News Asyl - Vorläufige Aufnahme: Veranstaltungsreihe und FachInfo Im Gespräch mit regionalen Partnern: ABO - KKF OCA

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Asyl
News
Nr. 4, Dezember 2020

KKF

Vorläufige Aufnahme:
Veranstaltungsreihe und FachInfo
Seite 3
                                       Fokus: Altern anderswo

Fachinformationen

Im Gespräch mit regionalen
Partnern: ABO
Seite 10

Wissenstransfer Horizonte

Anreizsysteme in der Asylsozialhilfe
Seite 15
Editorial                                                             Übersicht
Liebe Leserinnen, liebe Leser                                         Neues aus der KKF
                                                                      Wechsel in Team und Trägerschaft                             4
Nach zwölf Jahren, in denen ich die KKF als kompetente und
relevante Organisation erleben durfte, werde ich mich Ende
Jahr aus der Aufsichtskommission (AK) verabschieden. Wenn
                     ich ins Jahr 2008 zurückblicke, als ich in       Fokus: Altern anderswo
                     die AK eintrat, erinnere ich mich daran,
                                                                      Welche Forderungen, welche Förderung?                        5
                     dass damals Integration zum ersten Mal
                     als Ziel der Ausländerpolitik definiert          Wohnen im hohen Alter: Wünsche und
                     wurde. Obwohl der Begriff «Integration»          Befürchtungen geflüchteter Personen                          6
                     noch vage und eine breite Diskussion
                                                                      Härtefallbewilligung berücksichtigt das Alter                 7
                     darüber erst am Entstehen war, herrschte
                     doch mehr oder weniger Konsens, dass             Stolpersteine statt Chancen für Leila Jaber                  8
Integration ein Prozess ist, der sowohl Zugewanderte wie auch
                                                                      Radieschen statt Radiergummi                                 9
Einheimische betrifft und auf einen chancengleichen Zugang
aller zum wirtschaftlichen und sozialen Leben abzielt.

Heute sind die Integrationskriterien und die Anforderungen            Fachinformationen
an die Zugewanderten im Ausländerrecht klarer definiert, sie
                                                                      Asylwesen Schweiz
wurden in den vergangenen Jahren aber auch schrittweise
verschärft. Die zentrale Rolle guter rechtlicher, wirtschaftli-       Im Gepräch mit regionalen Partnern: ABO                      10
cher und sozialer Rahmenbedingungen, die eine erfolgreiche
                                                                      Organisation der Seelsorge bei Asylsuchenden                 12
Integration erst ermöglichen, ist hingegen zunehmend aus
dem Blickfeld geraten.                                                Auf Menschen zugehen im Rückkehrzentrum                      13

                                                                      Private Unterbringung abgewiesener
Diese Entwicklung ist auch im Asylbereich des Kantons Bern
                                                                      Personen                                                     14
sichtbar: Gerade haben wir einen Systemwechsel erlebt,
der die Eigenverantwortung der Geflüchteten für ihre Inte-            Wissenstransfer Horizonte
gration klar in den Vordergrund stellt. Man geht davon aus,
                                                                      Anreizsysteme in der Asylsozialhilfe                         15
dass es allen Zugewanderten gleichermassen möglich ist,
die Sprache zu lernen, eine Ausbildung zu absolvieren und             Rechtsprechung
in der Arbeitswelt zu bestehen. Es gibt kaum Ausnahme-
                                                                      Weitere Hürde für das Familienasyl                           16
regelungen für Personen, die etwa wegen gesundheitlicher
Einschränkungen, fehlender Schulbildung oder aufgrund                 International
hohen Alters erschwerte Voraussetzungen haben. So müs-
                                                                      EU-Migrationspakt: Kurswechsel verpasst                      17
sen vorläufig Aufgenommene auf engem Raum mit vielen
anderen in Kollektivunterkünften wohnen, bis sie eine Amts-
sprache auf dem Niveau A1 beherrschen und eine Arbeit oder
einen Ausbildungsplatz gefunden haben. Dass viele ältere
                                                                      Kurzinfos                                                   19
Geflüchtete wahrscheinlich nie eine Stelle finden werden, liegt
auf der Hand, erst recht in Zeiten einer globalen Krise, die
den Zugang zum Arbeitsmarkt für alle Bevölkerungsgruppen
beeinträchtigt.

Wir brauchen deshalb auch heute dringend Organisationen
wie die KKF, die einen unabhängigen Blick auf das Asyl- und
Flüchtlingswesen werfen und sich für diejenigen Geflüchteten
stark machen, die ihr neues Leben in der Schweiz nicht mit
optimalen Startbedingungen und vollen Kräften anpacken
können! Ich wünsche der KKF daher von Herzen, dass sie
                                                                      Impressum
diese wichtige Rolle auch weiterhin tatkräftig wahrnimmt.
                                                                      Redaktion Franziska Müller Gestaltung Source Associates AG
                                                                      Druck Druckerei Läderach
Ronald Baeriswyl, Leiter HEKS Regionalstelle Bern,                    Kontakt KKF-OCA, Effingerstrasse 55, 3008 Bern

Mitglied der Aufsichtskommission

AsylNews, 4/2020                                                  2
Neues aus der KKF
Weiterbildung                               Veranstaltungsreihe                           nicht vollzogen werden kann. Der Begriff
                                                                                          «vorläufig» täuscht. Rund 90 Prozent
                                                                                          aller vorläufig aufgenommenen Perso-
                                                                                          nen bleiben dauerhaft in der Schweiz. Ihr
Horizonte-Programm                          Vorläufige Aufnahme                           Aufenthaltsstatus ist aber mit verschie-
Frühling 2021                               Zwischen Integration und                      denen Einschränkungen verbunden. Die
                                                                                          komplett überarbeitete FachInfo bietet
                                            Ausgrenzung
Mit dieser Ausgabe des AsylNews erhal-                                                    einen umfassenden Überblick über die
ten Sie das Weiterbildungsprogramm          In den nächsten zwei Jahren stehen            Ausgestaltung der vorläufigen Aufnah-
Horizonte für das erst Halbjahr 2021. Die   zahlreiche Übertragungen von vorläu-          me. Sie beantwortet Fragen zu Mobili-
Themen der vier Kurse sind der Umgang       fig aufgenommenen Personen aus der            tät, Familiennachzug, Integration und
mit Tabus, Herkunftsland Iran, Arbeits-     Zuständigkeit der regionalen Partner          Erwerbstätigkeit, Sozialhilfe sowie Vor-
integration sowie zwei Jahre neue Asyl-     an die Gemeinden an. Der Umgang mit           aussetzungen für eine Härtefall- oder
verfahren.                                  dieser Personengruppe bringt für die          Niederlassungsbewilligung für vorläufig
Die Kurse richten sich in erster Linie an   Gemeinden spezifische Fragen und Her-         aufgenommene Personen.
Fachpersonen des Berner Asyl- und Mi-       ausforderungen mit sich.
grationsbereichs, stehen aber auch wei-     Im Rahmen der Veranstaltungsreihe                 FachInfo «Vorläufige Aufnahme»:

teren Interessierten offen. Rechtzeitige    «Vorläufige Aufnahme – Zwischen Inte-             www.kkf-oca.ch/fi-vorlaeufige-aufnahme

