Die Situation nach der Wahl der neuen rot-grünen Landesregierung im Jahr 2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2.1 Die Bildungskonferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2.2 Der NRW-Schulkonsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 3 Schulstruktur und Schulentwicklung in NRW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 3.1 Die Grundschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 3.1.1 Die Bekenntnisgrundschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 3.1.2 Die Entwicklung des Ganztags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 3.2 Der Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 3.3 Die Hauptschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 3.4 Die Realschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 3.5 Das Gymnasium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 3.6 Die Gesamtschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 3.7 Die Sekundarschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 3.8 Die Schulversuche der Landesregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 3.8.1 Die Gemeinschaftsschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 3.8.2 Die PRIMUS-Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 3.9 Das Berufskolleg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 3.10 Die Förderschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 3.11 Zum Stand der Inklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 3.12 Entwicklung der Schulabschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 4 Schulentwicklung vor Ort am Beispiel der Stadt Krefeld und des Kreises Viersen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 4.1 Bevölkerungsstruktur und Schullandschaft der Stadt Krefeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 4.2 Bevölkerungsstruktur und Schullandschaft im Kreis Viersen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 5 Medialer und politischer Diskurs zur Schulentwicklung in Krefeld und im Kreis Viersen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 6 Schulneugründungen in Krefeld und im Kreis Viersen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 6.1 Gesamtschulneugründungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 6.2 Sekundarschulneugründungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 6.3 Die PRIMUS-Schule Viersen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 7 Einschätzungen zur Schulentwicklung in Krefeld und im Kreis Viersen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 8 Einschätzungen zum nordrhein-westfälischen Sonderweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 9 Schlussfolgerungen und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 9.1 Thesen zur bildungspolitischen Entwicklung seit dem Schulkonsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 9.2 Thesen zur zukünftigen Entwicklung der Schullandschaft in NRW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 9.3 Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Anhang/Schulkarte Krefeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
Vorwort der Herausgeber Vorwort der Herausgeber Der 2011 in Nordrhein-Westfalen (NRW) zwischen das Gymnasium unangetastet lässt. Die Frage, ob ein CDU, SPD und Grünen geschlossene Schulkonsens zweigegliedertes Schulsystem ein Schritt in Richtung sollte die Luft aus dem Streit um die verschiedenen der einen Schule für alle ist oder aber im Gegenteil Ex- Schulformen nehmen. Er schreibt das Nebeneinan- klusion verfestigt, kann nicht mit einer solchen Studie der von gegliederten Schulen und Formen des ge- beantwortet werden. Ebenso bleiben didaktische Fra- meinsamen Lernens fest. Sekundarschulen konnten gen offen: wie beispielsweise eine «Schule der Viel- eingerichtet werden und die Bedingungen für Ge- falt» einer immer heterogeneren Schülerschaft gerecht samtschulgründungen wurden etwas erleichtert. Die werden kann. Landesregierung machte keine schulpolitischen Struk- Wie sieht allgemeine Bildung, die Verbindung von turvorgaben: Die Gemeinden müssen selbst entschei- praktischem und theoretischem Lernen, von Schule den, ob sie stärker auf Gesamtschulen, Sekundarschu- und Gesellschaft heute aus – all diesen Fragen muss len oder auf Gymnasien und Realschulen setzen. sich eine demokratische, fortschrittliche Bildungspoli- Mit dem Schulkonsens wollten die beteiligten Par- tik stellen. teien der Tatsache Rechnung tragen, dass die Ge- Die künftige Schulentwicklung wird in politischen meinden nicht mehr in der Lage sind, flächendeckend Auseinandersetzungen entschieden. Auch wenn sich Hauptschulen anzubieten, die die Landesverfassung die Landesregierung NRW mit dem Schulkonsens um bis dahin zwar vorschrieb, von Eltern und SchülerInnen politische Entscheidungen gedrückt hat, geht die Ent- aber nicht mehr nachgefragt wurden. Damit wurde wicklung hin zu einem zweigliedrigen Schulsystem. die Schullandschaft in Nordrhein-Westfalen und in der Eltern und Schülerschaft wollen eine Schule, die zum ganzen Republik noch unübersichtlicher: Neben den Abitur führt. Die einen bevorzugen den traditionellen klassischen drei weiterführenden Schulformen gibt es Weg über das Gymnasium, doch immer mehr werden Gesamtschulen, berufliche Gymnasien, Berufskollegs, die Vorzüge einer Gesamtschule erkannt, die den un- Gemeinschaftsschulen, Verbundschulen und Sekun- terschiedlichen Begabungen und Interessen der Schü- darschulen, dazu noch nach wie vor die Förderschulen. lerInnen besser gerecht werden kann. Noch werden Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat die vorliegende Gesamtschulen nicht in ausreichender Zahl angebo- Studie in Auftrag gegeben, um für das Land Nordrhein- ten – jedes Jahr müssen Kinder abgewiesen werden. Westfalen sowie exemplarisch an einer Stadt und ei- Solange es noch unterschiedliche allgemeinbildende nem Landkreis zu untersuchen, wie sich durch den Schultypen gibt, die zum Abitur führen, wäre ein Ab- Schulkonsens und die «Politik der Ermöglichung» die schulungsverbot für die Gymnasien notwendig. Damit Schullandschaft seitdem verändert hat. würde nicht nur die Hierarchisierung von Gymnasien So unabweisbar es ist, dass sich Schulen und schul- und Gesamtschulen durchbrochen. Gymnasien wären politische Strukturen unter dem Druck der demogra- auch veranlasst, sich intensiver um die Förderung aller fischen Entwicklung und der wachsenden Qualifi- ihrer SchülerInnen zu kümmern. Langfristig wäre