VERNEBELT - www.null41.ch Februar 2019 SFr. 9.
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RECK FILM PRESENTS TRUE STORIES OF ETHICAL BUSINESS nominated 2019 PRIX DE SOLEURE Solothurn A FILM BY NINO JACUSSO AB 14. FEBRUAR IM KINO teff is Käptn S ahrt Kreuzf ss nR ätselspa 80 Seite iefgang mit T ältlich Jetzt erh nversand.ch nsche w w w.me .null41.ch www C L U B TO U R 2 018/2 019 11.02.2019 KAUFLEUTEN, ZÜRICH TICKETS:STARTICKET.CH
EDITORIAL OH SCHANDE! die Anfänge des Maskentragens. Nina Laky interviewt Sabina Koch und Hanni Troxler, die als zwei der wenigen weibli- chen Tambourmajorinnen ihren Guggen- musigen den Takt angeben. Liebe Leserinnen, liebe Leser Tobias Brücker, Kulturwissenschaft- Der Urknall: «041 – Das Kulturmagazin» ler, verfasst ein Plädoyer für das befreien- hat sich an das grosse Tabuthema der Kul- de und berauschende Aufgehen in der turszene gemacht – die Fasnacht. Masse, sei es nun an der Fasnacht oder am Sophie Grossmann Unsere anfängliche Skepsis als Fussballmatch. Doch wozu überhaupt Redaktionsleiterin Kulturmenschen an den ur- Rausch? In unserer Überdacht-Kolumne sprünglichen Vorfeierlichkeiten setzen sich die zwei Repliken von Andreas der Fastenzeit wich schnell der Neugier am Pfister und Remo Bitz ganz unterschied- rauschenden modernen Volksfest. lich mit dieser Frage auseinander. So vielfältig wie der Themenkomplex Ich wünsche eine gute Lektüre unse- von Rausch und Fasnacht selbst ist unsere rer Februarausgabe und frohe Narrenzeit! Autorenschaft für die Februarausgabe, zwar narrenfrei, aber hoffentlich informativ und unterhaltsam. Kurt Lussi war bis 2018 wis- senschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Museum Luzern und schreibt für uns über Februar 2019 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 3
INHALTSVERZEICHNIS Einblick ins Labor Luzern > Seite 18 Christoph und Annette von Goumoëns in «Diamonds Are Forever» > Seite 30 FIRST Editorial > Seite 3 Guten Tag > Seite 5 Poliamourös LADIES Wo der Spass aufhört, bestimmen Männer, die Kolumne von Anna Chudozilov > Seite 6 Kosmopolitour Matthias Bolliger trifft einen Totengräber in Beirut > Seite 7 Hanni Troxler und Sabina Koch geben in wilden Zeiten ihren Musikerinnen und Musikern den Takt an > Seite 10 Stadt – Land Blick durch die Linse > Seite 8 Überdacht BÄRZELI Wozu Rausch? Zwei ganz unterschiedliche Antworten von Remo Bitzi und Andreas Pfister > Seite 20 Nachschlag BUEBE Carole Barmettler feierte nüchtern und hatte trotzdem Spass – für eine Weile > Seite 22 Ausgefragt Die Geschichte des Maskentragens, aufgeschrieben Michel Truniger leitet seit Anfang 2019 das Theater Uri > Seite 33 von Kurt Lussi > Seite 14 Käptn Steffis Rätsel > Seite 54 Gezeichnet > Seite 55 WIR SIND KULTURKALENDER BERAUSCHT Tobias Brücker über den kollektiven Rauschzustand FEBRUAR 2019 im Fussballstadion > Seite 16 Literatur > Seite 23 Musik > Seite 24 STÖRSIGNAL Robyn Muffler zu Besuch bei Waschmaschinen und Hackern Kunst > Seite 28 Bühne > Seite 30 im Labor Luzern > Seite 18 Veranstaltungen > Seite 34 Ausstellungen > Seite 47 Titelbild: Thomas Studhalter Ausschreibungen > Seite 50 Stürmisch und lärmend begrüssen die Bärzeli-Buebe das neue Jahr. Der Straumaa (Strohmann) umarmt jeden, der ihm in die Quere kommt. Adressen A-Z > Seite 52 4 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Februar 2019
GUTEN TAG GUTEN TAG, STADTLUZERNER SVP Ihr konntet es nicht lassen. Aufgrund der «übertrieben positiven» Jahresabschlüsse der Stadt Luzern sammelt Ihr gemeinsam mit den Jungfreisinnigen fleissig Unterschriften fürs GUTEN TAG, PROF. DR. Referendum gegen das Budget. Ihr habt eben CHRISTOPH SCHALTEGGER die Chance auf Steuersenkungen erkannt. Endlich! «Get rich or die tryin’»: Den ersten Album- Dass öffentliche und halböffentliche In- titel von 50 Cents und das inoffizielle Motto stitutionen, ja, die IG Kultur ist davon selbst Ihrer Habilitationsstätte in St. Gallen haben betroffen, durch den budgetlosen Zustand in Sie sich ganz schön zu Herzen genommen. In ihrer Arbeit eingeschränkt werden, ist Euch Ihrer viel diskutierten Studie «Arbeitsanreize egal. Dass die Steuern in einem Jahr wahr- in der sozialen Sicherheit» fordern Sie, dass der scheinlich eh gesenkt werden, tant pis. Viel- Grundbetrag der Sozialhilfe in der Schweiz ge- mehr zieht Ihr gegen unnötige Ausgaben wie senkt werden soll. Anstatt zu «versorgen» sol- die Neubad-Subventionen (wie bitte?) oder die len Anreize geschaffen werden. Das soll dann Industriestrasse ( ... ) ins ideelle Gefecht. Na, so funktionieren: Der Betrag der Sozialhilfe wenigstens wird der budgetlose Zustand nicht wird abhängig von der individuellen Motivati- grundlos in Kauf genommen, hm? on zu Arbeitsintegrationsmassnahmen, statt Also ab auf die Barrikaden, mal wieder da- wie jetzt sorglos steuerbefreit ganze 986 gegen sein, Neinsagen tut der Seele gut. Da ist Schweizer Franken vom Staat zu bekommen. es auch egal, dass es für Institutionen aus dem Armut wird bei Ihnen zu einer Frage des Wil- Kultur-, Sozial- und Sportbereich drei Monate lens. So funktioniert Leistung! Ohne Frage, lang kein Geld gibt – bekommt Ihr Recht, so- dass die Arbeitsmarktsituation in der Schweiz gar bis Ende Oktober. Aber wer braucht denn einwandfrei funktioniert – wer will, der findet, schon einen Lohn für seine Arbeit. ungeachtet seines Alters (ü50), seiner Gesund- heit, Ausbildung (gering qualifiziert) oder fa- Das High-Five gibt’s gratis, miliären Situation (alleinerziehend mit Klein- «041 – Das Kulturmagazin» kindern) einen existenzsichernden Job. Kinder wären übrigens von Ihren Sozialhilfekürzun- gen am stärksten betroffen. Die individuelle Resilienz, auf die Sie, wie viele Neoliberalisten, setzen, entsteht im Kindesalter. Schön gedacht, nur ganz schön realitätsfremd. Armut stählt nicht, sondern riskiert Kompetenzen und Ge- sundheit – mit langfristigen Kosten. Aber übers Geld, Herr Professor, können wir uns sehr gerne unterhalten. Denn das ist bei uns in der Kultur immer Thema, weil – oh, jetzt kommt wieder das Geheule – man zu wenig da- von hat. Aber wir Kulturschaffenden arbeiten ja auch nicht fürs Geld, sondern für den Leben- sinhalt. Wir sind ganz schön abgehärtet, «041 – Das Kulturmagazin» Februar 2019 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 5
