Neuropsychologischer und klinischer Verlauf bei nichtneoplastischer limbischer Enzephalitis - Krause und ...

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Journal für

 Neurologie, Neurochirurgie
 und Psychiatrie
             www.kup.at/
 JNeurolNeurochirPsychiatr   Zeitschrift für Erkrankungen des Nervensystems

Neuropsychologischer und
                                                                               Homepage:
klinischer Verlauf bei
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nichtneoplastischer limbischer                                   JNeurolNeurochirPsychiatr

Enzephalitis                                                           Online-Datenbank
                                                                         mit Autoren-
Lehner-Baumgartner E
                                                                      und Stichwortsuche
Baumgartner C, Prayer D, Serles W
Journal für Neurologie
Neurochirurgie und Psychiatrie
2003; 4 (3), 24-28

                                                                                            Indexed in
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                     www.kup.at/JNeurolNeurochirPsychiatr
NEUROPSYCHOLOGISCHER UND KLINI-
                       SCHER VERLAUF BEI NICHTNEOPLASTI-
                       SCHER LIMBISCHER ENZEPHALITIS
                       E. Lehner-Baumgartner1, W. Serles1, D. Prayer2, C. Baumgartner1
                       1
                       Abt. f. Klinische Epilepsieforschung, Univ.-Klinik f. Neurologie und 2Abt. f. Neuroradiologie,
FALLBERICHT            Univ.-Klinik f. Radiodiagnostik, Wien

                                               Patienten bei ca. 60 % antineuronale     weils einige Sekunden bis maximal
     ZUSAMMENFASSUNG                           Antikörper (anti-Hu, anti-Ta und
                                               anti-Ma) nachgewiesen werden kön-
                                                                                        2 Minuten andauerten. Die Gedächt-
                                                                                        nis- und Orientierungsstörungen
                                               nen [1]. In ca. 50 % der Fälle besteht   waren letztlich so stark ausgeprägt,
     Wir präsentieren den Krankheitsver-       als Primärtumor ein kleinzelliges        daß der Patient bereits wenige Wo-
     lauf eines 61jährigen Patienten mit       Lungenkarzinom, wobei auch Asso-         chen nach Krankheitsbeginn seiner
     nichtparaneoplastischer limbischer        ziationen mit anderen Tumoren, wie       Tätigkeit als selbständiger Verleger
     Enzephalitis unter besonderer Berück-     Thymomen, Lymphomen, Kolon- und          nicht mehr nachkommen konnte.
     sichtigung der neuropsychologischen       Hodenkarzinomen, in der Literatur        Der Patient wurde deshalb im Mai
     Funktionsstörungen. Die Krankheit         beschrieben wurden [1]. Eine andere      2001 an einer neurologischen Abtei-
     manifestierte sich mit einer ausge-       Ursache für eine limbische Enzepha-      lung aufgenommen, wobei sich im
     prägten zeitlichen und räumlichen         litis besteht in einer Infektion mit     EEG links fronto-temporal Zeichen
     Orientierungsstörung, einer deutli-       Herpes-simplex-Virus Typ 1 [2].          einer erhöhten zerebralen Erregungs-
     chen Beeinträchtigung des Langzeit-       Kürzlich wurde auch eine Variante        bereitschaft und ein Herdbefund
     gedächtnisses bei unauffälligem           der limbischen Enzephalitis beschrie-    zeigten. Der Patient wurde daraufhin
     Arbeits- bzw. Kurzzeitgedächtnis          ben, bei der sowohl eine paraneo-        auf Phenytoin 200 mg Tagesdosis
     sowie in häufigen fokalen Anfällen        plastische als auch eine herpetische     eingestellt, ein Kontroll-EEG im wei-
     (ausgeprägte autonome und affektive       Ursache ausgeschlossen werden            teren Verlauf ergab einen unauffälli-
     Symptome, fakultative Bewußtseins-        kann (sog. nichtherpetische oder         gen Befund. Die Liquordiagnostik
     störung) mit teilweiser sekundärer        nichtparaneoplastische limbische         und die kraniale CCT waren unauf-
     Generalisierung. In der MRT zeigte        Enzephalitis) [3, 4].                    fällig, die neuropsychologische Dia-
     sich in den FLAIR-, T2- und diffusi-                                               gnostik zeigte ein dysmnestisches
     onsgewichteten Sequenzen eine             Obwohl die neuropsychologischen          Syndrom. Der Patient wurde mit der
     deutlich hyperintense Darstellung         Defizite, und hier insbesondere die      Diagnose einer „nichtkonvulsiven
     der rechten mehr als der linken Hip-      Gedächtnisstörung, das wohl we-          Epilepsie“ entlassen, eine ambulante
     pokampusformationen. Unter einer          sentlichste Kardinalsymptom der          MRT-Untersuchung wurde empfoh-
     Kortisontherapie konnte eine Stabili-     Erkrankung darstellen, wurden bis-       len.