da- kationsanforderungen verändern – für uns steht der mit eine gemeinsame Schule aus Gesamtschule und Anspruch im Vordergrund, allen Menschen die größt- Gymnasium vorstellbar. möglichen Lebensperspektiven zu eröffnen, die sie Wir hoffen, mit der vorliegenden Studie einen Bei- sich in der und durch die Teilnahme an gesellschaft- trag zu einer zukunftsorientierten Bildungspolitik leis- licher Tätigkeit in- und außerhalb der Arbeit schaffen ten zu können. Die schulpolitische Debatte fokussiert können. heute auf zweifellos wichtige Einzelfragen: Ganztags- Die größten Bildungschancen für alle Gesellschafts- schule, Inklusion, Sinn und Unsinn eines achtjährigen schichten eröffnet eine gemeinsame Schule für alle Gymnasiums (G8). Diese Aspekte werden in der Studie Kinder und Jugendlichen. Sie müsste sich auf die Schü- gestreift, unser Hauptaugenmerk liegt aber bewusst lerschaft in ihrer ganzen Heterogenität von heute ein- auf der Strukturfrage – die in jüngster Zeit gar nicht stellen und die unterschiedlichen kulturellen, sozialen mehr zur Debatte stand –, um damit den Stillstand zu und sprachlichen Voraussetzungen und Fähigkeiten durchbrechen, der diesbezüglich in der Schulpolitik berücksichtigen. Eine Gesamtschule in diesem Sinne momentan herrscht. würde die im Schulkonsens angestrebte individuelle Förderung am besten verwirklichen können. Von dieser Karl-Heinz Heinemann, Vorstand der Rosa-Luxem- Zielvorstellung sind wir jedoch weit entfernt. burg-Stiftung NRW e. V., und die Begleitgruppe der Der Schulkonsens ist ein deutlicher Schritt in die Studie: Chris Brückner, Jürgen Helmchen, Norbert Richtung eines zweigegliederten Schulsystems, das Müller, Anne Ratzki, August 2016 5
1 Zielsetzung und Aufbau der Studie 1 Zielsetzung und Aufbau der Studie Die vorliegende Studie untersucht die Entwicklung der bot umliegender Nachbarkommunen nachhaltig zer- Schullandschaft in NRW infolge des Schulkonsenses. stören. Insofern umfasst der Beobachtungszeitraum, auf den Die Wahl fiel auf die Stadt Krefeld und den Kreis Vier- sich die Studie bezieht, die Jahre 2011 bis 2016. Zum sen, weil es sich hier um mittelgroße und (schulpoli- Teil wird auch auf weiter zurückliegende Entwicklun- tisch) relativ unauffällige Gebietskörperschaften han- gen eingegangen, soweit das zum Verständnis der dar- delt. Es wurde sich bewusst dagegen entschieden, gestellten Zusammenhänge sinnvoll ist. Städte oder Kreise mit besonders zahlreichen Schul- Zunächst betrachten wir die Entwicklungen auf der neugründungen (wie z. B. den Rhein-Sieg-Kreis oder Ebene des Landes Nordrhein-Westfalen und nutzen da- den Kreis Gütersloh) oder mit einer vollkommenen Sta- zu in weiten Teilen Daten aus der öffentlichen Schulsta- gnation (wie z. B. die Stadt Oberhausen) auszuwählen. tistik des Landes.1 Wir gehen dabei auch auf regional In diesen Fällen wäre mit der Auswahl schon ein Teil unterschiedliche Prozesse ein, insbesondere auf Unter- des Ergebnisses festgelegt worden. Stattdessen wur- schiede zwischen städtischen und ländlichen Räumen den Kommunen gesucht, in denen kontroverse schul- im Hinblick auf den Erfolg der Sekundarschule. politische Diskussionen stattfinden und in denen es Im Anschluss werden am Beispiel der Stadt Krefeld unterschiedliche Entwicklungen zu beobachten gibt. und des angrenzenden Kreises Viersen die Schulent- Neben den Entwicklungen auf kommunaler Ebene wicklung und die damit verbundene politische Diskus- werden die seit 2011 in Krefeld und dem Kreis Vier- sion untersucht. Dieses Vorgehen ist von der Einschät- sen neu gegründeten Schulen sowie deren Erfolge in zung geprägt, dass die «Politik der Ermöglichung» der den letzten Anmeldeverfahren vorgestellt. Eine kleine rot-grünen Landesregierung letztlich die Verantwor- Besonderheit, die aufgrund der oben beschriebenen tung für Fragen der Schulstruktur auf die kommuna- Auswahl eher zufällig Eingang in die Studie fand, ist le Ebene verlagert: Jede einzelne Kommune muss für die PRIMUS-Schule in Viersen. Es handelt sich hierbei sich entscheiden, welches Schulangebot sie vorhält um eine von fünf PRIMUS-Schulen (mehr dazu unter bzw. wie sie mit einem sich wandelnden Elternwahl- 3.8.1), die in NRW gegründet wurden. verhalten hinsichtlich unterschiedlicher Schulformen Im Anschluss daran soll noch einmal ausführlicher umgeht. Es wurden bewusst ein Kreis und eine kreis- diskutiert werden, inwiefern die Ergebnisse der Unter- freie Stadt ausgewählt, um diesbezüglich Gemein- suchung auf die Entwicklung in ganz Nordrhein-West- samkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. Es ist falen übertragbar sind. Zum Abschluss werden die zu bedenken, dass sich in eher ländlichen Räumen mit Besonderheiten der Schullandschaft in NRW im bun- kleinen Städten oder Gemeinden ein erheblicher Ko- desweiten Vergleich dargestellt und es wird der Frage ordinierungsbedarf unter den Kommunen ergibt. So nachgegangen, wie der nordrhein-westfälische Son- kann die Entscheidung einer einzelnen Kleinstadt (z. B. derweg der Schaffung der Sekundarschule als fünfter für die Gründung einer Gesamtschule) das Schulange- Regelschulform der Sekundarstufe I einzuschätzen ist. 1 Soweit nicht anders ausgewiesen, stammen alle Daten aus der am 8.6.2016 ver- öffentlichten Datensammlung «Das Schulwesen in Nordrhein-Westfalen aus quan- titativer Sicht 2015/16» vom Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes NRW. Aus diesem Grund finden sich in den Abschnitten, in denen wir die Schul- entwicklung in NRW vorstellen, nahezu keine zusätzlichen Quellenangaben. 6
