Nichtbezug von Sozialleistungen - ZHAW Zürcher Hochschule ...
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Magazin der ZHAW Soziale Arbeit Nr. 11 / Sommer 2019 Erscheint zweimal jährlich Im Brennpunkt Hinterfragt Nichtbezug von «Gemeindelotto» für vorläufig aufgenommene Personen Sozialleistungen Seite 2 Nachgefragt Viele Anspruchsberechtigte machen nicht von Pflegekinder wirken ihrem Recht auf Sozialleistungen Gebrauch. mit: Care-Leaver-Projekte Was bedeutet die damit einhergehende versteckte in der Schweiz Armut für die Soziale Arbeit? Seite 6 Seite 8 Soziale Arbeit im Ausland Ecuador: Leben im Alter Seite 10 Alumni Kontakt- und Anlaufstelle für Drogenabhängige: Das Zürcher Modell als Vorbild Seite 12
Hinterfragt VEREI N M AP-F Wer im «Gemeinde- lotto» verliert Durch eine Gesetzesänderung erhalten vorläufig aufgenommene Personen im Kanton Zürich neu Asylfürsorge statt Sozialhilfe. Wie tief diese ausfallen darf, interpretiert jede Gemeinde anders. von Nicole Koch «Warum werde ich bestraft?» Diese Frage stellen sich seit map-F – ein Verein setzt sich ein dem 1. Juli 2018 viele vorläufig aufgenommene Personen Als das Stimmvolk im Kanton Zürich im September 2017 im Kanton Zürich. Sie kommen aus Ländern wie Syrien, entschied, dass vorläufig Aufgenommenen die Leistungen Irak oder Eritrea und sind vor Krieg, Armut oder staatli- gekürzt werden sollen, haben sich Vertreterinnen und Ver- cher Verfolgung in die Schweiz geflohen. Hier gelten sie treter des «Nein-Komitees» zusammengetan und map-F als vorläufig aufgenommene Ausländerinnen und Auslän- gegründet. Der Verein macht sich für vorläufig aufgenom- der. Eine Bezeichnung, die irreführend ist, denn über 90 % mene Personen stark und dient ihnen und von der Geset- von ihnen bleiben ihr Leben lang in der Schweiz. Durch zesänderung betroffenen Organisationen und Behörden eine Gesetzesänderung im Kanton Zürich erhalten sie neu als Anlaufstelle. Eines seiner wichtigsten Anliegen: Es sol- keine Sozialhilfe mehr, sondern Asylfürsorge. len angemessene Mindeststandards festgelegt werden, die für alle Zürcher Gemeinden verbindlich sind. Durch Öf- Empfehlungen statt Verbindlichkeit fentlichkeitsarbeit und Einflussnahme auf den gesell- Dies bedeutet konkret: Der Grundbedarf für den Lebens- schaftspolitischen Diskurs sollen zudem die Situation für unterhalt wird gesenkt und viele Betroffene müssen ihre die Betroffenen langfristig verbessert und deren Integrati- Wohnung aufgeben und in eine Kollektivunterkunft zie- on gefördert werden. hen. Zudem besteht die Gefahr, dass Integrationsmassnah- Moritz Wyder hat einen Bachelorabschluss in Sozialer men nicht mehr finanziert werden. Das Geld reicht nicht Arbeit von der ZHAW und ist seit April 2018 Geschäftslei- mehr für grundlegende Dinge wie ein Busticket für die ter von map-F. Dass die Gesetzesänderung eine Verschlech- Lokalzone, Medikamente oder Spielgruppenplätze. Wie terung für die betroffenen Menschen bringen würde, sei das neue Gesetz konkret umgesetzt wird, kann jede Ge- klar gewesen, sagt er: «Der Verein sucht deshalb nach meinde selbst entscheiden. Das heisst, je nachdem, in wel- Möglichkeiten, die Lebensumstände der Betroffenen zu cher Gemeinde jemand wohnt, fallen die gezahlten Gelder verbessern.» Solange keine gesetzliche Veränderung be- unterschiedlich tief aus. Eine Einzelperson ab 25 Jahren wirkt werden könne, seien die Mitarbeitenden von map-F erhält in Dielsdorf beispielsweise CHF 300 im Monat für im Direktkontakt mit den Betroffenen meist in der Rolle Mietkosten. Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe der Informationsvermittler. Dies liege nicht zuletzt daran, SKOS empfiehlt in ihren Richtlinien einen Betrag von dass die Gemeinden oft nicht klar und vollständig über die CHF 1200. Zürich ist eine der Gemeinden, die sich an den Gesetzesänderung und ihre Auswirkungen informieren SKOS-Richtlinien orientieren und sich dafür aussprachen, würden. Die Mitarbeitenden von map-F erklären dann den die Mietkostenbeiträge nicht zu senken. Doch auch hier – Sachverhalt und dass es sich nicht um eine Bestrafung im besten Fall also – erfahren die Betroffenen eine Kürzung handle – auch wenn es sich so anfühlen möge. Durch den um ein Drittel ihrer bisherigen Unterstützungsleistungen. Kontakt mit map-F haben die Menschen zumindest die «Gemeindelotto» nennt Moritz Wyder, Geschäftsleiter des Möglichkeit, über ihre Situation zu sprechen und sich Ge- Vereins map-F, diesen Zustand, der in seiner Brisanz noch hör zu verschaffen. Und in manchen Fällen habe ein Re- dadurch verstärkt wird, dass vorläufig aufgenommene kurs durchaus Chancen und es könne eine Verbesserung Personen, die auf Asylfürsorge angewiesen sind, die erzielt werden, so Moritz Wyder. Doch der Verein sei be- Gemeinde neu nicht mehr wechseln dürfen. Selbst wenn strebt, mehr zu tun. Es sei den Mitarbeitenden von map-F sie woanders eine bezahlbare Wohnung finden, was darum wichtig, Einfluss auf den öffentlichen Diskurs zu schwierig genug ist. nehmen. «Das Thema im Gespräch zu halten und langfris- 2
Hinterfragt tige Lösungen für ein Problem zu finden, das kurzfristig Moritz Wyder fügt hinzu, dass das Finanzierungssystem nicht gelöst werden kann», fasst Moritz Wyder die Ziele problematisch sei und überdacht gehöre: «Eine engagierte des Vereins zusammen. Gemeinde muss mehr bezahlen», dies sei nicht zwingend. Welchen Einfluss die Integrationsagenda 2019 auf die Si- Mundpropaganda und ein Netzwerk tuation haben wird, bleibt abzuwarten. Gewiss ist, dass der map-F sucht den Kontakt zu Betroffenen und Organisatio- Verein map-F sich auch künftig stark machen wird für die nen. Kein einfaches Unterfangen, obschon das Angebot Verbesserung der Lebensbedingungen von vorläufig auf- niederschwellig ausgelegt ist. Die Mundpropaganda funk- genommenen Menschen. tioniert gut und die Freiwilligenorganisationen Solinetz Zürich und Freiplatzaktion, die sich ebenfalls für geflüch- tete Menschen einsetzen und im zehnköpfigen Vorstand von map-F vertreten sind, dienen als Multiplikatoren. Den- noch macht sich Antje Cubela, Vorstandsmitglied von map-F und ebenfalls Absolventin des Bachelorstudiums in Sozialer Arbeit an der ZHAW, keine Illusionen: «Wir versu- chen, unser Angebot niederschwellig zu halten, dennoch ist die Hürde für viele zu hoch, so ist eine Reise nach Zü- rich mit Kosten verbunden, die nach den Kürzungen nicht mehr zu stemmen sind.» Und auch der Austausch mit den verschiedenen Gemeinden sei nicht immer einfach. So würden einige Gemeinden kein Interesse an einer Offenle- gung ihrer Praxis zeigen und sich darauf berufen, dass sie dies nicht zwingend müssen. Andere Gemeinden seien hingegen froh um Informationen und Richtlinien. Eine Rechnung, die nicht