     sierung im Zustandsbild des Patien-       her nur wenige Patienten mit limbi-
     ten erreicht werden. Aus neuropsy-        scher Enzephalitis einer exakten         Im Juni 2001 kam es zu einer massi-
     chologischer Sicht kann die limbische     neuropsychologischen Diagnostik          ven Verschlechterung des Allgemein-
     Enzephalitis als Modellerkrankung         unterzogen [5–8]. Ziel des vorlie-       zustands mit allgemeiner Schwäche,
     für das Studium der Funktion der          genden Fallberichts ist es deshalb,      Übelkeit, Desorientierung und fragli-
     Hippokampusformation für das              den Krankheitsverlauf eines Patienten    chen akustischen Halluzinationen.
     menschliche Gedächtnis angesehen          mit nichtparaneoplastischer limbi-       Der Patient wurde zur weiteren Dia-
     werden – Kurzzeit- vs. Langzeitge-        scher Enzephalitis zu präsentieren,      gnostik an unserer Abteilung aufge-
     dächtnis, anterograde vs. retrograde      wobei das Hauptaugenmerk auf die         nommen. Klinisch-neurologisch
     Amnesie, episodisches vs. semanti-        Darstellung der neuropsychologi-         zeigte sich dabei bis auf eine deutli-
     sches Gedächtnis, zeitliche Spezifität    schen Funktionsstörungen gelegt          che antero- und retrograde Amnesie
     der retrograden Amnesie.                  wurde.                                   und eine Orientierungsstörung ein
                                                                                        unauffälliger Status. Anamnestisch
                                                                                        war zu diesem Zeitpunkt ferner ein
                                                                                        massiver Gewichtsverlust von 76 auf
     EINLEITUNG                                KASUISTIK                                64 kg bei 176 cm Körpergröße inner-
                                                                                        halb von 2 Monaten nach Krankheits-
                                                                                        beginn bemerkenswert. In der struk-
     Die limbische Enzephalitis ist eine       Klinischer Verlauf                       turellen Abklärung mittels MRT zeigte
     seltene Erkrankung, die durch ein                                                  sich auf der FLAIR-Sequenz sowie
     amnestisches Syndrom, epileptische        Bei dem 61jährigen, rechtshändigen       auf den T2- und diffusionsgewichte-
     Anfälle und psychiatrische Auffällig-     Patienten kam es Anfang Mai 2001         ten Sequenzen eine deutlich hyper-
     keiten (Persönlichkeitsveränderun-        relativ akut zu einer Gedächtnis- und    intense Darstellung des rechten mehr
     gen, Irritabilität, depressive Verstim-   Orientierungsstörung sowie zu mehr-      als des linken Hippokampus ohne
     mungen, Angstzustände und Hallu-          fach täglich auftretenden Zuständen      pathologische KM-Anfärbung bei
     zinationen) gekennzeichnet ist [1].       mit „komischem“ Gefühl in der            ansonsten unauffälligen Verhältnis-
     Die Ätiologie ist heterogen: In den       Magengegend, Übelkeit, Hyperven-         sen – kompatibel mit einer limbi-
     meisten Fällen besteht eine paraneo-      tilation, eingeschränkter Reagibilität   schen Enzephalitis (Abb. 1). Unter
     plastische Genese, wobei bei diesen       und polytopen Parästhesien, die je-      der Annahme einer paraneoplasti-

24    J. NEUROL. NEUROCHIR. PSYCHIATR. 3/2003
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FALLBERICHT
schen Genese erfolgte eine extensive    hiermit keine befriedigende Anfalls-        Funktionen, die auch in der neuro-