Anmeldung lohnt sich, da die Kursplätze     gration und Ausgrenzung» informiert
beschränkt sind.                            die KKF Mitarbeitende der Sozialdienste
                                            und der Gemeinden über den rechtlichen        Freiwilligenarbeit von
    Programm und Anmeldung:                 Status, über Hintergründe und Impli-          Geflüchteten: Was ist zu
    www.kkf-oca.ch/horizonte                kationen sowie über Einschränkungen
    Auskünfte: Daphna Paz                                                                 beachten?
    daphna.paz@kkf-oca.ch                   und Möglichkeiten mit der vorläufigen
                                            Aufnahme. Die Teilnahme an den Ver-
                                                                                          Freiwilliges Engagement bietet geflüch-
                                            anstaltungen ist kostenlos.
                                                                                          teten Menschen Beschäftigung, eine
AsylNews 2021                               •   Bern, 2. Februar 2021
                                                                                          Tagestruktur und soziale Anschluss-
                                                                                          möglichkeiten. Gemeinnützige Organi-
                                            •   Biel, 9. Februar 2021 (auf Französisch)
                                                                                          sationen und kirchliche Institutionen
                                            •   Thun, 16. Februar 2021
                                                                                          schätzen ihren Einsatz. Allerdings befin-
                                            •   Burgdorf, 23. Februar 2021
Künftig drei zweisprachige                                                                det man sich aufgrund der Rechtslage
Ausgaben                                                                                  bei der Freiwilligenarbeit Geflüchteter
                                                 Online-Anmeldung:
                                                 www.kkf-oca.ch/veranstaltungen-va        schnell in einem Graubereich: Unter wel-
Im nächsten Jahr bündeln wir unsere              Auskünfte: Hansjörg Rüegsegger           chen Umständen dürfen Personen des
Ressourcen auf drei Ausgaben pro Jahr,           info@kkf-oca.ch, 031 385 18 11           Asylbereichs Freiwilligenarbeit leisten?
die im Frühjahr, Sommer und Herbst                                                        Welche Möglichkeiten der Anerkennung
erscheinen. Das AsylNews bleibt zwei-                                                     ihres Engagements sind gestattet? Muss
sprachig: Neu bringen wir die Texte in
Deutsch und Französisch in der gleichen
                                            Dienstleistungen                              für die Freiwilligen eine Unfallversi-
                                                                                          cherung abgeschlossen werden? Solche
Ausgabe, wobei jeweils die Fachinforma-                                                   Fragen beantwortet die neue FachInfo
tionen zum Asylwesen im Kanton Bern                                                       «Freiwilligenarbeit von Geflüchteten»
integral auf Französisch übersetzt wer-     Ausgestaltung der                             der KKF und der Reformierte Kirchen
den. Auch das Editorial und wichtige        vorläufigen Aufnahme                          Bern-Jura-Solothurn (Refbejuso). Sie bie-
Informationen aus der KKF lesen Sie                                                       tet eine gute Grundlage, um die Rechts-
weiterhin in beiden Sprachen.               Bei der vorläufigen Aufnahme handelt          lage sorgfältig zu klären und Vor- und
Für die fachkundige Übersetzung vom         es sich um keine eigentliche ausländer-       Nachteile sowie allfällige Konsequenzen
Deutschen ins Französische können           rechtliche Aufenthaltsbewilligung, son-       vor den Einsätzen zu diskutieren.
wir weiterhin auf unseren langjährigen      dern um eine Ersatzmassnahme im Asyl-
Übersetzer Sylvain Bauhofer zählen,         verfahren. Sie wird angeordnet, wenn              FachInfo «Feiwilligenarbeit von

dem wir an dieser Stelle herzlich für       das Asylgesuch zwar abgelehnt wurde,              Geflüchteten»:
                                                                                              www.kkf-oca.ch/fi-freiwilligenarbeit
seine Arbeit danken.                        die Wegweisung aus der Schweiz aber
                                                                  3
Neues aus der KKF

Team                                        Trägerschaft

Auf Wiedersehen, Lisa                       Wechsel in der Aufsichts-
                                            kommission der KKF
Lisa Schädel nahm
am 1. Juni 2017 ihre                        Michel P.F. Esseiva, Alt-Synodal- bzw.
Tätigkeit als Ver-                          Landeskirchenrat und Präsident der
antwortliche für                            römisch-katholischen Kirchgemeinde
Information und                             Biel/Bienne und Umgebung, und Ronald
Kommunikation                               Baeriswyl, Leiter der Regionalstelle Bern
bei der KKF auf.                            des Hilfswerks der Evangelischen Kir-
Über drei Jahre hat                         chen Schweiz Heks, treten per Ende Jahr
Sie dafür gesorgt,                          aus der Aufsichtskommission der KKF
dass die Leserinnen und Leser mit dem       aus. In den vergangenen Jahren haben
AsylNews gehaltvolle und interessante       sie sich mit viel Herzblut für Geflüchtete
Fachinformationen erhalten. Auf den         im Kanton Bern eingesetzt. Wir danken
1. Januar 2020 übernahm sie neben           euch, Michel und Ronald, für euer lang-
diversen Kommunikationsaufgaben die         jähriges Engagement bei der KKF und
Projektleitung von «jobs4refugees». In      wünschen euch von Herzen alles Gute.
diesem Jahr hat sie die Vernetzung mit
Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern           Neu in der Aufsichtskommission der
vorangetrieben, eine digitale Plattform     KKF dürfen wir Barbara von Mérey,
aufgebaut, Öffentlichkeit für das Thema     Landeskirchenrätin der römisch-katho-
geschaffen und die Weichen gestellt für     lischen Landeskirche des Kantons Bern,
den Transfer des Projekts in weitere        und Inge Hubacher, Vorsteherin des
Regionen. Nun möchte Lisa beruflich         Amts für Integration und Soziales der
neue Wege beschreiten und verlässt die      Gesundheits-, Sozial- und Integrations-
KKF per Ende 2020. Wir danken dir,          direktion des Kantons Bern, begrüssen.
Lisa, für dein Engagement bei der KKF       Den Dialog zwischen den Landeskirchen
und wünschen dir für deine berufliche       und staatlichen Stellen im politisch bri-
und private Zukunft alles Gute!             santen Themenbereich der Ausländer-
                                            und Asylfragen weiterzuführen und zu
                                            stärken, ist wichtiger denn je. Wir freuen
Herzlich Willkommen,                        uns auf die Zusammenarbeit mit euch,
Claudia                                     Barbara und Inge.

Am 1. November
2020 durften wir
Claudia Kaiser als
Mutterschaftsver-
tretung in unserem
Team willkommen
heissen. Die Erzie-
hungswissenschaft-
lerin arbeitet seit fünf Jahren im Migra-
tionsbereich. In der KKF übernimmt sie
als Fachmitarbeiterin des Bereichs Bil-
dung und Sensibilisierung bis Ende Mai
2021 die Aufgaben von Myriam Egger,
die im Mutterschaftsurlaub ist. Wir
freuen uns über diese Zusammenarbeit.
     www.kkf-oca.ch/ueber-uns

AsylNews, 4/2020                                               4
Fokus:
              Altern anderswo
              Welche Forderungen, welche Förderung?
              Im neu strukturieren Asyl- und Flüchtlingsbereich des Kantons Bern beginnt
              früh das Alter und enden die Integrationsfördermassnahmen. Das wirft bei
              den Betroffenen und bei Fachinstitutionen Fragen auf: Was soll und kann
              möglich sein an beruflicher, wirtschaftlicher und sozialer Integration in den
              Lebensjahren zwischen fünfzig und dem hohen Alter? Bis solche Fragen geklärt
              sind, lernt Herr Hamid Sprachen beim Gärtnern, sucht Frau Jaber unverdros-
              sen eine Stelle, lebt Frau Sarawany gerne im Heim und bringt Frau Murugaverl
              Menschen ihrer Community das hiesige Alters- und Pflegewesen näher.

Ermöglichen, nicht fallen lassen                                   wickeln sollen, eine Landessprache lernen, sich fit machen für
                                                                   den Einstieg in den Arbeitsmarkt, fliesst das Geld sehr knapp.
Was tun mit Menschen Ü50, die die Integrationskriterien
nicht erfüllen, resp. aufgrund ihrer Biografie, ihrer Ver-         Wenn der Kanton und die regionalen Partner die «Leerstelle»
fassung und ihres Alters nicht schnell eine Sprache lernen         Integration alternder Menschen im Asyl- und Flüchtlings-
und deren Eintritt in den ersten Arbeitsmarkt kaum rea-            bereich nun füllen müssen, können sie sich an Best Practices
listisch ist? Mit dieser Frage sind die regionalen Partner         der Behörden und Institutionen anderer Bereiche orientie-
seit der Einführung von NA-BE vermehrt konfrontiert. Ein           ren. Mit Fragen des Wohnens im Alter beschäftigen sich
Dreh- und Angelpunkt für die physische und psychische              Raumplanerinnen und Stadtarchitekten, Fachkommissio-
Gesundheit und das Wohlbefinden ihrer Klientinnen und              nen in transdisziplinärem Austausch, Seniorenräte und
Klienten ist die Wohnsituation. Und die wiederum hängt             Parlamente. Gesundheitsinstitutionen wie Curaviva oder
davon ab, ob eine Person die Integrationskriterien erfüllt.        Spitex erweitern stetig ihre transkulturelle Kompetenz und
Asylsuchende haben keine freie Wohnungswahl und können             ihre Angebote. Ein Schlüsselfaktor, damit die Integration
die Kollektivunterkunft nicht verlassen. Eine Ausnahme             verschiedener Interessenlagen gelingt, ist die Partizipation.
gibt es nur für vulnerable Personen, wobei das Alter als
solches bis anhin keine Vulnerabilität darstellt. Vorläufig        Während sich Migrantinnen und Migranten die Teilhabe
aufgenommene Personen müssen ein Zertifikat auf dem                erkämpft haben, bleibt Flüchtlingen und Asylsuchenden die
Sprachniveau A1 sowie die Aufnahme einer Erwerbstätig-             Repräsentation in diesen Prozessen weitgehend verwehrt.
keit oder Ausbildung nachweisen, um von der Kollektivun-           Während Inklusion von Generationen und Bevölkerungs-
terkunft (Phase 1) in die 2. Phase des individuellen Wohnens       gruppen verschiedener Herkunft die gesellschaftlichen Dis-
in der Gemeinde wechseln zu können.                                kussionen in Bezug auf Gesundheit, Alterssicherung und
Letztlich bleibt es den KU-Leitungen überlassen, möglichst         Wohnverhältnisse prägen, regeln Status und Integrations-
gute Bedingungen für Menschen zu schaffen, die nicht               kriterien prioritär den Ausschluss geflüchteter Personen.
«erfolgreich» sind, sie im Zweibett- statt im Achtbettzim-         Wie heimisch und handlungsfähig sollen und dürfen sich
mer unterzubringen, zum Beispiel, oder die Vernetzung mit          Asylsuchenden und vorläufig aufgenommen Personen
Organisationen zu befördern, die ihnen Raum und Mittel             fühlen und verstehen? Dieser Frage muss sich der Kanton
bieten, ein soziales Leben zu führen. Der Spielraum ist eng,       stellen, wenn er mit den regionalen Partnern den Integra-
denn in der 1. Phase, in der geflüchtete Personen sich ent-        tionsspielraum für die Ü50 präziser definiert.

