News Asyl - Vorläufige Aufnahme: Veranstaltungsreihe und FachInfo Im Gespräch mit regionalen Partnern: ABO - KKF OCA
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Asyl News Nr. 4, Dezember 2020 KKF Vorläufige Aufnahme: Veranstaltungsreihe und FachInfo Seite 3 Fokus: Altern anderswo Fachinformationen Im Gespräch mit regionalen Partnern: ABO Seite 10 Wissenstransfer Horizonte Anreizsysteme in der Asylsozialhilfe Seite 15
Editorial Übersicht Liebe Leserinnen, liebe Leser Neues aus der KKF Wechsel in Team und Trägerschaft 4 Nach zwölf Jahren, in denen ich die KKF als kompetente und relevante Organisation erleben durfte, werde ich mich Ende Jahr aus der Aufsichtskommission (AK) verabschieden. Wenn ich ins Jahr 2008 zurückblicke, als ich in Fokus: Altern anderswo die AK eintrat, erinnere ich mich daran, Welche Forderungen, welche Förderung? 5 dass damals Integration zum ersten Mal als Ziel der Ausländerpolitik definiert Wohnen im hohen Alter: Wünsche und wurde. Obwohl der Begriff «Integration» Befürchtungen geflüchteter Personen 6 noch vage und eine breite Diskussion Härtefallbewilligung berücksichtigt das Alter 7 darüber erst am Entstehen war, herrschte doch mehr oder weniger Konsens, dass Stolpersteine statt Chancen für Leila Jaber 8 Integration ein Prozess ist, der sowohl Zugewanderte wie auch Radieschen statt Radiergummi 9 Einheimische betrifft und auf einen chancengleichen Zugang aller zum wirtschaftlichen und sozialen Leben abzielt. Heute sind die Integrationskriterien und die Anforderungen Fachinformationen an die Zugewanderten im Ausländerrecht klarer definiert, sie Asylwesen Schweiz wurden in den vergangenen Jahren aber auch schrittweise verschärft. Die zentrale Rolle guter rechtlicher, wirtschaftli- Im Gepräch mit regionalen Partnern: ABO 10 cher und sozialer Rahmenbedingungen, die eine erfolgreiche Organisation der Seelsorge bei Asylsuchenden 12 Integration erst ermöglichen, ist hingegen zunehmend aus dem Blickfeld geraten. Auf Menschen zugehen im Rückkehrzentrum 13 Private Unterbringung abgewiesener Diese Entwicklung ist auch im Asylbereich des Kantons Bern Personen 14 sichtbar: Gerade haben wir einen Systemwechsel erlebt, der die Eigenverantwortung der Geflüchteten für ihre Inte- Wissenstransfer Horizonte gration klar in den Vordergrund stellt. Man geht davon aus, Anreizsysteme in der Asylsozialhilfe 15 dass es allen Zugewanderten gleichermassen möglich ist, die Sprache zu lernen, eine Ausbildung zu absolvieren und Rechtsprechung in der Arbeitswelt zu bestehen. Es gibt kaum Ausnahme- Weitere Hürde für das Familienasyl 16 regelungen für Personen, die etwa wegen gesundheitlicher Einschränkungen, fehlender Schulbildung oder aufgrund International hohen Alters erschwerte Voraussetzungen haben. So müs- EU-Migrationspakt: Kurswechsel verpasst 17 sen vorläufig Aufgenommene auf engem Raum mit vielen anderen in Kollektivunterkünften wohnen, bis sie eine Amts- sprache auf dem Niveau A1 beherrschen und eine Arbeit oder einen Ausbildungsplatz gefunden haben. Dass viele ältere Kurzinfos 19 Geflüchtete wahrscheinlich nie eine Stelle finden werden, liegt auf der Hand, erst recht in Zeiten einer globalen Krise, die den Zugang zum Arbeitsmarkt für alle Bevölkerungsgruppen beeinträchtigt. Wir brauchen deshalb auch heute dringend Organisationen wie die KKF, die einen unabhängigen Blick auf das Asyl- und Flüchtlingswesen werfen und sich für diejenigen Geflüchteten stark machen, die ihr neues Leben in der Schweiz nicht mit optimalen Startbedingungen und vollen Kräften anpacken können! Ich wünsche der KKF daher von Herzen, dass sie Impressum diese wichtige Rolle auch weiterhin tatkräftig wahrnimmt. Redaktion Franziska Müller Gestaltung Source Associates AG Druck Druckerei Läderach Ronald Baeriswyl, Leiter HEKS Regionalstelle Bern, Kontakt KKF-OCA, Effingerstrasse 55, 3008 Bern Mitglied der Aufsichtskommission AsylNews, 4/2020 2
Neues aus der KKF Weiterbildung Veranstaltungsreihe nicht vollzogen werden kann. Der Begriff «vorläufig» täuscht. Rund 90 Prozent aller vorläufig aufgenommenen Perso- nen bleiben dauerhaft in der Schweiz. Ihr Horizonte-Programm Vorläufige Aufnahme Aufenthaltsstatus ist aber mit verschie- Frühling 2021 Zwischen Integration und denen Einschränkungen verbunden. Die komplett überarbeitete FachInfo bietet Ausgrenzung Mit dieser Ausgabe des AsylNews erhal- einen umfassenden Überblick über die ten Sie das Weiterbildungsprogramm In den nächsten zwei Jahren stehen Ausgestaltung der vorläufigen Aufnah- Horizonte für das erst Halbjahr 2021. Die zahlreiche Übertragungen von vorläu- me. Sie beantwortet Fragen zu Mobili- Themen der vier Kurse sind der Umgang fig aufgenommenen Personen aus der tät, Familiennachzug, Integration und mit Tabus, Herkunftsland Iran, Arbeits- Zuständigkeit der regionalen Partner Erwerbstätigkeit, Sozialhilfe sowie Vor- integration sowie zwei Jahre neue Asyl- an die Gemeinden an. Der Umgang mit aussetzungen für eine Härtefall- oder verfahren. dieser Personengruppe bringt für die Niederlassungsbewilligung für vorläufig Die Kurse richten sich in erster Linie an Gemeinden spezifische Fragen und Her- aufgenommene Personen. Fachpersonen des Berner Asyl- und Mi- ausforderungen mit sich. grationsbereichs, stehen aber auch wei- Im Rahmen der Veranstaltungsreihe FachInfo «Vorläufige Aufnahme»: teren Interessierten offen. Rechtzeitige «Vorläufige Aufnahme – Zwischen Inte- www.kkf-oca.ch/fi-vorlaeufige-aufnahme Anmeldung lohnt sich, da die Kursplätze gration und Ausgrenzung» informiert beschränkt sind. die KKF Mitarbeitende der Sozialdienste und der Gemeinden über den rechtlichen Freiwilligenarbeit von Programm und Anmeldung: Status, über Hintergründe und Impli- Geflüchteten: Was ist zu www.kkf-oca.ch/horizonte kationen sowie über Einschränkungen Auskünfte: Daphna Paz beachten? daphna.paz@kkf-oca.ch und Möglichkeiten mit der vorläufigen Aufnahme. Die Teilnahme an den Ver- Freiwilliges Engagement bietet geflüch- anstaltungen ist kostenlos. teten Menschen Beschäftigung, eine AsylNews 2021 • Bern, 2. Februar 2021 Tagestruktur und soziale Anschluss- möglichkeiten. Gemeinnützige Organi- • Biel, 9. Februar 2021 (auf Französisch) sationen und kirchliche Institutionen • Thun, 16. Februar 2021 schätzen ihren Einsatz. Allerdings befin- • Burgdorf, 23. Februar 2021 Künftig drei zweisprachige det man sich aufgrund der Rechtslage Ausgaben bei der Freiwilligenarbeit Geflüchteter Online-Anmeldung: www.kkf-oca.ch/veranstaltungen-va schnell in einem Graubereich: Unter wel- Im nächsten Jahr bündeln wir unsere Auskünfte: Hansjörg Rüegsegger chen Umständen dürfen Personen des Ressourcen auf drei Ausgaben pro Jahr, info@kkf-oca.ch, 031 385 18 11 Asylbereichs Freiwilligenarbeit