Tumorsuche (unter anderem mittels       kontrolle erzielt werden konnte.            psychologischen Kontrolluntersu-
CT des Thorax und Abdomens, Ultra-                                                  chung objektivierbar war. Der Patient
schall des Hodens, Ganzkörper-PET,      Unter der Arbeitshypothese einer            konnte Ende Oktober erneut in häus-
Ganzkörper-Knochenszintigraphie,        limbischen Enzephalitis wurde eine          liche Pflege entlassen werden. In der
Mammographie, Gastroskopie, Kolo-       Therapie mit intravenösen Immun-            Folge wurde durch den Patienten
noskopie, Bestimmung der Tumor-         globulinen begonnen (0,4 g/kg KG            bzw. dessen Angehörige die Cortison-
marker, Bestimmung der antineuro-       durch 5 Tage in Abständen von               therapie mit Ende des Jahres 2001
nalen Antikörper anti-Hu, anti-Ri,      4 Wochen), die zu einer gewissen            vollständig abgesetzt, worauf es er-
anti-Jo), die negative Befunde er-      Stabilisierung, jedoch zu keiner            neut zu einer Verschlechterung der
brachte. Die serologische Vaskulitis-   grundlegenden Besserung des                 kognitiven Funktionen kam. Zudem
diagnostik verlief ebenso negativ.      Zustandsbildes führte. Der Patient          traten auch mehrfach täglich die
Differentialdiagnostisch wurde auch     konnte schließlich in häusliche Pflege      oben beschriebenen Zustände im
an eine Hashimoto-Enzephalitis ge-      entlassen werden, bedurfte aufgrund         Sinne von fokalen Anfällen mit aus-
dacht, wobei die Schilddrüsenhor-       seines ausgeprägten amnestischen            geprägten autonomen und affektiven
monwerte, das TSH und die Schild-       Syndroms jedoch einer ständigen             Symptomen auf.
drüsenautoantikörper im Normbe-         Betreuung.
reich waren. Ebenso blieb die Dia-                                                  Von Mitte Februar 2002 bis Anfang
gnostik bezüglich eines Morbus          Im August 2001 erlitt der Patient           April 2002 ereigneten sich 4 schwere
Whipple negativ. Da die oben be-        seinen ersten generalisierten tonisch-      generalisierte tonisch-klonische An-
schriebenen anfallsartigen Zustände     klonischen Anfall. Nach einem neu-          fälle, bei denen sich der Patient unter
unter der Therapie mit Phenytoin        erlichen Immunglobulinzyklus wurde          anderem eine Sternum- und eine
nach kurzfristiger Besserung erneut     eine intravenöse Cortisonstoßthera-         Humerus-Fraktur zuzog. Er wurde
täglich auftraten, wurde die anti-      pie durchgeführt, an die eine orale         deshalb Mitte April 2002 erneut
epileptische Therapie auf Carba-        Erhaltungstherapie angeschlossen            stationär aufgenommen. In einer
mazepin und in weiterer Folge auf       wurde. Unter dieser Therapie kam es         Kontroll-MRT bei der Aufnahme
Gabapentin umgestellt, wobei auch       zu einer Besserung der mnestischen          zeigten sich hyperintense Verände-
                                                                                    rungen im Hippokampusbereich
                                                                                    beidseits, wobei nunmehr die linke
  Abbildung 1: Magnetresonanztomographie. Die axialen FLAIR-gewichteten             Seite deutlicher betroffen war;
                                                                                    zudem waren auch die fornikalen
  Sequenzen zeigen hyperintense Signalveränderung im Hippokampus beid-
                                                                                    Bündel auf den T2-gewichteten
  seits (rechts mehr als links)                                                     Sequenzen deutlich signalgesteigert.

