Nichtbezug von Sozialleistungen - ZHAW Zürcher Hochschule ...

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Nichtbezug von Sozialleistungen - ZHAW Zürcher Hochschule ...
Magazin der ZHAW Soziale Arbeit   Nr. 11 / Sommer 2019           Erscheint zweimal jährlich

Im Brennpunkt                                                        Hinterfragt

Nichtbezug von
                                                                     «Gemeindelotto» für
                                                                     vorläufig aufgenommene
                                                                     Personen
Sozialleistungen                                                     Seite 2

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Viele Anspruchsberechtigte machen nicht von                          Pflegekinder wirken
ihrem Recht auf Sozialleistungen Gebrauch.                           mit: Care-Leaver-Projekte
Was bedeutet die damit einhergehende versteckte                      in der Schweiz
Armut für die Soziale Arbeit?                                        Seite 6

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                                                                     Soziale Arbeit im Ausland

                                                                     Ecuador: Leben im Alter
                                                                     Seite 10

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                                                                     Kontakt- und Anlaufstelle
                                                                     für Drogenabhängige:
                                                                     Das Zürcher Modell als
                                                                     Vorbild
                                                                     Seite 12
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Hinterfragt

              VEREI N M AP-F

              Wer im «Gemeinde-
              lotto» verliert
              Durch eine Gesetzesänderung erhalten vorläufig aufgenommene
              Personen im Kanton Zürich neu Asylfürsorge statt Sozialhilfe.
              Wie tief diese ausfallen darf, interpretiert jede Gemeinde anders.
              von Nicole Koch