aufgeht Zwei Drittel des Stimmvolkes wollten eine Kürzung. «Wir müssen deren Argumente aufnehmen und versuchen, auf sie einzugehen», weiss Antje Cubela. Das Hauptargument der Kürzungsbefürworter seien die Kosten, die vorläufig Aufgenommene generieren würden. Diese müssen ge- senkt werden. Antje Cubela gibt zu bedenken: «Die Kür- zung der Unterstützungsgelder beraubt diese Menschen der Möglichkeit, sich zu integrieren – und das kostet mit- tel- und langfristig erst recht.» So haben Untersuchungen des Bundes gezeigt, dass jeder Franken, der in die Integra- tion investiert würde, später bis zu 4 Franken einspare. Wenn Unterstützungsleistungen zur Glückssache werden Hintergründe zum Verein map-F Bis 2011 wurden vorläufig aufgenomme- (map-F). Der Verein map-F positioniert Der Verein hat bereits zwei Monitoring- ne Personen durch die Asylfürsorge sich als Anlaufstelle für betroffene berichte zur Umsetzung des neuen Ge- unterstützt. Nach einem Volksentscheid Menschen und Organisationen, die mit setzes herausgegeben. Im ersten Bericht wurde die Praxis geändert und die ihnen zusammenarbeiten. vom letzten August, also wenige Monate betroffenen Personen erhielten Sozialhil- nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes, fe nach den Richtlinien der Schweizeri- Der Verein ist wie folgt aktiv: wurden allgemeine Tendenzen in dieser schen Konferenz für Sozialhilfe SKOS – • Monitoring: Die in den Gemeinden Umsetzung zusammengefasst. Im genau wie anerkannte Flüchtlinge sowie gesammelten Informationen sollen zweiten Bericht vom vergangenen April Schweizerinnen und Schweizer. An der für Transparenz sorgen. lag der Fokus auf den Auswirkungen für Abstimmung vom 24. September 2017 • Verbindlichkeit: Verbindliche Mindest- vorläufig aufgenommene Kinder und sprach sich das Stimmvolk dafür aus, standards sollen für ein Mindestmass Jugendliche. Die Monitoringberichte sind das System erneut zu ändern: Vorläufig an Unterstützung und Integrationsför- auf der Website von map-F einsehbar. aufgenommene Personen werden nun derung sorgen. map-F wird als unabhängiger Verein wieder nach Asylfürsorgeverordnung • Unterstützung: Mit Informationen soll vollumfänglich durch Spenden finanziert. unterstützt. Gegen diese erneute den Betroffenen langfristig geholfen Auf neue Mitglieder und Spenden ist der Änderung formierte sich während des werden. Verein angewiesen, denn jede Unterstüt- Abstimmungskampfes das «Integrations- • Bewusstsein: Durch Öffentlichkeits- zung ermöglicht den Einsatz von map-F stop Nein»-Komitee. Nach der Abstim- arbeit sollen die problematischen zugunsten der betroffenen Menschen. mung gründeten Mitglieder dieses Auswirkungen der Gesetzesänderung Komitees die Monitoring- und Anlaufstel- bekannt gemacht werden. www.map-F.ch le für vorläufig aufgenommene Personen sozial Magazin der ZHAW Soziale Arbeit 3
Nachgeforscht N I ED ER SCHW E LLI G E TR E FFPUNKT E Angebot und Bedarf im Gleichgewicht Niederschwellige Treffpunkte bieten Menschen am Rande der Gesellschaft nicht nur eine existenzielle Grundversorgung an, sie fördern auch ihre gesellschaftliche Integration. von Sigrid Haunberger, Hannah Lea Dykast und Elena Gravagno Was machen Menschen, die im öffentlichen Sozialraum als Nachfrage steigt, so wurden 2018 wesentlich mehr Bera- störend oder gar Angst einflössend empfunden werden, tungen durchgeführt, nämlich 761, weiss Kurt Rentsch vom die kein festes Dach über dem Kopf haben und am Exis- Café Yucca. Die Öffnungszeiten der einzelnen Treffpunkte tenzminimum leben? Menschen also, die durch das soziale sind gut aufeinander abgestimmt. Unklar ist, ob mehr Mor- Netz gefallen sind, die sich von Arbeit, Familie und Gesell- gen- oder Abendöffnungszeiten notwendig wären. schaft entfremdet haben und deshalb als randständig be- zeichnet werden. In der Stadt Zürich existieren für sie ver- Das Stammpublikum schiedene regelmässig geöffnete niederschwellige Die Zielgruppen der niederschwelligen Treffpunkte – Besu- Treffpunkte, die die Integration fördern und das Überleben cherinnen, Besucher oder Gäste genannt – werden von den sichern. Niederschwellig bringt dabei zum Ausdruck, dass Fachpersonen als heterogen beschrieben. Zum Stammpub- das Zielpublikum die Einrichtungen möglichst unkompli- likum gehören Menschen aller Altersgruppen, unabhängig ziert und unbürokratisch nutzen kann und Hilfe erhält. von ihrer Ethnie und Herkunft: Asylsuchende, Menschen Das Institut für Sozialmanagement der ZHAW Soziale Ar- mit sozialen und/oder materiellen Schwierigkeiten, einsa- beit hat verschiedene niederschwellige Stadtzürcher Treff- me Menschen und Menschen mit psychischer Beeinträch- punkte einer Angebots- und Bedarfsanalyse unterzogen, tigung. Menschen also, die von gesellschaftlicher Ausgren- so etwa das Café Yucca in der Altstadt. zung betroffen oder bedroht sind und oftmals nicht über andere Beratungs- und Betreuungsangeboten erreicht wer- Nutzung der Angebote steigt den können. Die Fachleute sind sich recht einig, dass die Fachpersonen der folgenden dreizehn Angebote wurden Zahl der Menschen mit psychischen Auffälligkeiten, Per- um eine Einschätzung zur Angebots- und Bedarfslage ge- sönlichkeitsstörungen oder Mehrfachdiagnosen künftig beten: Café Yucca (Zürcher Stadtmission), Brot-Egge und steigen wird, ebenso gerät die Personengruppe 55+ ver- Gassencafé Sunestube (beide Sozialwerk Pfarrer Sieber), stärkt in den Fokus. Im Rahmen der Angebots- und Be- Treffpunkt City und Treffpunkt t-alk (beide Stadt Zürich), darfsanalyse wurden zahlreiche aktuell problematische Gassenküche Speak-Out (Verein), Wohn- und Arbeitsge- Lebensbereiche des Stammpublikums identifiziert, wie meinschaft Suneboge (Verein), Open Heart (Heilsarmee), beispielsweise gesundheitliche oder finanzielle Probleme. Chrischtehüsli (Verein INKLUSIV), Städtische Notschlaf- Eine nähere Betrachtung der Gäste niederschwelliger stelle und Fachstelle Sicherheit Intervention Prävention Treffpunkte zeigt, dass Männer meist stärker vertreten sind sip züri (beide Stadt Zürich), Kafi Klick (IG Sozialhilfe) und als Frauen. Das Verhältnis liegt bei ungefähr 75 % Männer Ambulatorium Kanonengasse (Stadt Zürich). gegenüber 25 % Frauen. Dies hat sich in den letzten Jahren Das Angebot für randständige Menschen in der Stadt nicht einschneidend verändert. Die Gäste sind grösstenteils Zürich ist breit gefächert und reicht von diversen Aktivitä- zwischen 30 und 60 Jahre alt und wohnen, sofern das in ten zur Pflege sozialer Kontakte über kostenlose oder güns- Erfahrung zu bringen ist, in der Stadt oder im Kanton Zü- tige Versorgung mit Nahrungsmitteln und Kleidung sowie rich. Im Café Yucca ist der Andrang über die Jahre hinweg Dusch- und Waschmöglichkeiten bis hin zu niederschwel- gross geblieben. 2018 zählte das Café beispielsweise rund ligen Arbeitsmöglichkeiten, die eine Tagesstruktur bieten. 23’800 Gäste, 190 von ihnen sind Stammgäste und besu- Das Angebot wird rege genutzt, so wurden beispielsweise chen das Café regelmässig. 2017 vom Café Yucca, von der Gassenküche Speak-Out, vom Gassencafé Suneboge und von der Wohn- und Arbeitsge- Die Wohnstube der Gäste meinschaft Sunestube zusammen rund 25’000 kostenlose Fachleute beschreiben die niederschwelligen Treffpunkte Suppen oder Mahlzeiten an randständige Menschen ausge- als Orte, an denen eine Grundversorgung existenzieller geben. Je nach Treffpunkt kann zudem seelsorgerischer Grundbedürfnisse etwa nach Nahrung und Hygiene ge- Beistand oder Sozialberatung beansprucht werden. Die währleistet wird. Darüber hinaus sind sie zentrale Anlauf- 4