                                                                                      Abbildung 2: Iktales EEG während
                                                                                      des prolongierten Video-EEG-Moni-
                                                                                      torings. EEG-Anfallsmuster, regio-
                                                                                      nal linkstemporal (rhythmische
                                                                                      Theta-Tätigkeit). Klinisch zeigte sich
                                                                                      ein fokaler Anfall mit autonomer
                                                                                      Symptomatik

                                                                                 J. NEUROL. NEUROCHIR. PSYCHIATR. 3/2003       25
FALLBERICHT
     In einem prolongierten Video-EEG-          in einem Tagesheim betreut werden.      fanden sich bei der verzögerten Wie-
     Monitoring konnten zwei Anfälle mit        Im weiteren Verlauf verbesserte sich    dergabe (nach ca. 30 Minuten) mas-
     Bewußtseinsstörung, Hyperventila-          seine kognitive Leistungsfähigkeit so   sive Leistungseinbußen.
     tion, oralen und Handautomatismen          weit, daß der Patient nunmehr wie-
     abgeleitet werden, wobei sich im           der untertags alleine zu Hause leben    In der Kontrolluntersuchung vom
     iktalen EEG bei einem Anfall ein           kann. Die Anfallssituation konnte       Juni 2002 zeigte sich eine weitere
     rechtstemporales Anfallsmuster, bei        stabilisiert werden: Bis Jänner 2003    Verschlechterung der neuropsycholo-
     dem zweiten Anfall ein linkstempo-         traten keine weiteren generalisierten   gischen Kennwerte. Der Patient war
     rales Anfallsmuster zeigte (Abb. 2).       tonisch-klonischen Anfälle mehr auf,    zeitlich, räumlich und situativ völlig
     Im interiktalen EEG zeigten sich eine      es kommt jedoch alle 1–2 Wochen         desorientiert (die Orientierung zur
     generalisierte und bitemporale Ver-        zum clusterartigen Auftreten von        eigenen Person war noch erhalten),
     langsamung, es konnten jedoch              fokalen Anfällen mit vegetativer        weshalb eine weitere häusliche Be-
     keine Spikes abgeleitet werden.            Begleitsymptomatik (Hyperventila-       treuung nicht mehr möglich schien.
     Unter einer erneuten oralen Corti-         tion, Sinustachykardie, Angst), wobei   Die Gedächtnisleistung hatte sich so
     sontherapie kam es zu einer deutli-        das Bewußtsein erhalten bleibt.         stark verschlechtert, daß der Patient
     chen Frequenzreduktion der zuvor                                                   das klinische Bild eines anterograden
     täglichen fokalen Anfälle, generali-       Neuropsychologischer Verlauf            und retrograden amnestischen Syn-
     sierte tonisch-klonische Anfälle tra-                                              droms bot.
     ten nicht mehr auf. Auch die mne-          Die wesentlichen Ergebnisse der
     stischen Leistungen besserten sich         neuropsychologischen Testungen im       Aufgrund der massiven Orientierungs-
     langsam. Eine MRT-Kontrolle Anfang         Verlauf sind in Tabelle 1 zusammen-     und Gedächtnisstörung mußte der
     Juni 2002 ergab keinen Hinweis auf         gefaßt. Bei der ersten stationären      Patient unmittelbar nach der stationä-
     ein florides Geschehen, was als mög-       Aufnahme im Juni 2001 stand aus         ren Entlassung in einem Tagesheim
     liches Ansprechen auf die Therapie         neuropsychologischer Sicht die aus-     betreut werden. Durch die Fortfüh-
     gewertet wurde. Allerdings zeigte          geprägte Orientierungsstörung (zeit-    rung der oralen Cortisontherapie
     sich eine deutlich ausgeprägte bilate-     lich und räumlich) im Vordergrund.      verbesserte sich jedoch die kognitive
     rale Hippokampusatrophie. Der Pati-        Zudem zeigten sich bei unauffälligem    Leistungsfähigkeit so weit, daß der
     ent konnte Anfang Juni 2002 in häus-       Arbeits- bzw. Kurzzeitgedächtnis im     Patient seit Ende des Jahres 2002
     liche Pflege entlassen werden.             Bereich des Langzeitgedächtnisses       wieder untertags alleine zu Hause
                                                deutliche Defizite, d. h., obwohl das   leben kann. In der neuropsychologi-
     Aufgrund der massiven Orientierungs-       unmittelbare Wiedergeben von kur-       schen Untersuchung vom Jänner
     und Gedächtnisstörung mußte der            zen Geschichten oder Wortlisten         2003 finden sich eine diskrete zeit-
     Patient nach der Entlassung zunächst       weitgehend unbeeinträchtigt war,        liche und eine deutliche räumliche
                                                                                        Orientierungsstörung. Im eigenen