POLIAMOURÖS Vor kurzem hat ein junger Mann in Spass verstehen, das muss man einer Sitzung erzählt, dass er mal ver- können an der Fasnacht. Und was prügelt wurde. So richtig heftig. Die Spass ist, bestimmt der Stärkere. Das ganze Runde hat gelacht, ein paar ist immer so, im Rausch einfach noch Sprüche wurden geklopft, obwohl wir etwas mehr. Ein bisschen ungehemm- doch alle nüchtern waren. Gelacht ter, direkter. Schon Mani Matter Spassgrenzen habe ich auch, auch wenn ich mir das wusste, dass die «Manne» nur dank Ganze ziemlich traumatisch vorstell- der Hemmungen den hübschen Mäd- te. Gruppendruck halt. Und dieses un- chen «höchstens chly uf d’Bei luege». bestimmte Die Hemmungen, die fallen mit Text: Anna Chudozilov Gefühl, dass jedem Holdrio und Kafi Schnaps, mit Illustration: Stefanie Sager er irgendwie jeder überteuerten Stange aus dem mitschuldig sein muss, jedenfalls Plastikbecher. Weil wir in Gruppen mindestens selber schuld. Schliesslich unterwegs sind und scheinbar nie- wurde er an der Fasnacht verkloppt mand Regeln einhält, weil so viele da und da muss man halt mit allem rech- sind, dass der Einzelne für nichts gera- nen. destehen muss. Weil genau das Sinn Was da auch passieren kann: Er- und Zweck der Fasnacht ist: Die An- wachsene Männer schnappen sich standsregeln hinter uns lassen, die Teenagermädchen und stopfen sie mit Verkehrsregeln gleich mit, und über- Konfetti voll, bis in die Unterhose, haupt brauchen Menschen doch ein sogar noch ein kleines bisschen weiter. Ventil, wenn sie an all den anderen Aber wer Spass nicht verträgt, soll zu Tagen so sauber funktionieren sollen, Hause bleiben. Wer den Paukenschlä- wie wir es hierzulande tun. Schade ger nicht im Bauch und fremde Hände nur, kommt bei dem Ventil neben Le- nicht am Hintern spüren will, den bensfreude und Kreativität auch so zwingt ja keiner. viel Aggression, sexistischer Mist und Rassismus raus. Doch die Fasnacht ist alles machen dürfen alle. Dass die Fasnacht andere als ein regelfreier Raum, gren- im Grunde noch immer von Zünften zenloser Rausch ist niemals Realität. ausgerichtet wird, die reine Männer- So ist etwa die Basler Fasnacht, mit der bünde bleiben wollen, kann man ich aufgewachsen bin, geprägt von Ex- leicht ignorieren. klusion: Draussen auf der Strasse wird Aufgeschreckt durch den Kölner streng unterschieden zwischen Zu- Silvester von 2015 liess der Luzerner schauern und den «Aktiven» – ange- Regierungsrat allerdings Flyer dru- malte Elsässerinnen und vermeint- cken, die Asylsuchende ähnlich hin- lich witzig eingepackte Touristen sind terwäldlerische Einstellungen zur verpönt. Von all den Ausländerkin- Gleichberechtigung unterstellten, dern in meiner Kleinbasler Primar- wie sie unsere Zunftmeister pflegen. schulklasse war kein einziges mit Pic- Ausgerechnet anlässlich der Fasnacht, colo oder Trommel unterwegs. Der und dann auch noch komplett humor- Bär tanzt im privaten Cliquenkeller. frei. Wo der Spass aufhört, bestimmt Die Luzerner Volksfeststim- eben auch der Stärkere, so leicht mung, die Offenheit gefällt mir. Egal kommen Machtverhältnisse nicht ins ob mit Tischbombennase oder liebe- Wanken. Daran ändert auch die Fas- voll gebasteltem Grind, egal ob man nacht nichts, egal wie sehr wir das wirklich Posaune spielen kann oder nach dem letzten Holdrio glauben. nur das Mundstück vollsabbert: mit- Schade. 6 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Februar 2019
KOSMOPOLITOUR Wer den Libanon ver- sche Polizei noch das Militär dürfen das Lager seit dem Kairo-Abkommen betreten. Nach einem kurzen Marsch steht, kennt ihn nicht durch den Wald von selbst verlegten Strom- und Telefonkabeln treffen wir vor dem palästinensischen Human Rights Center ein, bewacht von einem Begegnungen mit Totengräbern, Pelzträgern und non-Konflikt der letzten selbst ernannten Soldaten mit Kalasch- Jahre soll nur aus Inter- nikow im Anschlag. Unter dem Bild dem Schweizer Kreuz prägten die Dreharbeiten views und Archivmaterial von Fidel Castro will uns ein ehemali- von Matthias Bolliger in Beirut. Der Filmemacher bestehen: «Narrative ger Vertreter der Palästinensischen aus Luzern war mit seinem letzten Projekt, einem History», kein Sprecher Befreiungsorganisation ein Interview «Narrative History»-Dokumentarfilm, im Libanon ordnet die Geschehnisse geben, doch die vorhandene Stromspan- unterwegs. ein, die Gespräche mit nung ist zu schwach, unsere Filmlam- Vertretern unterschiedli- pen zünden nicht. Zwei zehnjährige Als Filmemacher und Kameramann cher Lager stehen für sich alleine. Als Jungs klettern aufs Vordach, kabeln war es mein Nahost-Jahr. Frühjahr Sinnbild dieses Konflikts hören wir die etwas um, bis das Licht angeht. Gerade 2018 –Berlin-Neukölln, die Dreharbei- Geschichte eines Totengräbers, der in in dem Moment beginnt draussen das ten zur zweiten Staffel der arabischen den Wirren des Bürgerkriegs immer Mittagsgebet und übertönt alles. Nach Mafia-Serie «4 Blocks» waren arabi- weiter seine Pflicht erfüllte und begrub, dem Interview verabschiedet sich sches Testosteron pur. Dann ein Filmprojekt über den wohl verrücktes- ten Schönheitswettbewerb der Welt «Miss Holocaust Survivor» in Haifa, Israel, und jetzt ... Ich drehe mich im weichen Bett, ein Muezzin beginnt über Strassenlautsprecher das musli- mische Morgengebet zu sprechen, ich schaue auf die Uhr, 5 Uhr morgens, ach ja – Beirut, Libanon. Die Anreise ging gestern Abend dann doch ziemlich reibungslos, der Zoll am Flughafen hatte Feierabend, niemand stellte Fragen zu Equipment und offizieller Dreherlaubnis. Hier sind wir also, aus israelischer Sicht im Land des Feindes. Aber feindlich wirkt es hier so gar nicht. Das Schawarma an der Strassenecke war so lecker wie selten. «He will be back» – Matthias Bolliger unterwegs Der erste Drehtag – wir treffen ehemalige Kämpfer, die mit ihren wer zu ihm gebracht wurde. Im Winter unser Gastgeber mit einem Klemm- Milizen und Clans in wechselnden aber war der Boden gefroren, und neben brett in der Hand, darauf fällt mir das Bündnissen Beirut fast zugrunde ge- ihm lagen je ein toter christlicher sowie eidgenössische Wappen auf: «Oh yes, richtet hatten. Im Laufe der letzten ein muslimischer Kämpfer. Der Toten- Switzerland is supporting us, merci.» dreissig Jahre kämpfte jeder gegen gräber schaffte es nur, eine Grube Unser letztes Abendessen in jeden, Christen gegen Moslems, Chris- auszuheben, und beschloss schliesslich, Downtown Beirut. Teuerste Autos ten gegen Christen, Moslems gegen die beiden Arm in Arm miteinander zu parken in zweiter Reihe, Pelztragen Moslems, dann besetzten israelische bestatten. Wenn sie im Leben schon scheint wieder «in»,– es sind auch Truppen zwischenzeitlich die Stadt. nicht miteinander reden wollten, soll- winterliche 20 Grad. Wer den Libanon Manchmal waren Kämpfer auf der ei- ten sie es nun auf ewig tun … versteht, kennt ihn nicht. Mein Gefühl: nen, später dann auf der anderen Seite. «I will be back.» «Wer den Libanon versteht, kennt ihn Am nächsten Tag besuchen wir nicht», ein geflügeltes Wort, welches Mar Elias, ein palästinensisches Flücht- Matthias Bolliger mich die kommenden Tage begleiten lingslager mitten in Beirut. Es ist *1975 in Luzern, seit 1998 unterwegs wird. Unser Film über den Liba- «No-Man’s-Land», weder die libanesi- www.matthias-bolliger.de Februar 2019 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 7
STADT 17. JANUAR, LICHTFESTIVAL, LUZERN «Wenn ein Oktopus über dem Wasser vor dem Löwendenkmal schwebt, dann ist wohl das Luzerner Lichtfestival dafür verantwortlich.» Bild & Wort: Caroline Schnider