Nachgeforscht Im Café Yucca erhalten Menschen in Not professionelle Hilfe – und ein günstiges Abendessen. stellen für Menschen in Notlagen und «bieten einen Hoff- Nachfrage im Bereich der Versorgung von randständigen nungsanker für viele», so Emanuel Parvaresh vom Menschen zum Zeitpunkt der Befragung im Herbst 2018 Chrischtehüsli. Die Gäste erfahren – unabhängig von ihrer als ausgeglichen ein. Doch es gibt durchaus blinde Fle- ethnischen Herkunft, vom Geschlecht und vom äusseren cken. So weist Arjen Faber vom Brot-Egge auf eine ver- Erscheinungsbild – «Annahme, Akzeptanz und Würde und steckte weibliche Obdachlosigkeit hin und gibt an, dass werden wertgeschätzt», ergänzt Fred Schulze vom Open Schweizer Armutsbetroffene schwerer Zugang zum Hilfe- Heart. Die Bedeutung von niederschwelligen Treffpunkten system finden. als Orte der sozialen Integration und Teilhabe an der Ge- sellschaft wird besonders betont: Für viele Gäste sind nie- Mehrwert für den sozialen Raum der Stadt Zürich derschwellige Treffpunkte wichtige Orte sozialer Partizipa- Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Überle- tion, da sie oftmals über wenige bis keine relevanten benshilfe durch eine Grundversorgung, das niederschwel- Sozialkontakte verfügen. Kurt Rentsch, Teamleiter im Café lige Zusammenkommen und die bedarfsgerechten Bera- Yucca, bezeichnet das Café denn auch als eine «Wohnstube tungsangebote von städtischen und privaten Träger- für die Gäste». schaften einen grossen Mehrwert für den sozialen Raum der Stadt Zürich bedeuten. Zum Befragungszeitpunkt im Entlastung des städtischen Sozialraums Herbst 2018 besteht in der Stadt Zürich ein ausgewogenes Niederschwellige Treffpunkte bieten eine Entlastung des Verhältnis von Angebot und Bedarf. Die Treffpunkte ent- städtischen Sozialraums, so sind etwa Alkohol- und Dro- lasten den städtischen Sozialraum und nehmen problema- genproblematiken und Obdachlosigkeit im öffentlichen tische Lebensbereiche ihres Stammpublikums ins Visier. Raum weniger auffällig. Sie leisten darüber hinaus in Sie unterstützen ihre Besucherinnen und Besucher nieder- einer gewissen Art präventive Arbeit im öffentlichen schwellig bei Fragen zur lebensnotwendigen existenziellen Raum, da problematische Entwicklungen frühzeitig er- Grundversorgung. Zudem wirken sie auf lange Sicht der kannt werden und deeskalierend interveniert werden sozialen Isolation von randständigen Menschen entgegen, kann. Gemeinsam bilden die niederschwelligen Treff- indem sie ihnen Zeit und Raum für die gesellschaftliche punkte der Stadt Zürich ein tragfähiges Mosaik aus vielfäl- Integration zur Verfügung stellen. tigen Organisationen mit guter Vernetzung untereinan- der. Niederschwellige Treffpunkte sind Orte, «die sehr schwierige Menschen auffangen und schnelle Reaktionen auf individuelle Problemlagen bieten können», fasst Anna Brändle von der Wohn- und Arbeitsgemeinschaft Sunebo- ge zusammen. Café Yucca Das Café Yucca bietet den Gästen täglich Bedarfsentwicklung – ein Blick in die Zukunft einen Ort der Ruhe, aber auch Kontakte und Den Bedarf an niederschwelligen Treffpunkten in der Stadt Gespräche, Suppe sowie Tee – und viermal Zürich für die nächsten fünf Jahre schätzen etwa die Hälfte pro Woche ein günstiges Abendessen. der befragten Institutionen (46 %) als gleichbleibend und Die Sozialberatung hilft mit Informationen, die andere Hälfte als zunehmend (54 %) ein. Eine Prognose Beratung und Unterstützung, wie etwa ist jedoch schwierig, da der Bedarf von verschiedenen der Organisation von Übernachtungsmög- nicht voraussehbaren Entwicklungen abhängt, insbeson- lichkeiten und medizinischer Versorgung sowie mit Begleitung zu Amtsterminen. dere auch von den wirtschaftlichen und politischen Ent- wicklungen in der Schweiz und der Welt. Eveline Schnepf www.stadtmission.ch/cafe-yucca von der Städtischen Notschlafstelle schätzt Angebot und sozial Magazin der ZHAW Soziale Arbeit 5
Nachgefragt CA R E L EAVER Pflegekinder wirken mit Lea wird bald volljährig. Warum sie ihrem 18. Geburtstag mit gemischten Gefühlen entgegenblickt und mit welchen Projekten die ZHAW Soziale Arbeit Jugendliche wie Lea unterstützt. von Renate Stohler, Karin Werner und Jessica Wendland Lea ist 17 Jahre alt und besucht eine Fachmit- telschule. Nach ihrem Abschluss möchte sie sich an einer Fachhochschule zur Physiothe- rapeutin ausbilden lassen. Genau wie andere Jugendliche freut sich Lea auf ihren 18. Ge- burtstag. Gleichzeitig hat sie aber auch ge- mischte Gefühle. Denn im Unterschied zu ih- ren gleichaltrigen Freundinnen lebt Lea seit ihrem zehnten Lebensjahr bei einer Pflegefa- milie, weil ihre leiblichen Eltern nicht für sie sorgen können. Jedes zweite Wochenende ver- bringt sie bei ihrer leiblichen Mutter, die nach wie vor an psychischen Problemen leidet. Zu ihrem Vater hat sie kaum Kontakt. Lea weiss, dass sie offiziell nur bis zu ihrem 18. Geburts- tag in der Pflegefamilie bleiben kann, da die Unterstützung durch die Kinder- und Jugend- hilfe mit Erreichen der Volljährigkeit endet. Lea wird deshalb in den nächsten Monaten mit den Pflegeeltern und ihrer Beiständin be- Illustration: Sarah Weishaupt sprechen, ob sie noch länger in der Pflegefa- milie leben oder ausziehen wird. Einerseits würde sie sich freuen, mit Erreichen der Voll- jährigkeit ausziehen und selbständig wohnen zu können. Gleichzeitig macht sie sich aber auch Gedanken darüber, wie sie als Schülerin und später als Studentin ihren Lebensunter- Jahren endet, erfolgt der Übergang in die Selb- Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt halt finanzieren kann und ob sie all die Aufga- ständigkeit bei Care Leavern früher und ra- untersuchte, wie Pflegekinder auf den Über- ben, die nach dem 18. Lebensjahr auf sie zu- scher als bei Gleichaltrigen, die bei ihren leib- gang in die Selbständigkeit vorbereitet wer- kommen, allein bewältigen kann. Ihre lichen Eltern leben. Ebenso