                                                                                        Umfeld des Patienten ist jedoch die
      Tabelle 1: Zusammenfassung der erhobenen neuropsychologischen Parameter           räumliche Orientierung weitgehend
                                                                                        gegeben (z. B. kann der Patient alleine
      Testverfahren       Juni 2001             Juni 2002          Jänner 2003          zum Supermarkt um die Ecke einkau-
      Standard Progressive Sehr gute            Nicht              Sehr gute            fen gehen und findet auch wieder
      Matrices (SPM)       intellektuelle       durchgeführt       intellektuelle       zurück in die Wohnung). Die situa-
                           Begabung                                Begabung             tive Orientierung ist wieder voll her-
      Mini Mental          Unterhalb der Norm   Unterhalb der Norm Normal               gestellt. Die anterograde Amnesie
      State (MMS)          (Summenwert = 23)    (Summenwert = 20) (Summenwert = 26)     hat sich nur minimal gebessert, aber
      Zahlenspanne         Normal               Normal             Normal               der Patient kann mit diversen Kom-
      (vor- und rückwärts)                                                              pensationsstrategien die Gedächtnis-
      Blockspanne          Normal               Normal             Normal               störung so weit kontrollieren, daß er
      (vor- und rückwärts)                                                              wieder zu Hause betreut werden
      Verbales Langzeit-   Unterhalb der Norm   Keine Erinnerung   Quasi keine
                                                                                        kann. Die retrograde Gedächtnisstö-
      gedächtnis (Wieder- (Summenwert = 6)      (Summenwert = 0)   Erinnerung           rung hat sich gegenüber der antero-
      gabe nach 30 Min.)                                           (Summenwert = 3)     graden deutlicher erholt, wenngleich
      Visuelles Langzeit-  Nicht durchgeführt   Keine Erinnerung   Quasi keine
                                                                                        weiterhin deutliche Erinnerungslük-
      gedächtnis (Wieder-                       (Summenwert = 0)   Erinnerung           ken vorhanden sind. Viele dieser
      gabe nach 30 Min.)                                           (Summenwert = 3)     „verlorenen“ Erinnerungen kann der
      Erfragen autobio-    Deutlich             Keine Erinnerung   Deutlich             Patient aber aufgrund seiner sehr
      graphischer Daten    eingeschränkt        (außer Name)       eingeschränkt        guten intellektuellen Begabung „re-
                                                                                        konstruieren“.

26   J. NEUROL. NEUROCHIR. PSYCHIATR. 3/2003
FALLBERICHT
                                          Neben der Hippokampusformation             unser Patient konnte länger vor
DISKUSSION                                sind für die Konsolidierung auch der
                                          angrenzende entorhinale und peri-
                                                                                     Krankheitsbeginn zurückliegende
                                                                                     Gedächtnisinhalte besser abrufen als
                                          rhinale Kortex, der anteriore und der      solche, die sich in einem kürzeren
Die nichtneoplastische limbische          mediale Thalamus sowie Strukturen          Abstand vor Krankheitsbeginn oder
Enzephalitis ist eine seltene Entität,    des basalen Vorderhirns (mediales          danach ereignet hatten. In Überein-
die allerdings bei allen Patienten mit    Septum, diagonales Band von Broca)         stimmung mit anderen Berichten ist
einem amnestischen Syndrom und            erforderlich [9].                          dies mit der Annahme einer zeitlich
einer (schwer behandelbaren) Tem-                                                    spezifischen Bedeutung des Hippo-
porallappenepilepsie in die differen-     Bei unserem Patienten zeigten sich         kampus bei retrograden Amnesien
tialdiagnostischen Überlegungen           sowohl eine anterograde als auch           kompatibel. Länger zurückliegende
einbezogen werden sollte. Differen-       eine retrograde Amnesie, wobei die         Ereignisse dürften demnach aus dem
tialdiagnostisch sind eine Hashimoto-     anterograde Amnesie deutlicher aus-        Hippokampus „ausgelagert“ und
Enzephalitis, eine zerebrale Manife-      geprägt war. Das neuropsychologi-          dann in parahippokampalen oder
station im Rahmen eines systemi-          sche Charakteristikum der anterogra-       neokortikalen Strukturen gespeichert
schen Lupus erythematodes, eine           den Amnesie besteht in der Unfähig-        werden [6].