leisten? die im Frühjahr, Sommer und Herbst Welche Möglichkeiten der Anerkennung erscheinen. Das AsylNews bleibt zwei- ihres Engagements sind gestattet? Muss sprachig: Neu bringen wir die Texte in Deutsch und Französisch in der gleichen Dienstleistungen für die Freiwilligen eine Unfallversi- cherung abgeschlossen werden? Solche Ausgabe, wobei jeweils die Fachinforma- Fragen beantwortet die neue FachInfo tionen zum Asylwesen im Kanton Bern «Freiwilligenarbeit von Geflüchteten» integral auf Französisch übersetzt wer- Ausgestaltung der der KKF und der Reformierte Kirchen den. Auch das Editorial und wichtige vorläufigen Aufnahme Bern-Jura-Solothurn (Refbejuso). Sie bie- Informationen aus der KKF lesen Sie tet eine gute Grundlage, um die Rechts- weiterhin in beiden Sprachen. Bei der vorläufigen Aufnahme handelt lage sorgfältig zu klären und Vor- und Für die fachkundige Übersetzung vom es sich um keine eigentliche ausländer- Nachteile sowie allfällige Konsequenzen Deutschen ins Französische können rechtliche Aufenthaltsbewilligung, son- vor den Einsätzen zu diskutieren. wir weiterhin auf unseren langjährigen dern um eine Ersatzmassnahme im Asyl- Übersetzer Sylvain Bauhofer zählen, verfahren. Sie wird angeordnet, wenn FachInfo «Feiwilligenarbeit von dem wir an dieser Stelle herzlich für das Asylgesuch zwar abgelehnt wurde, Geflüchteten»: www.kkf-oca.ch/fi-freiwilligenarbeit seine Arbeit danken. die Wegweisung aus der Schweiz aber 3
Neues aus der KKF Team Trägerschaft Auf Wiedersehen, Lisa Wechsel in der Aufsichts- kommission der KKF Lisa Schädel nahm am 1. Juni 2017 ihre Michel P.F. Esseiva, Alt-Synodal- bzw. Tätigkeit als Ver- Landeskirchenrat und Präsident der antwortliche für römisch-katholischen Kirchgemeinde Information und Biel/Bienne und Umgebung, und Ronald Kommunikation Baeriswyl, Leiter der Regionalstelle Bern bei der KKF auf. des Hilfswerks der Evangelischen Kir- Über drei Jahre hat chen Schweiz Heks, treten per Ende Jahr Sie dafür gesorgt, aus der Aufsichtskommission der KKF dass die Leserinnen und Leser mit dem aus. In den vergangenen Jahren haben AsylNews gehaltvolle und interessante sie sich mit viel Herzblut für Geflüchtete Fachinformationen erhalten. Auf den im Kanton Bern eingesetzt. Wir danken 1. Januar 2020 übernahm sie neben euch, Michel und Ronald, für euer lang- diversen Kommunikationsaufgaben die jähriges Engagement bei der KKF und Projektleitung von «jobs4refugees». In wünschen euch von Herzen alles Gute. diesem Jahr hat sie die Vernetzung mit Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern Neu in der Aufsichtskommission der vorangetrieben, eine digitale Plattform KKF dürfen wir Barbara von Mérey, aufgebaut, Öffentlichkeit für das Thema Landeskirchenrätin der römisch-katho- geschaffen und die Weichen gestellt für lischen Landeskirche des Kantons Bern, den Transfer des Projekts in weitere und Inge Hubacher, Vorsteherin des Regionen. Nun möchte Lisa beruflich Amts für Integration und Soziales der neue Wege beschreiten und verlässt die Gesundheits-, Sozial- und Integrations- KKF per Ende 2020. Wir danken dir, direktion des Kantons Bern, begrüssen. Lisa, für dein Engagement bei der KKF Den Dialog zwischen den Landeskirchen und wünschen dir für deine berufliche und staatlichen Stellen im politisch bri- und private Zukunft alles Gute! santen Themenbereich der Ausländer- und Asylfragen weiterzuführen und zu stärken, ist wichtiger denn je. Wir freuen Herzlich Willkommen, uns auf die Zusammenarbeit mit euch, Claudia Barbara und Inge. Am 1. November 2020 durften wir Claudia Kaiser als Mutterschaftsver- tretung in unserem Team willkommen heissen. Die Erzie- hungswissenschaft- lerin arbeitet seit fünf Jahren im Migra- tionsbereich. In der KKF übernimmt sie als Fachmitarbeiterin des Bereichs Bil- dung und Sensibilisierung bis Ende Mai 2021 die Aufgaben von Myriam Egger, die im Mutterschaftsurlaub ist. Wir freuen uns über diese Zusammenarbeit. www.kkf-oca.ch/ueber-uns AsylNews, 4/2020 4
Fokus: Altern anderswo Welche Forderungen, welche Förderung? Im neu strukturieren Asyl- und Flüchtlingsbereich des Kantons Bern beginnt früh das Alter und enden die Integrationsfördermassnahmen. Das wirft bei den Betroffenen und bei Fachinstitutionen Fragen auf: Was soll und kann möglich sein an beruflicher, wirtschaftlicher und sozialer Integration in den Lebensjahren zwischen fünfzig und dem hohen Alter? Bis solche Fragen geklärt sind, lernt Herr Hamid Sprachen beim Gärtnern, sucht Frau Jaber unverdros- sen eine Stelle, lebt Frau Sarawany gerne im Heim und bringt Frau Murugaverl Menschen ihrer Community das hiesige Alters- und Pflegewesen näher. Ermöglichen, nicht fallen lassen wickeln sollen, eine Landessprache lernen, sich fit machen für den Einstieg in den Arbeitsmarkt, fliesst das Geld sehr knapp. Was tun mit Menschen Ü50, die die Integrationskriterien nicht erfüllen, resp. aufgrund ihrer Biografie, ihrer Ver- Wenn der Kanton und die regionalen Partner die «Leerstelle» fassung und ihres Alters nicht schnell eine Sprache lernen Integration alternder Menschen im Asyl- und Flüchtlings- und deren Eintritt in den ersten Arbeitsmarkt kaum rea- bereich nun füllen müssen, können sie sich an Best Practices listisch ist? Mit dieser Frage sind die regionalen Partner der Behörden und Institutionen anderer Bereiche orientie- seit der Einführung von NA-BE vermehrt konfrontiert. Ein ren. Mit Fragen des Wohnens im Alter beschäftigen sich Dreh- und Angelpunkt für die physische und psychische Raumplanerinnen und Stadtarchitekten, Fachkommissio- Gesundheit und das Wohlbefinden ihrer Klientinnen und nen in transdisziplinärem Austausch, Seniorenräte und Klienten ist die Wohnsituation. Und die wiederum hängt Parlamente. Gesundheitsinstitutionen wie Curaviva oder davon ab, ob eine Person die Integrationskriterien erfüllt. Spitex erweitern stetig ihre transkulturelle Kompetenz und Asylsuchende haben keine freie Wohnungswahl und können ihre Angebote. Ein Schlüsselfaktor, damit die Integration die Kollektivunterkunft nicht verlassen. Eine Ausnahme verschiedener Interessenlagen gelingt, ist die Partizipation. gibt es nur für vulnerable Personen, wobei das Alter als solches bis anhin keine Vulnerabilität darstellt. Vorläufig Während sich Migrantinnen und Migranten die Teilhabe aufgenommene Personen müssen ein Zertifikat auf dem erkämpft haben, bleibt Flüchtlingen und Asylsuchenden die Sprachniveau A1 sowie die Aufnahme einer Erwerbstätig- Repräsentation in diesen Prozessen weitgehend verwehrt. keit oder Ausbildung nachweisen, um von der Kollektivun- Während Inklusion von Generationen und Bevölkerungs- terkunft (Phase 1) in die 2. Phase des individuellen Wohnens gruppen verschiedener Herkunft die gesellschaftlichen Dis- in der Gemeinde wechseln zu können. kussionen in Bezug auf Gesundheit, Alterssicherung und Letztlich bleibt es den KU-Leitungen überlassen, möglichst Wohnverhältnisse prägen, regeln Status und Integrations- gute Bedingungen für Menschen zu schaffen, die nicht kriterien prioritär den Ausschluss geflüchteter Personen. «erfolgreich» sind, sie im Zweibett- statt im Achtbettzim- Wie heimisch und handlungsfähig sollen und dürfen sich mer unterzubringen, zum Beispiel, oder die Vernetzung mit Asylsuchenden und vorläufig aufgenommen Personen Organisationen zu befördern, die ihnen Raum und Mittel fühlen und verstehen? Dieser Frage muss sich der Kanton bieten, ein soziales Leben zu führen. Der Spielraum ist eng, stellen, wenn er mit den regionalen Partnern den Integra- denn in der 1. Phase, in der geflüchtete Personen sich ent- tionsspielraum für die Ü50 präziser definiert. 5