erhalten Pflege- den, wie sie diese Vorbereitung einschätzen, leiblichen Eltern, dessen ist sie sich bewusst, und Heimkinder weniger materielle, soziale wie sie den Auszug aus der Pflegefamilie er- werden sie nur bedingt unterstützen können. und emotionale Unterstützung von ihren Fa- lebten und welche Unterstützung sie für den Und bei ihrer Mutter kann und will Lea nicht milien als Gleichaltrige. Verschiedene Studien Übergang ins Erwachsenenalter benötigt hät- wohnen. Mit solchen Fragen beschäftigen sich aus dem Ausland zeigen, dass die Entwick- ten. Das Projekt wird von der Stiftung Merca- die meisten von Leas Freundinnen und Freun- lung von Care Leavern gefährdet sein kann: tor Schweiz finanziert. den noch nicht. Sie bleiben in der Regel bis Sie haben zum Beispiel ein höheres Risiko, im Ziel des partizipativen Projekts ist es, zum Abschluss der Erstausbildung bei ihren Erwachsenenalter arbeitslos zu werden oder Pflegekinder stärker an der Vorbereitung auf Eltern oder einem Elternteil wohnen. Sozialhilfe zu beziehen. Für die Schweiz gibt den Übergang in die Selbständigkeit zu betei- es bislang kaum Untersuchungen zur Situati- ligen. Im Zentrum stehen deshalb die Ideen Übergang in die Selbständigkeit on von Care Leavern. und Vorschläge von (ehemaligen) Pflegekin- Junge Erwachsene, die wie Lea mit 18 Jahren dern. Ihre Erfahrungen und Bedürfnisse wur- oder später aus der Pflegefamilie oder dem Projekt «Übergang in die Selbständigkeit: den mit einer Befragung erfasst. Zudem be- Heim ausziehen, werden im Fachdiskurs als Pflegekinder wirken mit!» gleitete eine Gruppe von ehemaligen Care Leaver bezeichnet. Da in der Schweiz – Vor diesem Hintergrund realisierte die ZHAW Pflegekindern das Forschungsteam der ZHAW wie auch in anderen Ländern – die Unterstüt- Soziale Arbeit das Projekt «Übergang in die während der gesamten Projektdauer in regel- zung durch die Kinder- und Jugendhilfe mit 18 Selbständigkeit: Pflegekinder wirken mit!». mässigen Treffen kritisch. Diese Begleitgrup- 6
Publikation pe nimmt verschiedene Aufgaben wahr und REZEN SION wirkte insbesondere bei der Entwicklung von Unterstützungsangeboten mit. Basierend auf den Ergebnissen des Projekts entstanden ein Heimgeschichte erklärend Mentoring-Programm und eine Website. verstehen www.zhaw.ch/pflegekinder Mentoring-Projekt «Take-off» Seit den 2010er Jahren werden Heimerziehung Pflegekinder im Übergang in die Selbständig- keit wünschen ergänzend zur professionellen und Jugendfürsorge international verstärkt Unterstützung auch eine Begleitung durch erforscht – insbesondere über biografische Erzäh- ehemalige Pflegekinder, um von ihren Erfah- rungen zu profitieren. lungen von Menschen mit Heimerfahrung. Gemeinsam mit der Begleitgruppe wurde daher das Mentoring-Projekt «Take-off» ent- von Ulrich Leitner, Bildungshistoriker an der Universität Innsbruck wickelt. Grundidee ist, dass ehemalige Pflege- kinder sich als Mentorinnen und Mentoren für jüngere Pflegekinder engagieren. Auf die- Mit ihrer jüngst erschienenen Studie «Fremdplatziert» legen Gisela Hauss, Thomas se Aufgabe werden sie vom Projektteam der Gabriel und Martin Lengwiler einen konsequent multiperspektivisch wie interdis- ZHAW Soziale Arbeit vorbereitet. ziplinär angelegten Forschungsaufriss zur Geschichte der Heimerziehung der www.zhaw.ch/take-off Schweiz im 20. Jahrhundert vor, der nicht dokumentarisch ausgerichtet ist, sondern analytisch verfährt. Der Band ist ein Ergebnis des Singeria-Projekts «Pla- Website zur Vernetzung cing Children in Care. Child Welfare in Switzerland 1940–1990», an dem ein For- Pflegekinder haben das Bedürfnis, sich mit schungsteam von fünf verschiedenen Hochschulen zusammenarbeitete. Einge- anderen Pflegekindern auszutauschen. Zu nommen wird eine gesamtschweizerische Perspektive, die doppelt komparativ diesem Zweck wurde in enger Zusammenar- angelegt ist: Die verschiedenen Sprachregionen, Kantone und Konfessionen werden beit mit der Begleitgruppe eine Website ent- ebenso in Beziehung zueinander gesetzt wie die in der Fürsorgegeschichte wirk- wickelt. Diese Plattform ermöglicht es (ehe- mächtigen Diskurse, die erzieherischen Praktiken und das biografische Erleben der maligen) Pflege- und Heimkindern einerseits, Heimerziehung. sich zu vernetzen. Andererseits stellt sie (ehe- Die drei als sich überschneidende Achsen gedachten Kapitel des Buches the- mals) fremduntergebrachten Jugendlichen matisieren das Spannungsverhältnis zwischen staatlichem Handeln und subjekti- und Erwachsenen sowie Fachpersonen Infor- vem Erleben, die Ausbildung, Praxis und Theorie der Pädagogik für das Heim sowie mationen zu aktuellen Projekten und Aktivi- die Effekte der Institutionen auf die Lebensverläufe der Betroffenen. Besonders täten zur Verfügung. In der Rubrik «Einbli- hervorzuheben ist, dass die Beiträge vielfach ansonsten häufig vernachlässigte cke» schildern Care Leaver ihre Erfahrungen. Aspekte der Heimerziehung zum Thema machen. So wird etwa der professionelle www.careleaver.ch Blick auf die Eltern fremdplatzierter Kinder rekonstruiert. Mit den «neuen Prakti- kanten» der 1960er und 1970er Jahre sowie dem nicht pädagogischen Personal wer- den ferner Personengruppen berücksichtigt, die als significant others das Leben der Kinder im Heim massgeblich beeinflussen konnten und deshalb in der künftigen Tagung Care Leaver in der Schweiz Forschung mehr Aufmerksamkeit verdienen. Verwiesen wird auch auf (unbeab- Am 29. August 2019 findet im Toni-Areal in Zürich die Tagung «Care Leaver in der sichtigte) Auswirkungen von Heimerfahrungen auf den Lebenslauf ehemaliger Schweiz» statt. Neben verschiedenen Heimkinder sowie auf transgenerationale Aspekte, womit Aufgaben für die aktuel- Workshops steht die Präsentation der le Praxis und Theorie der Heimerziehung ebenso verknüpft sind wie für die aktuel- Ergebnisse zweier Forschungsprojekte der le Forschung zur Geschichte der Jugendfürsorge. ZHAW Soziale Arbeit und der FHNW Insgesamt macht dieses Buch die komplexen Zusammenhänge und Wirkfak- Hochschule für Soziale Arbeit auf dem toren der Heimerziehung sichtbar, betont Ambivalenzen, Überlappungen und Un- Programm. An der Tagung wirken Care gleichzeitigkeiten von Diskursen, Organisationen und Biografien und sensibilisiert Leaver aus beiden Projekten mit. für blinde Flecken in der Forschung. Damit werden nicht nur gängige Denkmuster www.zhaw.ch/sozialearbeit/veranstaltungen hinterfragt, sondern auch künftigen regionalen wie internationalen Projekten heu- ristische Kategorien an die Hand gegeben. Fremdplatziert. Heimerziehung in der Schweiz, 1940–1990 Gisela Hauss, Thomas Gabriel, Martin Lengwiler (Hrsg.) Chronos Verlag 2018 (E-Book 2019) 352 Seiten ISBN 978-3-0340-1440-3 (E-Book 978-3-0340-6440-8) sozial Magazin der ZHAW Soziale Arbeit 7