Rasmussen-Enzephalitis, eine herpe-       keit, neu gelernte Informationen
tische limbische Enzephalitis und vor     (semantisches Gedächtnis) und Ereig-       Des weiteren zeigte unser Patient
allem eine paraneoplastische limbi-       nisse (episodisches Gedächtnis) frei       eine ausgeprägte räumlich-topogra-
sche Enzephalitis abzugrenzen [3].        wiederzugeben bzw. diese wieder-           phische Orientierungsstörung (d. h.,
Bisher wurden die kognitiven Defi-        zuerkennen. Dies deutet darauf hin,        es traten Probleme in der realen
zite von Patienten mit limbischer         daß die Hippokampusformation ins-          Orientierung und der Fortbewegung
Enzephalitis nur in wenigen Fällen        besondere für das Lernen (Enkodie-         im dreidimensionalen Raum auf),
mittels serieller formaler und exten-     rung) und das Wiedergeben (freier          was mit einer Schädigung des poste-
siver neuropsychologischer Testbatte-     Abruf und Wiedererkennen) von              rioren Hippokampusanteils vereinbar
rien systematisch untersucht [5–8].       neuen, bewußten Gedächtnisinhal-           ist. Diese Beobachtung deckt sich
Im Gegensatz zu anderen Erkrankun-        ten von Bedeutung ist [10].                mit der Untersuchung von Hirayama
gen mit amnestischen Syndromen                                                       et al. [8], die bei einer Patientin mit
(Korsakoff-Syndrom, Zustand nach          Bei der retrograden Amnesie kann es        limbischer Enzephalitis die räumlich-
Hypoxie, bilaterale Thalamusinfarkte      – wie bei unserem Patienten – zudem        topographische Orientierungsstörung
etc.) zeigte sich bei unserem Patienten   zu einem unterschiedlichen Betrof-         als wesentliches Symptom beschrie-
eine selektive, bilaterale Affektion      fensein verschiedener Systeme des          ben.
von medialen temporalen Strukturen.       Langzeitgedächtnisses kommen, wo-
Dies ermöglicht einen eindrucksvol-       bei insbesondere Gedächtnisinhalte         Zusammenfassend ist das oft relativ
len Einblick in die Bedeutung dieser      mit einem autobiographischen Bezug         akut ausgeprägte amnestische Syn-
Strukturen für das menschliche            nicht mehr erinnert werden (episo-         drom bei nichtneoplastischer limbi-
Gedächtnis, wobei die folgenden           disches Gedächtnis), während das           scher Enzephalitis prinzipiell medi-
Aspekte besondere Beachtung ver-          „Faktenwissen“ (u. a. Benennen des         kamentös behandelbar und einer
dienen.                                   Bundespräsidenten, alphabetische           neuropsychologischen Rehabilitation
                                          Reihe etc.) durchaus intakt sein kann      zugänglich, was die Notwendigkeit
Die deutliche Diskrepanz zwischen         (semantisches Gedächtnis). Unsere          einer korrekten und raschen Diagno-
einem erhaltenen Kurzzeit- bzw.           Ergebnisse stützen somit die Hypo-         stik unterstreicht [3, 4, 7].
Arbeitsgedächtnis und einem hoch-         these, daß die Einprägung episodi-
gradig beeinträchtigten Langzeitge-       scher Gedächtnisinhalte stärker an         Literatur:
dächtnis bestätigt die Hypothese          einen intakten Hippokampus gebun-          1. Gultekin SH, Rosenfeld MR, Voltz R, Eichen J,
einer Repräsentation des Kurzzeit-        den ist als die semantischer [11].         Posner JB, Dalmau J. Paraneoplastic limbic en-
gedächtnisses im Assoziationskortex       So konnten Varga-Khadem et al. [12]        cephalitis: neurological symptoms, immunologi-
(verbales Kurzzeitgedächtnis: tem-        in einer Studie bei jungen Erwachse-       cal findings and tumour association in 50 patients.