              «Warum werde ich bestraft?» Diese Frage stellen sich seit     map-F – ein Verein setzt sich ein
              dem 1. Juli 2018 viele vorläufig aufgenommene Personen        Als das Stimmvolk im Kanton Zürich im September 2017
              im Kanton Zürich. Sie kommen aus Ländern wie Syrien,          entschied, dass vorläufig Aufgenommenen die Leistungen
              Irak oder Eritrea und sind vor Krieg, Armut oder staatli-     gekürzt werden sollen, haben sich Vertreterinnen und Ver-
              cher Verfolgung in die Schweiz geflohen. Hier gelten sie      treter des «Nein-Komitees» zusammengetan und map-F
              als vorläufig aufgenommene Ausländerinnen und Auslän-         gegründet. Der Verein macht sich für vorläufig aufgenom-
              der. Eine Bezeichnung, die irreführend ist, denn über 90 %    mene Personen stark und dient ihnen und von der Geset-
              von ihnen bleiben ihr Leben lang in der Schweiz. Durch        zesänderung betroffenen Organisationen und Behörden
              eine Gesetzesänderung im Kanton Zürich erhalten sie neu       als Anlaufstelle. Eines seiner wichtigsten Anliegen: Es sol-
              keine Sozialhilfe mehr, sondern Asylfürsorge.                 len angemessene Mindeststandards festgelegt werden, die
                                                                            für alle Zürcher Gemeinden verbindlich sind. Durch Öf-
              Empfehlungen statt Verbindlichkeit                            fentlichkeitsarbeit und Einflussnahme auf den gesell-
              Dies bedeutet konkret: Der Grundbedarf für den Lebens-        schaftspolitischen Diskurs sollen zudem die Situation für
              unterhalt wird gesenkt und viele Betroffene müssen ihre       die Betroffenen langfristig verbessert und deren Integrati-
              Wohnung aufgeben und in eine Kollektivunterkunft zie-         on gefördert werden.
              hen. Zudem besteht die Gefahr, dass Integrationsmassnah-           Moritz Wyder hat einen Bachelorabschluss in Sozialer
              men nicht mehr finanziert werden. Das Geld reicht nicht       Arbeit von der ZHAW und ist seit April 2018 Geschäftslei-
              mehr für grundlegende Dinge wie ein Busticket für die         ter von map-F. Dass die Gesetzesänderung eine Verschlech-
              Lokalzone, Medikamente oder Spielgruppenplätze. Wie           terung für die betroffenen Menschen bringen würde, sei
              das neue Gesetz konkret umgesetzt wird, kann jede Ge-         klar gewesen, sagt er: «Der Verein sucht deshalb nach
              meinde selbst entscheiden. Das heisst, je nachdem, in wel-    Möglichkeiten, die Lebensumstände der Betroffenen zu
              cher Gemeinde jemand wohnt, fallen die gezahlten Gelder       verbessern.» Solange keine gesetzliche Veränderung be-
              unterschiedlich tief aus. Eine Einzelperson ab 25 Jahren      wirkt werden könne, seien die Mitarbeitenden von map-F
              erhält in Dielsdorf beispielsweise CHF 300 im Monat für       im Direktkontakt mit den Betroffenen meist in der Rolle
              Mietkosten. Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe      der Informationsvermittler. Dies liege nicht zuletzt daran,
              SKOS empfiehlt in ihren Richtlinien einen Betrag von          dass die Gemeinden oft nicht klar und vollständig über die
              CHF 1200. Zürich ist eine der Gemeinden, die sich an den      Gesetzesänderung und ihre Auswirkungen informieren
              SKOS-Richtlinien orientieren und sich dafür aussprachen,      würden. Die Mitarbeitenden von map-F erklären dann den