Im Brennpunkt NI CH T BEZU G VON SOZIAL L EIST U N GEN Freiwilliger Verzicht? Moderne Wohlfahrtsstaaten bieten Schutz vor Armut und Ausgrenzung. Doch um von den Angeboten profitieren zu können, müssen Betroffene meist selber aktiv um Hilfe ansuchen. Warum geschieht dies oft nicht? von Rahel Strohmeier Navarro Smith Bild: Mara Truog «Ich würde es nicht verkraften, wenn überall bei den kantonalen Bedarfsleistungen wie in- mutsgrenze vor. Der Bezug von sozialstaatli- mit dem Finger auf mich gezeigt würde», er- dividueller Prämienverbilligung, Ergänzungs- chen Unterstützungsleistungen käme für sie klärte M. Broger in einem in der Öffentlichkeit leistungen oder der Alimentenbevorschus- nie in Frage und wäre schlichtweg unter ihrer und in der Fachwelt breit und kontrovers dis- sung ist von einem verbreiteten Nichtbezug Würde. «Das Sozialamt ist für mich das kutierten Fernsehbeitrag von «10vor10». Sie auszugehen. Schlimmste, was ich mir vorstellen kann», und ihr Ehemann haben sich gegen den Bezug hielt M. Broger denn auch fest. Der Beginn ih- von Sozialleistungen entschieden. Wie jüngs- Leben unter der Armutsgrenze res sozialen Abstiegs liegt einige Jahr zurück te Untersuchungen zeigen, wird besonders in Ein Nichtbezug von Sozialleistungen ist unter- und ist auf einen Immobilienverlust sowie der Sozialhilfe, aber auch in anderen Hand- schiedlich motiviert und meist das Ergebnis den Verlust ihrer Stellen im fortgeschrittenen lungsfeldern der Sozialen Arbeit kein Ge- einer bewussten Priorisierung und eines sorg- Alter zurückzuführen. Beide fanden keine brauch von rechtlichen Ansprüchen gemacht. fältigen Abwägens der vorhandenen Möglich- neue Anstellung mehr und mussten sich bis In der Sozialhilfe betrifft dies gemäss einer keiten. So möchte etwa das Ehepaar Broger zu ihrer Rente und darüber hinaus mit Gele- Studie für den Kanton Bern rund jede vierte unter anderem nicht auf seine Hunde verzich- genheitsjobs über Wasser halten. Wie das Ehe- Person, auf dem Land sogar jede zweite. Auch ten und zieht deshalb ein Leben unter der Ar- paar Broger verzichten viele Betroffene auf 8
Im Brennpunkt Sozialhilfe, weil sie finden, dass der Staat ih- «Das Sozialamt • eine allgemeine Sensibilisierung von Fach- nen die Selbstbestimmung raube, das Geld personen für die vermehrte Prävention ohnehin nicht reiche und sie obendrein über ist für mich das und Erkennung des Nichtbezugs im Sozial- alles Rechenschaft ablegen müssen. und Gesundheitsbereich Schlimmste, • die Verwendung einer einfachen, respekt- Prozessuale und strukturelle Hürden … was ich mir vollen Sprache im Umgang mit Betroffenen Die Gründe für einen Nichtbezug von Sozial- leistungen sind vielfältig und können nicht vorstellen kann.» Diesen Massnahmen sind allerdings dort abschliessend geklärt werden. Neueste wis- M. Broger Grenzen gesetzt, wo es an politischem Willen senschaftliche Studien dazu legen jedoch fehlt: Zum Beispiel, wenn im Falle eines Sozi- nahe, dass prozessuale und strukturelle Fakto- alhilfebezugs der Entzug der Aufenthaltsbe- ren eine zentrale Rolle spielen. Auf Prozess- willigung droht. Paradoxerweise kann in die- ebene sind neben der Definition der An- rige von Betroffenen auswirken, die ein Ange- sem Zusammenhang das Wahrnehmen eines spruchsberechtigung und den eingesetzten bot zur eigenen Entlastung nicht oder erst rechtmässig zustehenden Unterstützungsan- Mitteln für die bedarfsabhängigen Sozialleis- sehr spät aufsuchen. Etwa weil sie sich in der gebots mittelfristig einen gesellschaftlichen tungen auch die Ausgestaltung des Antrags- Pflicht sehen, allein und ohne fremde Hilfe für Ausschluss zur Folge haben, wenn der – kan- wesens und die Information darüber aus- ihre unterstützungsbedürftigen Familienan- tonal unterschiedliche – Grenzwert der bezo- schlaggebend. Auf Strukturebene bestimmt gehörigen zu sorgen – oftmals bis zur völligen genen Sozialleistungen erreicht ist. Daher ist die Zusammensetzung der Bevölkerung den Erschöpfung. Die Studie «Tages- und Nacht- verständlich, dass sich Personen mit dem Auf- Bedarf und die Nachfrage, die Gemeinde- strukturen» der ZHAW (in Kooperation mit enthaltsstatus B und C zwei Mal überlegen, ob grösse hat einen Einfluss auf die Angebotsge- econcept) im Auftrag des BAG zeigt Faktoren sie ihren Anspruch auf Sozialhilfe geltend ma- staltung und das unterschiedliche Verständ- auf, die darüber entscheiden, ob betreuende chen oder nicht – notfalls auch entgegen den nis der Rolle von Staat und Individuum dürfte Angehörige von kranken, behinderten oder unmittelbareren Bedarfen weiterer Haus- ebenfalls einen Einfluss haben. Weitere Ursa- hochbetagten hilfs- und pflegebedürftigen haltsmitglieder. chen sind beispielsweise soziale und psychi- Partnerinnen und Partnern, Kindern und Ver- Soll das Recht auf Hilfe in Notlagen nach sche Beeinträchtigungen der Hilfesuchenden, wandten Hilfe in Anspruch nehmen, und leitet Artikel 12 der Eidgenössischen Bundesverfas- mangelnde Information, fehlender monetärer aus ihren Erkenntnissen Massnahmenvor- sung umgesetzt werden, muss insbesondere Nutzen sowie die Gefährdung des Aufent- schläge für Verwaltung, Politik und Praxis ab. auch der Staat dafür sorgen, dass dieses Recht haltsstatus. Es zeigt sich, dass die Gründe für eine Inan- für alle Personen in der Schweiz seine volle spruchnahme sowohl das Angebot (etwa an- Wirkung entfalten kann. Dafür braucht es Aus Sicht der Versorgung können folgende gemessene Infrastruktur, passende Dienstleis- eine organisierte Politik für die aktive Be- Situationen unterschieden werden: tungen, Lage und Preis des Angebots) als auch kämpfung des Nichtbezugs. Für die Soziale 1. Das Angebot ist nicht bekannt. die Nachfrage betreffen (etwa Belastung und Arbeit bedeutet dies, Betroffene bei der Ge- 2. Das Angebot ist bekannt, wird aber Gesundheitszustand der Angehörigen, Ver- staltung dieser Politik bestmöglich einzu- nicht genutzt. einbarkeit mit beruflichen Verpflichtungen schliessen und sich insbesondere auch für die 3. Das Angebot ist bekannt und erfragt, die und eigene Werte und Vorstellungen). Verbesserung der Beziehungen mit sozial Leistungen wurden aber nicht erbracht. Dass viele Menschen ihren Anspruch auf schlechter gestellten Menschen einzusetzen. 