2 Die Situation nach der Wahl der neuen rot-grünen Landesregierung im Jahr 2010 2 Die Situation nach der Wahl der neuen rot-grünen Landesregierung im Jahr 2010 2.1 Die Bildungskonferenz sel, Qualifikationsanforderungen für Lehrkräfte und Als eine der ersten bildungspolitischen Maßnahmen andere im Ganztag tätige Fachkräfte, ihre Einbindung hatte die neue rot-grüne Landesregierung im Herbst in der Schule und auch die Arbeitsbedingungen von 2010 eine Bildungskonferenz unter dem Titel «Zusam- Fachkräften, die bei außerschulischen Trägern be- men Schule machen für NRW» eingerichtet, in der schäftigt sind. etwa 50 Verbände und die damaligen Landtagsfrak- Im Gegensatz zu den Empfehlungen anderer Ar- tionen (außer der FDP) mitgearbeitet haben. Diese Bil- beitsgruppen werden hier Ziele formuliert, die hinrei- dungskonferenz traf sich regelmäßig und richtete fünf chend konkret sind, um ihre Umsetzung zu überprüfen. Arbeitsgruppen ein. Die Empfehlungen der Bildungs- Deshalb wird insbesondere im Abschnitt zur Entwick- konferenz wurden im Mai 2011 offiziell der Landesre- lung der Grundschule (3.1) noch einmal auf diese Zie- gierung übergeben und überwiegend mit breiter Mehr- le der Bildungskonferenz eingegangen. Denn faktisch heit beschlossen. Zum Teil gab es Minderheitenvoten, geht es hier um den Ganztag an Grundschulen, der in die in den Empfehlungen ausgewiesen sind. Einzelne der Regel bislang als sogenannter offener Ganztag or- Verbände wie die Landeselternschaft der Gymnasi- ganisiert ist, während an den weiterführenden Schu- en haben ganze Bereiche (z. B. die Empfehlungen zur len, insbesondere an Gesamt- und Sekundarschulen, Schulstruktur) nicht mitgetragen. schon heute der gebundene Ganztag die Regel ist. Die Empfehlungen gliedern sich entsprechend den Das Thema Inklusion wurde bei der Bildungskonfe- Arbeitsgruppen in die folgenden fünf Bereiche: 2 renz ausgespart, denn im Herbst 2010 gab es bereits (1) Individuelle Förderung: von der Qualitätsanaly- einen ähnlich zusammengesetzten «Gesprächskreis se bis zur systematischen Unterrichtsentwicklung und Inklusion», der parallel zur Bildungskonferenz arbeite- Lehrerfortbildung te. Dieser wurde bereits von der Vorgängerregierung (2) Übergänge gestalten – Anschlussfähigkeit sichern eingerichtet, hat aber weit weniger regelmäßig als die (3) Ganztag weiterentwickeln Bildungskonferenz getagt und auch keinen vergleich- (4) Eigenverantwortliche Schule in regionalen Bil- bar breiten Konsens der beteiligten Verbände erreichen dungsnetzwerken können. (5) Schulstruktur in Zeiten demografischen Wandels Sie betreffen überwiegend Strukturfragen in Verbin- 2.2 Der NRW-Schulkonsens dung mit kommunalen Handlungsmöglichkeiten. Die- Hinsichtlich der Schulstruktur hatte die Landesregie- se sollen in allen Handlungsfeldern verbessert werden; rung parallel zur Bildungskonferenz das Konzept einer oftmals wird dies mit der Forderung nach mehr finan Gemeinschaftsschule entwickelt, das später noch aus- ziellen Mitteln verbunden. führlicher dargestellt werden soll. Als schon im Frühjahr Hinsichtlich der Schulstruktur sind die Empfehlun- 2011 klar wurde, dass der Plan der Landesregierung, gen relativ unkonkret. So wird in Anbetracht des de- die neue Schulform im Rahmen eines Schulversuchs mografischen Wandels auch weiterhin ein wohnortna- auf den Weg zu bringen, rechtlich nicht haltbar war, hes Schulangebot angestrebt. Es sollen unter anderem wurden schnell Verhandlungen mit der CDU gestartet. Schulverbünde und flexiblere Lösungen für Teilstand- SPD und Grünen war zu diesem Zeitpunkt vermutlich orte ermöglicht werden. Bezogen auf die Schulstruktur klar, dass sie eine andere Lösung finden mussten, um kann der Schulkonsens (siehe 2.2) durchaus als Kon- die von ihnen gewünschte neue integrierte Schulform kretisierung der Empfehlungen der Bildungskonferenz neben der Gesamtschule einzuführen. Nachdem der angesehen werden. erste Anlauf gerichtlich gekippt worden war, wurde nun Von besonderem Interesse für die vorliegende Stu- eine Schulgesetzänderung angestrebt. die sind die Empfehlungen der Arbeitsgruppe 3 zur Vor fünf Jahren, im Juli 2011, haben sich SPD, CDU Weiterentwicklung des Ganztags. Die Empfehlungen und Bündnis 90/Die Grünen auf den «Schulpolitischen in diesem Bereich sind sicherlich in finanzieller Hin- Konsens für Nordrhein-Westfalen» verständigt. Darin sicht am gravierendsten für NRW. So soll das Land bis wurden unter anderem Festlegungen zur Schulstruk- zum Jahr 2020 einen Stufenplan zur flächendeckenden tur getroffen, die in der vereinbarten Form bis 2023 Einführung des gebundenen Ganztags in allen Schul- nicht mehr angetastet werden sollen. Es wurde ver- formen und Schulstufen entwickeln. Damit verbunden einbart, dass alle drei Schulformen des gegliederten ist die Abschaffung der Elternbeiträge und der kommu- Systems, also Hauptschule, Realschule und Gymnasi- nalen Beiträge zur Finanzierung des Personals. Es ist um, erhalten bleiben. Zusätzlich soll es weiterhin die sogar angedacht, auch das Mittagessen kostenlos an- zubieten, auch hier müsste das Land also die Kosten vollständig tragen. Gleichzeitig fordert die Bildungs- 2 Die Empfehlungen der Bildungskonferenz sind vollständig auf der Homepage des Schulministeriums dokumentiert: www.schulministerium.nrw.de/docs/Schul- konferenz landeseinheitliche Qualitätsstandards für entwicklung/Bildungskonferenz/Ergebnispapiere-der-Arbeitsgruppen-2011/index. den Ganztag. Das umfasst etwa den Personalschlüs- html. Deshalb werden sie hier nicht im Einzelnen aufgeführt. 7
2 Die Situation nach der Wahl der neuen rot-grünen Landesregierung im Jahr 2010 Gesamtschule geben. Als fünfte Schulform der Sekun- Artikel 10 der Landesverfassung NRW: «Das Land ge- darstufe I wurde die Sekundarschule eingeführt. Un- währleistet ein ausreichendes und vielfältiges öffentli- angetastet blieben die Grundschulen, Berufskollegs, ches Schulwesen, das ein gegliedertes Schulsystem, Weiterbildungskollegs und Förderschulen. Es wurde integrierte Schulformen sowie weitere andere Schul- festgelegt, dass die zwölf Gemeinschaftsschulen, die formen ermöglicht.» im Sommer 2011 im Rahmen eines Schulversuchs ge- Neben diesen Kernpunkten des Schulkonsenses gründet werden sollten, spätestens nach Ablauf der wurde festgelegt, dass die durchschnittliche Klassen- Versuchszeit in Gesamtschulen oder Sekundarschulen größe für Grundschulen von 24 auf 22,5 und für Gym- umgewandelt werden. Außerdem wurde ein weiterer nasien, Gesamtschulen und Realschulen von 28 auf 26 Schulversuch ermöglicht: eine integrierte Schulform SchülerInnen pro Klasse stufenweise gesenkt werden von der ersten bis zur zehnten Klasse (PRIMUS-Schu- soll. Für Sekundarschulen wurde sie auf 25 Lernende le). Es ist ersichtlich, dass der Schulkonsens keines- pro Klasse festgelegt. Diese Maßnahmen sollten aus wegs eine Vereinfachung der Schulstruktur, sondern den sogenannten Demografiegewinnen finanziert im Gegenteil eine größere Vielfalt und damit auch Un- werden – mit rückläufigen Schülerzahlen sollten die übersichtlichkeit der Schulformen beinhaltet. Klassen also kleiner werden. Die Umsetzung dieser Teil des verhandelten Pakets war die Streichung der Maßnahme an den Grundschulen ist inzwischen voll- Hauptschulgarantie aus der Landesverfassung. Statt- ständig erfolgt. An den weiterführenden Schulen ist dessen wurde eine Bestandsgarantie für ein geglie- bisher nur der Klassenfrequenzrichtwert für die Klas- dertes Schulsystem in die Verfassung aufgenommen. sen 5 bis 7 (bezogen auf das Schuljahr 2016/17) von 28 Dies war der ausschlaggebende Grund dafür, dass die auf 27 abgesenkt worden. Wenn es bei diesem Tempo Landtagsfraktion der LINKEN den Schulkonsens ab- bleiben sollte, wird es bis zur kompletten Umsetzung lehnte. Konkret heißt es nach dem Schulkonsens in noch weitere neun Jahre dauern.3 3 Die Absenkung auf 27 SchülerInnen für die Klassen 5 bis 10 wird noch drei Jah- re dauern; danach wird vermutlich beginnend mit der Klasse 5 und dann aufstei- gend die Absenkung auf 26 SchülerInnen pro Klasse erfolgen, was erneut sechs Jahre dauern wird. 8