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Fokus: Altern anderswo

Wohnen im hohen Alter:                                               diese Personen untergebracht sind und unter welchen Bedin-
                                                                     gungen sie leben. Was Daniela Luvisutti berichtet wird ist,
Wünsche und Befürchtungen                                            dass das Leben in der Familie nicht immer unproblematisch
                                                                     ist, gerade wenn Personen auf Pflege angewiesen sind. «Die
geflüchteter Personen                                                oftmals bereits überlasteten Familien haben häufig nicht die
                                                                     Kapazität, auf die Bedürfnisse von pflegebedürftigen Fami-
                                                                     lienmitgliedern einzugehen. So erhalten ältere Personen nicht
Die Wohnsituation ist ein Schlüsselfaktor                            genügend Aufmerksamkeit und fühlen sich einsam, obwohl
für ein würdiges Altern. Sie beeinflusst die                         sie physisch umgeben sind von ihren Familienmitgliedern.»
Gesundheit, die Selbstbestimmung, die                                Sie beobachtet auch, dass Familien schnell überfordert sein
Teilhabe am sozialen Leben. Die Frage «Wo                            können, wenn anspruchsvolle Pflegemassnahmen erforderlich
                                                                     sind und beispielsweise die korrekte Medikamentenabgabe
lebe ich und wer pflegt mich im hohen Alter?»                        nicht gewährleisten können. Zudem verfügten viele Familien
beschäftigt alle Menschen. Wie gehen Flucht-                         nicht über die finanziellen und zeitlichen Ressourcen, um eine
migrantinnen und -migranten mit dieser                               adäquate Ernährung ihrer pflegebedürftigen Angehörigen zu
Situation um? Eine Schlüsselperson der                               gewährleisten. Entlastungsangebote seien wenig bekannt, sagt
                                                                     Daniela Luvisutti: «Der Zugang zu Informationen über mögli-
Migrationscommunity, eine ältere Migrantin                           che Varianten der pflegerischen Betreuung und Unterstützung
und eine Fachfrau gewähren Einblicke.                                geschieht gemäss unseren Erfahrungen fast ausschliesslich
                                                                     über Schlüsselpersonen aus der Migrationsbevölkerung.»
Das Auftreten der eigenen Pflegebedürftigkeit sowie die
damit verbundenen Unsicherheiten über verschiedene Opti-             Vorbehalte und Ängste
onen der pflegerischen Betreuung in der Schweiz gehört zu            Wie Nanthini Murugaverl kennt auch Daniela Luvisutti die Vor-
den grösseren Sorgen älterer Migrantinnen und Migranten              behalte älterer Migrantinnen und Migranten gegenüber den
(Hungerbühler & Bisegger, 2012). Das bestätigt auch Nanthi-          hiesigen Pflegestrukturen: «Schlüsselpersonen berichten häu-
ni Murugaverl, die im Rahmen des Projektes «Gemeinsam in             fig über eine grosse Ablehnung gegenüber Pflegeeinrichtungen
die Zukunft» (GiZ) der Stadt Bern in Zusammenarbeit mit der          wie Altersheimen seitens der älteren Migrationsbevölkerung.
Caritas Bern, effe Biel, interunido Langenthal und dem SRK           Ein Grund dafür können negative Erfahrungen mit öffentli-
Kanton Bern als Schlüsselperson tamilische Seniorinnen und           chen Institutionen in der Schweiz sein, aber auch das schlechte
Senioren berät und begleitet: «Einerseits kennen die meisten         Image von Alterseinrichtungen in den Herkunftsländern. Oft
Leute die vorhandenen Angebote gar nicht, oder sie wissen            herrscht aber auch die Angst, sich fremd und einsam zu fühlen,
nicht, wie sie diese beanspruchen könnten. Andererseits              religiöse und kulturelle Bedürfnisse nicht mehr ausleben zu
spüre ich viele Vorbehalte gegenüber den bestehenden Ein-            können und im strukturierten Alltag mit fixen Essenszeiten
richtungen. In den Köpfen vieler Leute leben in Alters- und          und Pflegebesuchen die Selbstbestimmung zu verlieren. Selbst
Pflegeheimen nur Personen, die von ihren Familien vergessen          in Bezug auf Spitex gibt es solche Vorbehalte. Eine der ersten
oder gar verstossen wurden. Die gängige Vorstellung ist, dass        Befürchtungen vor einem Heimeintritt ist zudem oft, die alten
sie im Heim schlecht behandelt werden, vereinsamen und ein           Essgewohnheiten aufgeben zu müssen».
trauriges Dasein fristen. Meine Aufgabe als Schlüsselperson
ist es, Ängste abzubauen und Wissen zu vermitteln, damit             Kochen und Kontakte pflegen
sich die Leute ein realistischeres Bild über die Institutionen       Das hat auch Frau Saraswaty beschäftigt. Sie verfügt über
machen können und wissen, wie der Zugang zu den Angeboten            eine vorläufige Aufnahme in der Schweiz und lebt seit sechs
funktioniert.»                                                       Jahren im Wohnheim Acherli in Bern, welches Menschen mit
                                                                     Beeinträchtigungen Wohnplätze bietet und über einen Leis-
Stress in der Familie                                                tungsvereinbarung mit dem Kanton Bern finanziert wird. «Ich
Der aktuellste Age Report – das Standardwerk zum Thema               habe grosses Glück», sagt sie, «zweimal pro Woche kann ich
Wohnen und Altern in der Schweiz – geht davon aus, dass die          die Küche benutzen und für mich und ein paar Bewohnerin-
meisten älteren Migrantinnen und Migranten bei Familien-             nen und Bewohner tamilisches Essen zubereiten. Das trägt
angehörigen untergebracht sind. Bei Fluchtmigrantinnen und           viel dazu bei, dass ich mich hier wohlfühle.» Frau Saraswaty
-migranten sei dies wohl ebenfalls der Fall, meint Daniela           wurde von ihrer Sozialarbeiterin über die bestehenden Pfle-
Luvisutti, Co-Leiterin des Programms Migration und Alter             ge- und Wohnangebote informiert. Ihr Gesundheitszustand
der Caritas Bern. Sie bedauert, dass kaum erfasst sei, wo            erlaubte es nicht mehr, bei ihrer Familie zu bleiben, so dass sie