LAND 16. JANUAR, KUNSTHAUS SURSEE «Artgerechtes Shopping: Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger zu sehen im Kunsthaus Sursee.» Bild & Wort: Gabriela Acklin
FOKUS: RAUSCH Hanni Troxler gibt den Ton an. 10 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Februar 2019
FOKUS: RAUSCH Das gemeinsame Geistervertreiben mit Bläsern, Trom- meln, Konfetti und Orangen passiert nicht ganz so chao- tisch und unorganisiert, wie es an der Fasnacht manch- mal scheint. Sabina Koch und Hanni Troxler sind zwei von wenigen Frauen, die ihre Guggenmu- Text: Nina Laky siker und -musikerinnen durch die wilden Bilder: Matthias Jurt Tage bringen. Das Spiel der Willisauer Napfrugger sei auch schon als «weiblich» bezeichnet worden: «Wir spielen keine Kompressor-Musik und haben keine Schlagzeugwagen. Wir spielen anders, leiser, bluesiger», sagt Hanni Troxler. «DER RAUSCH IST IM BESTEN FALLE FEIN UND SANFT UND NICHT AGGRESSIV UND GROB» Sabina Koch (62) aus Luzern und Die beiden Frauen kennen sich eigentlich nur verkleidet und vom Hörensagen. Das folgende Ge- Hanni Troxler (55) aus Willisau sind spräch ist so lustig und herzlich wie die Fasnacht bestenfalls selbst – beide lachen viel und tauschen zwei von wenigen Tambourmajo- am Ende dann noch die Nummern aus, um sich rinnen im Kanton Luzern. Sie füh- auch mal ohne «Grend» zu treffen. ren ihre beiden Guggenmusigen, Sabina Koch und Hanni Troxler, Sie sind beide Tambour- die Napfrugger und die Bohème, majorinnen beziehungsweise Hanni Troxler, Sie bezeich- nen sich als «Oberkapellmeisterin». Was ist der Unter- seit Jahren an der Fasnacht durch schied und wie kamen Sie beide zu Ihrem Amt? Sabine Koch: Ich bin seit 14 Jahren Tambourmajo- die Stadt. Die Hühnerhaut beim rin und war vorher Paukerin. Kurz vor der Fasnacht Zapfenstreich, das sei ihr Rausch. 2005 ist unser Major ausgestiegen und ich hatte gerade meinen Ellbogen gebrochen. Mir wurde dann das Amt vorgeschlagen, da man als Tambourmajo- rin «nur» mit dem rechten Arm den Majorenstab schwin- gen muss. Hanni Troxler: Ich spiele immer mit, ich kann nicht nur einen Stab halten, das wäre mir zu langweilig. Ich leite zudem die Proben und arrangiere die Stücke. Das lassen heute viele Guggenmusigen extern machen. Der Präsi- dent der Napfrugger ist eigentlich ein «Gouverneur», so wurde ich zur Oberkapellmeisterin. Wie klingen die Bohème und die Napfrugger unter Ihrer Feder respektive Stab? HT: Ich arrangiere eher Big-Band-mässig, da bei uns auch Februar 2019 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 11
FOKUS: RAUSCH «Genau, raus aus dem Trott! Ich bin ich! Ob es dazu Alkohol braucht oder nicht.» Hanni Troxler viele Saxofone mitspielen. Mein Vorbild sind die New Orleans Bands. SK: Bei uns ist das ganz anders, viel traditionel- ler. Wir sind einige der wenigen Musiken, die noch die ganz alten Stücke spielen, und wir spie- len ohne Noten. Das Zuhören ist bei uns zent- ral, alles ist ad hoc. Wir haben zehn Proben und letztes Jahr habe ich drei neue Märsche da rein- gemurkst, ein bisschen viel! (lacht) HT: Wir haben nur fünf Proben vor der Fas- nacht und mit Noten sind wir effizienter. Als ich aber das erste Mal mit Noten auftauchte, haben mich einige Männer ausgelacht, wir sassen dann halt plötzlich da, wie ein Orchester. Von 80 offiziellen Guggenmusigen und Wagen- sowie Maskengruppen in der Stadt Luzern werden nur ganz wenige von Frauen geleitet. Was, denken Sie, machen Sie anders als die zahl- reichen Männer in dieser Funktion? Hanni Troxler, *1964, aus Willisau ist seit 1989 Mit-- SK: Ich probiere einfach gerne aus, die drei Mär- glied bei den Napfrugger Willisau und seit 1992 ihre Tambourmajorin. Sie schreibt und arrangiert alle sche habe ich dann einfach angepfiffen, es ist ja Stücke. Die Napfrugger gibt es seit 1961. Fasnacht und wenn man falsch spielt, tant pis. Wir spielen ein Lied von Anfang bis Ende und fertig … wenn es geht einstimmig. (lacht) Respek- tiert werde ich aber total, man spricht mich mit «First seele haben und in eine Guggenmusig gehen, da kristallisiert Lady» an und die Jungen fragen mich, ob sie mich duzen man sich dann schnell heraus. dürfen. Ich geniesse diesen Bonus im Männerverein. SK: Das glaube ich auch, wir sind ja schon eher Unikate. (Beide HT: Ich mache es anders, aber nicht, weil ich eine Frau lachen) Ich hatte schon einmal eine Co-Tambourmajorin, bin, sondern weil unsere Guggenmusig anders ist. meine Nichte. Sie sagte bereits, wenn ich dann nicht mehr Unsere «Kakojazzkonzerte» sind legendär, unsere Kostü- wolle, würde sie dann vielleicht … me individuell und unsere Songs wurden auch schon durch einen Songcontest ausgewählt. Ich lebe die Spiel- Ist das schon bald oder machen Sie noch lange Fasnacht? freude vor und arbeite an einem warmen Klang. Musik HT: Meine Mutter ist 80 und geht noch an die Fasnacht, ich soll ausstrahlen, nicht wehtun. nehme sie mir zum Vorbild. Sobald aber ein Napfrugger kommt, der Tambourmajor sein will, gebe ich sehr gerne ab. Kennen Sie Frauen, die an solch einem Amt Interesse SK: Wenn ich am Donnerstagmorgen den Zapfenstreich an- haben könnten? Seit Jahren wird der Frauenanteil ja nicht pfeife und ich keine Gänsehaut mehr bekomme, höre ich auf. grösser. HT: Die Frage ist eher, wie man zu diesem Amt kommt. Hühnerhaut, ein schöne körperliche Auswirkung des Fas- Viele ziehen einfach den besten Schlagzeuger oder den nachts-Rausches … besten Bläser nach, diese Instrumente spielen oft SK: Die Fasnacht ist für mich nur Rausch, und zwar darum, Männer. Als Allererstes muss man einfach eine Narren- weil ich eine Woche einfach weg bin. Alle reden mit allen, 12 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Februar 2019
FOKUS: RAUSCH man duzt sich, jeder ist gleichwertig und ich kann plötz- lich drei Stunden schlafen und mir geht es tipp topp. «Ich probiere einfach gerne aus, die HT: Genau, raus aus dem Trott! Ich bin ich! Ob es dazu Al- drei Märsche habe ich dann einfach kohol braucht oder nicht. Ich trinke quasi keinen, mir angepfiffen, es ist ja Fasnacht und schmeckte das nie. Ich finde den Rausch im Tanzen und der Musik und in den Gesprächen mit den gut gelaunten wenn man falsch spielt, tant pis.» Leuten, die ich treffe. Der Rausch ist im besten Falle fein, sanft, und nicht aggressiv und grob. Sabina Koch Der Rausch wird aber auch kritisiert, die Saufgelage und dass es an der Fasnacht nur um Sex und Drogen gehe … Für euch ist der Rausch also positiv? SK: Ich bedauere es sehr, dass viele Menschen schon be- trunken an die Tagwache kommen – dieses Kribbeln in der Nacht auf Donnerstag gehört für mich stark dazu, das Aufgeregtsein. Auf dem Weg an die Tagwache sind früher alle nur ehrfürchtig und leise «getrippelt». HT: Ich werde in meiner Musikerszene auch aus- gelacht und gefragt, wieso ich mich auf die Fas- nacht «herunterlasse». Es geht mir aber