              die Mietkostenbeiträge nicht zu senken. Doch auch hier –      Sachverhalt und dass es sich nicht um eine Bestrafung
              im besten Fall also – erfahren die Betroffenen eine Kürzung   handle – auch wenn es sich so anfühlen möge. Durch den
              um ein Drittel ihrer bisherigen Unterstützungsleistungen.     Kontakt mit map-F haben die Menschen zumindest die
              «Gemeindelotto» nennt Moritz Wyder, Geschäftsleiter des       Möglichkeit, über ihre Situation zu sprechen und sich Ge-
              Vereins map-F, diesen Zustand, der in seiner Brisanz noch     hör zu verschaffen. Und in manchen Fällen habe ein Re-
              dadurch verstärkt wird, dass vorläufig aufgenommene           kurs durchaus Chancen und es könne eine Verbesserung
              Personen, die auf Asylfürsorge angewiesen sind, die           erzielt werden, so Moritz Wyder. Doch der Verein sei be-
              Gemeinde neu nicht mehr wechseln dürfen. Selbst wenn          strebt, mehr zu tun. Es sei den Mitarbeitenden von map-F
              sie woanders eine bezahlbare Wohnung finden, was              darum wichtig, Einfluss auf den öffentlichen Diskurs zu
              schwierig genug ist.                                          nehmen. «Das Thema im Gespräch zu halten und langfris-

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Hinterfragt

              tige Lösungen für ein Problem zu finden, das kurzfristig           Moritz Wyder fügt hinzu, dass das Finanzierungssystem
              nicht gelöst werden kann», fasst Moritz Wyder die Ziele            problematisch sei und überdacht gehöre: «Eine engagierte
              des Vereins zusammen.                                              Gemeinde muss mehr bezahlen», dies sei nicht zwingend.
                                                                                 Welchen Einfluss die Integrationsagenda 2019 auf die Si-
              Mundpropaganda und ein Netzwerk                                    tuation haben wird, bleibt abzuwarten. Gewiss ist, dass der
              map-F sucht den Kontakt zu Betroffenen und Organisatio-            Verein map-F sich auch künftig stark machen wird für die
              nen. Kein einfaches Unterfangen, obschon das Angebot               Verbesserung der Lebensbedingungen von vorläufig auf-
              niederschwellig ausgelegt ist. Die Mundpropaganda funk-            genommenen Menschen.
              tioniert gut und die Freiwilligenorganisationen Solinetz
              Zürich und Freiplatzaktion, die sich ebenfalls für geflüch-
              tete Menschen einsetzen und im zehnköpfigen Vorstand
              von map-F vertreten sind, dienen als Multiplikatoren. Den-
              noch macht sich Antje Cubela, Vorstandsmitglied von
              map-F und ebenfalls Absolventin des Bachelorstudiums in
              Sozialer Arbeit an der ZHAW, keine Illusionen: «Wir versu-
              chen, unser Angebot niederschwellig zu halten, dennoch
              ist die Hürde für viele zu hoch, so ist eine Reise nach Zü-
              rich mit Kosten verbunden, die nach den Kürzungen nicht
              mehr zu stemmen sind.» Und auch der Austausch mit den
              verschiedenen Gemeinden sei nicht immer einfach. So
              würden einige Gemeinden kein Interesse an einer Offenle-
              gung ihrer Praxis zeigen und sich darauf berufen, dass sie
              dies nicht zwingend müssen. Andere Gemeinden seien
              hingegen froh um Informationen und Richtlinien.