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Fokus: Altern anderswo

sich schliesslich für einen Heimeintritt entschloss. «Hier bin
ich umgeben von hilfsbereitem Personal und ich pflege einen                 Härtefallbewilligung berücksichtigt
guten Kontakt zu anderen Bewohnerinnen und Bewohnern.                       das Alter
Wir machen zusammen Ausflüge oder treffen uns im Gruppen-
raum. Wenn ich Ruhe brauche, kann ich mich in mein eigenes                  Der Fall von Frau A. aus dem Kanton Waadt zeigt: Die Här-
Zimmer zurückziehen, diese Privatsphäre zu haben, geniesse                  tefallprüfung darf sich nicht darauf beschränken, Gründe
ich sehr.»                                                                  zu erwägen, die gegen eine Bewilligung sprechen. Sie muss
                                                                            auch Motive berücksichtigen, die für die Feststellung eines
Kein Zimmer für sich allein                                                 persönlichen Härtefalls sprechen, wie etwa schwierige
Dass die Unterbringung in Mehrbettzimmern, wie sie es in                    Integrationsvoraussetzungen und das Alter.
Kollektivunterkünften in den Asylstrukturen auch für ältere                 Frau A. lebte zum Zeitpunkt ihres Härtefallgesuchs seit
Fluchtmigrantinnen und -migranten oft üblich ist, beson-                    20 Jahren in der Schweiz, 17 Jahre davon mit einer vor-
ders belastend sein kann, bestätigt Nanthini Murugaverl.                    läufigen Aufnahme. Sie kam mit 43 Jahren in die Schweiz
Sie berichtet von einer 75-jährigen vorläufig aufgenommenen                 und ist inzwischen 65 Jahre alt. Frau A. ist Analphabetin,
Tamilin, Frau N., die seit fünf Jahren in einer Kollektivunter-             was sich für ihre sprachliche und berufliche Integration
kunft im Kanton Bern untergebracht ist. Sie teile ihr Zimmer                hinderlich auswirkte. Bis zur Erreichung des Rentenalters
mit mehreren jüngeren Personen und habe keine Rückzugs-                     war sie daher auf finanzielle Unterstützung angewiesen.
möglichkeit. Im Gegensatz zu anderen älteren Geflüchteten                   Inzwischen erhält sie AHV und Ergänzungsleistungen.
in Kollektivunterkünften könne sie wenigstens auf ein breites               In ihrem Härtefallgesuch führte Frau A. aus, dass sie bereits
tamilisches Unterstützungsnetz zurückgreifen, so würden                     zwei Jahrzehnte in der Schweiz lebe, seit ihrer Scheidung
ihr Freiwillige in der Corona-Zeit beispielsweise den Einkauf               bei ihrem eingebürgerten Sohn und dessen Familie unter-
abnehmen. Nicht alle Asylsuchenden und vorläufig aufgenom-                  gebracht sei und sich keine Straftaten oder Betreibungen
men Personen in den Kollektivunterkünften könnten auf sol-                  zuschulden habe kommen lassen. Obwohl sie ungebildet
che Hilfe zählen. Frau N. wünscht sich, in einem Heim leben                 sei, habe sie Anstrengungen unternommen, sich zu integ-
zu können, sobald sie pflegebedürftig wird.                                 rieren – so habe sie ein A1-Sprachniveau erreicht und sich
Der Entscheid darüber, welche Massnahme für Frau N. getrof-                 um die Integration ihrer Kinder bemüht. Eine Bewilligung
fen wird, liegt seit der Neustrukturierung des Asyl- und                    ihres Gesuchs und die damit verbundene Erteilung eines
Flüchtlingsbereiches im Kanton Bern (NA-BE) für Personen im                 B-Ausweises würde ihr ermöglichen, in ihr Heimatland zu
laufenden Verfahren oder mit vorläufiger Aufnahme als Aus-                  reisen, um ihren betagten Vater zu besuchen und mit ihren
länderin oder Ausländer beim jeweiligen regionalen Partner,                 Kindern und Enkelkindern Auslandreisen zu unternehmen.
im Falle von Frau N. beim Kompetenzzentrum Integration.                     Der kantonale Bevölkerungsdienst (Service de la population,
Sollte der Wunsch für Frau N. in Erfüllung gehen, wird ihr der              SPOP) lehnte das Gesuch ab und begründete seinen Entscheid
Übertritt ins Alters- und Pflegeheim dank der Begleitung durch              damit, dass Frau A. sich weder wirtschaftlich integriert habe
ihre Schlüsselperson Nanthini Murugaverl leichter fallen.                   noch der französischen Landessprache mächtig sei.
                                                                            Das Waadtländer Kantonsgericht sieht das im Urteil vom
Das Beispiel zeige, so Daniela Luvisutti, dass die Arbeit mit               5. Au­g ust 2020 (PE.2019.0291) anders: Die lange Aufent-
Schlüsselpersonen aus der Migrationsbevölkerung auch in                     haltsdauer in der Schweiz sowie die Tatsache, dass sie
Zukunft unabdingbar sei. Wichtig seien niederschwellige                     der Bildung ihrer Kinder – mittlerweile Schweizer Bür-
Zugänge zu Informationen, aber auch die gezielte Vorberei-                  gerinnen und Bürger – Vorrang eingeräumt habe , seien
tung der Pflegeheime auf die Migrationsbevölkerung durch                    deutlich stärker zu gewichten als dies der SPOP getan
Sensibilisierung für die transkulturelle Öffnung. Da in Zukunft             habe. Zudem seien ihre Integrationsschwierigkeiten auf-
die Herkunftsländer der pflegebedürftigen Menschen immer                    grund von Analphabetismus, fehlender Schulbildung und
vielfältiger werden, werden Fachpersonen mit Migrationshin-                 fortgeschrittenem Alter bei der Ankunft in der Schweiz
tergrund eine wichtige Rolle spielen.                                       nachvollziehbar. Die vorläufige Aufnahme schränke sie
                                                                            überdies in ihrer Mobilitätsfreiheit stark ein. Da auch eine
    Age Report IV, Wohnen in den späten Lebensjahren. Grundlagen und        Wiedereingliederung in Bosnien unzumutbar sei, sieht das
    regionale Unterschiede. François Höpflinger, Valérie Hugentobler,
                                                                            Gericht keinen Grund, diesen Fall nicht als persönlichen
    Dario Spini (Hrsg.), 2019
    www.age-report.ch/de/bestellen-download-1                               Härtefall einzustufen und weist die kantonale Behörde an,
                                                                            eine B-Bewilligung zu erteilen.
    Projekt «Gemeinsam in die Zukunft»
    www.bern.ch/themen/gesundheit-alter-und-soziales/alter-und-                  www.jurisprudence.vd.ch > PE.2019.0291
    pensionierung/alter-migration/gemeinsam-in-die-zukunft

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Fokus: Altern anderswo

Stolpersteine statt                                                   Keine Sprachkurse, keine Weiterbildung
                                                                      Leila Jabers Sprachtalent ist unübersehbar. Sie spricht aus-
Chancen für Leila Jaber                                               gezeichnet Deutsch und ist im Gespräch sehr darum bemüht,
                                                                      die jeweils korrekten Fälle, Artikel und Verbformen zu ver-
Rentenalter 50? Für viele Geflüchtete in der                          wenden. Trotzdem wurden Leila Jaber keine weiterführenden
Schweiz ist das die Realität. Aber nicht, um                          Sprachkurse finanziert, bei Niveau B1 war Schluss. Seither hat
den Ruhestand zu geniessen. Vielmehr ist ab
fünfzig in der Regel Schluss mit Massnah-
men, welche die Erwerbsintegration fördern
– so auch bei Leila Jaber*, einer 57-jährigen
Frau aus Syrien.
Während die Erwerbsintegration von vorläufig aufgenomme-
nen Personen noch vor wenigen Jahren kein vorrangiges Ziel

                                                                                                                                          Foto: Lisa Schädel
war – eine baldige Rückkehr ins Herkunftsland stand im Vor-
dergrund – steht diese heute klar im Fokus. Für alle Personen
des Asylbereichs wird, mit Ausnahme der Asylsuchenden, eine
möglichst rasche und nachhaltige Integration in den ersten            Leila Jaber ist entschlossen, nicht aufzugeben.
Arbeitsmarkt angestrebt und dafür seit Mitte 2019 im Rahmen
der Integrationsagenda Schweiz auch deutlich mehr Geld zur            sie ihre Sprachkenntnisse selbstständig verbessert und auf
Verfügung gestellt (vgl. AsylNews 4/19). Doch verschiedene            diese Weise mittlerweile Niveau B2 erreicht. Ebenfalls wurde
Personengruppen fallen durch die Maschen sowohl der Inte-             ihr eine Ausbildung zur Kinderbetreuerin verweigert, obwohl
grationsagenda als auch der NA-BE-Bestimmungen. So wird               sie alle Voraussetzungen erfüllte – eine Bekannte, die deutlich
bei Personen über 50 Jahren eine Integration in den Arbeits-          schlechter Deutsch sprach aber einige Jahre jünger war, durfte
markt in der Regel nicht mehr gefördert.                              die Ausbildung hingegen absolvieren.