3 Schulstruktur und Schulentwicklung in NRW 3 Schulstruktur und Schulentwicklung in NRW Abbildung 1 beinhaltet eine offizielle Darstellung des Neben den in Abbildung 1 dargestellten Schulformen Schulministeriums Nordrhein-Westfalen und zeigt die der Sekundarstufe I gibt es noch drei weitere Schul- im nachfolgenden Text einzeln vorgestellten Schul- formen: die Verbundschule, die Gemeinschaftsschule formen. Sie verzerrt allerdings bezogen auf die Ver- und die PRIMUS-Schule. Bei den letzten beiden Schul- bindung zwischen Sekundarstufe I und II stark die formen handelt es sich um Schulversuche, die von der tatsächlichen Gegebenheiten, denn in der Grafik ist Landesregierung auf den Weg gebracht wurden (sie- nicht hinreichend deutlich, dass Gymnasien und Ge- he Abschnitt 3.8). Die Verbundschule stellt einen Ver- samtschulen eine eigene Oberstufe haben, die ande- such der vorherigen CDU-geführten Landesregierung ren Schulformen jedoch nicht. Des Weiteren erschei- dar, Haupt- und Realschulbildungsgänge unter einem nen die jeweiligen Übergänge zur Sekundarstufe II Dach anzubieten. Bis 2010 wurden insgesamt 27 Ver- völlig gleichberechtigt, tatsächlich gibt es aber von der bundschulen in NRW eingerichtet. Zum Schuljahr Hauptschule fast gar keine Übergänge in die gymna- 2016/17 werden nur noch drei von ihnen weiterlau- siale Oberstufe, während fast alle GymnasiastInnen in fen. Alle anderen Verbundschulen wurden in den letz- die Oberstufe wechseln. ten Jahren aufgelöst oder in Sekundarschulen umge- Abbildung 1: Das Schulsystem in NRW Quelle: MSW NRW 2016 9
3 Schulstruktur und Schulentwicklung in NRW Abbildung 2: Entwicklung der Grundschulen in NRW 800 3.500 3.300 750 Schülerzahlen Anzahl der in Tsd. 3.100 Grundschulen 700 2.900 650 2.700 600 2.500 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 Quelle: eigene Darstellung auf der Grundlage der statistischen Daten aus: MSW NRW: Das Schulwesen in Nordrhein-Westfalen aus quantitativer Sicht 2015/16 und MSW NRW: Entwicklung der Schülerzahlen im Schuljahr 2016/2017 wandelt. Aus diesem Grund wird die Entwicklung der greifende Schuleingangsphase (Klassen 1 und 2) und Verbundschulen im Abschnitt über die Sekundarschu- eine jahrgangsübergreifende Klasse 3 und 4. Die be- le (3.7) noch einmal kurz aufgegriffen. Im Folgenden reits bestehende Möglichkeit solcher jahrgangsüber- sollen alle genannten Schulformen vorgestellt werden. greifender Klassen wurde durch die Schulrechtsän- derung erleichtert. Zusätzlich wurde die Option eines 3.1 Die Grundschule komplett jahrgangsübergreifenden Unterrichts an den Grundschulen werden von etwa 95 Prozent der Schüle- Grundschulen (Klassen 1 bis 4) geschaffen. rInnen der Primarstufe besucht. Weitere 4 Prozent von ihnen besuchen Förderschulen, das restliche 1 Prozent 3.1.1 Die Bekenntnisgrundschule verteilt sich auf integrierte Schulen von Klasse 1 bis 10 Eine Besonderheit der nordrhein-westfälischen Grund- oder darüber hinaus (z. B. Waldorf- und PRIMUS-Schu- schullandschaft ist die hohe Zahl der sogenannten len). Damit kommt die Grundschule dem Ideal einer Bekenntnisgrundschulen. Hierbei handelt es sich um Schule für alle Kinder relativ nahe, zumal der Anteil der öffentliche Grundschulen, die einer Konfession zu- SchülerInnen, die die Grundschule besuchen, mit stei- geordnet sind. Von den 2.845 Grundschulen in NRW gender Inklusionsquote und einer abnehmenden Zahl sind 845 katholisch, also mehr als ein Viertel. Dane- von Förderschulen weiter ansteigt. ben gibt es 90 evangelische und zwei jüdische Grund- Insgesamt haben im Schuljahr 2015/16 nach offi- schulen. Die restlichen 1.908 Schulen werden als «Ge- zieller Schulstatistik knapp 620.000 SchülerInnen die meinschaftsgrundschulen» bezeichnet. Das System Grundschule besucht. Es gab 2.845 Grundschulen, da- der Bekenntnisgrundschulen ist ein Relikt aus Zeiten, runter 2 Prozent in privater Trägerschaft. in denen evangelische nicht mit katholischen Kindern An den Grundschulen Nordrhein-Westfalens nimmt spielen durften. Es ist sogar in der Landverfassung ver- die Zahl der SchülerInnen seit Jahren ab. Das liegt an ankert. Im Gegensatz zu fast allen anderen Bundeslän- den kleiner werdenden Jahrgängen. Die Bildungskon- dern hat es NRW versäumt, die Unterscheidung dieser ferenz hat diese Entwicklung problematisiert, sie fin- beiden Grundschultypen abzuschaffen. Heute gibt es det im Schulkonsens insofern ihren Niederschlag, als Bekenntnisgrundschulen nur noch in NRW und in ver- vereinbart wurde, ein möglichst wohnortnahes Grund- gleichsweise kleiner Zahl auch in Niedersachsen. Diese schulangebot zu sichern und dafür kleine Schulen zu Parallelstruktur behindert es, ein umfassendes Ange- erhalten. Auch die Bildung von Teilstandorten sollte er- bot wohnortnaher Grundschulen aufrechtzuerhalten, leichtert werden. Wie bereits erwähnt, wurde ebenfalls denn in Großstädten existieren oft zwei Grundschulen vereinbart, die Klassengröße von durchschnittlich 24 nebeneinander, während andernorts Eltern ungeach- auf 22,5 SchülerInnen pro Klasse abzusenken, was bis tet ihrer weltanschaulichen Überzeugung gezwungen zum Jahr 2015 schrittweise umgesetzt wurde. sind, ihr Kind in der – wohnortnahen – Grundschule Mit dem 8. Schulrechtsänderungsgesetz wurden die anzumelden, die wiederum die Anmeldung ablehnen veränderten Vorgaben für die Größe von Grundschu- kann, um den Platz für ein Kind ihres Bekenntnisses len im November 2012 beschlossen. Seitdem können freizuhalten. Grundschulen mit weniger als 92 SchülerInnen als Teil- Eine konfessionell homogene Schülerschaft gibt es standorte von Grundschulverbünden fortgeführt wer- an den Bekenntnisschulen allerdings nicht mehr. So den. Die einzige Grundschule einer Kommune kann mit ist an den katholischen Grundschulen mittlerweile nur mindestens 46 SchülerInnen fortgeführt werden. In noch die Hälfte aller SchülerInnen katholisch; an den diesen Fällen gibt es in der Regel eine jahrgangsüber- evangelischen Grundschulen beträgt der Anteil gera- 10