Fokus: Altern anderswo Wohnen im hohen Alter: diese Personen untergebracht sind und unter welchen Bedin- gungen sie leben. Was Daniela Luvisutti berichtet wird ist, Wünsche und Befürchtungen dass das Leben in der Familie nicht immer unproblematisch ist, gerade wenn Personen auf Pflege angewiesen sind. «Die geflüchteter Personen oftmals bereits überlasteten Familien haben häufig nicht die Kapazität, auf die Bedürfnisse von pflegebedürftigen Fami- lienmitgliedern einzugehen. So erhalten ältere Personen nicht Die Wohnsituation ist ein Schlüsselfaktor genügend Aufmerksamkeit und fühlen sich einsam, obwohl für ein würdiges Altern. Sie beeinflusst die sie physisch umgeben sind von ihren Familienmitgliedern.» Gesundheit, die Selbstbestimmung, die Sie beobachtet auch, dass Familien schnell überfordert sein Teilhabe am sozialen Leben. Die Frage «Wo können, wenn anspruchsvolle Pflegemassnahmen erforderlich sind und beispielsweise die korrekte Medikamentenabgabe lebe ich und wer pflegt mich im hohen Alter?» nicht gewährleisten können. Zudem verfügten viele Familien beschäftigt alle Menschen. Wie gehen Flucht- nicht über die finanziellen und zeitlichen Ressourcen, um eine migrantinnen und -migranten mit dieser adäquate Ernährung ihrer pflegebedürftigen Angehörigen zu Situation um? Eine Schlüsselperson der gewährleisten. Entlastungsangebote seien wenig bekannt, sagt Daniela Luvisutti: «Der Zugang zu Informationen über mögli- Migrationscommunity, eine ältere Migrantin che Varianten der pflegerischen Betreuung und Unterstützung und eine Fachfrau gewähren Einblicke. geschieht gemäss unseren Erfahrungen fast ausschliesslich über Schlüsselpersonen aus der Migrationsbevölkerung.» Das Auftreten der eigenen Pflegebedürftigkeit sowie die damit verbundenen Unsicherheiten über verschiedene Opti- Vorbehalte und Ängste onen der pflegerischen Betreuung in der Schweiz gehört zu Wie Nanthini Murugaverl kennt auch Daniela Luvisutti die Vor- den grösseren Sorgen älterer Migrantinnen und Migranten behalte älterer Migrantinnen und Migranten gegenüber den (Hungerbühler & Bisegger, 2012). Das bestätigt auch Nanthi- hiesigen Pflegestrukturen: «Schlüsselpersonen berichten häu- ni Murugaverl, die im Rahmen des Projektes «Gemeinsam in fig über eine grosse Ablehnung gegenüber Pflegeeinrichtungen die Zukunft» (GiZ) der Stadt Bern in Zusammenarbeit mit der wie Altersheimen seitens der älteren Migrationsbevölkerung. Caritas Bern, effe Biel, interunido Langenthal und dem SRK Ein Grund dafür können negative Erfahrungen mit öffentli- Kanton Bern als Schlüsselperson tamilische Seniorinnen und chen Institutionen in der Schweiz sein, aber auch das schlechte Senioren berät und begleitet: «Einerseits kennen die meisten Image von Alterseinrichtungen in den Herkunftsländern. Oft Leute die vorhandenen Angebote gar nicht, oder sie wissen herrscht aber auch die Angst, sich fremd und einsam zu fühlen, nicht, wie sie diese beanspruchen könnten. Andererseits religiöse und kulturelle Bedürfnisse nicht mehr ausleben zu spüre ich viele Vorbehalte gegenüber den bestehenden Ein- können und im strukturierten Alltag mit fixen Essenszeiten richtungen. In den Köpfen vieler Leute leben in Alters- und und Pflegebesuchen die Selbstbestimmung zu verlieren. Selbst Pflegeheimen nur Personen, die von ihren Familien vergessen in Bezug auf Spitex gibt es solche Vorbehalte. Eine der ersten oder gar verstossen wurden. Die gängige Vorstellung ist, dass Befürchtungen vor einem Heimeintritt ist zudem oft, die alten sie im Heim schlecht behandelt werden, vereinsamen und ein Essgewohnheiten aufgeben zu müssen». trauriges Dasein fristen. Meine Aufgabe als Schlüsselperson ist es, Ängste abzubauen und Wissen zu vermitteln, damit Kochen und Kontakte pflegen sich die Leute ein realistischeres Bild über die Institutionen Das hat auch Frau Saraswaty beschäftigt. Sie verfügt über machen können und wissen, wie der Zugang zu den Angeboten eine vorläufige Aufnahme in der Schweiz und lebt seit sechs funktioniert.» Jahren im Wohnheim Acherli in Bern, welches Menschen mit Beeinträchtigungen Wohnplätze bietet und über einen Leis- Stress in der Familie tungsvereinbarung mit dem Kanton Bern finanziert wird. «Ich Der aktuellste Age Report – das Standardwerk zum Thema habe grosses Glück», sagt sie, «zweimal pro Woche kann ich Wohnen und Altern in der Schweiz – geht davon aus, dass die die Küche benutzen und für mich und ein paar Bewohnerin- meisten älteren Migrantinnen und Migranten bei Familien- nen und Bewohner tamilisches Essen zubereiten. Das trägt angehörigen untergebracht sind. Bei Fluchtmigrantinnen und viel dazu bei, dass ich mich hier wohlfühle.» Frau Saraswaty -migranten sei dies wohl ebenfalls der Fall, meint Daniela wurde von ihrer Sozialarbeiterin über die bestehenden Pfle- Luvisutti, Co-Leiterin des Programms Migration und Alter ge- und Wohnangebote informiert. Ihr Gesundheitszustand der Caritas Bern. Sie bedauert, dass kaum erfasst sei, wo erlaubte es nicht mehr, bei ihrer Familie zu bleiben, so dass sie AsylNews, 4/2020 6