Hochgebildet, aber viele Hürden                                       Parallelen im Integrationsprozess
Die Integrationsagenda Schweiz definiert das erwerbsfähi-             Ihre Enttäuschung ist offensichtlich, doch trotz aller Rück-
ge Alter als zwischen 16 und 50 Jahren, die Altersgrenze für          schläge scheint Leila Jaber nicht verbittert, ihre Motivation hat
Potenzialabklärungen liegt bei 49 Jahren. Was dies konkret            sie trotz allem nicht verloren. Sie sprüht nur so von Plänen und
heisst, hat Leila Jaber in den sechs Jahren, die sie in der Schweiz   Ideen – darunter Arabischstunden für arabischsprachige Kin-
ist, immer wieder zu spüren bekommen. Die Damaszenerin hat            der in Burgdorf oder Schmuckverkauf an Märkten. Nach wie
in Syrien arabische Literatur studiert und zuletzt als Heraus-        vor nicht aufgegeben hat sie aber ihren Wunsch, eine reguläre
geberin und Lehrerin an einem wissenschaftlichen Institut             Anstellung zu finden. Doch die Suche gestaltet sich schwierig
gearbeitet. Vor sechs Jahren gelang ihr zusammen mit ihrem            und auf professionelle Unterstützung kann sie nicht zählen.
Mann und ihren beiden mittlerweile erwachsenen Söhnen                 Immerhin kann sie seit zwei Jahren auf die Hilfe ihrer Tandem-
die Flucht in die Schweiz. Während sich letztere in Windes-           Partnerin Miriam Birtoli zählen, bei der Arbeitssuche aber
eile integriert haben – der Ältere hat kürzlich einen Master an       auch in vielen anderen Belangen. PaMi, das Patenschaftspro-
einer Schweizer Universität erworben, der andere steht kurz           gramm der Reformierten Kirche Burgdorf für Migrantinnen
davor – sieht sich Leila Jaber mit grossen Herausforderungen          und Migranten, hat die zwei Frauen zusammengebracht, die
konfrontiert, was ihre berufliche Integration betrifft. Neben         sich seither einmal wöchentlich treffen.
den Schwierigkeiten, mit denen sich auch viele ältere Schwei-         Miriam Birtoli* hilft, wo sie kann und schöpft dabei auch aus
zer Arbeitssuchende konfrontiert sehen, kommen bei Leila              ihrer eigenen Erfahrung als Migrantin. Vor 40 Jahren ist sie
Jaber die fehlende Anerkennung ihrer Diplome, die fehlende            damals aus Italien in die Schweiz gekommen. Zwischen ihrem
Arbeitserfahrung in der Schweiz sowie ihre noch nicht per-            Integrationsprozess und jenem von Leila Jaber sieht sie klare
fekten Deutschkenntnisse als zusätzliche Erschwernis hinzu.           Parallelen – auch wenn ihre Migrationsgeschichten natürlich
Und trotz ihrer guten Bildung, ihrer überdurchschnittlichen           keineswegs vergleichbar seien. Wunder kann aber auch sie
Motivation und ihrem grossen Willen wurden ihr aufgrund               keine vollbringen, und so machen sich die Frauen auf einen
ihres Alters immer wieder Stolpersteine in den Weg gelegt.            weiterhin frustrierenden Bewerbungsprozess gefasst, in der
                                                                      Hoffnung, irgendwann doch noch Erfolg zu haben.
* Die Namen wurden auf Wunsch der Betroffenen geändert.

AsylNews, 4/2020                                                  8
Fokus: Altern anderswo

Radieschen statt                                                      mal wöchentlich mithilft. Sie ist im gleichen Alter wie Abdul
                                                                      und kniet Unkraut jätend zwischen den Radieschen in seinem
Radiergummi                                                           Garten. Ab und zu plaudern sie ein wenig. «Abdul hat auch die
                                                                      Tomatenhäuser gebaut», ergänzt die Gartenleiterin Flurina
Für ältere Geflüchtete wird in der Regel                              Rouane: «Die Teilnehmenden können sich aktiv einbringen
keine Integration in den Arbeitsmarkt mehr                            und das Projekt mitgestalten.»
angestrebt und gängige Integrationsformate                            Deutsch im Freien
wie Sprachkurse sind nicht auf diese Gruppe                           Diese Treffen werden jeweils von einem Zvieri abgerundet,
zugeschnitten. In dieser Situation kann der                           welches unter den schattenspendenden Bäumen stattfindet.
Familiengarten einen Raum öffnen, in dem                              In dieser Umgebung ist das Deutschsprechen für alle viel einfa-
                                                                      cher. Heute wird nochmals das Thema «Zecken» aufgegriffen.
ältere Menschen Kontakte in verschiedenen                             Marisa, Apothekerin und Freiwillige im Gartenprojekt, hat für
Sprachen knüpfen und sich zuhause fühlen.                             alle eine Zeckenkarte mitgebracht, mit welcher die kleinen
                                                                      Tierchen einfach entfernt werden können. Die Karten werden
Als Abdul seine Radieschen wässert, ist es August. Bei hoch-          herumgereicht und die anwesenden Gärtnerinnen und Gärtner
sommerlichen Temperaturen schleppt der 64-jährige Afgha-              tauschen sich auf Farsi, Arabisch, Kurdisch, Tamilisch und
ne Giesskanne um Giesskanne, um seinen Garten zu pflegen.             Amharisch untereinander aus, um sicherzustellen, dass alle
Dieser liegt inmitten des städtischen Familiengartens an der          die Anwendung der Zeckenkarte richtig verstanden haben.
Könizstrasse in Bern, wo das Hilfswerk der evangelischen              Dazwischen rufen sie einander zu «Kann ich bitte ein Stück
Kirchen Schweiz (Heks) im Rahmen des Programmes «Neue                 Kuchen haben?», reichen Teller mit afghanischem Salat herum
Gärten Bern» drei Parzellen gepachtet hat. Hier haben Migran-         und lachen, weil «Flasche» und «Fleisch» verwechselt werden.
tinnen und Migranten wie Abdul die Gelegenheit, ein eigenes           «Gerade für ältere Menschen eignen sich schulische Sprach-
Gartenbeet zu bestellen und Kontakte zu pflegen.                      kursformate häufig nicht besonders», erzählt Flurina Rouane,
                                                                      «sie fühlen sich beim Sprechen über ihren Garten wohler und
Gärtnern in Kontakt                                                   das Lernen geschieht eher nebenbei». Marisa fügt an, dass dies
Abdul und seine Frau Fatima sind vorläufig aufgenommene               auch für die Begegnungen zwischen den Freiwilligen und den
Flüchtlinge und engagieren sich seit zwei Jahren in diesem Pro-       Geflüchteten gelte: «Es ergibt sich einfach so».
jekt. Abdul hat mich zwischen Tomatenpflanzen und Himbeer-
sträuchern zum Gespräch empfangen. Fatima kann an diesem              Als ich mich von Abdul
Tag nicht dabei sein, da sie sich um Ali, ihren dreijährigen          verabschieden will,
Enkel, kümmern muss. «Der Garten ist gut», sagt der ältere            steht er gerade vor
Herr mit einem Lächeln. «Die Leute hier sind nett, wir spre-          seiner Gartenparzel-
chen alle miteinander und können draussen arbeiten.» Des-             le und lässt den Blick
halb komme er zwei- bis dreimal pro Woche hierher. Das geht           über seine Zucchet-
zum Glück ganz einfach, mit dem Tram direkt von Worb ins              ti und Gurken, den
Fischermätteli, danach noch fünf Minuten zu Fuss. Auf seinen          kleinen afghanischen
aktuellen Wohnort angesprochen wiegt er nachdenklich den              Lauch, die Randen,
Kopf. «Wir sprechen dort mit niemandem», sagt er dann. Kon-           Radieschen, den Salat
takt zu Nachbarn hätten sie kaum. Da sei er lieber draussen. Im       und die Tomaten wan-
                                                                                                                                        Foto: Myriam Egger

Garten bewegt sich Abdul auf vertrautem Terrain: «Ich habe            dern. Zum Abschied
in Afghanistan als Gärtner gearbeitet und hatte später einen          schenkt er mir eine
kleinen Buchladen». In seiner Heimat würden ältere Menschen           Gurke und meint, die
einfach weiterarbeiten, bis es nicht mehr gehe: «Hier habe ich        sei für meine Familie.
                                                                                              Im Familiengarten fühlt sich Abdul auf
keine Arbeit, das ist nicht gut.»                                     Marisa schmunzelt: vertrautem Boden.
                                                                      «Die Leute schenken
Die gute Seele des Projekts                                           uns gerne etwas aus ihrem Garten. Ich glaube, es gibt ihnen
Abduls langjährige Gärtnererfahrung wurde von den anderen             das Gefühl dazu zu gehören, wenn auch sie manchmal etwas
Projekt-Teilnehmenden denn auch sofort bemerkt, und seit-             geben können.»
dem gilt er als gute Seele des Integrations-Gartens. «Er kennt
                                                                          www.heks.ch/was-wir-tun/neue-gaerten-bern
sich aus und hilft den anderen gerne und mit viel Hingabe und
Geduld», erzählt Annemarie, eine der Freiwilligen, die ein-
                                                                  9
Fachinformationen

Im Gespräch mit regionalen                                         Waren die neuen Regelungen zu unklar oder kamen zu spät?