nicht primär um die Musik, sondern um das An- ders-Sein. Für mich fängt der Rausch mit einem Lockerwerden an, und das passiert individuell. All denen, die meinen, es sei nur ein Saufgelage, sollen nüchtern mal schauen kommen. Also Sie empfehlen kritischen Leuten, nüchtern an die Fasnacht zu gehen? HT: Jeder, wie er will und kann, es soll ein mass- volles Gehenlassen sein: Tanz mal ausgelassen und sing mal falsch, lass den Künstler oder die Künstlerin raus! Was ich mir wünsche, ist mehr Vielfalt und Kreativität. SK: Es gibt so viele schöne Sachen zu sehen! All diese Theater und Masken. Es wird so viel gebas- telt, und das zu erleben ist sogar gratis. Bei der Musik muss man aufpassen, dass die Melodien nicht verloren gehen und es nur noch dröhnt. HT: Dieses Dröhnen ist für mich eher männlich, braucht es aber auch. Diese archaischen Stücke, das gefällt mir zwischendurch. Es braucht viel- leicht auch einen vielfältigeren Rausch, einen durch die Rolle. Alle Männer sollten einmal als Frau an die Fasnacht … Da benimmt man sich nachher ganz anders, Verkleiden schafft Ver- ständnis. Für mich ist die Fasnacht drum eigent- lich geschlechterlos. Sabina Koch, *1956, ist in der Luzerner Altstadt aufgewachsen, ihr Vater Bruno Koch hat die drittälteste Guggenmusig der Stadt, die Bohème, 1950 gegründet. Seit 1964 geht Sabina Koch an die Fasnacht. Februar 2019 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 13
FOKUS: RAUSCH REGLEMENTIERTE Ende der Fastnacht mit dem Os- tertermin zusammen, dessen Berechnung auf das im Jahr 325 AUSGELASSENHEIT einberufene Konzil von Nicäa zurückgeht. Es bestimmte, dass für die Berechnung des Oster- festes immer vom 21. März als Das Maskentragen ist seit jeher an feste Ter- dem Datum des Frühlingsbeginns auszugehen sei, unabhängig von den astronomischen Gegebenheiten. mine gebunden: weltliche, kirchliche oder Man einigte sich zudem darauf, dass der Ostertermin von der Tradition bestimmte. Das hat mit den auf den Sonntag nach dem jüdischen Pessachfest fest- heidnischen Wurzeln der Fastnacht zu tun. zusetzen sei. Da das Pessachfest in biblischer Zeit an Am Fastnachtsdienstag oder dann am Aschermittwoch, einem Vollmondtag abgehalten wurde (und nicht wie schreibt der deutsche Philologe und Volkskundler Paul seit dem 10. Jahrhundert am 15. Tag des ersten Frühlings- Sartori in seinem zwischen 1910 und 1914 erschienenen monats), feiern wir Ostern bis heute am Sonntag nach und drei Bände umfassenden Werk «Sitte und Brauch», dem ersten Frühlingsvollmond. wird das definitive Ende der Fast- Text: Kurt Lussi Bilder: Thomas Studhalter nacht an vielen Orten durch ein Kampf der Titanen Scheinbegräbnis zum Ausdruck ge- Die Beschränkung auf bestimmte Tage des Jahres bracht. Eine Puppe oder sonst ein Gegenstand, der die hat auch mit den heidnischen Wurzeln des Maskenlau- Fastnacht repräsentiert, wird vor ein Narrengericht ge- fens zu tun. In den Figuren und ihrem Treiben manifes- stellt und danach oft unter Nachäffung kirchlicher Zere- tiert sich der ewige Streit zwischen dem Winter und dem monien bestattet. Danach ist Schluss mit Ausgelassen- Frühling, zwischen lebensfeindlichen und lebensför- heit und Berauschung. dernden Mächten. In reformierten Gegenden treten be- Weltlicher zu und her ging es vor rund dreissig reits in den ersten Tagen nach Weihnachten dämonische Jahren in Luzern. 1986 verabschiedete der Grosse Rat, Gestalten auf, die sich oft wie in Trance heftige Schau- wie der Kantonsrat früher hiess, das «Fasnachtsgesetz», kämpfe liefern. An diesen Orten sind die Tage, an denen das heute Teil der Gastgewerbeverordnung ist. Darin das Maskentreiben stattfindet, von der Tradition vorge- sind unter anderem die Tage festgehalten, an denen das geben. So ziehen in Hallwil im Kanton Aargau die Bärze- Maskentragen gestattet ist. Gegenstand der grossrätli- libuebe, fünfzehn wilde Maskengestalten, ausschliesslich chen Diskussionen war auch, ob man künftig Fastnacht am Berchtoldstag (2. Januar) umher. Sie unterteilen sich (abgeleitet vom Mittelhochdeutschen «vastnaht») oder in Dürre und Grüne – Personifikationen des Winters und Fasnacht schreiben solle. Nach einer hitzigen Debatte des bald anbrechenden Frühlings. entschieden sich die Räte für Letzteres. Einen ähnlichen Brauch finden wir im aargaui- schen Effingen. Dort liefern sich am Sonntag nach Vergessenes Wissen Ostern – und nur dann – dürre Gestalten wie der Ho- Der Beschluss des Grossen Rates ist symbolträch- buspöönig oder der Schnäggehüüslig mit den grünen Vegeta- tig. Er kann als Eingeständnis gedeutet werden, dass sich tionsfiguren erbitterte Kämpfe, wobei die Grünen, die die Fastnacht in ihrer gegenwärtigen Form von ihren Repräsentanten des Frühlings und des neu erwachenden Wurzeln und ihrer ursprünglichen Bedeutung entfrem- Lebens, naturgemäss als Sieger hervorgehen. det und neue Formen angenommen hat. In Unkenntnis In diesen oft wiederbelebten Bräuchen, deren Ter- ihrer Entstehung und Bedeutung ist sie denn auch an mine von der Tradition festgesetzt sind und nicht vom vielen Orten zu einem durchorganisierten Festanlass ge- Gesetzgeber oder der Kirche, manifestiert sich die in worden, der sich, wie alle anderen öffentlichen Veranstal- allen Kulturen beheimatete Vorstellung vom ewigen tungen, nach gesetzlich festgelegten Terminen und Kreislauf der Natur, die im Herbst abstirbt, um im Früh- Reglementen zu richten hat. ling neu zu erwachen. Ohne Tod gibt es kein neues Leben. Der Tod ist folglich nicht das Ende aller Dinge, sondern Das Konzil von Nicäa Ende und Anfang zugleich. Insofern hat das Maskenlau- Doch auch vor der Verabschiedung des Luzerner fen des Frühjahrs nebst aller Fröhlichkeit und Ausgelas- «Fasnachtsgesetzes» war das fastnächtliche Treiben mit senheit auch eine ernste Seite, die in der Zentralschweiz all seinen Auswüchsen an bestimmte Tage gebunden. Bis von Gestalten verkörpert wird, die den Tod und somit heute hängen in katholischen Gegenden Beginn und den sich verabschiedenden Winter darstellen. 14 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Februar 2019
Hobuspöönig (Hobelspäne), Symbol für den Tannreesig (Tannreisig), Symbol für den Frühling und das leblosen Winter immergrünende Leben Stächpaumig (Stechpalme), Symbol für die Fruchtbarkeit Straumaa (Strohmann), Symbol für den unfruchtbaren Winter