3 Schulstruktur und Schulentwicklung in NRW Abbildung 3: Entwicklung des Ganztags 5.000 300 250 4.500 SchülerInnen SchülerInnen im gebundenen 200 im offenen Ganztag 4.000 Ganztag in Tsd. 150 3.500 100 3.000 50 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 Quelle: eigene Darstellung auf der Grundlage der statistischen Daten aus: MSW NRW: Das Schulwesen in Nordrhein-Westfalen aus quantitativer Sicht 2015/16 de einmal 40 Prozent. An evangelischen wie katholi- Ganztag können Kinder für den Ganztag angemeldet schen Grundschulen lernen mehr als 10 Prozent Kinder werden, müssen aber nicht – ein Teil der Kinder ver- islamischen Glaubens und mehr als 15 Prozent konfes lässt die Schule am Mittag und ein anderer Teil bleibt sionslose. Unabhängig davon erscheint es aus heuti- bis zum Nachmittag in der Schule. Da der Ganztag hier ger Sicht grundsätzlich nicht sinnvoll, Grundschulen ein Wahlangebot ist, müssen die Eltern Beiträge zah- nach religiösen Bekenntnissen zu trennen. len. Die Schulen erhalten eine Kopfpauschale für jedes Mit dem 11. Schulrechtsänderungsgesetz hat der Kind, das am Ganztag teilnimmt, und schließen in der Landtag NRW im Jahr 2015 immerhin die Umwand- Regel einen Vertrag mit einem freien Träger, der mit ei- lung von Bekenntnisgrundschulen in Gemeinschafts- genem Personal ein Angebot für den Nachmittag or- grundschulen erleichtert. Nun müssen nur noch die ganisiert. Hälfte der Eltern (vorher: zwei Drittel) für eine Um- Die Praxis des offenen Ganztags ist mit zahlreichen wandlung stimmen. Ob dies dazu führt, dass nun eine Problemen verbunden. Zum einen übersteigt die Nach- relevante Zahl von Bekenntnisschulen umgewandelt frage nach Ganztagsplätzen bei Weitem das Angebot. wird, kann zurzeit kaum abgeschätzt werden. Das zeigen zahlreiche Berichte aus einzelnen Kommu- nen sowie etwa Schätzungen von Klaus-Jürgen Till- 3.1.2 Die Entwicklung des Ganztags mann in der Jako-O-Bildungsstudie.4 Eine landeswei- Immer mehr Kinder werden im offenen Ganztag an ih- te Übersicht zum Verhältnis zwischen Angebot und rer Schule angemeldet. Aktuell nehmen fast 42 Prozent Nachfrage nach Ganztagsplätzen gibt es nicht, in gro- der SchülerInnen am offenen Ganztag teil. Einen ge- ßen Städten ist der Bedarf jedoch deutlich größer als in bundenen Ganztag haben hingegen bislang nur neun kleineren Kommunen. Grundschulen in Nordrhein-Westfalen. Die Finanzierung des offenen Ganztags steht auf wa- Das Ziel der Bildungskonferenz (siehe Abschnitt 2.1), ckeligen Beinen. Die Kommunen mussten im Schul- bis zum Jahr 2020 ein flächendeckendes Angebot des jahr 2015/16 einen Anteil von jährlich mindestens 422 gebundenen Ganztags zu schaffen, ist für den Grund- Euro pro Platz aufbringen. Ein Teil dieses Geldes wird schulbereich nicht erkennbar verfolgt worden. durch Elternbeiträge gedeckt, deren Höhe von Kom- Bundesweit und auch in Nordrhein-Westfalen un- mune zu Kommune unterschiedlich ist. Zusammen mit terscheiden sich die Formen der Ganztagsschulen dem Landeszuschuss von 722 Euro pro Platz reicht das erheblich voneinander, etwa hinsichtlich des Stun- Geld insgesamt aber nicht für eine solide Finanzierung denvolumens und der personellen und räumlichen aus. Stattdessen sind die offenen Ganztagsschulen ein Ausstattung. Dabei sind zwei grundlegend verschie- Ort prekärer Beschäftigung im Bildungsbereich. In ei- dene Formen zu unterscheiden: Beim gebundenen ner Stichprobe für den Bildungsbericht Ganztagsschu- Ganztag handelt es sich um eine Ganztagsschule für le NRW 20145 zeigt sich insbesondere, dass es kaum alle SchülerInnen, die diese Schule besuchen. Hier Vollzeitbeschäftigte im offenen Ganztag gibt: Nicht ein- bekommt die Schule in der Regel einen Lehrerstel- mal 10 Prozent arbeiten hier in Vollzeit und mehr als lenzuschlag von 20 Prozent sowie einen weiteren Zu- schuss vom Land. Da der Ganztag für alle Kinder gilt, fallen keine Elternbeiträge an. Der gebundene Ganztag 4 Vgl. Tillmann, K.-J.: Die Ganztagsschule und die Wünsche der Eltern, in: Killus, D./Tillmann, K.-J. (Hrsg.): Eltern zwischen Erwartungen, Kritik und Engagement. ist in der Sekundarstufe I die Regel, wenn eine Schu- Ein Trendbericht zu Schule und Bildungspolitik in Deutschland. 3. Jako-O-Bildungs- studie, Münster/New York 2014, S. 71–88. 5 Vgl. Börner, Nicole/Conraths, An le Ganztagsschule ist. Im Bereich der Grundschulen ist drea/Gerken, Ute/Steinhauer, Ramona/Stötzel, Janina/Tabel, Agathe: Bildungsbe- hingegen der offene Ganztag der Regelfall. Im offenen richt Ganztagsschule NRW 2014, Dortmund 2014. 11
3 Schulstruktur und Schulentwicklung in NRW 80 Prozent weniger als 35 Stunden pro Woche. Dabei Die Hauptschule schließlich muss seit 1970 perma- handelt es sich größtenteils um unfreiwillige Teilzeit, nent sowohl in absoluten Zahlen als auch hinsichtlich wie die Studie weiter gezeigt hat. Zum Vergleich: In des relativen Anteils einen Rückgang verzeichnen und Kitas arbeiten immerhin 55 Prozent der Beschäftigten bewegt sich offenkundig auf die Nulllinie zu. in Vollzeit. Aufgrund der vergleichsweise schlechten Interessant für die vorliegende Studie ist neben der Arbeitsbedingungen gibt es offensichtlich erhebliche Entwicklung seit dem Schulkonsens 2011 auch die Probleme der Träger, Fachkräfte für offene Stellen zu Phase der CDU-FDP-Landesregierung von 2005 bis gewinnen. 2010. Ab 2006 waren die Übergangsempfehlungen Das Hauptproblem des offenen Ganztags liegt in der Grundschulen für die Anmeldung an den weiter- seinem grundsätzlichen Konzept der Trennung des führenden Schulen verbindlich. Es soll nun ein Blick schulischen Unterrichts, der durch LehrerInnen ge- darauf geworfen werden, welche Folgen das für den staltet wird, und des «Ganztagsangebots», das in der Übergang hatte. Es scheint so, dass sich durch die Ver- Regel durch einen freien Träger organisiert wird. Die bindlichkeit der Grundschulempfehlungen nichts an Kooperation zwischen Lehrenden auf der einen Seite den Trends geändert hat, die Entwicklung aber verlang- und MitarbeiterInnen im offenen Ganztag auf der an- samt wurde. Die Übergangsquoten bei den Gymnasi- deren ist schwach ausgeprägt (siehe Bildungsbericht en, Realschulen und Gesamtschulen stiegen zwischen Ganztagsschule NRW) und institutionell nicht abgesi- 2005 und 2010 nur geringfügig an, der Rückgang der