Partnern: ABO                                                      Natürlich kamen sie spät, aber auch wenn man noch zwei
                                                                   Jahre länger Zeit gehabt hätte, wäre es nicht einfach gewesen.
In einer Gesprächsreihe im AsylNews stellen                        Wir müssen akzeptieren, dass es eine Phase der Unsicherheit
die neuen regionalen Partner des Asyl- und                         und Unordnung gibt und diese durchstehen. Man kann nicht
                                                                   erwarten, dass das System innerhalb von drei bis vier Monaten
Flüchtlingsbereichs im Kanton Bern ihre                            perfekt funktioniert. In dieser Situation ist der längere Zeit-
Organisation und Arbeit vor. Den Anfang                            horizont wichtig, den wir mit den Leistungsverträgen haben.
macht Asyl Berner Oberland (ABO).                                  In den ersten zwei Jahren muss sicher viel Umsetzungs- und
                                                                   Anpassungsarbeit geleistet werden.
Am 1. Juli 2020 haben die neuen regionalen Partner die Arbeit
aufgenommen. Der Verein Asyl Berner Oberland (ABO) hat den         Wie hat sich ABO als Organisation auf diesen Wechsel vor-
Zuschlag für die Region Thun und Oberland erhalten. Der Ver-       bereitet?
ein wurde 2016 durch die regionalen und kommunalen Sozial-
dienste des Berner Oberlands gegründet und übernahm per            Etwas vom Wichtigsten war für uns, den Kulturwandel zu voll-
1. Januar 2018 alle Geschäfte der Asylkoordination der Stadt       ziehen. Natürlich haben wir auch neue Konzepte erarbeitet,
Thun. ABO ist in der Region gut verankert und kann auf lang-       uns mit den SKOS-Richtlinien beschäftigt, etc., das sind aber
jährige Erfahrungen und eine gut ausgebaute regionale Ver-         eher technische Aspekte. Aus unserer Sicht braucht es eine
netzung zurückgreifen. Trotzdem ist der Auftrag unter NA-BE        neue Integrationskultur. Die Geflüchteten sollen nicht nur
ein anderer als zuvor – und auch ABO befindet sich in einem        verwaltet werden, sondern gezielt gefördert und so an den
Veränderungsprozess. Im Gespräch mit der KKF gibt Christian        Arbeitsmarkt und in die Selbständigkeit geführt werden. Gera-
Rohr, Geschäftsführer von Asyl Berner Oberland, Auskunft,          de im Bereich des kollektiven Wohnens bedeutet dies einen
wie ABO die neuen Aufgaben meistern will.                          grossen Wandel. Die gezielte Gestaltung der Zusammenarbeit
                                                                   mit den Betroffenen in der 1. Phase ist enorm wichtig. Sie sollen
Raphael Strauss und Sabine Lenggenhager, KKF: Im Vergleich         von Beginn an verstehen, was von ihnen erwartet wird und was
zu den anderen regionalen Partnern hat ABO verhältnismäs-          sie von uns erwarten dürfen. Sich aktiv zu integrieren, ist ihre
sig wenig neue Dossiers übernommen und eure Organisation           Aufgabe. Wir unterstützen sie dabei.
ist relativ konstant geblieben. Stellt die neue Situation euch
trotzdem vor Herausforderungen?                                    Wie stellt ihr diese Unterstützung und die durchgehende Fall-
                                                                   führung – als eines der zentralen Elemente von NA-BE – sicher?
Christian Rohr: Eine grosse Herausforderung ist sicher der
Umgang mit den bestehenden Unklarheiten. Es ist für die Mit-       Bei uns sind die Geflüchteten nur eine beschränkte Zeit in einer
arbeitenden belastend, wenn sie nicht alle Fragen der Klien-       ‹gewöhnlichen› Kollektivunterkunft untergebracht; einem
tinnen und Klienten zufriedenstellend beantworten können.          Basiszentrum, wie wir das nennen. Sobald sie das Sprach-
Trotz Zeitmangel wollen wir jedoch qualitativ gute Arbeit leis-    niveau A1 und gewisse Schlüsselkompetenzen erworben und
ten. Die Leitung von ABO hat zwar gewusst, dass es schwierig       einen definitiven Statusentscheid erhalten haben, wechseln sie
wird und dies den Mitarbeitenden auch kommuniziert. Aber           in ein Take-Off-Zentrum. Das sind kleinere, regionale Zentren,
vorgewarnt sein, dass es chaotisch wird, und es dann effektiv      in welchen rund fünfzehn Personen wohnen. Aktuell führen
zu erleben und konstruktiv damit umzugehen, ist nicht das-         wir zwei solche Zentren, in Uttigen und in Spiez. Wir gehen
selbe. Wir sind auf gutem Weg, aber die Belastung ist hoch.        aber davon aus, dass wir bis in fünf Jahren bis zu fünfzehn
                                                                   Take-Off-Zentren betreiben werden. Sobald der Transfer in
Eine weitere Herausforderung sind die rückläufigen Asyl-           ein Take-Off-Zentrum stattgefunden hat, übernehmen Inte-
zahlen, was sich mit Corona nochmals deutlich verschärft           grationsberaterinnen und -berater aus dem Team unserer
hat. Wir erhalten praktisch keine neuen Zuweisungen. Unser         Sozialarbeitenden die Fallführung – ab da sollte es möglichst
Konzept, beispielsweise für die Erstinformation, ist jedoch auf    keine Zuständigkeitswechsel mehr geben.
Neuzuweisungen ausgerichtet. Tatsächlich arbeiten wir jetzt
aber zu einem grossen Teil mit der Übergangsgruppe, also den       Die Take-Off-Zentren sind eine «Spezialität» von ABO. Welche
Personen, die bereits hier waren. Sie wurden vor dem Struk-        Grundüberlegung steht dahinter?
turwechsel nicht umfassend informiert über das neue System.
Jetzt wird aber zum Beispiel von ihnen erwartet, dass sie alle     Die Verteilung in kleinere regionale Zentren ist für die Inte-
an gemeinnützigen Beschäftigungsprogrammen teilnehmen.             gration der Klientinnen und Klienten zentral. Sie sollen sich
Das löst bei den Betroffenen ein gewisses Unverständnis aus.       so früh wie möglich lokal integrieren und vernetzen können,
Diese systematische Information der Übergangsgruppe holen          das ist für die spätere berufliche Integration extrem hilfreich.
wir zurzeit nach.                                                  Bei der Zuteilung schauen wir auch auf die individuelle Inte-
                                                                   grationsplanung: Wer beispielsweise im Tourismussektor
                                                                   arbeiten will, wird bereits früh in der Region Interlaken oder
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Fachinformationen

Saanen platziert. Damit das funktioniert, arbeiten wir sehr eng
mit den Gemeinden und den lokalen Strukturen zusammen.
Bereits jetzt sind wir bei etwa acht Sozialdiensten regelmässig
vor Ort präsent. Und wir investieren viele Ressourcen in die
Freiwilligenarbeit. Wir haben in früheren Projekten gesehen,
dass diese Strategie im Oberland am besten funktioniert. Das
ist wohl eine Spezialität unserer Region, die wir zu nutzen ver-
suchen. Die lokale Vernetzung wirkt im Frutigtal viel stärker
als zum Beispiel in Münchenbuchsee.

Wann setzt der Integrationsprozess für die berufliche Inte-
gration ein und wie ist er aufgebaut?