Fokus: Altern anderswo sich schliesslich für einen Heimeintritt entschloss. «Hier bin ich umgeben von hilfsbereitem Personal und ich pflege einen Härtefallbewilligung berücksichtigt guten Kontakt zu anderen Bewohnerinnen und Bewohnern. das Alter Wir machen zusammen Ausflüge oder treffen uns im Gruppen- raum. Wenn ich Ruhe brauche, kann ich mich in mein eigenes Der Fall von Frau A. aus dem Kanton Waadt zeigt: Die Här- Zimmer zurückziehen, diese Privatsphäre zu haben, geniesse tefallprüfung darf sich nicht darauf beschränken, Gründe ich sehr.» zu erwägen, die gegen eine Bewilligung sprechen. Sie muss auch Motive berücksichtigen, die für die Feststellung eines Kein Zimmer für sich allein persönlichen Härtefalls sprechen, wie etwa schwierige Dass die Unterbringung in Mehrbettzimmern, wie sie es in Integrationsvoraussetzungen und das Alter. Kollektivunterkünften in den Asylstrukturen auch für ältere Frau A. lebte zum Zeitpunkt ihres Härtefallgesuchs seit Fluchtmigrantinnen und -migranten oft üblich ist, beson- 20 Jahren in der Schweiz, 17 Jahre davon mit einer vor- ders belastend sein kann, bestätigt Nanthini Murugaverl. läufigen Aufnahme. Sie kam mit 43 Jahren in die Schweiz Sie berichtet von einer 75-jährigen vorläufig aufgenommenen und ist inzwischen 65 Jahre alt. Frau A. ist Analphabetin, Tamilin, Frau N., die seit fünf Jahren in einer Kollektivunter- was sich für ihre sprachliche und berufliche Integration kunft im Kanton Bern untergebracht ist. Sie teile ihr Zimmer hinderlich auswirkte. Bis zur Erreichung des Rentenalters mit mehreren jüngeren Personen und habe keine Rückzugs- war sie daher auf finanzielle Unterstützung angewiesen. möglichkeit. Im Gegensatz zu anderen älteren Geflüchteten Inzwischen erhält sie AHV und Ergänzungsleistungen. in Kollektivunterkünften könne sie wenigstens auf ein breites In ihrem Härtefallgesuch führte Frau A. aus, dass sie bereits tamilisches Unterstützungsnetz zurückgreifen, so würden zwei Jahrzehnte in der Schweiz lebe, seit ihrer Scheidung ihr Freiwillige in der Corona-Zeit beispielsweise den Einkauf bei ihrem eingebürgerten Sohn und dessen Familie unter- abnehmen. Nicht alle Asylsuchenden und vorläufig aufgenom- gebracht sei und sich keine Straftaten oder Betreibungen men Personen in den Kollektivunterkünften könnten auf sol- zuschulden habe kommen lassen. Obwohl sie ungebildet che Hilfe zählen. Frau N. wünscht sich, in einem Heim leben sei, habe sie Anstrengungen unternommen, sich zu integ- zu können, sobald sie pflegebedürftig wird. rieren – so habe sie ein A1-Sprachniveau erreicht und sich Der Entscheid darüber, welche Massnahme für Frau N. getrof- um die Integration ihrer Kinder bemüht. Eine Bewilligung fen wird, liegt seit der Neustrukturierung des Asyl- und ihres Gesuchs und die damit verbundene Erteilung eines Flüchtlingsbereiches im Kanton Bern (NA-BE) für Personen im B-Ausweises würde ihr ermöglichen, in ihr Heimatland zu laufenden Verfahren oder mit vorläufiger Aufnahme als Aus- reisen, um ihren betagten Vater zu besuchen und mit ihren länderin oder Ausländer beim jeweiligen regionalen Partner, Kindern und Enkelkindern Auslandreisen zu unternehmen. im Falle von Frau N. beim Kompetenzzentrum Integration. Der kantonale Bevölkerungsdienst (Service de la population, Sollte der Wunsch für Frau N. in Erfüllung gehen, wird ihr der SPOP) lehnte das Gesuch ab und begründete seinen Entscheid Übertritt ins Alters- und Pflegeheim dank der Begleitung durch damit, dass Frau A. sich weder wirtschaftlich integriert habe ihre Schlüsselperson Nanthini Murugaverl leichter fallen. noch der französischen Landessprache mächtig sei. Das Waadtländer Kantonsgericht sieht das im Urteil vom Das Beispiel zeige, so Daniela Luvisutti, dass die Arbeit mit 5. Aug ust 2020 (PE.2019.0291) anders: Die lange Aufent- Schlüsselpersonen aus der Migrationsbevölkerung auch in haltsdauer in der Schweiz sowie die Tatsache, dass sie Zukunft unabdingbar sei. Wichtig seien niederschwellige der Bildung ihrer Kinder – mittlerweile Schweizer Bür- Zugänge zu Informationen, aber auch die gezielte Vorberei- gerinnen und Bürger – Vorrang eingeräumt habe , seien tung der Pflegeheime auf die Migrationsbevölkerung durch deutlich stärker zu gewichten als dies der SPOP getan Sensibilisierung für die transkulturelle Öffnung. Da in Zukunft habe. Zudem seien ihre Integrationsschwierigkeiten auf- die Herkunftsländer der pflegebedürftigen Menschen immer grund von Analphabetismus, fehlender Schulbildung und vielfältiger werden, werden Fachpersonen mit Migrationshin- fortgeschrittenem Alter bei der Ankunft in der Schweiz tergrund eine wichtige Rolle spielen. nachvollziehbar. Die vorläufige Aufnahme schränke sie überdies in ihrer Mobilitätsfreiheit stark ein. Da auch eine Age Report IV, Wohnen in den späten Lebensjahren. Grundlagen und Wiedereingliederung in Bosnien unzumutbar sei, sieht das regionale Unterschiede. François Höpflinger, Valérie Hugentobler, Gericht keinen Grund, diesen Fall nicht als persönlichen Dario Spini (Hrsg.), 2019 www.age-report.ch/de/bestellen-download-1 Härtefall einzustufen und weist die kantonale Behörde an, eine B-Bewilligung zu erteilen. Projekt «Gemeinsam in die Zukunft» www.bern.ch/themen/gesundheit-alter-und-soziales/alter-und- www.jurisprudence.vd.ch > PE.2019.0291 pensionierung/alter-migration/gemeinsam-in-die-zukunft 7
Fokus: Altern anderswo Stolpersteine statt Keine Sprachkurse, keine Weiterbildung Leila Jabers Sprachtalent ist unübersehbar. Sie spricht aus- Chancen für Leila Jaber gezeichnet Deutsch und ist im Gespräch sehr darum bemüht, die jeweils korrekten Fälle, Artikel und Verbformen zu ver- Rentenalter 50? Für viele Geflüchtete in der wenden. Trotzdem wurden Leila Jaber keine weiterführenden Schweiz ist das die Realität. Aber nicht, um Sprachkurse finanziert, bei Niveau B1 war Schluss. Seither hat den Ruhestand zu geniessen. Vielmehr ist ab fünfzig in der Regel Schluss mit Massnah- men, welche die Erwerbsintegration fördern – so auch bei Leila Jaber*, einer 57-jährigen Frau aus Syrien. Während die Erwerbsintegration von vorläufig aufgenomme- nen Personen noch vor wenigen Jahren kein vorrangiges Ziel Foto: Lisa Schädel war – eine baldige Rückkehr ins Herkunftsland stand im Vor- dergrund – steht diese heute klar im Fokus. Für alle Personen des Asylbereichs wird, mit Ausnahme der Asylsuchenden, eine möglichst rasche und nachhaltige Integration in den ersten Leila Jaber ist entschlossen, nicht aufzugeben. Arbeitsmarkt angestrebt und dafür seit Mitte 2019 im Rahmen der Integrationsagenda Schweiz auch deutlich mehr Geld zur sie ihre Sprachkenntnisse selbstständig verbessert und auf Verfügung gestellt (vgl. AsylNews 4/19). Doch verschiedene diese Weise mittlerweile Niveau B2 erreicht. Ebenfalls wurde Personengruppen fallen durch die Maschen sowohl der Inte- ihr eine Ausbildung zur Kinderbetreuerin verweigert, obwohl grationsagenda als auch der NA-BE-Bestimmungen. So wird sie alle Voraussetzungen erfüllte – eine Bekannte, die deutlich bei Personen über 50 Jahren eine Integration in den Arbeits- schlechter Deutsch sprach aber einige Jahre jünger war, durfte markt in der Regel nicht mehr gefördert. die Ausbildung hingegen absolvieren. Hochgebildet, aber viele Hürden Parallelen im Integrationsprozess Die Integrationsagenda Schweiz definiert das erwerbsfähi- Ihre Enttäuschung ist offensichtlich, doch trotz aller Rück- ge Alter als zwischen 16 und 50 Jahren, die Altersgrenze für schläge scheint Leila Jaber nicht verbittert, ihre