              Eine Rechnung, die nicht aufgeht
              Zwei Drittel des Stimmvolkes wollten eine Kürzung. «Wir
              müssen deren Argumente aufnehmen und versuchen, auf
              sie einzugehen», weiss Antje Cubela. Das Hauptargument
              der Kürzungsbefürworter seien die Kosten, die vorläufig
              Aufgenommene generieren würden. Diese müssen ge-
              senkt werden. Antje Cubela gibt zu bedenken: «Die Kür-
              zung der Unterstützungsgelder beraubt diese Menschen
              der Möglichkeit, sich zu integrieren – und das kostet mit-
              tel- und langfristig erst recht.» So haben Untersuchungen
              des Bundes gezeigt, dass jeder Franken, der in die Integra-
              tion investiert würde, später bis zu 4 Franken einspare.                           Wenn Unterstützungsleistungen zur Glückssache werden

                 Hintergründe zum Verein map-F
                 Bis 2011 wurden vorläufig aufgenomme-       (map-F). Der Verein map-F positioniert     Der Verein hat bereits zwei Monitoring-
                 ne Personen durch die Asylfürsorge          sich als Anlaufstelle für betroffene       berichte zur Umsetzung des neuen Ge-
                 unterstützt. Nach einem Volksentscheid      Menschen und Organisationen, die mit       setzes herausgegeben. Im ersten Bericht
                 wurde die Praxis geändert und die           ihnen zusammenarbeiten.                    vom letzten August, also wenige Monate
                 betroffenen Personen erhielten Sozialhil-                                              nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes,
                 fe nach den Richtlinien der Schweizeri-     Der Verein ist wie folgt aktiv:            wurden allgemeine Tendenzen in dieser
                 schen Konferenz für Sozialhilfe SKOS –      • Monitoring: Die in den Gemeinden         Umsetzung zusammengefasst. Im
                 genau wie anerkannte Flüchtlinge sowie        gesammelten Informationen sollen         zweiten Bericht vom vergangenen April
                 Schweizerinnen und Schweizer. An der          für Transparenz sorgen.                  lag der Fokus auf den Auswirkungen für
                 Abstimmung vom 24. September 2017           • Verbindlichkeit: Verbindliche Mindest-   vorläufig aufgenommene Kinder und
                 sprach sich das Stimmvolk dafür aus,          standards sollen für ein Mindestmass     Jugendliche. Die Monitoringberichte sind
                 das System erneut zu ändern: Vorläufig        an Unterstützung und Integrationsför-    auf der Website von map-F einsehbar.
                 aufgenommene Personen werden nun              derung sorgen.                           map-F wird als unabhängiger Verein
                 wieder nach Asylfürsorgeverordnung          • Unterstützung: Mit Informationen soll    vollumfänglich durch Spenden finanziert.
                 unterstützt. Gegen diese erneute              den Betroffenen langfristig geholfen     Auf neue Mitglieder und Spenden ist der
                 Änderung formierte sich während des           werden.                                  Verein angewiesen, denn jede Unterstüt-
                 Abstimmungskampfes das «Integrations-       • Bewusstsein: Durch Öffentlichkeits-      zung ermöglicht den Einsatz von map-F
                 stop Nein»-Komitee. Nach der Abstim-          arbeit sollen die problematischen        zugunsten der betroffenen Menschen.
                 mung gründeten Mitglieder dieses              Auswirkungen der Gesetzesänderung
                 Komitees die Monitoring- und Anlaufstel-      bekannt gemacht werden.                  www.map-F.ch
                 le für vorläufig aufgenommene Personen

sozial Magazin der ZHAW Soziale Arbeit                                                                                                                      3
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Nachgeforscht