#Zerscht#de#Urknall#jetzt#de#Öberfall#FCL#Fans SELBSTVERLUST AHOI! AUF IN DEN KOLLEKTIVEN RAUSCH Die «Masse» hat im Kulturbereich einen schweren Stand: werden – und das bereitet Lust und macht zugleich Mainstream, Stillosigkeit und Mitläufertum sind nur einige Angst! der vielen Vorurteile. Im Februar liegen Angst und Faszination Es handelt sich um die des Massenrausches eng beisammen: Es erwarten uns Angst, nicht mehr sich Konzerte, Sportevents, Après-Ski-Zelte und die Fasnacht. selbst zu sein, peinlich zu wirken, sich entgegen den Die berauschte Masse wurde vielfach als Phänomen pri- eigenen Prinzipien zu benehmen, zurückgehaltene Ge- mitiver Gesellschaften beschrieben und scheint einer fühle aufzuwecken, im Rausch wahnsinnig zu werden kultivierten Zivilisation entgegenzustehen. Seit der Auf- oder gar in ein politisch extremes Fahrwasser zu geraten. klärung gilt das mündige und kritische Individuum als Als Schutzwall gegen kollektive Räusche dient eine Grundpfeiler der Demokratie. Im Wider- kritische Haltung. Michel Foucault definierte die Kritik Text: Tobias Brücker spruch dazu steht der Rausch, welcher die als den Willen, nicht regiert zu werden. 1 Die Kritik individualisierenden Kräfte aufhebt und schafft Distanz, indem sie das eigene Selbst in ein reflek- das Allgemeine, Menschliche und Triebhafte vorführt. tiertes Verhältnis zum Kritisierten setzt. Das bewirkt Denn im Rausch verlieren wir die Kontrolle über uns politisch gesehen einen Schutz vor Verblendung, blinder selbst. Der eigene Wille wird von der Willkür abgelöst, Wut und Extremismus. Angesichts historischer Erfah- die Selbstkontrolle vom Ergriffensein und die Vernunft rungen ist dies gut und sinnvoll. Es gibt aber auch kollek- von der Leidenschaft. Im kollektiven Rauschzustand tive Räusche, die nur halb so schlimm sind und viel drohen wir zu Marionetten eines primitiven Spiels zu Spass bereiten. 16 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Februar 2019
FOKUS: RAUSCH Im kollektiven Rauschzustand drohen gebildet. Während der kollektive Rausch die einen schlicht und einfach nicht fasziniert, beginnen andere wir zu Marionetten eines primitiven ihn schlechtzureden. Gegenüber dem Pöbel, den Alkoho- Spiels zu werden – und das bereitet likern und den Minderbemittelten darf man sich mora- lisch erhaben fühlen. Lust und macht zugleich Angst! Bis heute werden kollektive Rauschzustände für die zeitweilige Aufhebung von Herkunft und Stand gelobt. So schreibt der Kulturwissenschaftler Klaus The- weleit: «In dieser Möglichkeit, sich als Einzelner aufzu- lösen und aufzugehen als integrierter, klassenloser Teil eines Ganzen, liegt die Faszination beim Besuch eines Fussballspieles.» 2 Dies ist zwar richtig, verleitet jedoch zur falschen Annahme, dass kollektive Ausnahmezu- stände soziale Gründe oder gar heilsame Wirkungen haben müssen. Damit übersieht man, dass das im Rausch erlebte Wir-Gefühl schon Lust genug bereitet. Im Grunde genommen wird nicht die Klassenlosigkeit gefei- ert, sondern die Selbst- bzw. Wir-Genügsamkeit des be- rauschten Kollektivs. Das lustvolle Wir-Gefühl lässt sich jedoch nicht vorprogrammieren, weil kollektive Räusche nicht nur positive Emotionen bilden. Wer viel Zeit in Stadien und Im Stadion und an der Fasnacht an der Fasnacht verbringt, sieht auch aufgelöste, trübsin- An der Fasnacht trinkt man hochprozentige Alko- nige und aggressive Menschen. Die aufgebaute Energie holika. Schon nach wenigen Holdrios und Kafi Zwätsch- des Rausches kann sich verschiedentlich entladen, und ge wird die visuelle Wahrnehmung unscharf und die teils trotzdem ist es diese Gefahr, welche erst das einmalige kakofonen Töne der Guggenmusig verwandeln sich in Gefühl verleiht, etwas Einzigartiges, Wahnsinniges und Symphonien – zu gut spielende Guggenmusigen verweh- Rüüdiges erlebt zu haben. Es ist der Reiz des Unvorher- ren den Fasnächtlern diese schöne Umwandlungsarbeit sehbaren, dass es so oder anders hätte ausgehen können. und werden deshalb zu Recht als «Orchester» verun- glimpft. Das gemeinsame Wippen vor den Bühnen sowie Plädoyer, die Rollenvielfalt zu das Verkleidet- und Anonymsein verbindet die Fasnächt- geniessen ler zu einem feiernden Kollektiv. Im Wissen, dass die an- Fasnächtlerinnen und Kurvengänger haben, deren ebenfalls berauscht sind, verbreitet sich ein wohli- anders als die prinzipiellen Skeptiker, oft ein humorvol- ges Gefühl, dass einem die Dummheiten und Masslosig- les Verhältnis zur Masse. In einer singenden Fankurve keiten zu einem späteren Zeitpunkt nicht vorgehalten lernt man, dass nicht jede Geste und jedes Wort überlegt werden. Hierin liegt eine Eigenheit der Luzerner Fas- und verantwortbar sein muss. Kollektive Räusche trai- nacht, an der vergleichsweise viele Menschen verkleidet, nieren die Fähigkeit, verschiedene Rollen innerhalb berauscht und tanzend sind – wodurch die Konfrontati- «einer» Identität auszuleben. Wie so oft ist es die Verhält- on mit den bloss Zuschauenden, Nüchternen und Unver- nismässigkeit und nicht die prinzipielle Ablehnung, kleideten den kollektiven Rausch kaum tangiert. Dies welche den mündigen Selbstschutz auszeichnet. Als mo- macht die aktiven Fasnächtler zu geselligen Komplizen, derne Menschen können wir an unterschiedlichen sozi- weshalb man «Wildfremde» plötzlich wie alte Freunde alen Wirklichkeiten in verschiedensten Rollen teilneh- behandelt. men. Tagsüber als Lehrerin im Klassenzimmer, abends Im Stadion wiederum besteht der kollektive als bärtiger Zwerg an der Fasnacht. Oder als gärtnernder Rausch darin, das erlebte Spiel nicht bloss der eigenen Papi im Blumenbeet und als Death-Metal-Fan im Sedel. Wahrnehmung, sondern jener von Tausenden Menschen Der Februar lädt dazu ein, dem eigenen Selbst eine Aus- zuzurechnen. Dies verlangt von den Zuschauenden, dass zeit zu schenken, um es danach wieder umso mehr lieb- sie sich ins Spielgeschehen reinsteigern (Fanatismus), zuhaben. dass sie einen Kontrollverlust zulassen (oder mit Alkohol und Drogen herbeiführen), dass sie sich für ihre Ekstase nicht schämen (Selbstironie, Hemmungslosigkeit und Humor) und dass sie gestisch mitmachen (La-Ola-Welle, Torjubel und Fangesänge). Diese scheinbar simplen 1 Michel Focault: Was ist Kritik?, Berlin 1992, S. 11. 2 Klaus Theweleit: «Hexenkessel». In: Kultort Stadion. Kompetenzen sind längst nicht bei allen Menschen aus- Hannover 2004, S. 96. Februar 2019 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 17
FOKUS: RAUSCH ABSTRAKTE KUNST MIT DIGITALEM MATERIAL Im Labor Luzern ist das Rauschen Kabelrollen hängen von der Wand, auf dem Tisch stehen zwei 3-D-Drucker. Mitten im Atelier steht mehr als nur indifferenter Lärm. Es eine vierbeinige Waschmaschine, blinkt, gibt ist auch eine philosophische Angele- Töne von sich und winkt mit der Bedienungsan- leitung. Die gehackte Maschine kann vieles, genheit, ein kreatives Spielfeld, ein ausser Kleider waschen. Hacken heisst nicht bloss mit Potenzial versehener Störeffekt. Eindringen in Computersysteme, wie der Begriff umgangssprachlich verwendet wird. Hacken ist Meistens gemieden, wird es in Fabio vielmehr als Haltung und Ethik zu verstehen, bei Colledanis Kunstprojekt «Video- der es um das Erforschen, Tüfteln und den ver- spielten Umgang mit Technik geht. Eine Wasch- sounds» zum erklärten Ziel. maschine umfunktionieren, den Zahlencode eines Schlosses knacken, oder – wie Colledani Als das Radio kein Signal empfing, die Verbindung am Te- dies in seinem Projekt tut – Videosignale in