chert. Das führt dazu, dass für alle an der Schule Be- Übergänge zur Hauptschule wurde hingegen kaum schäftigten der offene Ganztag nicht als ganzheitliches aufgehalten. Die Abschaffung der Verbindlichkeit der Konzept der Schulgestaltung wahrgenommen wird, Grundschulempfehlungen zum Schuljahr 2011/12 hat sondern als Abfolge von zwei relativ unverbundenen jedoch offensichtlich dazu geführt, dass die Übergän- Zeitabschnitten in der Schule: des Unterrichts am Vor- ge zum Gymnasium leicht anstiegen (von 39,5 Prozent mittag und einer Betreuung am Nachmittag. im Jahr 2010 auf 41 Prozent 2011) und sich bei den Die aufgeführten Probleme könnten durch die Über- Hauptschulen deutlich verringerten (von 12,3 Prozent führung in einen gebundenen Ganztag gelöst werden, im Jahr 2010 auf 9,9 Prozent 2011). was jedoch mit erheblichen Kosten verbunden wäre. Tatsächlich gab es auch bei den Realschulen ei- Klemm und Zorn6 schätzen die Kosten für den Wechsel nen Effekt, der auf den ersten Blick nicht augenfällig von der Halbtagsschule zum vollen Ganztag (5 Tage/ ist. Vergleicht man die Übergangsempfehlungen der Woche x 8 Zeitstunden) auf etwa 1.400 Euro pro Platz SchülerInnen, die im Jahr 2010 an die Realschule ge- jährlich. Bei den etwa 360.000 GrundschülerInnen, die kommen sind, mit denen von 2011, so ist zu erkennen, noch im Halbtag sind, würden für eine Umstellung auf dass die Realschule etwa 2.000 SchülerInnen mit Real- den gebundenen Ganztag also Kosten von etwa 500 schulempfehlung verloren hat und dafür 2.500 Schü- Millionen Euro jährlich anfallen. Hinzu käme mehr als lerInnen mit Hauptschulempfehlung dazugekommen eine Milliarde Euro an Investitionskosten, um vor allem sind. So erklärt sich auch der leichte Anstieg der Über- den notwendigen Mehrbedarf an Räumen (etwa für so- gänge zur Realschule von 2010 (28,7 Prozent) zu 2011 zialpädagogische Freizeitangebote) und Personal an je- (28,9 Prozent). der Schule zu decken. Der Übergang von der Grundschule zur weiterfüh- renden Schule ist für Eltern wie für SchülerInnen in 3.2 Der Übergang von der Grund Hinblick auf ihre weiteren Bildungschancen von enor- schule zur weiterführenden Schule mer Bedeutung. Aus diesem Grund gibt es zahlreiche Verfolgt man die langjährige Entwicklung der Über- Untersuchungen, die diesen Bildungsübergang in den gangsquoten, gibt es recht klare Trends. Die Über- Fokus nehmen. Tatsächlich konnte vielfach gezeigt gänge zum Gymnasium haben seit den 1970er Jahren werden, dass die Chancen für einen Wechsel zum kontinuierlich zugenommen, wobei dieser Anstieg im Gymnasium in hohem Maße abhängig von der sozia- Zuge der ersten Expansionswelle der Gesamtschulen len Herkunft sind, sogar bei gleichen Schulleistungen. ab 1985 ins Stocken geriet und ab 2002 noch einmal Das belegt etwa die IGLU-Studie,7 nach der die Chan- deutlich anzog (siehe Abbildung 4). Bei den Gesamt- cen für Kinder aus Akademikerfamilien, zum Gymna- schulen gab es zwei deutlich erkennbare Expansions- sium zu wechseln, deutlich höher sind als für Kinder, wellen: Mitte der 1980er Jahre und ab 2011. Zwischen deren Eltern selbst niedrige Bildungsabschlüsse ha- 1998 und 2010 stagnierten die (absoluten) Schülerzah- ben. len bei den Gesamtschulen. In absoluten Zahlen waren Bezogen auf Nordrhein-Westfalen gibt es leider kei- die Übergänge zum Gymnasium im Jahr 2010 geringer ne landesspezifischen Zahlen. Unterstellt man, dass als 1998. Die Quote steigt hingegen leicht an, wie aus der grundlegende Selektionsmechanismus sich hier der Abbildung 4 ersichtlich wird, da die Schülerzahl nicht wesentlich von anderen Bundesländern unter- insgesamt gesunken ist. Bei den Realschulen hat es seit den 1970er Jahren ei- 6 Klemm, Klaus/Zorn, Dirk: Die landesseitige Ausstattung gebundener Ganztags- nen Anstieg der Übergangsquoten in den 5. Jahrgang schulen mit personellen Ressourcen. Ein Bundesländervergleich. Gutachten im Auftrag der Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2016. 7 Bos, Wilfried u. a. (Hrsg.): bis zum Jahr 2000 gegeben. Danach gab es eine Phase IGLU 2011 – Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im inter- der Stagnation und 2011 einen drastischen Einbruch. nationalen Vergleich, Münster u. a. 2012. 12
3 Schulstruktur und Schulentwicklung in NRW Abbildung 4: Übergangsquoten in den 5. Jahrgang 45 % 40 % 35 % 30 % 25 % 20 % 15 % 10 % 5% 0% 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 Gymnasium Hauptschule Sekundar- und Realschule Gesamtschule Gemeinschaftsschule Quelle: eigene Darstellung auf der Grundlage der statistischen Daten aus: MSW NRW: Das Schulwesen in Nordrhein-Westfalen aus quantitativer Sicht 2015/16 scheidet, lassen sich trotzdem einige Vermutungen an- «überholt». Eine mögliche Erklärung für dieses Phäno- stellen: Dass der Anteil der SchülerInnen, die zu Schu- men liegt darin, dass die Expansion der Gesamtschule len wechseln, an denen man das Abitur machen kann in den letzten Jahren überwiegend im ländlichen Raum (Gymnasien und Gesamtschulen) kontinuierlich an- stattgefunden hat, also in Gebieten, in denen weniger steigt (auf zuletzt 67,4 Prozent), führt zu einer Verbes- Kinder mit Migrationshintergrund leben, sodass ihr re- serung der Bildungschancen für benachteiligte Kinder lativer Anteil an Gesamtschulen dadurch landesweit und Jugendliche. Das Aussterben der Hauptschule ist gesunken ist. in der Tendenz ebenfalls positiv, weil damit eine Schul- form wegfällt, von der es in der Vergangenheit kaum 3.3 Die Hauptschule Übergänge in die Oberstufe gab. Die Hauptschule ist ihrem Namen nur in den ersten Für SchülerInnen mit Zuwanderungsgeschichte lie- Jahren ihres Bestehens gerecht geworden. Sie ent- fert die Landesstatistik immerhin Zahlen für einzelne stand 1964 nach dem Hamburger Abkommen der Kul- Schulformen für die vergangenen neun Jahre, sodass tusministerkonferenz (KMK), das die Aufteilung der sich einige Entwicklungen nachzeichnen lassen. Den damals noch achtjährigen Volksschule in die vierjähri- deutlichsten Zuwachs an SchülerInnen mit Migrati- ge Grundschule und die daran anschließende Haupt- onshintergrund haben die Gymnasien zu verzeichnen. schule vorsah. Damit verbunden war die Einführung Waren vor neun Jahren gerade einmal 12 Prozent der des neunten Schuljahres. Mit den Bildungsreformen SchülerInnen in der Sekundarstufe I am Gymnasium der 1970er Jahre kam dann das zehnte Schuljahr hin- nicht deutscher Herkunft, so sind es mittlerweile über zu, verbunden mit der Möglichkeit, einen mittleren 