           N I ED ER SCHW E LLI G E TR E FFPUNKT E

           Angebot und Bedarf
           im Gleichgewicht
           Niederschwellige Treffpunkte bieten Menschen am Rande der
           Gesellschaft nicht nur eine existenzielle Grundversorgung an,
           sie fördern auch ihre gesellschaftliche Integration.
           von Sigrid Haunberger, Hannah Lea Dykast und Elena Gravagno

           Was machen Menschen, die im öffentlichen Sozialraum als          Nachfrage steigt, so wurden 2018 wesentlich mehr Bera-
           störend oder gar Angst einflössend empfunden werden,             tungen durchgeführt, nämlich 761, weiss Kurt Rentsch vom
           die kein festes Dach über dem Kopf haben und am Exis-            Café Yucca. Die Öffnungszeiten der einzelnen Treffpunkte
           tenzminimum leben? Menschen also, die durch das soziale          sind gut aufeinander abgestimmt. Unklar ist, ob mehr Mor-
           Netz gefallen sind, die sich von Arbeit, Familie und Gesell-     gen- oder Abendöffnungszeiten notwendig wären.
           schaft entfremdet haben und deshalb als randständig be-
           zeichnet werden. In der Stadt Zürich existieren für sie ver-     Das Stammpublikum
           schiedene regelmässig geöffnete niederschwellige                 Die Zielgruppen der niederschwelligen Treffpunkte – Besu-
           Treffpunkte, die die Integration fördern und das Überleben       cherinnen, Besucher oder Gäste genannt – werden von den
           sichern. Niederschwellig bringt dabei zum Ausdruck, dass         Fachpersonen als heterogen beschrieben. Zum Stammpub-
           das Zielpublikum die Einrichtungen möglichst unkompli-           likum gehören Menschen aller Altersgruppen, unabhängig
           ziert und unbürokratisch nutzen kann und Hilfe erhält.           von ihrer Ethnie und Herkunft: Asylsuchende, Menschen
           Das Institut für Sozialmanagement der ZHAW Soziale Ar-           mit sozialen und/oder materiellen Schwierigkeiten, einsa-
           beit hat verschiedene niederschwellige Stadtzürcher Treff-       me Menschen und Menschen mit psychischer Beeinträch-
           punkte einer Angebots- und Bedarfsanalyse unterzogen,            tigung. Menschen also, die von gesellschaftlicher Ausgren-
           so etwa das Café Yucca in der Altstadt.                          zung betroffen oder bedroht sind und oftmals nicht über
                                                                            andere Beratungs- und Betreuungsangeboten erreicht wer-
           Nutzung der Angebote steigt                                      den können. Die Fachleute sind sich recht einig, dass die
           Fachpersonen der folgenden dreizehn Angebote wurden              Zahl der Menschen mit psychischen Auffälligkeiten, Per-
           um eine Einschätzung zur Angebots- und Bedarfslage ge-           sönlichkeitsstörungen oder Mehrfachdiagnosen künftig
           beten: Café Yucca (Zürcher Stadtmission), Brot-Egge und          steigen wird, ebenso gerät die Personengruppe 55+ ver-
           Gassencafé Sunestube (beide Sozialwerk Pfarrer Sieber),          stärkt in den Fokus. Im Rahmen der Angebots- und Be-
           Treffpunkt City und Treffpunkt t-alk (beide Stadt Zürich),       darfsanalyse wurden zahlreiche aktuell problematische
           Gassenküche Speak-Out (Verein), Wohn- und Arbeitsge-             Lebensbereiche des Stammpublikums identifiziert, wie
           meinschaft Suneboge (Verein), Open Heart (Heilsarmee),           beispielsweise gesundheitliche oder finanzielle Probleme.
           Chrischtehüsli (Verein INKLUSIV), Städtische Notschlaf-               Eine nähere Betrachtung der Gäste niederschwelliger
           stelle und Fachstelle Sicherheit Intervention Prävention         Treffpunkte zeigt, dass Männer meist stärker vertreten sind
           sip züri (beide Stadt Zürich), Kafi Klick (IG Sozialhilfe) und   als Frauen. Das Verhältnis liegt bei ungefähr 75 % Männer
           Ambulatorium Kanonengasse (Stadt Zürich).                        gegenüber 25 % Frauen. Dies hat sich in den letzten Jahren
                Das Angebot für randständige Menschen in der Stadt          nicht einschneidend verändert. Die Gäste sind grösstenteils
           Zürich ist breit gefächert und reicht von diversen Aktivitä-     zwischen 30 und 60 Jahre alt und wohnen, sofern das in
           ten zur Pflege sozialer Kontakte über kostenlose oder güns-      Erfahrung zu bringen ist, in der Stadt oder im Kanton Zü-
           tige Versorgung mit Nahrungsmitteln und Kleidung sowie           rich. Im Café Yucca ist der Andrang über die Jahre hinweg
           Dusch- und Waschmöglichkeiten bis hin zu niederschwel-           gross geblieben. 2018 zählte das Café beispielsweise rund
           ligen Arbeitsmöglichkeiten, die eine Tagesstruktur bieten.       23’800 Gäste, 190 von ihnen sind Stammgäste und besu-
           Das Angebot wird rege genutzt, so wurden beispielsweise          chen das Café regelmässig.
           2017 vom Café Yucca, von der Gassenküche Speak-Out, vom
           Gassencafé Suneboge und von der Wohn- und Arbeitsge-             Die Wohnstube der Gäste
           meinschaft Sunestube zusammen rund 25’000 kostenlose             Fachleute beschreiben die niederschwelligen Treffpunkte
           Suppen oder Mahlzeiten an randständige Menschen ausge-           als Orte, an denen eine Grundversorgung existenzieller
           geben. Je nach Treffpunkt kann zudem seelsorgerischer            Grundbedürfnisse etwa nach Nahrung und Hygiene ge-
           Beistand oder Sozialberatung beansprucht werden. Die             währleistet wird. Darüber hinaus sind sie zentrale Anlauf-