einen Mixer lefon gestört wurde oder das Bild des Fernsehers flacker- einspeisen. Das ist Hacken. te, war früher ein Rauschen zu vernehmen. Mit dem digi- talen Fortschritt verschwand dieses weitestgehend. Den- Technik als Blackbox noch ist die Bedeutung des Rau- Ein Loch im Kleid ist als Defekt fassbarer als eine Text & Bilder: Robyn Muffler schens als Störimpuls geblieben. Verbindungsstörung am WLAN-Router. Aber der grund- Fabio Colledani, Mitglied des sätzliche Unterschied dieser beiden Störungen liegt in Hackspace Labor Luzern, deutet in seinem aktuellen Pro- der Erwartungshaltung, die ihnen entgegengebracht jekt «Videosounds» das Rauschen um; er möchte es nicht wird. Das Innenleben technischer Geräte wird als un- umgehen, sondern künstlich erzeugen. Sein Wunsch ist durchsichtiges System akzeptiert, dessen Funktionswei- es, ein visuelles Signal hörbar zu machen. «Jedes elektro- se den Nutzenden komplett verschleiert bleibt. «Das ist nische ist auch ein potenziell akustisches Signal.» Angeschlossen an einen Verstärker kann er ein Bildsignal – modifiziert oder na- turbelassen – hörbar machen. Er betreibt hier also abstrakte Kunst mit digitalem Ma- terial. Tatsächlich ergibt sich je nach Be- schaffenheit der Eingabe bei der Übertra- gung ein anderes Rauschen. Das hänge bei- spielsweise von der Farbzusammenset- zung, der Form oder dem Lichtanteil im Video ab. «Natürlich ist es spekulativ: aber tatsächlich kann man aus dieser Übertra- gung gewisse Rückschlüsse ziehen, wie sich ein Kreis oder die Farbe Rot anhört», so Colledani. Kunst des Hackens Das Labor Luzern und dessen Com- munity dienen Fabio Colledani als Ort materieller und ideeller Ressourcen. Der Luzerner Hackspace ist ein Tüftlerort son- dergleichen. In den Regalen stapeln sich Fernseher aus den 80er-Jahren, meterlange Buchstabensuppe mal anders 18 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Februar 2019
FOKUS: RAUSCH es, was mich aufregt! Die Idee der Technik als eine Black- ausschliesslich als Blackboxes zu sehen, die nur dazu da box», so Felix Bänteli, Mitinitiant des Labors Luzern. sind, den Alltag zu erleichtern. Dazu meint Felix Bänteli: Diese Vorstellung sei nicht nur falsch, sondern verhee- «Wir nutzen die Geräte nicht so, wie sie funktionieren rend, weil sie die Hoffnung in die Technik als Retterin für sollten. Es geht vor allem darum, sich der Möglichkeiten alles möglich mache. «Als ob die Technik irgendwann alle der technischen Systeme spielerisch zu bedienen, um Probleme der Menschheit lösen würde». Die Leute seien Kunst zu machen.» Und, wie das bei Fabio Colledanis bequem geworden, kauften sich einen neuen Stabmixer, Projekt zum Rauschen der Fall ist: einen Weg zu finden, wenn der alte kaputt sei. Dabei funktionieren die Geräte sichtbare Signale erklingen zu lassen. meist gar nicht so hochkomplex, wie geglaubt werde. Und was sich nicht selber flicken lasse, sei dennoch toll – Labor Luzern: Jeden Mittwoch ab 20.00 Uhr weil es aufgebrochen, eingesehen und sich möglicherwei- steht der Hackspace allen Interessierten se umfunktionieren, sprich: hacken lasse. offen, um an Projekten zu arbeiten, sich mit Mitgliedern auszutauschen oder um einfach mal Laborluft zu schnuppern. Mitglied kann Wer Mitglied im Labor Luzern ist oder werden jeder und jede werden: Der jährliche Beitrag beträgt 100 Franken im Jahr. Die öffentliche möchte, benötigt keine Expertise im Umgang mit Tech- Werkstatt liegt an der Degenstrasse 3 in nischem. Er oder sie braucht auch nichts über Hacking Kriens. oder 3-D-Drucker zu wissen. Neugier allein ist wichtig, und die Lust, sich ein bisschen der digitalen Entfrem- dung zu stellen. Das Ziel lautet, technische Geräte nicht Digital trifft Analog: Im Labor Luzern wird geforscht und gewerkt. Februar 2019 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 19
ÜBERDACHT Wozu Rausch? Sich zu berauschen und damit positive Gefühle zu verstärken, ist also nicht der einzige Grund, weshalb psy- choaktive Substanzen konsumiert werden (Verstärkungsmotiv). Substan- zen helfen vermeintlich, um gesellig zu sein (soziales Motiv), Probleme zu verdrängen (Bewältigungsmotiv) oder um Zugang zu einer bestimmten Gruppe zu erlangen (Konformitätsmo- tiv). Für das Jugendalter gibt es sogar noch mehr Gründe, indem der Subs- tanzkonsum von Jugendlichen oft auch dazu genutzt wird, sich an zentralen Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz Zigaretten & Zoff im britischen (Ablösung von zu Hause, Identitätsbil- dung) abzuarbeiten. Die Eltern erleben Königshaus dies manchmal als wenig berauschend. Haben Sie einen Jugendlichen zu Hause, der sich demonstrativ bekifft Wozu Rausch? Um dazuzugehören, Das Studium war längst beendet, doch oder urige Männlichkeitsrituale in sich einzigartig zu fühlen, sich abzu- die Zigarette blieb. Angedrohte gesund- Saufgelagen mit seinen Kumpels grenzen, Grenzen auszuloten, Grenzen heitliche Folgen vermochten nicht zu zelebriert? Eben! Der Fachterminus zu überschreiten, Gefühle zu intensi- überzeugen. Doch dann trat Camilla lautet hier: «Doing gender with drugs». vieren, Gefühle zu betäuben … um zu Parker Bowles, genau genommen ein vergessen, zu erinnern, zu rebellieren, Foto von ihr, in Dr. Igels Leben. Für Dr. Wozu also Rausch? – Die Gründe zu geniessen, zu feiern, Igel war klar, jetzt ist Schluss. Sie hörte sind so vielseitig wie diejenigen zum Prof. Dr. Andreas Pfister, Schmerzen zu lindern, wie Camilla mit dem Rauchen auf. Verzicht. Sie erinnern sich? Camilla Sozialpädagoge, lehrt und forscht an der Hochschule Luzern – Sozia- den Stress zu vergessen, Parker Bowles. le Arbeit mit dem Arbeitsschwer- sich eine neue Liebe Die Gründe, weshalb Menschen punkt «Chancengerechte Präven- zuzutrauen … psychoaktive Substanzen (Nikotin, PS: Denken Sie, es ist zu viel oder tion und Gesundheitsförderung». Derzeit leitet er u. a. ein vom Alkohol, Cannabis, Kokain etc.) neh- zu früh des Rausches, dann wenden Schweizerischen Nationalfonds – Gründe gibt es men und ausnahmsweise oder regel- Sie sich vertrauensvoll an www.ak- gefördertes Forschungsprojekt, viele, zweifellos auch mässig den Rausch suchen, sind nie zent-luzern.ch oder an Sucht Schweiz das den Hintergründen der er- schwerten Inanspruchnahme von widersprüchliche. nur individueller, sondern immer auch (Gratisnummer 0800 104 104). Suchtprävention durch sozioöko- sozialer, gesellschaftlicher und biolo- nomisch benachteiligte Familien Ein Motiv, dem gisch-körperlicher Natur. Viele ver- nachgeht. Rausch zu entsagen, ist schiedene Faktoren bestimmen Camilla Parker Bowles, die frühere demnach, ob und wie Menschen psy- Geliebte und jetzige Ehefrau von choaktive Substanzen nutzen: Um- Charles, dem englischen Kronprinzen. welt, Individuum und Substanz – die Das Kettenrauchen von Camilla war sogenannte «Sucht-Trias» – beein- ein dauerndes Ärgernis zwischen den f lussen sich dabei wechselseitig: beiden. Camilla begegnete mir Ende Welche Kultur und welcher Umgang 2018 am Pensionsabschiedsfest von herrscht in einer Gesellschaft in Bezug Eveline Winnewisser, der langjährigen auf gewisse Substanzen (z. B. Apéro- Leiterin der Suchtpräventionsstelle der kultur in der Schweiz)? Ist man mit Stadt Zürich. Am Abend wurde auch kritischen Lebensereignissen konfron- referiert. Die Referentin – wir nennen tiert (etwa Unfall, Krankheit) und kann sie hier Dr. Igel – brachte Camilla ins dabei auf ein sorgendes soziales Umfeld Spiel. Dr. Igel schlug sich während ihres zurückgreifen? Welche individuellen Studiums einer fest- und konsumfreu- und genetischen Dispositionen beste- digen Studierendengruppe zu, so die hen? Wie ist die Substanz beschaffen? Erzählung. Jahre zogen in die Lande. Ist sie leicht verfügbar? 20 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Februar 2019