24 Prozent. Ergänzend muss gesagt werden, dass die Schulabschluss zu erwerben. Insofern hat die Haupt- Anzahl der SchülerInnen mit Zuwanderungsgeschich- schule, die anfangs von der Mehrheit der SchülerInnen te an allen Schulformen zugenommen hat: von 24 auf besucht wurde, durch die Verlängerung der Schulzeit 34 Prozent. Hauptschulen weisen den größten prozen- einen wichtigen Beitrag zur Anhebung des Bildungs tualen Anteil auf, bei deutlich gesunkenen absoluten niveaus geleistet. Zahlen. Realschulen haben offenbar eine besondere Aufgrund der Stellung der Hauptschule im dreiglied- Anziehungskraft für SchülerInnen aus Familien mit Mi- rigen Schulsystem hat sie aber mit dem wachsenden grationshintergrund – hier stieg ihr Anteil sowohl abso- Elternwunsch nach einem höheren Schulabschluss lut als auch relativ –; trotz insgesamt rückläufiger Schü- für ihre Kinder kontinuierlich SchülerInnen verloren. lerzahlen haben die Realschulen die Gesamtschulen Im Jahr 1970 lag die Übergangsquote zur Hauptschule 13
3 Schulstruktur und Schulentwicklung in NRW Abbildung 5: Entwicklung der Hauptschulen in NRW 300 800 700 250 Schülerzahlen 600 Anzahl der in Tsd. 200 Hauptschulen 500 150 400 100 300 50 200 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 Quelle: eigene Darstellung auf der Grundlage der statistischen Daten aus: MSW NRW: Das Schulwesen in Nordrhein-Westfalen aus quantitativer Sicht 2015/16 und MSW NRW: Entwicklung der Schülerzahlen im Schuljahr 2016/2017 noch bei 56 Prozent, aber schon seit 1986 ist das Gym- anderen Schulen (vor allem von Gesamtschulen) ab- nasium die Schulform mit den meisten Übergängen in gewiesene SchülerInnen aufnehmen und Schulform- die fünfte Klasse. 1970 gab es fast 1.500 Hauptschulen wechslerInnen höherer Jahrgänge von Realschulen in NRW, aktuell sind es noch 456, von denen wiederum und Gymnasien zu ihnen kommen. 251 auslaufend sind. Inzwischen gibt es eine Reihe von Kommunen, die Betrachtet man die Entwicklung der Hauptschulen sich dazu entschieden haben, dieser Entwicklung in NRW in den letzten zehn Jahren, wird deutlich, dass nicht weiter tatenlos zuzusehen. Einzelne Kommu- die Schülerzahlen kontinuierlich abgenommen ha- nen (etwa die Städte Oberhausen und Krefeld) haben ben und dass der Schulkonsens dabei keinen beson- beschlossen, alle Hauptschulen zu schließen, sodass deren Bruch verursacht hat. Auch wenn im Rahmen schon jetzt keine SchülerInnen mehr aufgenommen des Schulkonsenses die Hauptschulgarantie aus der werden. Andere Kommunen ersetzen Hauptschu- Landesverfassung gestrichen wurde, war das nicht ur- len durch Sekundar- oder Gesamtschulen, wozu in- sächlich für das Absterben der Hauptschule, sondern teressanterweise nicht immer Schulneugründungen eine Reaktion auf diese Situation, die vermutlich auch notwendig sind. Es gab auch den (vorher nicht ab- nicht durch politische Entscheidungen aufzuhalten ist. sehbaren) Weg zu Zeiten der CDU-geführten Landes- Sowohl die vorherige CDU/FDP-Landesregierung als regierung, Haupt- in Verbundschulen umzuwandeln auch viele CDU-regierte Kommunen haben versucht, (diese verfügen über einen Haupt- und einen Real- die Hauptschule als Schulform zu retten. Alle Elternbe- schulbildungsgang) und diese nun in Sekundarschu- fragungen zeigen aber, dass die Hauptschule fast gar len zu überführen. Ein Beispiel für eine solche Ent- nicht mehr als Wunschschule angewählt wird. Statt- wicklung ist die Sekundarschule in Grefrath, die in dessen leben viele Hauptschulen davon, dass sie von Abschnitt 6.2 vorgestellt wird. Abbildung 6: Entwicklung der Realschulen in NRW 340 570 320 560 Schülerzahlen 300 Anzahl der in Tsd. Realschulen 280 550 260 540 240 220 530 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 Quelle: eigene Darstellung auf der Grundlage der statistischen Daten aus: MSW NRW: Das Schulwesen in Nordrhein-Westfalen aus quantitativer Sicht 2015/16 und MSW NRW: Entwicklung der Schülerzahlen im Schuljahr 2016/2017 14
3 Schulstruktur und Schulentwicklung in NRW Abbildung 7: Entwicklung der Gymnasien in NRW 600 640 580 630 Schülerzahlen Anzahl der in Tsd. Gymnasien 560 620 540 610 520 600 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 Quelle: eigene Darstellung auf der Grundlage der statistischen Daten aus: MSW NRW: Das Schulwesen in Nordrhein-Westfalen aus quantitativer Sicht 2015/16 und MSW NRW: Entwicklung der Schülerzahlen im Schuljahr 2016/2017 3.4 Die Realschule der Hauptschule die Stellung der Realschule im geglie- Die Realschule hatte traditionell im dreigliedrigen derten Schulsystem. Sie verliert den Status einer mitt- Schulsystem eine relativ stabile Stellung in der Mitte leren Schulform, die sich nach unten abgrenzen kann. zwischen Hauptschule und Gymnasium. Die Bezeich- Stattdessen wird sie zur unteren Schulform im geglie- nung «Realschule» geht – wie die Hauptschule – auf derten Schulsystem und befindet sich zugleich in Kon- das Hamburger Abkommen der KMK zurück (siehe kurrenz zur Gesamtschule, die ihren SchülerInnen ei- Abschnitt 3.3). Ihr Vorläufer war die preußische Mit- nen direkten Weg zum Abitur ermöglicht. telschule. Während bei vielen Diskussionen um das Auf der anderen Seite ist zu beobachten, dass grö- dreigliedrige Schulsystem seit den 1960er Jahren die ßere Realschulen eine beachtliche Stabilität bei den Rolle des Gymnasiums oder der Hauptschule proble- Anmeldezahlen aufweisen. Die Entwicklung lässt sich matisiert wurde, war die Realschule kaum Gegenstand vereinfacht so skizzieren: Kleinere Realschulen mit gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Sie war rela- niedrigen Anmeldezahlen werden zugunsten neu ge- tiv unauffällig, profitierte aber wie das Gymnasium von gründeter Sekundar- oder Gesamtschulen aufgelöst, der Bildungsexpansion der 1970er Jahre. Die Über- während starke Realschulen größer werden. In den gangsquote zur Realschule in NRW stieg von etwa Städten, in denen durchschnittlich gut die Hälfte der 19 Prozent im Jahr 1970 auf knapp unter 30 Prozent im Realschulen aufgelöst wird, erfreuen sich die verblie- Jahr 2000 an. Bis 2011 schwankte sie nur leicht, seit- benen Realschulen umso größerer Beliebtheit. dem sinkt sie erkennbar. Dabei ist offenbar die Möglichkeit, nach der Real- In Abbildung 6 wird ersichtlich, dass die Zahl der Re- schule in die gymnasiale Oberstufe zu wechseln, ein alschulen bis 2013 anstieg – dies ist auf die Gründung wichtiger Faktor. Hier hat sich in den letzten 20 Jah- von 16 privaten Realschulen in dieser Zeit