Motivation hat Potenzialabklärungen liegt bei 49 Jahren. Was dies konkret sie trotz allem nicht verloren. Sie sprüht nur so von Plänen und heisst, hat Leila Jaber in den sechs Jahren, die sie in der Schweiz Ideen – darunter Arabischstunden für arabischsprachige Kin- ist, immer wieder zu spüren bekommen. Die Damaszenerin hat der in Burgdorf oder Schmuckverkauf an Märkten. Nach wie in Syrien arabische Literatur studiert und zuletzt als Heraus- vor nicht aufgegeben hat sie aber ihren Wunsch, eine reguläre geberin und Lehrerin an einem wissenschaftlichen Institut Anstellung zu finden. Doch die Suche gestaltet sich schwierig gearbeitet. Vor sechs Jahren gelang ihr zusammen mit ihrem und auf professionelle Unterstützung kann sie nicht zählen. Mann und ihren beiden mittlerweile erwachsenen Söhnen Immerhin kann sie seit zwei Jahren auf die Hilfe ihrer Tandem- die Flucht in die Schweiz. Während sich letztere in Windes- Partnerin Miriam Birtoli zählen, bei der Arbeitssuche aber eile integriert haben – der Ältere hat kürzlich einen Master an auch in vielen anderen Belangen. PaMi, das Patenschaftspro- einer Schweizer Universität erworben, der andere steht kurz gramm der Reformierten Kirche Burgdorf für Migrantinnen davor – sieht sich Leila Jaber mit grossen Herausforderungen und Migranten, hat die zwei Frauen zusammengebracht, die konfrontiert, was ihre berufliche Integration betrifft. Neben sich seither einmal wöchentlich treffen. den Schwierigkeiten, mit denen sich auch viele ältere Schwei- Miriam Birtoli* hilft, wo sie kann und schöpft dabei auch aus zer Arbeitssuchende konfrontiert sehen, kommen bei Leila ihrer eigenen Erfahrung als Migrantin. Vor 40 Jahren ist sie Jaber die fehlende Anerkennung ihrer Diplome, die fehlende damals aus Italien in die Schweiz gekommen. Zwischen ihrem Arbeitserfahrung in der Schweiz sowie ihre noch nicht per- Integrationsprozess und jenem von Leila Jaber sieht sie klare fekten Deutschkenntnisse als zusätzliche Erschwernis hinzu. Parallelen – auch wenn ihre Migrationsgeschichten natürlich Und trotz ihrer guten Bildung, ihrer überdurchschnittlichen keineswegs vergleichbar seien. Wunder kann aber auch sie Motivation und ihrem grossen Willen wurden ihr aufgrund keine vollbringen, und so machen sich die Frauen auf einen ihres Alters immer wieder Stolpersteine in den Weg gelegt. weiterhin frustrierenden Bewerbungsprozess gefasst, in der Hoffnung, irgendwann doch noch Erfolg zu haben. * Die Namen wurden auf Wunsch der Betroffenen geändert. AsylNews, 4/2020 8
Fokus: Altern anderswo Radieschen statt mal wöchentlich mithilft. Sie ist im gleichen Alter wie Abdul und kniet Unkraut jätend zwischen den Radieschen in seinem Radiergummi Garten. Ab und zu plaudern sie ein wenig. «Abdul hat auch die Tomatenhäuser gebaut», ergänzt die Gartenleiterin Flurina Für ältere Geflüchtete wird in der Regel Rouane: «Die Teilnehmenden können sich aktiv einbringen keine Integration in den Arbeitsmarkt mehr und das Projekt mitgestalten.» angestrebt und gängige Integrationsformate Deutsch im Freien wie Sprachkurse sind nicht auf diese Gruppe Diese Treffen werden jeweils von einem Zvieri abgerundet, zugeschnitten. In dieser Situation kann der welches unter den schattenspendenden Bäumen stattfindet. Familiengarten einen Raum öffnen, in dem In dieser Umgebung ist das Deutschsprechen für alle viel einfa- cher. Heute wird nochmals das Thema «Zecken» aufgegriffen. ältere Menschen Kontakte in verschiedenen Marisa, Apothekerin und Freiwillige im Gartenprojekt, hat für Sprachen knüpfen und sich zuhause fühlen. alle eine Zeckenkarte mitgebracht, mit welcher die kleinen Tierchen einfach entfernt werden können. Die Karten werden Als Abdul seine Radieschen wässert, ist es August. Bei hoch- herumgereicht und die anwesenden Gärtnerinnen und Gärtner sommerlichen Temperaturen schleppt der 64-jährige Afgha- tauschen sich auf Farsi, Arabisch, Kurdisch, Tamilisch und ne Giesskanne um Giesskanne, um seinen Garten zu pflegen. Amharisch untereinander aus, um sicherzustellen, dass alle Dieser liegt inmitten des städtischen Familiengartens an der die Anwendung der Zeckenkarte richtig verstanden haben. Könizstrasse in Bern, wo das Hilfswerk der evangelischen Dazwischen rufen sie einander zu «Kann ich bitte ein Stück Kirchen Schweiz (Heks) im Rahmen des Programmes «Neue Kuchen haben?», reichen Teller mit afghanischem Salat herum Gärten Bern» drei Parzellen gepachtet hat. Hier haben Migran- und lachen, weil «Flasche» und «Fleisch» verwechselt werden. tinnen und Migranten wie Abdul die Gelegenheit, ein eigenes «Gerade für ältere Menschen eignen sich schulische Sprach- Gartenbeet zu bestellen und Kontakte zu pflegen. kursformate häufig nicht besonders», erzählt Flurina Rouane, «sie fühlen sich beim Sprechen über ihren Garten wohler und Gärtnern in Kontakt das Lernen geschieht eher nebenbei». Marisa fügt an, dass dies Abdul und seine Frau Fatima sind vorläufig aufgenommene auch für die Begegnungen zwischen den Freiwilligen und den Flüchtlinge und engagieren sich seit zwei Jahren in diesem Pro- Geflüchteten gelte: «Es ergibt sich einfach so». jekt. Abdul hat mich zwischen Tomatenpflanzen und Himbeer- sträuchern zum Gespräch empfangen. Fatima kann an diesem Als ich mich von Abdul Tag nicht dabei sein, da sie sich um Ali, ihren dreijährigen verabschieden will, Enkel, kümmern muss. «Der Garten ist gut», sagt der ältere steht er gerade vor Herr mit einem Lächeln. «Die Leute hier sind nett, wir spre- seiner Gartenparzel- chen alle miteinander und können draussen arbeiten.» Des- le und lässt den Blick halb komme er zwei- bis dreimal pro Woche hierher. Das geht über seine Zucchet- zum Glück ganz einfach, mit dem Tram direkt von Worb ins ti und Gurken, den Fischermätteli, danach noch fünf Minuten zu Fuss. Auf seinen kleinen afghanischen aktuellen Wohnort angesprochen wiegt er nachdenklich den Lauch, die Randen, Kopf. «Wir sprechen dort mit niemandem», sagt er dann. Kon- Radieschen, den Salat takt zu Nachbarn hätten sie kaum. Da sei er lieber draussen. Im und die Tomaten wan- Foto: Myriam Egger Garten bewegt sich Abdul auf vertrautem Terrain: «Ich habe dern. Zum Abschied in Afghanistan als Gärtner gearbeitet und hatte später einen schenkt er mir eine kleinen Buchladen». In seiner Heimat würden ältere Menschen Gurke und meint, die einfach weiterarbeiten, bis es nicht mehr gehe: «Hier habe ich sei für meine Familie. Im Familiengarten fühlt sich Abdul auf keine Arbeit, das ist nicht gut.» Marisa schmunzelt: vertrautem Boden. «Die Leute schenken Die gute Seele des Projekts uns gerne etwas aus ihrem Garten. Ich glaube, es gibt ihnen Abduls langjährige Gärtnererfahrung wurde von den anderen das Gefühl dazu zu gehören, wenn auch sie manchmal etwas Projekt-Teilnehmenden denn auch sofort bemerkt, und seit- geben können.» dem gilt er als gute Seele des Integrations-Gartens. «Er kennt www.heks.ch/was-wir-tun/neue-gaerten-bern sich aus und hilft den anderen gerne und mit viel Hingabe und Geduld», erzählt Annemarie, eine der Freiwilligen, die ein- 9