ÜBERDACHT Wozu Rausch – im Club? der Autor dieses Textes einer ist, auf aus anderen Breitengraden stammende Menschen oder solche aus LGBT+ Zugegeben, der Club scheint ideale Aber was sind denn die Aspekte Communitys trafen und einen Umgang Voraussetzungen zu bieten, um sich des Clubs, die spannender sind als der finden mussten. dem Rausch hinzugeben: Entkoppelt Rausch? Der Club ist enorm facetten- von den im Alltag geltenden Zeiten, reich – in ihm beziehungsweise anhand Es sind Facetten wie diese, die domiziliert an vor nicht erwünschten von ihm kann eine Vielfalt von Fragen den Club spannender machen als die Blicken sicheren Orten und befeuert verhandelt werden. Etwa ästhetischer Räusche, die darin zweifellos statt- von repetitiven Rhythmen Natur: Welche neuen Kompositions- finden. Und wenn man dann doch Remo Bitzi ist Redaktions- mitglied des Zweikommasie- und je nach Szene Substan- und Aufführungspraxen (elektroni- will, kann man auch fragen: Wozu ben Magazins und einer der zen, die dem Durchhalte- scher) Musik drängen sich aktuell auf? Rausch – im Club? Vielleicht, weil man Verleger hinter Präsens Editio- vermögen, der Psychoakti- Hier bietet der Club mit seinem poten- einfach nicht weiss, was man Besseres nen. Mitunter in diesen Rollen hat er sich über mehr als eine vität und/oder dem Hor- ten Soundsystem, seinen einigermas- mit der zur Verfügung stehenden Zeit Dekade ausführlich mit gegen- monhaushalt zugutekom- sen intimen Grössenverhältnissen anfangen soll. Vielleicht, weil man die wärtiger Musik und Sounds – men. Wer an dieser Stelle und einem hoffentlich neugierigen Welt, den Alltag, sich selbst vergessen und dabei auch mit dem Club – auseinandergesetzt. nun aber ein flammendes Publikum optimale Voraussetzungen, möchte. Vielleicht, weil man eine Plädoyer auf den Rausch um mit neuen Hörerlebnissen zu ex- Ausrede sucht für den nächsten Be- Illustration: Till Lauer im Club erwartet, verfasst perimentieren. such eines Ortes, wo man auf Men- in bester Gonzo-Manier Es sind ebenfalls gesellschaftli- schen treffen kann, die Fragen wie die mit Erfahrungsberichten aus den che Fragen, die sich im Club aufdrän- obigen verhandeln wollen. So oder so Berghains und Fabrics oder auch Ke- gen: Wie etwa gestaltet man einen sind Clubs wichtige Orte, die es zu gelbahnen und Südpolen dieser Welt, Space, der für Minderheiten, die den schaffen und zu besuchen gilt. wird enttäuscht. Denn der Rausch ist Club immer wieder für sich erobern einer der Aspekte des Clubs – so die (müssen und mussten), safe ist, aber Annahme des Autors –, über die es sich nicht exklusiv für andere? Wie kann am wenigsten zu schreiben lohnt. Zu man einen Dialog zwischen den ver- interessant sind andere Facetten. Und schiedenen Gruppen schaffen? Und «Überdacht», das sind zwei davon abgesehen könnte man behaup- wie lässt sich das dabei Verhandelte in Antworten auf eine Frage: Profis aus Theorie und Praxis ten, dass – wie es so schön pathetisch den Alltag transferieren? Im Club äussern sich monatlich und heisst – jene, die sich erinnern, gar nicht werden diese Fragen seit einiger Zeit aktuell zu Kultur und ihren erst dagewesen sind. verhandelt, da weisse Cis-Heteros, wie Wirkungsbereichen. Februar 2019 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 21
NACHSCHLAG tur-Ecke. Jedenfalls ennet dem grossen Teich. Für jene, die dem Alkohol ab- schwören, gibt es in Übersee längst Ausgangsalternativen fernab jeglicher Promillegrenzen, beispielsweise Juice statt Pub Crawls und Raves mit Sonnen- statt Strobolicht. Ich wäre schon zufrieden gewe- sen, hätte ich in Restaurants, Bars und Clubs – ja, ich mutiger Mensch habe weiterhin am sozialen Leben teilgenom- men – zwischen mehr als fünf non-al- koholischen Getränken wählen können. Zu meiner eigenen Überraschung war es tatsächlich eine der grössten Herausforderungen, etwas Trinkbares zu finden, das nicht direkt zu Karies, Anti-Rausch Schluckauf und/oder eingeschlafenen Geschmacksnerven führte. Ich hatte eher damit gerechnet, dass ich die meiste Energie fürs Rechtfertigen der Alkohol-Abstinenz aufwenden werde. versehen hatte. Der Es blieb nicht bei diesen beiden Aha-Er- Ich habe dem Alkohol abgeschworen. vorangehende Ne- lebnissen. Da das Experiment besser Mit ernüchternder Bilanz. bensatz verrät im lief als erwartet, entschied ich mich, es Übrigen alles, was es für unbestimmte Zeit fortzusetzen. Ich Die Entscheidung, keinen Alkohol mehr über meinen Alkoholkonsum zu wissen stellte eher erstaunt fest, dass Ausgehen zu konsumieren, fällte ich auf der Toi- gilt: A) Ich schätze virtuos gemixte nach wie vor Spass macht, wenn auch lette eines Fünfsternehotels im Enga- Cocktails, mit Liebe gekelterte Weine weniger lang dauert. Ich lernte gleich- din. Nicht etwa, weil ich und konsumiere beides regelmässig zeitig eine überhebliche Seite an mir Text: Carole Barmettler die blitzblanke Keramik- und natürlich verantwortungsvoll. B) kennen, die mich aufrichtig anwiderte. schü ssel au f g r u nd Ich fürchtete die sozialen Folgen meiner Manchmal ertappte ich mich dabei, wie überteuerter, fancy-benannter Cock- WC-Erleuchtung. C) Die Disziplin war ich jede und jeden mit alkoholischem tails vollkotzte und mich nie mehr in bis anhin nicht meine beste Freundin. Getränk in der Hand innerlich verur- dieser Situation wiederfinden wollte. In keinem Lebensbereich, notabene. teilte: «Du hast dich nicht im Griff. Im Nein, der eigentliche Grund war ein Mit meinem verhalten kommu- Gegensatz zu mir. Ich ertrage das Leben anderer, günstiger wohl, aber nicht nizierten und überhaupt ziemlich lasch auch nüchtern, ich Heldin!» Für meinen minder hässlich: Mein Magendarm- gesteckten 14-Tage-Ziel wäre ich von Hochmut bestrafte ich mich bald selber, grippe-geplagter, ausgemergelter Kör- «Sober Curious»-Anhängerinnen und die Trink-Ausnahmen häuften sich. per schrie nach Schonung. Und die be- -Anhängern zweifellos belächelt wor- Schliesslich kündigte mir die Disziplin inhaltete mitunter, Alkohol aus meinem den. Sie überhöhen das Nicht-Trinken ungefähr neun Monate nach der Bade- Leben zu verbannen. Während zwei zu einem achtsamen-Slash-produkti- zimmer-Erleuchtung ihre Freundschaft, Wochen keinen Tropfen, so der Plan, ver-machenden-Slash-sich-selber-nä- riss mir mein selbst verliehenes Heldin- den ich im Stillen für mich fasste und her-bringenden-Slash-alles-ermögli- nen-Abzeichen von der Brust und zog um Enttäuschungen vorzubeugen, chenden-Lifestyle. Und der bewegt sich mit der Alkohol-Abstinenz von dannen. sogleich mit dem Label «Experiment» gerade aus der Trend- in die Subkul- Vermutlich ins Engadin. 22 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Februar 2019