4. Die Leistungen werden trotz Anspruchs- Sozialleistungen nicht wahrnehmen, kann Dabei ist neben den materiellen Leistungen berechtigung nicht erbracht. aus Sicht der Sozialen Arbeit als ein soziales auch an die sogenannten immateriellen Leis- Problem interpretiert werden. Denn die Betrof- tungen zu denken, wie beispielsweise in der Weiter gilt es, grundsätzlich zwischen einem fenen verzichten nicht nur auf finanzielle Un- Altershilfe und -pflege. Hier gilt es zum Bei- absichtlichen Nichtbezug (etwa aufgrund von terstützung, sondern auch auf professionelle spiel zu hinterfragen, warum betreuende und Wertvorstellungen oder eines inadäquaten Beratung zur Verbesserung ihrer Situation. pflegende Angehörige ambulante und teilsta- Leistungsangebots) und einem ungewollten Dies kann zu weiteren Problemen und gesell- tionäre Entlastungsangebote nur zögerlich Nichtbezug (etwa aufgrund von Verständnis- schaftlichen Folgekosten führen. Im schlimms- wahrnehmen. Je nachdem, ob gesellschaftli- schwierigkeiten, fehlender Information und ten Fall wird die Armut auf die nachfolgende che Erwartungen bezüglich familiärer Pflich- administrativen Hürden) zu differenzieren. Generation übertragen. ten, Unkenntnis über die Angebote oder admi- nistrative, organisatorische oder finanzielle … und wenig erforschte Folgen Bedarfsgerechte Gestaltung Hinderungsgründe dafür verantwortlich sind, Im Gegensatz zu den Ursachen stehen die ef- Ein eingeschränkter Zugang zu Sozialleistun- muss der Nichtbezug von Sozialleistungen fektiven Folgen eines Nichtbezugs von Sozial- gen ist nicht nur aus rechtlicher Sicht ein unterschiedlich angegangen werden. leistungen weniger im Fokus wissenschaftli- Problem. Gefragt ist daher eine umfassende cher Untersuchungen oder öffentlicher Herangehensweise, die die Prüfung der Diskurse. Ein Grund dafür mag sein, dass der Bedarfsgerechtigkeit des bestehenden Ange- Weiterbildungen zum Thema Nichtbezug trotz der inzwischen einschätzba- bots sowie eine gesellschaftspolitische Ausei- Der CAS Sozialhilferecht und der CAS ren Verbreitung im Verborgenen geschieht nandersetzung mit Stigmatisierungs- und Sozialversicherungsrecht beinhalten die wesentlichen rechtlichen Grundlagen des und es sich dabei letztendlich um verdeckte Disqualifizierungsprozessen mit einschliesst. Sozialwesens und vermitteln vertieftes Formen der Armut handelt. Wie die Doku- Mögliche Massnahmen sind: und praxisrelevantes Wissen. mentation von Einzelfällen zeigt, bedroht ein www.zhaw.ch/sozialearbeit/weiterbildung Nichtbezug die gesundheitliche Situation und • Instrumente für ein regelmässiges Monito- die soziale Einbettung der Betroffenen. Auch ring der Nichtinanspruchnahme kann ein unvorhergesehenes Ereignis wie die • ein aktives Aufsuchen von potenziellen Kündigung einer günstigen Wohnmöglichkeit Anspruchsberechtigten – etwa mittels Ver- eine bereits prekäre Lebenslage akut verschär- waltungsdaten oder mit Unterstützung fen. Die Situation kann sich auch auf Angehö- von Sozialarbeitenden sozial Magazin der ZHAW Soziale Arbeit 9
Soziale Arbeit im Ausland E CU AD O R Leben im Alter: Von Obdachlosigkeit bis cariño y alegría Wie sieht der Lebensabend von Menschen in Ecuador aus? Darüber entscheiden vor allem zwei Faktoren: Familienrückhalt und finanzielle Mittel. von Manuela Rutishauser Wohl in kaum einem anderen Land treffen so Die ethnische Zusammensetzung der Bevöl- te lassen sich hauptsächlich in Privatkliniken viele unterschiedliche Klimazonen aufeinan- kerung ist heterogen: Eine Mehrheit der behandeln. Diese unterstehen dem Instituto der wie in Ecuador. Das südamerikanische 16 Millionen Menschen führt ihre Abstam- Ecuatoriano de Seguridad Social (IESS) und Land am Äquator ist flächenmässig knapp mung auf drei wichtige Ursprünge der Migra- werden über Beiträge von Arbeitnehmenden sechsmal grösser als die Schweiz. Die vielfälti- tion in Südamerika zurück. Zu den grössten und Arbeitgebenden finanziert. Das Honorar ge Landschaft Ecuadors umfasst das östliche Gruppen, die sich in Ecuador niederliessen, für eine einfache Konsultation liegt bei 20 bis Amazonastiefland, das Andenhochland mit gehören die indigenen Völker, die Spanier, die 30 US-Dollar. Das jährliche Einkommen einer Vulkanen von über 6000 Metern Höhe, die vor fünfhundert Jahren den grössten Teil Süd- Lehrerin beträgt rund 15'500, das eines Kell- Küstenregion sowie die Galapagosinseln. Die amerikas kolonialisierten, und die Schwarzaf- ners rund 3'300 US-Dollar. Der Mindestlohn Hauptstadt Quito liegt in den Anden auf einer rikaner, die von den Spaniern als Sklaven beträgt 380 US-Dollar pro Monat. Höhe von 2850 Metern über Meer und gilt importiert wurden. Das Ergebnis dieser Ver- Auch die Altersrente wird vom IESS gere- nach La Paz in Bolivien als die zweithöchst ge- mischung führte zu neuen ethnischen Grup- gelt. Die Höhe der Rente berechnet sich aus legene Hauptstadt der Welt. pen. Heute lebt in Ecuador eine Mestizen- dem Durchschnitt der letzten sechs Jahre Er- Mehrheit, die etwa 42% der Bevölkerung aus- werbstätigkeit und reicht bei einem grossen macht. Mestizen sind Nachkommen eines in- Teil der Bevölkerung nicht aus, um die Le- digenen und eines aus Europa stammenden benserhaltungskosten zu decken. Wenn eine ECUADOR: INTERESSANTE ZAHLEN Elternteils. Person während des Erwerbsalters häufig die Stelle wechselt und zeitweise arbeitslos ist, Kranken- und Altersvorsorge verringert sich die Rente. Für Menschen ohne Die Verfassung von 2008 verpflichtet den familiären Rückhalt besteht das Risiko, ob- Quito Staat, den Bürgerinnen und Bürgern kostenlo- dachlos zu werden. «Abuelitos de la calle», sen Zugang zu ärztlicher Behandlung und zu was frei übersetzt «Grosselterchen der Stras- Medikamenten zu garantieren. Eine hinrei- se» bedeutet, ist eine auf Spendenbasis ge- chende Gesundheitsversorgung existiert je- führte Hilfsorganisation, die Gratismahlzei- Fläche 248’360 m² (2017) doch nur in einigen grossen Städten. Zwar hat ten an mittellose ältere Menschen verteilt und Einwohnerzahl 16,6 Mio. (2017) sich auf dem Land der Zugang zum Gesund- ihnen ein Beschäftigungsprogramm anbietet. Städtische Bevölkerung 63,7% (2017) heitssystem in den vergangenen Jahren ver- Bevölkerung 28,4% (2017) bessert, er ist aber deutlich schwerer als in den Leben im Alter zwischen 0 und 14 Jahren urbanen Zentren. Besser sieht die Situation für ältere Menschen Bevölkerung über 65 Jahren 7,1% (2017) Das staatliche Gesundheitssystem ist mit Familienrückhalt aus. Es wird erwartet, Lebenserwartung 76,3 Jahre (2016) zweigliedrig. Die medizinische Infrastruktur, dass sich Töchter oder Schwiegertöchter um Gesundheitskosten pro Kopf 530 US $ (2015), unterhalten vom Ministerio de Salud Pública, die Pflege ihrer Eltern und Schwiegereltern 71 US $ (2001) ist kostenlos – zumindest auf dem Papier. In kümmern. Stirbt ein Elternteil, zieht der ande- Arbeitslosenquote 4,6% (2017) der Regel sind Medikamente, Röntgenaufnah- re zur Tochter oder zum Sohn und zur Schwie- Armutsquote bei 3,6% (2016) men und Operationsmaterialien trotzdem gertochter. Ältere Menschen leben selten al- nationaler Armutsgrenze kostenpflichtig. In die staatliche Kategorie fal- lein im Haus. Sind ausreichend finanzielle Mordrate 5,9 Fälle / 100’000 len die Regionalkrankenhäuser in den Städten Mittel vorhanden, werden Haushaltshilfen Einwohner (2016) und Arztpraxen mit Notfalleinrichtungen, so- ohne pflegerische Ausbildung für eine Betreu- Anzahl Kandidierender für die 18 Bürgermeisterwahlen in Quito genannte dispensarios medicos. Diese öffent- ung rund um die Uhr eingestellt. Pflegebe- im März 2019 (Quelle: Wikipedia) lichen Gesundheitseinrichtungen sind unter- dürftige Eltern in Heimen unterzubringen gilt (Angaben: Knoema Weltdatenatlas) entwickelt und werden nur von der armen als verwerflich. Dies mag daran liegen, dass Bevölkerungsgruppe genutzt. Besser Begüter- Angebote qualitativ nicht befriedigend oder 10