Fachinformationen Im Gespräch mit regionalen Waren die neuen Regelungen zu unklar oder kamen zu spät? Partnern: ABO Natürlich kamen sie spät, aber auch wenn man noch zwei Jahre länger Zeit gehabt hätte, wäre es nicht einfach gewesen. In einer Gesprächsreihe im AsylNews stellen Wir müssen akzeptieren, dass es eine Phase der Unsicherheit die neuen regionalen Partner des Asyl- und und Unordnung gibt und diese durchstehen. Man kann nicht erwarten, dass das System innerhalb von drei bis vier Monaten Flüchtlingsbereichs im Kanton Bern ihre perfekt funktioniert. In dieser Situation ist der längere Zeit- Organisation und Arbeit vor. Den Anfang horizont wichtig, den wir mit den Leistungsverträgen haben. macht Asyl Berner Oberland (ABO). In den ersten zwei Jahren muss sicher viel Umsetzungs- und Anpassungsarbeit geleistet werden. Am 1. Juli 2020 haben die neuen regionalen Partner die Arbeit aufgenommen. Der Verein Asyl Berner Oberland (ABO) hat den Wie hat sich ABO als Organisation auf diesen Wechsel vor- Zuschlag für die Region Thun und Oberland erhalten. Der Ver- bereitet? ein wurde 2016 durch die regionalen und kommunalen Sozial- dienste des Berner Oberlands gegründet und übernahm per Etwas vom Wichtigsten war für uns, den Kulturwandel zu voll- 1. Januar 2018 alle Geschäfte der Asylkoordination der Stadt ziehen. Natürlich haben wir auch neue Konzepte erarbeitet, Thun. ABO ist in der Region gut verankert und kann auf lang- uns mit den SKOS-Richtlinien beschäftigt, etc., das sind aber jährige Erfahrungen und eine gut ausgebaute regionale Ver- eher technische Aspekte. Aus unserer Sicht braucht es eine netzung zurückgreifen. Trotzdem ist der Auftrag unter NA-BE neue Integrationskultur. Die Geflüchteten sollen nicht nur ein anderer als zuvor – und auch ABO befindet sich in einem verwaltet werden, sondern gezielt gefördert und so an den Veränderungsprozess. Im Gespräch mit der KKF gibt Christian Arbeitsmarkt und in die Selbständigkeit geführt werden. Gera- Rohr, Geschäftsführer von Asyl Berner Oberland, Auskunft, de im Bereich des kollektiven Wohnens bedeutet dies einen wie ABO die neuen Aufgaben meistern will. grossen Wandel. Die gezielte Gestaltung der Zusammenarbeit mit den Betroffenen in der 1. Phase ist enorm wichtig. Sie sollen Raphael Strauss und Sabine Lenggenhager, KKF: Im Vergleich von Beginn an verstehen, was von ihnen erwartet wird und was zu den anderen regionalen Partnern hat ABO verhältnismäs- sie von uns erwarten dürfen. Sich aktiv zu integrieren, ist ihre sig wenig neue Dossiers übernommen und eure Organisation Aufgabe. Wir unterstützen sie dabei. ist relativ konstant geblieben. Stellt die neue Situation euch trotzdem vor Herausforderungen? Wie stellt ihr diese Unterstützung und die durchgehende Fall- führung – als eines der zentralen Elemente von NA-BE – sicher? Christian Rohr: Eine grosse Herausforderung ist sicher der Umgang mit den bestehenden Unklarheiten. Es ist für die Mit- Bei uns sind die Geflüchteten nur eine beschränkte Zeit in einer arbeitenden belastend, wenn sie nicht alle Fragen der Klien- ‹gewöhnlichen› Kollektivunterkunft untergebracht; einem tinnen und Klienten zufriedenstellend beantworten können. Basiszentrum, wie wir das nennen. Sobald sie das Sprach- Trotz Zeitmangel wollen wir jedoch qualitativ gute Arbeit leis- niveau A1 und gewisse Schlüsselkompetenzen erworben und ten. Die Leitung von ABO hat zwar gewusst, dass es schwierig einen definitiven Statusentscheid erhalten haben, wechseln sie wird und dies den Mitarbeitenden auch kommuniziert. Aber in ein Take-Off-Zentrum. Das sind kleinere, regionale Zentren, vorgewarnt sein, dass es chaotisch wird, und es dann effektiv in welchen rund fünfzehn Personen wohnen. Aktuell führen zu erleben und konstruktiv damit umzugehen, ist nicht das- wir zwei solche Zentren, in Uttigen und in Spiez. Wir gehen selbe. Wir sind auf gutem Weg, aber die Belastung ist hoch. aber davon aus, dass wir bis in fünf Jahren bis zu fünfzehn Take-Off-Zentren betreiben werden. Sobald der Transfer in Eine weitere Herausforderung sind die rückläufigen Asyl- ein Take-Off-Zentrum stattgefunden hat, übernehmen Inte- zahlen, was sich mit Corona nochmals deutlich verschärft grationsberaterinnen und -berater aus dem Team unserer hat. Wir erhalten praktisch keine neuen Zuweisungen. Unser Sozialarbeitenden die Fallführung – ab da sollte es möglichst Konzept, beispielsweise für die Erstinformation, ist jedoch auf keine Zuständigkeitswechsel mehr geben. Neuzuweisungen ausgerichtet. Tatsächlich arbeiten wir jetzt aber zu einem grossen Teil mit der Übergangsgruppe, also den Die Take-Off-Zentren sind eine «Spezialität» von ABO. Welche Personen, die bereits hier waren. Sie wurden vor dem Struk- Grundüberlegung steht dahinter? turwechsel nicht umfassend informiert über das neue System. Jetzt wird aber zum Beispiel von ihnen erwartet, dass sie alle Die Verteilung in kleinere regionale Zentren ist für die Inte- an gemeinnützigen Beschäftigungsprogrammen teilnehmen. gration der Klientinnen und Klienten zentral. Sie sollen sich Das löst bei den Betroffenen ein gewisses Unverständnis aus. so früh wie möglich lokal integrieren und vernetzen können, Diese systematische Information der Übergangsgruppe holen das ist für die spätere berufliche Integration extrem hilfreich. wir zurzeit nach. Bei der Zuteilung schauen wir auch auf die individuelle Inte- grationsplanung: Wer beispielsweise im Tourismussektor arbeiten will, wird bereits früh in der Region Interlaken oder AsylNews, 4/2020 10