LITERATUR FEBRUAR 2019 Beobachtet scharf: Jürg Halter KULTURERWACHEN IN Programm schaffen, zugänglich für alle. «Das ist jetzt nicht total innovativ, aber hier gibt es das noch nicht. Dann EBIKON machen wir das doch einfach mal!» So schaut mit Jürg Halter am 15. Februar bereits ein national bekannter – Lesung – Der quadratische Sonnen-Saal ist Name in Ebikon vorbei. Der Berner In Ebikon ist viel los. Aus der dörflichen ein charmanter Ort, dessen grosse Schriftsteller, Musiker und Performan- Gemeinde entwickelt sich ein immer Fenster, hohe Wände und abgewetzter cekünstler liest aus seinem neu erschie- urbaner werdender Lebensraum, der Holzboden sofort ein angenehmes nenen Debütroman «Erwachen im 21. in den nächsten zehn Jahren rasant an Gefühl vermitteln. Obwoh l noch nicht Jahrhundert». Eine Geschichte von Dichte zunehmen wird. Und wo sich ganz fertig, ist Bernhards Vision klar obsessiver Reflexion über die gegen- Menschen ansiedeln, entstehen neue zu sehen. Die Plattform Kultursonne wärtige Gesellschaft. Mit Witz, Wut Plätze für Kultur. sei aber nicht nur auf diesen schönen und scharfen Beobachtungen schaut Das fiel Reto Bernhard auf, als er Raum verhaftet, betont er. Nur wenige Halter auf eine desaströse Wirklichkeit. 2017 mit seiner Familie nach Ebikon Gehminuten entfernt liegt der Löwen, Zusammen mit dem Luzerner Schlag- zog. Für den freien Theaterschaffenden ein ehemaliges Hotel und Asylheim, zeuger Fredy Studer, der die Lesung war schnell klar, dass er hier etwas auf dessen Säle ebenfalls neu belebt werden musikalisch begleiten wird, verspricht die Beine stellen will. Auf der Suche und der Kultursonne als zweite Bühne das ein spannendes erstes Kapitel in nach einem geeigneten Ort wurde er dienen. der neuen Kulturwelt Ebikons zu im Zentrum Ebikons fündig. Der leer Wenn Bernhard von seinem werden. stehende Saal des Restaurants Sonne «Kulturbaby» erzählt, strahlt er: «Einer- Nikola Gvozdic – von den Einheimischen früher liebe- seits soll es lokale Kulturschaffende auf voll Dorfplatz genannt – soll wiederbe- die Bühne bringen, aus Ebikon, aus dem lebt werden. So entstand im September Rontal, aber auch nationale und inter- Lesung Jürg Halter mit Fredy Studer: «Erwachen im 21. Jahrhundert» letzten Jahres der Verein «Kultursonne nationale Gruppen.» Man wolle ein FR 15. Februar, 20 Uhr Ebikon». breites und qualitativ hochstehendes Kultursonne, Ebikon Februar 2019 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 23
MUSIK FEBRUAR 2019 gen. Und nicht zu vergessen die Ravegemeinde sowie damit verbunden elektroni- sche Klänge, die zum Tanz bis zum Morgengrauen an- regen. Mit Ausnahme letzte- ren Beispiels bieten auch die Triotage ein Programm, welches das Prädikat «beson- ders berauschend» verdient. Allen voran schlägelt das Marimba Trio, dessen Kom- positionen an Steve Reichs Omni Selassi und East Sister sind zu dritt unterwegs Minimal Music der Siebziger erinnern. Wobei das doch Trance ist? Jener Begriff, der MUSIK ZUM RAUSCH oft in Kombination mit Ekstase ge- braucht wird, steht für einen Dämmer- zustand, dessen bekannteste Form Ein jeder Mensch weiss zum Rausch 1985 unter dem Titel «Di- jedes Wesen unter dem Begriff «Schlaf» vine Horsemen: The Li- kennt. Nun schläft man im Neubad zu erzählen. Doch was ist der Rausch ving Gods of Haiti». Der aber hoffentlich nicht ein, sondern in der Musik? Eine kleine Rausch- Film zeigt im Rahmen ei- schreitet unbewusst in bewusstseins- Recherche mit Rückschluss auf die nes Rituals tanzende erweiternde Zustände wie beispiels- Triotage im Neubad. Menschen, die unter repe- weise beim Trio Süd: Eine extra zusam- titiven Trommelklängen mengestellte Band um Marie-Cécile – Festival – sowie Gesängen plötzlich wegtreten Reber (electr), Valeria Zangger (dr) und Die Trio-Form ist seit jeher prädesti- und ihre Aussenwelt nicht mehr Patricia Bosshard (vio), die durch niert für einen Rausch. Egal ob im Po- wahrnehmen: Eine Gottheit ist in sie Soundscaping Sphären entstehen lässt. wertrio mit Leadinstrument, Tieftöner gefahren – der Zustand der Ekstase. Das Pendant bildet die erstmalige Zu- und Schlagwerk oder bei anderen Ähnliche Szenarien lassen sich in sammenarbeit von Raphael Loher (p) Konstellationen: Der f lotte Dreier grössenteils afroamerikanischen mit Manuel Troller (g) und Julian Sar- sorgte schon des Öfteren für besonde- Kirchgemeinden beobachten, wo durch torius (dr): Drei Künstler, welche seit re musikalische Momente der Verzü- Call’n’Response-Riten seitens der Jahren mit Ekstase-, Rausch- oder ckung. Doch was kann ein Rausch in Priester sowie den immer gleichen Trancezuständen in der Musik arbeiten. der Musik auch noch sein? Die an den Groove-Patterns ekstatische Zustände Bereits eingespielte Gruppen – Yser, Neubad’schen Triotagen auftretenden hervorgerufen werden können – herr- Edward Bloom oder East Sister – sorgen Musikerinnen sowie Musiker, welche lich dargestellt, oder besser: persifliert zudem für hoffentlich ebenfalls berau- im Zuge der hier vorliegenden Recher- im Musikclip zu Disclosures «When A schende Momente im Popbereich, er- che befragt wurden, nannten fast Fire Starts To Burn» oder in einer Szene gänzt durch ausserkantonale (Omni ausschliesslich einen Begriff: Ekstase. der Musikkomödie Blues Brothers, Selassi, La Truffa) und internationale Ein rauschhafter, tranceartiger Zu- worin James Brown den Pfarrer mimt; (Lotto, La Force, Liebeslied) Formati- stand, ohne Kontrolle über das norma- «Do you see the light?!» Die Vielfalt der onen. Fehlt nur noch eins: rauschender le Bewusstsein und oftmals im religi- Ekstase ist ohnehin riesig: Für den ei- Applaus. ösen Kontext. nen ist das Konzert einer jazzigen Stoph Ruckli Zu diesem Phänomen stellen Gnawa-Psychedelic-Rock-Band eine Maya Derens Aufnahmen von Voo- solche berauschende, ekstatische Er- doo-Ritualen erstmals ein eindrückli- fahrung. Die andere senkt ihren Kopf Triotage Festival DO 21. bis SA 23. Februar, jeweils ab ches Zeugnis dar, aufgenommen zwi- schwer geflasht zu Klängen von Stoner, 20.30 Uhr schen 1945 und 1951, veröffentlicht Delta Wave Music oder Trommelklän- Neubad und Industrie 9, Luzern 24 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Februar 2019
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