zurückzufüh- ren – von der Bildungsforschung relativ unbemerkt – ren; die Zahl der staatlichen Realschulen blieb bis zum eine erstaunliche Entwicklung vollzogen: Inzwischen Schulkonsens konstant. Gleichzeitig nahm die Zahl der wechseln 37 Prozent der RealschülerInnen nach der SchülerInnen über den gesamten Zeitraum erst lang- zehnten Klasse in die gymnasiale Oberstufe oder an sam und dann verstärkt ab. Anders als bei den Haupt- ein Berufsgymnasium. Damit ist Nordrhein-Westfalen schulen, die kontinuierlich SchülerInnen verloren ha- eine Ausnahme unter den Flächenländern. Den Real- ben, gab es bei den Realschulen im Jahr 2012 einen schulen kommt also funktional eine ähnliche Rolle zu klar erkennbaren Bruch hinsichtlich der Anmeldequo- wie den Sekundarschulen (siehe Abschnitt 3.7). te. Bis zum Jahr 2015 sackte sie um knapp acht Pro- zentpunkte ab. Das dürfte mit den zahlreichen Schul- 3.5 Das Gymnasium neugründungen zusammenhängen, bei denen in Im gegliederten Schulsystem hat sich ganz klar eine vielen Fällen zeitgleich ein Auflösungsbeschluss für ei- Schulform durchgesetzt: das Gymnasium. Alle Dis- ne Realschule getroffen wurde. Aktuell befinden sich kussionen über Chancenungleichheit, alle Reformen – 167 Realschulen, also fast ein Drittel von ihnen, in Auf- von der Gesamtschule bis zur Sekundarschule – und lösung. auch die Einführung von G8 konnten dem Gymnasium Angesichts dieser Entwicklung ist die Zukunft der Realschule ungewiss. Ernst Rösner8 geht davon aus, dass die Realschule mit einer zeitlichen Verzögerung 8 Rösner, Ernst: Fortgesetzter Niedergang von Hauptschulen und Realschulen in Nordrhein-Westfalen. Ein Blick auf einige Eckdaten des Schuljahres 2013/14, in: die Entwicklung der Hauptschule nachvollziehen wird. Integrierte Schulen Aktuell (ISA) 2/2014, S. 5–7, unter: www.ggg-nrw.de/webpa- Tatsächlich ändert sich mit dem absehbaren Wegfall ge/download/michael/schulentwicklung-niedergang-roesner.pdf. 15
3 Schulstruktur und Schulentwicklung in NRW Abbildung 8: Entwicklung der Gesamtschulen in NRW 320 320 300 300 Schülerzahlen 280 Anzahl der in Tsd. 280 Gesamtschulen 260 260 240 240 220 220 200 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 Quelle: eigene Darstellung auf der Grundlage der statistischen Daten aus: MSW NRW: Das Schulwesen in Nordrhein-Westfalen aus quantitativer Sicht 2015/16 und MSW NRW: Entwicklung der Schülerzahlen im Schuljahr 2016/2017 nichts anhaben. Seit den 1970er Jahren ist die Über- mehr Gewicht beimessen. Aufgrund dieser Konstella- gangsquote zum Gymnasium von 24 auf 41 Prozent tion ist die Chance für Akademikerkinder, auf das Gym- der SchülerInnen eines Jahrgangs gestiegen, wobei nasium zu kommen, nach wie vor bedeutend höher als der stärkste Anstieg in den 1970er Jahren zu verzeich- für Kinder von NichtakademikerInnen. nen war. Seit 1986 ist das Gymnasium die am stärks- ten nachgefragte Schulform der Sekundarstufe I. Zwi- 3.6 Die Gesamtschule schen 1990 und 2004 hatte sich die Übergangquote Mit dem Beschluss des Deutschen Bildungsrates im recht stabil bei 36 Prozent eingependelt, danach stieg Jahr 1969, einen Schulversuch zur Gesamtschule zu die Quote noch einmal an, allerdings nicht mehr auf- starten, wurden ab 1970 auch in NRW die ersten Ge- grund real steigender Schülerzahlen, sondern bei einer samtschulen errichtet. Bis etwa 1984 entstanden 56 insgesamt sinkenden Schülerzahl. Gesamtschulen, insbesondere in SPD-regierten Groß- Abbildung 7 zeigt, dass die Anzahl der nordrhein- städten. Gleichzeitig war die Gesamtschule in weiten westfälischen Gymnasien in den letzten zehn Jahren Teilen Nordrhein-Westfalens gar nicht als Schulform fast konstant geblieben ist. Der auffällige Rückgang vorhanden. Nachdem die Versuchsphase abgeschlos- der Schülerzahlen im Jahr 2013 hängt mit dem doppel- sen war, gab es zwischen 1985 und 1995 eine Grün- ten Abiturjahrgang zusammen, der die Gymnasien in dungswelle, in der 142 weitere Gesamtschulen ent- NRW in diesem Jahr verlassen hat. Seit 2013 haben die standen. Danach ebbte diese Entwicklung deutlich ab. Gymnasien nur noch acht statt zuvor neun Jahrgänge. Mit dem Schulkonsens 2011 wurde offensichtlich eine War das Gymnasium ursprünglich die Schule ei- zweite Welle der Gesamtschulneugründungen in NRW ner kleinen Elite und damit sozial extrem selektiv, ver- ausgelöst: Von 2011 bis 2016 entstanden 102 neue Ge- band sich seine Expansion mit einer Öffnung zu brei- samtschulen. teren Schichten der Bevölkerung. An seiner selektiven Während sich viele Kommunen mit der Gründung Funktion im mehrgliedrigen Schulsystem hat das je- von Gesamtschulen ausgesprochen schwergetan ha- doch nichts geändert. Noch immer findet nach der ben, erfreuen sich die bestehenden Gesamtschulen vierten Klasse eine für Eltern und Kinder bedeutsame landesweit einer enormen Nachfrage. Seit die Gesamt- Schulformentscheidung statt, die unter anderem durch schule als Schulform angeboten wird, müssen jedes Grundschulempfehlungen beeinflusst wird. Dabei ha- Jahr viele angemeldete SchülerInnen abgewiesen wer- ben zahlreiche Studien (z. B. IGLU 2011) gezeigt, dass den, da nicht genügend Plätze zur Verfügung stehen. die Wahrscheinlichkeit, eine Gymnasialempfehlung zu Hinsichtlich der Zahl der Abweisungen fällt seit vie- erhalten, für Akademikerkinder viermal größer ist als für len Jahren die Stadt Köln besonders auf. Obwohl hier in Nichtakademikerkinder, bei gleichem Leistungsstand den vergangenen Jahren eine Reihe von Gesamtschu- in der Grundschule (!). Dieser Effekt verstärkt sich so- len neu gegründet wurde, ist die Zahl der Abweisun- gar dadurch, dass Grundschulempfehlungen in NRW gen konstant hoch und zum neuen Schuljahr 2016/17 nicht verbindlich sind, denn mit höherer Bildung der sogar noch einmal angestiegen. Etwa 800 SchülerIn- Eltern nimmt die Bedeutung der Grundschulempfeh- nen mussten im Frühjahr 2016 abgewiesen werden,9 lung ab. In einer aktuellen Elternbefragung der Stadt Oberhausen haben nur 23 Prozent der Eltern mit Abitur/ Fachhochschulreife angegeben, dass Grundschulemp- 9 Vgl. Frangenberg, Helmut: Anmeldung an den Gesamtschulen. Jedes dritte Köl- ner Kind wird abgelehnt, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 17.2.2016, unter: www.ksta. fehlungen für sie wichtig sind, während Eltern mit nied- de/koeln/anmeldung-an-den-gesamtschulen-jedes-dritte-koelner-kind-wird-ab- rigeren Schulabschlüssen Grundschulempfehlungen gelehnt-23581278. 16
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