Im Basiszentrum werden die grundlegenden Kompetenzen
und Interessen der Personen in Erfahrung gebracht. Gleich-
zeitig können alle Klientinnen und Klienten professionelle
Sprachkurse besuchen, unabhängig von ihrem Aufenthaltssta-
tus. In diesem Punkt weichen wir vom NA-BE Konzept ab, wel-
ches für Personen im laufenden Verfahren Sprachförderung           Foto: ABO

durch Freiwillige vorsieht. Wir begleiten kaum Personen im
laufenden Verfahren und von den wenigen haben die meisten
                                                                               Gut unterwegs: Die Geschäftsleitung von ABO mit (v.l.) Kamil Girgis,
die Aussicht auf einen Entscheid mit Bleiberecht. Zudem ist es                 Co-Leiter Basis-Zentren; Matthias Bürki, Leiter Zentrale Dienste;
ein gutes Training, wenn die Asylsuchenden die Kurse extern                    Barbara Jost, Co-Leiterin Basis-Zentren; Tanja Brombacher, Leiterin
besuchen müssen: Sie lernen, sich im öffentlichen Raum zu                      Beratung & Integration; Regula Zoll, Leiterin Bildung & Freiwilligen-
                                                                               arbeit und Christian Rohr, Geschäftsführer (sitzend).
bewegen, mit dem ÖV zurecht zu kommen und können Schlüs-
selkompetenzen wie Pünktlichkeit üben und erleben.
Die spezifische und gezielte Förderung der Arbeitsintegration
setzt mit dem Wechsel in eine Take-Off-Unterkunft ein. Sie                     Schwieriger ist es natürlich bei den «Wackelkandidatinnen
kann aus individueller Sprachförderung, Fachkursen, Job-                       und -kandidaten», also denjenigen Personen, die zwar arbei-
Coachings oder anderen Angeboten bestehen. Für die Umset-                      ten wollen, deren Arbeitsfähigkeit aber eingeschränkt ist.
zung arbeiten wir sehr eng mit den Regelstrukturen und mit                     Bei diesen Fällen arbeiten wir mit den BIAS-Partnern aus der
lokalen Anbietern zusammen, z.B. mit Brückenangeboten,                         Sozialhilfe zusammen, um die Arbeitsfähigkeit und das Ent-
Beschäftigungs- und Integrationsangeboten der Sozialhilfe                      wicklungspotential zu erkennen. Ist die Leistungsfähigkeit
(BIAS), Institutionen im Bereich der beruflichen Bildung oder                  aber nicht gegeben, ist die Integration in den 1. Arbeitsmarkt
auch mit IV-Institutionen. Arbeitsintegration und Integration                  unrealistisch. Da werden wiederum die lokalen Auffangnet-
ganz generell sind eine lokale Geschichte – das ist eine Grund-                ze und Strukturen wichtig: Wir sind mit den Gemeinden im
überzeugung, die wir durch alle Bereiche durchziehen.                          Gespräch, um kommunale Integrationsangebote (KIA) aufzu-
                                                                               bauen. Deren Finanzierung muss aber noch geregelt werden.
Wie funktioniert das konkret auf die verschiedenen Ziel-
gruppen bezogen?                                                               Zum Schluss eine «Carte blanche»: Wenn ABO einen Wunsch
                                                                               frei hätte, was würdet ihr euch vom Kanton wünschen?
Die grösste und relevanteste Gruppe bei ABO sind die jungen
Erwachsenen. Sie besuchen oft das berufsvorbereitende Schul-                   Was mir bei all den Fragen, die noch zu lösen sind, extrem
jahr (BVS). Wenn sie im zweiten Jahr BVS mehr Unterstützung                    wichtig ist, ist ein sachlich-konstruktives Miteinander. Es
für die Integration in den Arbeitsmarkt brauchen, stellen wir                  besteht immer eine gewisse Gefahr, dass die Diskussion ideo-
einen Jobcoach von Volkswirtschaft Berner Oberland zur Ver-                    logisch wird. Im Moment erlebe ich die Zusammenarbeit als
fügung. Volkswirtschaft Berner Oberland übernimmt also in                      sehr konstruktiv und lösungsorientiert und hoffe, dass das
unserem Auftrag die Begleitung, das Jobcoaching und die                        so bleiben wird. Eine Schwierigkeit stellt für uns die unglei-
Nachbetreuung bis zum Lehrabschluss.                                           che Verteilung der Asylsuchenden dar: Wir geraten wegen
                                                                               der tiefen Zuweisungszahlen zunehmend in einen Bereich, in
Aber auch bei den über 25-Jährigen gilt: Wenn jemand eine                      welchem es schwierig ist, die Grundstruktur und die professio-
Lehre machen und arbeiten will, dann unterstützen wir das.                     nelle Ausübung unseres Auftrages zu finanzieren. Da besteht
Die Person muss motiviert sein und gute Voraussetzungen mit-                   Diskussionsbedarf.
bringen. Das Alter ist nicht ausschlaggebend, entscheidend ist,
ob jemand wirklich will.

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Fachinformationen

Organisation der Seelsorge                                          Landeskirchen, unterstützt sie in ihrer Arbeit und erstattet
                                                                    der IKK Bericht. Die Steuerungsgruppe trifft sich viermal pro
bei Asylsuchenden                                                   Jahr und bietet eine Plattform, um über das aktuelle Geschehen
                                                                    und die Entwicklung der Seelsorge im Gespräch zu bleiben.
Um geflüchtete Menschen in den Bundes-
asyl- und Rückkehrzentren seelsorgerisch                            In den kantonalen Rückkehrzentren
                                                                    Aufgrund der zeitweiligen Schliessung des Bundesasylzent-
zu begleiten, arbeiten die Landeskirchen                            rums in Kappelen und der zeitgleich anstehenden Eröffnung
und der Schweizerische Israelitische                                der Rückkehrzentren (RKZ) des Kantons Bern im Rahmen
Gemeindebund zusammen. Die folgende                                 der Umsetzung von NA-BE (Neustrukturierung des Asyl- und
Übersicht gibt Auskunft darüber, wo Asyl-                           Flüchtlingsbereichs im Kanton Bern) beschloss die IKK, die
                                                                    in Kappelen frei gewordenen Kapazitäten ausnahmsweise auf
seelsorge angeboten wird, wie sie institutio-                       kantonaler Ebene in den Rückkehrzentren einzusetzen. Mit
nell verankert ist und wer sie bezahlt.                             dem Kanton konnte ein Rahmenvertrag analog zu jenem zwi-
                                                                    schen Bund und EKS geschlossen werden. Seit Mitte Jahr ist die
In den Bundesasylzentren in der Schweiz                             Seelsorge in den RKZ aktiv. Gleichzeitig werden Gespräche mit
Seit 1995 bieten die Landeskirchen und der Schweizerische           den nahe bei den RKZ liegenden Kirchgemeinden und Pfarrei-
Israelitische Gemeindebund (SIG) in den Empfangs- und Ver-          en geführt, um abzuklären, wer ab Anfang 2021 diese wichtige
fahrenszentren des Bundes einen Seelsorgedienst für Asyl-           Aufgabe übernehmen könnte. Die Finanzierung durch die IKK
suchende an. Grundlage dafür ist die «Rahmenvereinbarung            ist klar befristet bis Ende 2020. Idealerweise würden danach
für die regionalen Seelsorgedienste in den Empfangsstellen für      durch Kirchgemeinden oder Pfarreien bezahlte Personen – mit
Asylsuchende» zwischen dem Staatssekretariat für Migration          entsprechender fachlicher Eignung und unter der Begleitung
(SEM), der Evangelischen Kirche Schweiz (EKS), der Schweizer        und Verantwortung der IKK Steuergruppe – die Seelsorge in
Bischofskonferenz (SBK), der Christkatholischen Kirche der          den RKZ betreiben.
Schweiz sowie dem Schweizerischen Israelitischen Gemeinde-
bund (SIG). Dort wird u.a. festgehalten, dass «die Seelsorge        Zusammenstellung: Pascal Mösli, Beauftragter Spezialseelsorge und
in den Bundeszentren sich als Dienst am Menschen» versteht          Palliative Care und Carsten Schmidt, Leiter Fachstelle Migration der
und dass sie in «ökumenischer bzw. interreligiöser Verantwor-       Reformierte Kirchen Bern-Jura-Solothurn
tung» geschieht. Basierend darauf haben die Kirchen und der
SIG ein Leitbild für die Seelsorge verabschiedet.                        Ökumenische Seelsorge für Asylsuchende im Kanton Bern:

Bei der Einrichtung der Seelsorge in den Bundesasylzent-                 www.sesabe.ch

ren (BAZ) sind die jeweiligen kantonalen religiösen Partner
zuständig – die EKS und die SBK unterstützen die Seelsorge
finanziell. Die Seelsorgenden müssen durch diese Träger
(Kirchen und SIG) und das SEM akkreditiert werden, damit
sie Zugang zu den Bundeszentren erhalten. Die Bundeszentren
sind für Drittpersonen der Zivilgesellschaft geschlossen. Die
Seelsorgenden gehören deshalb zu den wenigen aussenstehen-
den Akteurinnen und Akteuren, die direkten Einblick in das
Leben in den Zentren haben.