Fachinformationen Saanen platziert. Damit das funktioniert, arbeiten wir sehr eng mit den Gemeinden und den lokalen Strukturen zusammen. Bereits jetzt sind wir bei etwa acht Sozialdiensten regelmässig vor Ort präsent. Und wir investieren viele Ressourcen in die Freiwilligenarbeit. Wir haben in früheren Projekten gesehen, dass diese Strategie im Oberland am besten funktioniert. Das ist wohl eine Spezialität unserer Region, die wir zu nutzen ver- suchen. Die lokale Vernetzung wirkt im Frutigtal viel stärker als zum Beispiel in Münchenbuchsee. Wann setzt der Integrationsprozess für die berufliche Inte- gration ein und wie ist er aufgebaut? Im Basiszentrum werden die grundlegenden Kompetenzen und Interessen der Personen in Erfahrung gebracht. Gleich- zeitig können alle Klientinnen und Klienten professionelle Sprachkurse besuchen, unabhängig von ihrem Aufenthaltssta- tus. In diesem Punkt weichen wir vom NA-BE Konzept ab, wel- ches für Personen im laufenden Verfahren Sprachförderung Foto: ABO durch Freiwillige vorsieht. Wir begleiten kaum Personen im laufenden Verfahren und von den wenigen haben die meisten Gut unterwegs: Die Geschäftsleitung von ABO mit (v.l.) Kamil Girgis, die Aussicht auf einen Entscheid mit Bleiberecht. Zudem ist es Co-Leiter Basis-Zentren; Matthias Bürki, Leiter Zentrale Dienste; ein gutes Training, wenn die Asylsuchenden die Kurse extern Barbara Jost, Co-Leiterin Basis-Zentren; Tanja Brombacher, Leiterin besuchen müssen: Sie lernen, sich im öffentlichen Raum zu Beratung & Integration; Regula Zoll, Leiterin Bildung & Freiwilligen- arbeit und Christian Rohr, Geschäftsführer (sitzend). bewegen, mit dem ÖV zurecht zu kommen und können Schlüs- selkompetenzen wie Pünktlichkeit üben und erleben. Die spezifische und gezielte Förderung der Arbeitsintegration setzt mit dem Wechsel in eine Take-Off-Unterkunft ein. Sie Schwieriger ist es natürlich bei den «Wackelkandidatinnen kann aus individueller Sprachförderung, Fachkursen, Job- und -kandidaten», also denjenigen Personen, die zwar arbei- Coachings oder anderen Angeboten bestehen. Für die Umset- ten wollen, deren Arbeitsfähigkeit aber eingeschränkt ist. zung arbeiten wir sehr eng mit den Regelstrukturen und mit Bei diesen Fällen arbeiten wir mit den BIAS-Partnern aus der lokalen Anbietern zusammen, z.B. mit Brückenangeboten, Sozialhilfe zusammen, um die Arbeitsfähigkeit und das Ent- Beschäftigungs- und Integrationsangeboten der Sozialhilfe wicklungspotential zu erkennen. Ist die Leistungsfähigkeit (BIAS), Institutionen im Bereich der beruflichen Bildung oder aber nicht gegeben, ist die Integration in den 1. Arbeitsmarkt auch mit IV-Institutionen. Arbeitsintegration und Integration unrealistisch. Da werden wiederum die lokalen Auffangnet- ganz generell sind eine lokale Geschichte – das ist eine Grund- ze und Strukturen wichtig: Wir sind mit den Gemeinden im überzeugung, die wir durch alle Bereiche durchziehen. Gespräch, um kommunale Integrationsangebote (KIA) aufzu- bauen. Deren Finanzierung muss aber noch geregelt werden. Wie funktioniert das konkret auf die verschiedenen Ziel- gruppen bezogen? Zum Schluss eine «Carte blanche»: Wenn ABO einen Wunsch frei hätte, was würdet ihr euch vom Kanton wünschen? Die grösste und relevanteste Gruppe bei ABO sind die jungen Erwachsenen. Sie besuchen oft das berufsvorbereitende Schul- Was mir bei all den Fragen, die noch zu lösen sind, extrem jahr (BVS). Wenn sie im zweiten Jahr BVS mehr Unterstützung wichtig ist, ist ein sachlich-konstruktives Miteinander. Es für die Integration in den Arbeitsmarkt brauchen, stellen wir besteht immer eine gewisse Gefahr, dass die Diskussion ideo- einen Jobcoach von Volkswirtschaft Berner Oberland zur Ver- logisch wird. Im Moment erlebe ich die Zusammenarbeit als fügung. Volkswirtschaft Berner Oberland übernimmt also in sehr konstruktiv und lösungsorientiert und hoffe, dass das unserem Auftrag die Begleitung, das Jobcoaching und die so bleiben wird. Eine Schwierigkeit stellt für uns die unglei- Nachbetreuung bis zum Lehrabschluss. che Verteilung der Asylsuchenden dar: Wir geraten wegen der tiefen Zuweisungszahlen zunehmend in einen Bereich, in Aber auch bei den über 25-Jährigen gilt: Wenn jemand eine welchem es schwierig ist, die Grundstruktur und die professio- Lehre machen und arbeiten will, dann unterstützen wir das. nelle Ausübung unseres Auftrages zu finanzieren. Da besteht Die Person muss motiviert sein und gute Voraussetzungen mit- Diskussionsbedarf. bringen. Das Alter ist nicht ausschlaggebend, entscheidend ist, ob jemand wirklich will. 11
Fachinformationen Organisation der Seelsorge Landeskirchen, unterstützt sie in ihrer Arbeit und erstattet der IKK Bericht. Die Steuerungsgruppe trifft sich viermal pro bei Asylsuchenden Jahr und bietet eine Plattform, um über das aktuelle Geschehen und die Entwicklung der Seelsorge im Gespräch zu bleiben. Um geflüchtete Menschen in den Bundes- asyl- und Rückkehrzentren seelsorgerisch In den kantonalen Rückkehrzentren Aufgrund der zeitweiligen Schliessung des Bundesasylzent- zu begleiten, arbeiten die Landeskirchen rums in Kappelen und der zeitgleich anstehenden Eröffnung und der Schweizerische Israelitische der Rückkehrzentren (RKZ) des Kantons Bern im Rahmen Gemeindebund zusammen. Die folgende der Umsetzung von NA-BE (Neustrukturierung des Asyl- und Übersicht gibt Auskunft darüber, wo Asyl- Flüchtlingsbereichs im Kanton Bern) beschloss die IKK, die in Kappelen frei gewordenen Kapazitäten ausnahmsweise auf seelsorge angeboten wird, wie sie institutio- kantonaler Ebene in den Rückkehrzentren einzusetzen. Mit nell verankert ist und wer sie bezahlt. dem Kanton konnte ein Rahmenvertrag analog zu jenem zwi- schen Bund und EKS geschlossen werden. Seit Mitte Jahr ist die In den Bundesasylzentren in der Schweiz Seelsorge in den RKZ aktiv. Gleichzeitig werden Gespräche mit Seit 1995 bieten die Landeskirchen und der Schweizerische den nahe bei den RKZ liegenden Kirchgemeinden und Pfarrei- Israelitische Gemeindebund (SIG) in den Empfangs- und Ver- en geführt, um abzuklären, wer ab Anfang 2021 diese wichtige fahrenszentren des Bundes einen Seelsorgedienst für Asyl- Aufgabe übernehmen könnte. Die Finanzierung durch die IKK suchende an. Grundlage dafür ist die «Rahmenvereinbarung ist klar befristet bis Ende 2020. Idealerweise würden danach für die regionalen Seelsorgedienste in den Empfangsstellen für durch Kirchgemeinden oder Pfarreien bezahlte Personen – mit Asylsuchende» zwischen dem Staatssekretariat für Migration entsprechender fachlicher Eignung und unter der Begleitung (SEM), der Evangelischen Kirche Schweiz (EKS), der Schweizer und Verantwortung der IKK Steuergruppe – die Seelsorge in Bischofskonferenz (SBK), der Christkatholischen Kirche der den RKZ betreiben. Schweiz sowie dem Schweizerischen Israelitischen Gemeinde- bund (SIG). Dort wird u.a. festgehalten, dass «die Seelsorge Zusammenstellung: Pascal Mösli, Beauftragter Spezialseelsorge und in den Bundeszentren sich als Dienst am Menschen» versteht Palliative Care und Carsten Schmidt, Leiter Fachstelle Migration der und dass sie in «ökumenischer bzw. interreligiöser Verantwor- Reformierte Kirchen Bern-Jura-Solothurn tung» geschieht. Basierend darauf haben die Kirchen und der SIG ein Leitbild für die Seelsorge verabschiedet. Ökumenische Seelsorge für Asylsuchende im Kanton Bern: Bei der Einrichtung der Seelsorge in den Bundesasylzent- www.sesabe.ch ren (BAZ) sind die jeweiligen kantonalen religiösen Partner zuständig – die EKS und die SBK unterstützen die Seelsorge finanziell. Die Seelsorgenden müssen durch diese Träger (Kirchen