Alter in Ecuador: Familienrückhalt und finanzielle Mittel sind entscheidend. aber zu teuer sind. Ausserdem spielen die reli- nicht voll ausgelastet, weil sich nur eine Zur Autorin: giöse Einstellung der Bevölkerung und die Minderheit diese für ecuadorianische Ver- Manuela Rutishauser studiert an der ZHAW Soziale Arbeit. Im Rahmen ihres Studiums hat sie ein Auslands- ausgeprägte Familienzusammengehörigkeit hältnisse teure Wohnform leisten kann oder praktikum in der Altersresidenz für Menschen mit Alz- eine nicht zu unterschätzende Rolle. die Akzeptanz der Fremdbetreuung von heimer «Punchanaya Kan» bei Quito, Ecuador, absolviert. Familienangehörigen fehlt. Monatlich belau- Punchanaya Kan – Angebot für Menschen fen sich die Kosten pro Person auf ungefähr mit Alzheimer 1000 US-Dollar. Ein privat geführtes Alters- Im Jahr 2017 gründete die Tochter einer von heim mit durchschnittlich 50 Personen in der- Alzheimer betroffenen Mutter den «Club Ge- selben Region kostet ungefähr die Hälfte. Die rontológico» namens Punchanaya Kan, um Qualität der Betreuung ist jedoch nicht ver- ihrer Mutter und anderen von Alzheimer be- gleichbar. troffenen Menschen familienähnliches Woh- Wer das Punchanaya Kan besucht, erlebt nen zu ermöglichen. Der Name Punchanaya keine Aggressionen unter den Bewohnerin- Kan bedeutet in Kichwa, der Stammessprache nen und Bewohnern, wohl aber viel Lachen, in Ecuador, «noch ist es Tag». Die Altersresidenz Musik und Tanz. Wie bei einer Grossfamilie befindet sich eine knappe Autostunde von verlaufen die Tage unkompliziert und spon- Quito entfernt und bietet maximal 15 Perso- tan, mit regelmässigen Aktivitäten wie Bas- nen Platz. Der «Club Gerontológico» beschäf- teln, Gymnastik oder Singen. Die Angehöri- tigt im Moment neun Angestellte, inklusive gen der Bewohnerinnen und Bewohner Köchin und Raumpflegerin. Die Bewohnerin- schätzen es sehr, dass sie vom Personal über nen und Bewohner erhalten viel Aufmerk- WhatsApp mit Fotos und Videos auf dem Lau- samkeit und Herzlichkeit vom gesamten Per- fenden gehalten werden. Dieser Informations- sonal. Körperliche Zuwendungen wie eine kanal zwischen Pflegepersonal und Angehöri- Umarmung oder ein Kuss auf die Wange gehö- gen erlaubt eine enge Beziehung, sprengt aber ren zum Alltag. Auch Angehörige, die ihre manchmal die Grenzen des Datenschutzes, Eltern oder Grosseltern besuchen, begrüssen dem im Punchanaya Kan keine grosse Beach- alle Anwesenden mit einem Wangenkuss oder tung geschenkt wird. Die Altersresidenz wür- einer Umarmung. Aktuell wohnen elf Perso- de den professionellen Ansprüchen in der nen im Punchanaya Kan. Davon sind mit Aus- Schweiz wohl kaum genügen. In Bezug auf nahme von drei Ehepartnern alle von Alzhei- «cariño y alegría» – Herzlichkeit, Zuwendung mer betroffen. Bis anhin war die Residenz und Fröhlichkeit – ist sie aber beispielhaft. sozial Magazin der ZHAW Soziale Arbeit 11
Alumni S E B A ST I AN MAYE R , KONTAKT- UND ANLAU F ST EL L E F Ü R hungskredit» aufzubauen. Man könne den DR O G EN AB H ÄN GI G E D E R STAD T Z ÜR I CH Menschen nicht sagen, was sie zu wollen ha- ben, aber man können ihnen Wege aufzeigen. Gestern war gestern, Ein Erfolg ist es für Sebastian Mayer beispiels- weise, wenn er es schafft, einen Klienten zu motivieren, seine Bussen abzuarbeiten. heute ist heute Dass Sebastian Mayer das Wohlergehen von Menschen wichtig ist, zieht sich wie ein roter Faden durch seinen Werdegang. Bereits als Kind war er Jugendsanitäter. Sein Vater führte ein Baugeschäft, doch der junge Sebas- tian fand im Handwerk nicht die Erfüllung, Privat könne er auch mal nachtragend sein, in seinem wie eine nicht beendete Malerlehre zeigte. Vielmehr zog es ihn in den Gesundheits- Beruf gehe das nicht, sagt Sebastian Mayer. In der bereich. So absolvierte er eine Ausbildung Kontakt- und Anlaufstelle für Drogenabhängige der zum Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger in Erfurt, arbeitete danach in Deutschland in Stadt Zürich soll der Weg zurück allen offenstehen. der Unfallchirurgie, bevor er nach dem Um- zug in die Schweiz in der Kinder- und Jugend- von Nicole Koch psychiatrie sowie in der Akutpsychiatrie tätig war. Seit 2013 ist Sebastian Mayer Betreuer in der Kontakt- und Anlaufstelle für Drogenab- hängige, erst in Oerlikon, seit 2017 in der Ka- serne. Grund für den Weggang aus der Psych- iatrie war sein Wunsch, nicht mehr im Zwangskontext tätig zu sein und medizinisch Bild: Timo Kellenberger Einfluss nehmen zu können. Deeskalieren und Lösungen finden 2015 begann Sebastian Mayer den Master of Advanced Studies in Dissozialität, Delin- quenz, Kriminalität und Integration an der ZHAW. «Um Instrumente für einen fachliche- ren Zugang kennen zu lernen», wie er sagt. Die Motivation dahinter sei nicht primär, dass er von sich sagen wolle, seinen Job gut zu ma- chen, sondern dass der Klient für sich eine Zufriedenheit erlange in seinem Sein. Keine einfache Aufgabe: Der Umgang mit Men- schen, die unter schwierigen Bedingungen leben, ist herausfordernd. «Sie können Ver- haltensweisen zeigen, die für sozial integrierte Menschen schwer nachvollziehbar sind», er- klärt er. Seine Aufgabe sei es dann, zu deeska- lieren und auch unter diesen Bedingungen eine Lösung zu finden, bei der der Klient sein «Wenn die Leute merken, dass man ihnen wohlgesinnt ist, öffnen sie sich.» Gesicht wahren kann. Es gelte in jedem Fall, die Beziehung und das Angebot aufrecht zu erhalten und sich persönlich abzugrenzen. Die Konsumräume sind karg und zweckmäs- Am richtigen Ort Schliesslich lege er Wert darauf, dass die Men- sig eingerichtet. Ein Schrank im Vorraum ist Sebastian Mayer spricht wertschätzend über schen sich den Weg zurück nicht verbauen ausgestattet mit sterilen Spritzen und Nadeln. seine Klientel, er kategorisiert nicht, nimmt und ein Neustart jederzeit möglich ist. Die Der Betreuer Sebastian Mayer erklärt, dass sie nicht als Randgruppe wahr. Er sei über- Tatsache, dass das Durchschnittsalter der Kli- hier an manchen