In den Bundesasylzentren im Kanton Bern
Im Mai 2016 wurde das BAZ (mit Verfahrensfunktion) für
Asylsuchende im ehemaligen Zieglerspital Bern mit vorerst
150 Plätzen eröffnet. Seit Sommer 2017 stehen 350 Betten zur
Verfügung. Ab März 2019 war das BAZ (ohne Verfahrensfunk-
tion) für Asylsuchende in Kappelen für kurze Zeit in Betrieb,
wurde dann geschlossen und Mitte September 2020 wieder-
eröffnet. Die ökumenische Seelsorge im Zieglerspital und in
Kappelen ist ein Projekt der Interkonfessionellen Konferenz
(IKK). Die Synoden der beiden grossen Landeskirchen haben
die Finanzierung gutgeheissen – damit ist die Seelsorge in den
Bundesasylzentren im Kanton Bern breit abgestützt.
Aktuell sind drei Seelsorgende mit total 160 Stellenprozenten
in den Zentren tätig. Sie sind von ihrer jeweiligen Landeskirche
angestellt. Eine ökumenische Steuerungsgruppe, zusammen-
gesetzt aus Seelsorgenden und Seelsorgeverantwortlichen der
AsylNews, 4/2020                                               12
Fachinformationen

Auf Menschen zugehen im                                            Solche Momente sind Highlights in der Seelsorge. Da, wo die
                                                                   Ressourcen der Menschen sichtbar werden, wo ihre Tatkraft
Rückkehrzentrum                                                    etwas bewirkt und im besten Fall auch andere an ihr teilhaben
                                                                   können, da wird der Mensch wieder lebendig. Als Seelsorge-
Pfarrerin Beatrice Teuscher gehört zum                             rin versuche ich, mein Gegenüber als Ganzes wahrzunehmen,
ökumenischen Team, das in den Bundesasyl-                          dessen körperliche, psychische, soziale, intellektuelle und
                                                                   spirituelle Bedürfnisse und Ressourcen miteinander ver-
und Rückkehrzentren im Kanton Bern Seel-                           woben sind. In den Gesprächen mit den Bewohnerinnen und
sorge leistet. Sie erzählt von den Menschen,                       Bewohnern der Rückkehrzentren leitet mich immer wieder die
die dort wohnen und davon, wie sie ihnen                           Frage, woher die Menschen die Kraft nehmen, unter diesen
als Seelsorgerin begegnet.                                         erschwerten Bedingungen Eigeninitiative und Selbstwirksam-
                                                                   keit zu entwickeln. Es ist eine überlebenswichtige Frage, die
Beatrice Teuscher                                                  dem langsamen Sterben des «élan vital», der Lebensenergie,
                                                                   entgegenwirken soll.
Das Asylgesuch wird abgelehnt. Die Lehre muss in der Folge
abgebrochen werden. Das Arbeitsverhältnis wird aufgrund            Seelsorge spielt sich in Gesprächen ab, in Gruppenaktivitäten
fehlender Aufenthaltstitel beendet. Und nichts geht mehr wei-      – sofern sinnvoll und vorhanden –, beim gegenseitigen Tei-
ter. Die Hoffnung, legal in der Schweiz bleiben zu können, ist     len und sich Mitteilen. Als Seelsorgerin versuche ich je nach
zerschlagen. Die Aussicht, ins Herkunftsland zurückkehren,         Bedürfnis der Bewohnerinnen und Bewohner, Netzwerke und
löst Angst aus. In ein anderes Land zu fliehen, ist mit hohen      Orte zu suchen, wo sich die Seele vom zermürbenden Lager-
Risiken, Strapazen und möglicherweise erneutem Scheitern           alltag wenigstens für einen Moment erholen kann. Oft sind
verbunden.                                                         Anknüpfungspunkte, Netzwerke und Freiwillige bereits vor-
                                                                   handen und aktiv, so dass es nur noch darum geht, diese zu
Rückkehrzentren sind oft Sackgassen für die Menschen, die          stärken und sichtbar zu machen. Eine gute Kooperation mit
dort leben. Es gibt weder ein Vorwärts noch ein Zurück. «Ich       den Zentrumsleitungen ist dabei sehr hilfreich.
bin schon lange tot», sagt mir ein einundreissigjähriger Mann,     Offenheit und Fantasie sind in der Zusammenarbeit mit den
der seit mehreren Jahren versucht, legal in Europa zu bleiben      Menschen im und ums Rückkehrzentrum gefragt, Offenheit,
und nun in einem Rückkehrzentrum festsitzt. Warum tot? Er          weil die abgewiesenen Asylsuchenden, aber auch die Zent-
bekommt doch Geld fürs Nötigste? Er hat doch ein Dach über         rumsleitungen manchmal ganz andere Strategien vorsehen,
dem Kopf?                                                          als ich sie mir ausdenke. Fantasie braucht es auch deshalb, weil
«Der Mensch lebt nicht von Brot allein», steht im Matthäus-        die Kanäle des Systems (Asyl, legale Migration) ausgereizt sind
evangelium. Dieser Satz bewahrheitet sich in vielen Gesprä-        und gezwungenermassen neue Wege des Überlebens gefun-
chen, die wir Seelsorgenden mit den abgewiesenen Asyl-             den werden müssen. Konfessionelle bzw. religiöse Offenheit
suchenden führen. «Wir möchten arbeiten, aber wir dürfen           ist absolute Bedingung der seelsorgerlichen Arbeit.
nicht.» «Ich möchte meinen Bruder in Zürich besuchen, aber
ich kann mir die Reise nicht leisten.» «Es wäre schön, wenn ich    Wer in einem Rückkehrzentrum ist, hat meistens schon
mal ein paar Tage bei meiner Freundin bleiben könnte, aber         Erfahrungen mit einer unserer Landessprachen gemacht.
wir müssen jeden Tag zum Unterschreiben ins Lager zurück-          Das erleichtert die verbale Kommunikation zwischen den
kommen.»                                                           Seelsorgenden und den Bewohnerinnen und Bewohnern des
                                                                   Zentrums.
Viele Menschen in Rückkehrzentren sind im besten Alter zu          Oft finden sich im unmittelbaren Umfeld, z.B. im Aufenthalts-
arbeiten, Familien zu gründen und sich weiterzubilden. Ihr         raum, Ad-hoc-Übersetzerinnen und -Übersetzter, die für den
Leben erinnert mich aber oft an jenes sehr alter Menschen in       grundlegenden Informationsaustausch eingespannt werden
Pflegeheimen, die einsam und lebensmüde sind, stundenlang          können. Notfalls bemühe ich digitale Übersetzungsprogram-
herumsitzen und deren abwechslungsreichste Aktivität der           me, wenn ich an Sprachbarrieren scheitere.
Gang in den Lebensmittelladen ist.
Es gelingt nur wenigen, aus der Sackgasse auszubrechen und         Die bewusst freundliche und offene Zuwendung lässt sich aber
sich so zu beschäftigen, dass die Seele nicht verkümmert. Bei      auch prima nonverbal ausdrücken. Sie ist oft der Beginn einer
einem meiner Besuche lerne ich einen jungen Mann kennen. Er        seelsorgerlichen Beziehung. Diese ist ausserdem nicht allein
lässt sich offenbar von der vertrackten Situation nicht lähmen.    den Seelsorgenden vorbehalten. Sie kann von allen Menschen
Er hat sich ein Handy von einem Mitbewohner geliehen und           geknüpft werden: von Betreuenden, Nachbarn, Mitbewoh-
machte einen kleinen Film über die geraniengeschmückten            nerinnen, Zufallsbekanntschaften unterwegs, ... Und diese
Bauernhäuser in der Umgebung. Tagelang zog er dafür durch          letztlich grundlegend menschliche Zuwendung geschieht
die kleinen Dörfer. Er strahlt, als er mir davon erzählt. Und      zum Glück immer wieder, sogar an diesen Orten seelischer
stolz fügt er an, sein nächstes Projekt sei ein Film über Kühe.    Tristesse.
Wir lachen beide, dass uns Tränen in die Augen steigen.

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