                                                                                     Brain 2000; 123: 1481–94.
poro-parietaler Assoziationskortex        nen, deren Hippokampi im Kindes-
                                                                                     2. Gordon B, Selnes OA, Hart J Jr, Hanley DF,
der sprachdominanten Hemisphäre;          alter degeneriert waren, feststellen,      Whitley RJ. Long-term cognitive sequelae of
visuell-räumliches Kurzzeitgedächt-       daß diese zwar Schulwissen erwerben        acyclovir-treated herpes simplex encephalitis.
nis: parietaler Assoziationskortex der    und behalten, jedoch keine persönli-       Arch Neurol 1990; 47: 646–7.
nicht sprachdominanten Hemisphäre)        chen Ereignisse erinnern konnten.          3. Bien CG, Schulze-Bonhage A, Deckert M,
                                                                                     Urbach H, Helmstaedter C, Grunwald T, Schaller
sowie die Bedeutung der Hippokam-                                                    C, Elger CE. Limbic encephalitis not associated
pusformation für Konsolidierungsvor-      Zudem zeigte sich eine zeitlich spe-       with neoplasm as a cause of temporal lobe epi-
gänge in das Langzeitgedächtnis.          zifische retrograde Amnesie, d. h.,        lepsy. Neurology 2000; 55: 1823–8.

                                                                                  J. NEUROL. NEUROCHIR. PSYCHIATR. 3/2003                  27
FALLBERICHT
  4. Mori M, Kuwabara S, Yoshiyama M, Kanesaka T,        8. Hirayama K, Taguchi Y, Sato M, Tsukamoto T.      ential effects of early hippocampal pathology on
  Ogata T, Hattori T. Successful immune treatment        Limbic encephalitis presenting with topographi-     episodic and semantic memory. Science 1997;
  for non-paraneoplastic limbic encephalitis. J Neurol   cal disorientation and amnesia. J Neurol Neuro-     277: 376–80.
  Sci 2002; 201: 85–8.                                   surg Psychiatry 2003; 74: 110–2.
  5. Martin RC, Haut MW, Goeta-Kreisler K,               9. Schuri U. Gedächtnisstörungen. In: Sturm W,
  Blumenthal D. Neuropsychological functioning           Herrmann M, Wallesch CW (Hrsg). Lehrbuch der
  in a patient with paraneoplastic limbic encepha-       klinischen Neuropsychologie. Swets & Zeitlinger
  litis. J Int Neuropsychol Soc 1996; 2: 460–6.          Publishers, Lisse, NL, 2000; 375–91.
  6. Kapur N, Brooks DJ. Temporally-specific retro-      10. Delis DC, Lucas JA, Kopelman MD. Memory.        Korrespondenzadresse:
  grade amnesia in two cases of discrete bilateral       In: Fogel BS, Schiffer RB, Rao SM (eds). Synopsis
  hippocampal pathology. Hippocampus 1999; 9:                                                                ao. Univ.-Prof. Dr. med. Christoph
                                                         of Neuropsychiatry. Lippincott Williams &
  247–54.                                                Wilkins, Philadelphia, 2000; 169–91.                Baumgartner
  7. Bak TH, Antoun N, Balan KK, Hodges JR.
                                                         11. Tulving E, Markowitsch HJ. Episodic and
                                                                                                             Abt. für Klinische Epilepsieforschung
  Memory lost, memory regained: neuropsycho-
                                                         declarative memory: role of the hippocampus.        Universitätsklinik für Neurologie
  logical findings and neuroimaging in two cases
  of paraneoplastic limbic encephalitis with radi-
                                                         Hippocampus. 1998; 8: 198–204.                      1090 Wien, Währinger Gürtel 18–20
  cally different outcomes. J Neurol Neurosurg           12. Vargha-Khadem F, Gadian DG, Watkins KE,         E-Mail:
  Psychiatry 2001; 71: 40–7.                             Connelly A, Van Paesschen W, Mishkin M. Differ-     christoph.baumgartner@univie.ac.at
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