Tagen bis zu 300 Konsuma- zeugt, dass jeder Mensch in so eine Lage kom- entel steigt, wertet Sebastian Mayer als Zei- tionen stattfinden und bis zu 60 Personen auf men könne: eine schwierige Lebensphase auf- chen dafür, dass die Schutzmassnahmen grei- einmal ihre mitgebrachten Drogen konsumie- grund von Verlust, eine schwere Erkrankung, fen. Gleichzeitig bedeute es, dass sich die ren. Hier, das ist die Kontakt- und Anlaufstelle die medikamentös behandelt werden muss, Themen wandeln, mit denen die Betreuer Kaserne an der Militärstrasse. Zusammen mit stabilisierende Faktoren, die wegfallen. konfrontiert sind. So werfe Sucht im Alter un- den Standorten Selnau und Oerlikon soll sie «Wenn die Leute merken, dass man ihnen ter anderem Fragen nach adäquaten Wohnfor- drogenabhängigen Erwachsenen mit Wohn- wohlgesinnt ist, öffnen sie sich», weiss er. Das men auf. sitz in der Stadt Zürich einen Ort bieten, an ist es, was Sebastian Mayer antreibt. Er möch- dem sie willkommen sind, unter hygienischen te für Menschen da sein, die jemanden brau- Das Zürcher Modell als Vorbild Bedingungen ihre Drogen konsumieren kön- chen und niemanden haben. Sein Ziel ist es, Die seit den 90er-Jahren geltende Zürcher Dro- nen und bei Bedarf Unterstützung und Bera- sie so zu begleiten, dass sie Hilfe annehmen genpolitik basiert auf vier Säulen: Prävention, tung erhalten. können. Dabei sei es wichtig, einen «Bezie- Therapie, Überlebenshilfe und Repression. 12
Buchtipp Waren die Konsumräume der Kontakt- und PU BL IKAT ION SH IN WEIS Anlaufstellen zu ihren Anfängen noch um- stritten, so dienen sie heute international als Vorbild. Delegationen aus dem Ausland besu- Cannabispolitik: chen die Einrichtung, um mehr über das Zür- Die Fragen, die niemand stellt cher Modell zu erfahren und den Umgang mit Drogenabhängigen im eigenen Land zu über- denken. Auch an internationalen Kongressen Erstmals befasst sich eine Studie mit den nicht und Tagungen sind die Erfahrungen der Kon- takt- und Anlaufstelle für Drogenabhängige intendierten Auswirkungen des Drogenverbots der Stadt Zürich gefragt, wie etwa im vergan- in der Schweiz. genen November an der European Harm Re- duction Conference in Bukarest. von Michael Herzig, Institut für Sozialmanagement der ZHAW Der Schritt über den Rubikon Seine Masterarbeit hat Sebastian Mayer im Frühling 2019 abgeschlossen. Darin befasste Seit sich der Nationalrat 2004 gegen die vom Bundesrat vorgeschlagene Cannabis- er sich mit der Frage, wie Klientinnen und Kli- legalisierung entschieden hat, wird in der Schweizer Politik mehr oder weniger in- enten davon abgehalten werden können, den tensiv über mögliche Alternativen zum Prohibitionsregime diskutiert. Eine unaus- Weg der Sucht wieder einzuschlagen. Was gesprochene Prämisse lautet dabei, dass das Verbot besser sei als Regulierungs- stärkt ihre Motivation und wie können ihnen experimente mit unklarem Ausgang. Würdigung, Akzeptanz und Empathie entge- Michael Herzig, Dozent am Institut für Sozialmanagement der ZHAW, Frank gengebracht werden? Zentral bei seiner Arbeit Zobel, Vizedirektor der Fachstelle Sucht Schweiz in Lausanne, und Sandro Cattacin, ist das Rubikonmodell der Handlungsphasen, Professor am Institut für Soziologie der Universität Genf, haben diese vermeintliche ein motivationspsychologisches Modell, das Gewissheit einem Realitätscheck unterzogen und die Ergebnisse im Buch «Canna- Handlungsschritte in vier Phasen unterteilt: bispolitik: Die Fragen, die niemand stellt» veröffentlicht. Sie haben dafür die Geset- abwägen, planen, handeln und bewerten. An ze und vor allem den Gesetzesvollzug untersucht und Interviews mit Betroffenen welchem Punkt müssen Sozialarbeitende an- sowie eine Literatur- und Medienrecherche durchgeführt. setzen, um Einfluss nehmen zu können? Er- Die Prohibition schafft Drogen nicht aus der Welt. Nichtsdestotrotz werden in kenntnisse aus seiner Masterarbeit möchte er der Schweiz proportional zur Gesamtbevölkerung mehr Personen wegen Cannabis- künftig in seinem Berufsalltag einsetzen und straftaten belangt als in Deutschland, Österreich und Frankreich. Die Betroffenen seine Klientel damit noch besser unterstüt- machen sich meistens keiner schweren Straftat schuldig, werden aber zum Teil so zen – für mehr Zufriedenheit in ihrem Sein. behandelt. Die aktuelle Vollzugspraxis ist so disparat und intransparent, dass man sich fragen darf, ob Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit gegeben sind. Je nachdem, wo und von wem man kontrolliert wird, kann der Besitz von weniger als 10 Gramm MAS in Dissozialität, Delinquenz, Hanf straffrei ausgehen oder mit einer Ordnungsbusse oder Verzeigung belangt Kriminalität und Integration Menschen mit dissozialem oder straffälli- werden. Einige Polizeicorps versuchen, die Betroffenen kumulativ für möglichst gem Verhalten zu beraten, zu betreuen viele Konsumereignisse zu bestrafen. und zu begleiten ist eine vielseitige und Im Strassenverkehr gilt für Cannabis ein ungleich härteres Regime als für Al- herausfordernde Aufgabe. Das interdiszip- kohol, obwohl deutlich mehr Unfälle auf Alkoholkonsum zurückzuführen sind. linäre Arbeitsfeld entwickelt sich fachlich Eine geringe Menge THC im Blut führt zum Ausweisentzug, selbst wenn der Kon- sehr dynamisch, neue Ansätze und sum Tage zuvor stattgefunden hat oder die betroffene Person gar nicht Auto gefah- Erkenntnisse müssen in den Arbeitsalltag ren ist, sondern von der Polizei an einem beliebigen Ort mit Cannabis erwischt wur- integriert werden. Fachleute der Sozialen de. Die vom Bundesamt für Verkehr verwendete Definition einer Drogenab- Arbeit und Behördenmitglieder können hängigkeit widerspricht den Richtlinien der WHO (ICD10). ihre fachliche Kompetenz und ihr theoreti- Das geltende Bewilligungsverfahren für eine medizinische Anwendung von sches Wissen erweitern und aktualisieren. www.zhaw.ch/sozialearbeit/weiterbildung Cannabis ist aufreibend. Die wenigen erhältlichen Medikamente wirken aus Sicht der Befragten nur langsam und erst ab einer höheren Dosis als verschrieben. Zudem kosten sie das Zehnfache des Schwarzmarktpreises. Kein Wunder also, dass sich die Leute selbst helfen, indem sie Cannabis anbauen oder schwarz kaufen. Michael Herzig, Frank Zobel, Sandro Cattacin Cannabispolitik Die Fragen, die Cannabispoliti niemand stellt Cannabispolitik: Die Fragen, die niemand stellt Pini, Pellegrini, Cattacin, Fibbi Michael Herzig, Frank Zobel, Sandro Cattacin Seismo Verlag 2019 132 Seiten ISBN: 978-3-30777-195-2 Das Buch ist auch in französischer Sprache erhältlich: PENSER LA SUISSE «Politique en matière de Cannabis: Les questions que personne ne pose» sozial Magazin der ZHAW Soziale Arbeit 13
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