und SIG) und das SEM akkreditiert werden, damit sie Zugang zu den Bundeszentren erhalten. Die Bundeszentren sind für Drittpersonen der Zivilgesellschaft geschlossen. Die Seelsorgenden gehören deshalb zu den wenigen aussenstehen- den Akteurinnen und Akteuren, die direkten Einblick in das Leben in den Zentren haben. In den Bundesasylzentren im Kanton Bern Im Mai 2016 wurde das BAZ (mit Verfahrensfunktion) für Asylsuchende im ehemaligen Zieglerspital Bern mit vorerst 150 Plätzen eröffnet. Seit Sommer 2017 stehen 350 Betten zur Verfügung. Ab März 2019 war das BAZ (ohne Verfahrensfunk- tion) für Asylsuchende in Kappelen für kurze Zeit in Betrieb, wurde dann geschlossen und Mitte September 2020 wieder- eröffnet. Die ökumenische Seelsorge im Zieglerspital und in Kappelen ist ein Projekt der Interkonfessionellen Konferenz (IKK). Die Synoden der beiden grossen Landeskirchen haben die Finanzierung gutgeheissen – damit ist die Seelsorge in den Bundesasylzentren im Kanton Bern breit abgestützt. Aktuell sind drei Seelsorgende mit total 160 Stellenprozenten in den Zentren tätig. Sie sind von ihrer jeweiligen Landeskirche angestellt. Eine ökumenische Steuerungsgruppe, zusammen- gesetzt aus Seelsorgenden und Seelsorgeverantwortlichen der AsylNews, 4/2020 12
Fachinformationen Auf Menschen zugehen im Solche Momente sind Highlights in der Seelsorge. Da, wo die Ressourcen der Menschen sichtbar werden, wo ihre Tatkraft Rückkehrzentrum etwas bewirkt und im besten Fall auch andere an ihr teilhaben können, da wird der Mensch wieder lebendig. Als Seelsorge- Pfarrerin Beatrice Teuscher gehört zum rin versuche ich, mein Gegenüber als Ganzes wahrzunehmen, ökumenischen Team, das in den Bundesasyl- dessen körperliche, psychische, soziale, intellektuelle und spirituelle Bedürfnisse und Ressourcen miteinander ver- und Rückkehrzentren im Kanton Bern Seel- woben sind. In den Gesprächen mit den Bewohnerinnen und sorge leistet. Sie erzählt von den Menschen, Bewohnern der Rückkehrzentren leitet mich immer wieder die die dort wohnen und davon, wie sie ihnen Frage, woher die Menschen die Kraft nehmen, unter diesen als Seelsorgerin begegnet. erschwerten Bedingungen Eigeninitiative und Selbstwirksam- keit zu entwickeln. Es ist eine überlebenswichtige Frage, die Beatrice Teuscher dem langsamen Sterben des «élan vital», der Lebensenergie, entgegenwirken soll. Das Asylgesuch wird abgelehnt. Die Lehre muss in der Folge abgebrochen werden. Das Arbeitsverhältnis wird aufgrund Seelsorge spielt sich in Gesprächen ab, in Gruppenaktivitäten fehlender Aufenthaltstitel beendet. Und nichts geht mehr wei- – sofern sinnvoll und vorhanden –, beim gegenseitigen Tei- ter. Die Hoffnung, legal in der Schweiz bleiben zu können, ist len und sich Mitteilen. Als Seelsorgerin versuche ich je nach zerschlagen. Die Aussicht, ins Herkunftsland zurückkehren, Bedürfnis der Bewohnerinnen und Bewohner, Netzwerke und löst Angst aus. In ein anderes Land zu fliehen, ist mit hohen Orte zu suchen, wo sich die Seele vom zermürbenden Lager- Risiken, Strapazen und möglicherweise erneutem Scheitern alltag wenigstens für einen Moment erholen kann. Oft sind verbunden. Anknüpfungspunkte, Netzwerke und Freiwillige bereits vor- handen und aktiv, so dass es nur noch darum geht, diese zu Rückkehrzentren sind oft Sackgassen für die Menschen, die stärken und sichtbar zu machen. Eine gute Kooperation mit dort leben. Es gibt weder ein Vorwärts noch ein Zurück. «Ich den Zentrumsleitungen ist dabei sehr hilfreich. bin schon lange tot», sagt mir ein einundreissigjähriger Mann, Offenheit und Fantasie sind in der Zusammenarbeit mit den der seit mehreren Jahren versucht, legal in Europa zu bleiben Menschen im und ums Rückkehrzentrum gefragt, Offenheit, und nun in einem Rückkehrzentrum festsitzt. Warum tot? Er weil die abgewiesenen Asylsuchenden, aber auch die Zent- bekommt doch Geld fürs Nötigste? Er hat doch ein Dach über rumsleitungen manchmal ganz andere Strategien vorsehen, dem Kopf? als ich sie mir ausdenke. Fantasie braucht es auch deshalb, weil «Der Mensch lebt nicht von Brot allein», steht im Matthäus- die Kanäle des Systems (Asyl, legale Migration) ausgereizt sind evangelium. Dieser Satz bewahrheitet sich in vielen Gesprä- und gezwungenermassen neue Wege des Überlebens gefun- chen, die wir Seelsorgenden mit den abgewiesenen Asyl- den werden müssen. Konfessionelle bzw. religiöse Offenheit suchenden führen. «Wir möchten arbeiten, aber wir dürfen ist absolute Bedingung der seelsorgerlichen Arbeit. nicht.» «Ich möchte meinen Bruder in Zürich besuchen, aber ich kann mir die Reise nicht leisten.» «Es wäre schön, wenn ich Wer in einem Rückkehrzentrum ist, hat meistens schon mal ein paar Tage bei meiner Freundin bleiben könnte, aber Erfahrungen mit einer unserer Landessprachen gemacht. wir müssen jeden Tag zum Unterschreiben ins Lager zurück- Das erleichtert die verbale Kommunikation zwischen den kommen.» Seelsorgenden und den Bewohnerinnen und Bewohnern des Zentrums. Viele Menschen in Rückkehrzentren sind im besten Alter zu Oft finden sich im unmittelbaren Umfeld, z.B. im Aufenthalts- arbeiten, Familien zu gründen und sich weiterzubilden. Ihr raum, Ad-hoc-Übersetzerinnen und -Übersetzter, die für den Leben erinnert mich aber oft an jenes sehr alter Menschen in grundlegenden Informationsaustausch eingespannt werden Pflegeheimen, die einsam und lebensmüde sind, stundenlang können. Notfalls bemühe ich digitale Übersetzungsprogram- herumsitzen und deren abwechslungsreichste Aktivität der me, wenn ich an Sprachbarrieren scheitere. Gang in den Lebensmittelladen ist. Es gelingt nur wenigen, aus der Sackgasse auszubrechen und Die bewusst freundliche und offene Zuwendung lässt sich aber sich so zu beschäftigen, dass die Seele nicht verkümmert. Bei auch prima nonverbal ausdrücken. Sie ist oft der Beginn einer einem meiner Besuche lerne ich einen jungen Mann kennen. Er seelsorgerlichen Beziehung. Diese ist ausserdem nicht allein lässt sich offenbar von der vertrackten Situation nicht lähmen. den Seelsorgenden vorbehalten. Sie kann von allen Menschen Er hat sich ein Handy von einem Mitbewohner geliehen und geknüpft werden: von Betreuenden, Nachbarn, Mitbewoh- machte einen kleinen Film über die geraniengeschmückten nerinnen, Zufallsbekanntschaften unterwegs, ... Und diese Bauernhäuser in der Umgebung. Tagelang zog er dafür durch letztlich grundlegend menschliche Zuwendung geschieht die kleinen Dörfer. Er strahlt, als er mir davon erzählt. Und zum Glück immer wieder, sogar an diesen Orten seelischer stolz fügt er an, sein nächstes Projekt sei ein Film über Kühe. Tristesse. Wir lachen beide, dass uns Tränen in die Augen steigen. 13
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