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Nichtbezug von Sozialleistungen - ZHAW Zürcher Hochschule ...
Nachgeforscht

              Im Café Yucca erhalten Menschen in Not professionelle Hilfe – und ein günstiges Abendessen.

              stellen für Menschen in Notlagen und «bieten einen Hoff-                Nachfrage im Bereich der Versorgung von randständigen
              nungsanker für viele», so Emanuel Parvaresh vom                         Menschen zum Zeitpunkt der Befragung im Herbst 2018
              Chrischtehüsli. Die Gäste erfahren – unabhängig von ihrer               als ausgeglichen ein. Doch es gibt durchaus blinde Fle-
              ethnischen Herkunft, vom Geschlecht und vom äusseren                    cken. So weist Arjen Faber vom Brot-Egge auf eine ver-
              Erscheinungsbild – «Annahme, Akzeptanz und Würde und                    steckte weibliche Obdachlosigkeit hin und gibt an, dass
              werden wertgeschätzt», ergänzt Fred Schulze vom Open                    Schweizer Armutsbetroffene schwerer Zugang zum Hilfe-
              Heart. Die Bedeutung von niederschwelligen Treffpunkten                 system finden.
              als Orte der sozialen Integration und Teilhabe an der Ge-
              sellschaft wird besonders betont: Für viele Gäste sind nie-             Mehrwert für den sozialen Raum der Stadt Zürich
              derschwellige Treffpunkte wichtige Orte sozialer Partizipa-             Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Überle-
              tion, da sie oftmals über wenige bis keine relevanten                   benshilfe durch eine Grundversorgung, das niederschwel-
              Sozialkontakte verfügen. Kurt Rentsch, Teamleiter im Café               lige Zusammenkommen und die bedarfsgerechten Bera-
              Yucca, bezeichnet das Café denn auch als eine «Wohnstube                tungsangebote von städtischen und privaten Träger-
              für die Gäste».                                                         schaften einen grossen Mehrwert für den sozialen Raum
                                                                                      der Stadt Zürich bedeuten. Zum Befragungszeitpunkt im
              Entlastung des städtischen Sozialraums                                  Herbst 2018 besteht in der Stadt Zürich ein ausgewogenes
              Niederschwellige Treffpunkte bieten eine Entlastung des                 Verhältnis von Angebot und Bedarf. Die Treffpunkte ent-
              städtischen Sozialraums, so sind etwa Alkohol- und Dro-                 lasten den städtischen Sozialraum und nehmen problema-
              genproblematiken und Obdachlosigkeit im öffentlichen                    tische Lebensbereiche ihres Stammpublikums ins Visier.
              Raum weniger auffällig. Sie leisten darüber hinaus in                   Sie unterstützen ihre Besucherinnen und Besucher nieder-
              einer gewissen Art präventive Arbeit im öffentlichen                    schwellig bei Fragen zur lebensnotwendigen existenziellen
              Raum, da problematische Entwicklungen frühzeitig er-                    Grundversorgung. Zudem wirken sie auf lange Sicht der
              kannt werden und deeskalierend interveniert werden                      sozialen Isolation von randständigen Menschen entgegen,
              kann. Gemeinsam bilden die niederschwelligen Treff-                     indem sie ihnen Zeit und Raum für die gesellschaftliche
              punkte der Stadt Zürich ein tragfähiges Mosaik aus vielfäl-             Integration zur Verfügung stellen.
              tigen Organisationen mit guter Vernetzung untereinan-
              der. Niederschwellige Treffpunkte sind Orte, «die sehr
              schwierige Menschen auffangen und schnelle Reaktionen
              auf individuelle Problemlagen bieten können», fasst Anna
              Brändle von der Wohn- und Arbeitsgemeinschaft Sunebo-
              ge zusammen.                                                                                      Café Yucca
                                                                                                                Das Café Yucca bietet den Gästen täglich
              Bedarfsentwicklung – ein Blick in die Zukunft                                                     einen Ort der Ruhe, aber auch Kontakte und
              Den Bedarf an niederschwelligen Treffpunkten in der Stadt                                         Gespräche, Suppe sowie Tee – und viermal
              Zürich für die nächsten fünf Jahre schätzen etwa die Hälfte                                       pro Woche ein günstiges Abendessen.
              der befragten Institutionen (46 %) als gleichbleibend und                                         Die Sozialberatung hilft mit Informationen,
              die andere Hälfte als zunehmend (54 %) ein. Eine Prognose                                         Beratung und Unterstützung, wie etwa
              ist jedoch schwierig, da der Bedarf von verschiedenen                                             der Organisation von Übernachtungsmög-
              nicht voraussehbaren Entwicklungen abhängt, insbeson-                                             lichkeiten und medizinischer Versorgung
                                                                                                                sowie mit Begleitung zu Amtsterminen.
              dere auch von den wirtschaftlichen und politischen Ent-
              wicklungen in der Schweiz und der Welt. Eveline Schnepf                                           www.stadtmission.ch/cafe-yucca
              von der Städtischen Notschlafstelle schätzt Angebot und

sozial Magazin der ZHAW Soziale Arbeit                                                                                                                        5
Nichtbezug von Sozialleistungen - ZHAW Zürcher Hochschule ...
Nachgefragt

CA R E L EAVER

Pflegekinder wirken mit
Lea wird bald volljährig. Warum sie ihrem
18. Geburtstag mit gemischten Gefühlen
entgegenblickt und mit welchen Projekten
die ZHAW Soziale Arbeit Jugendliche wie
Lea unterstützt.
von Renate Stohler, Karin Werner und Jessica Wendland

Lea ist 17 Jahre alt und besucht eine Fachmit-
telschule. Nach ihrem Abschluss möchte sie
sich an einer Fachhochschule zur Physiothe-
rapeutin ausbilden lassen. Genau wie andere
Jugendliche freut sich Lea auf ihren 18. Ge-
burtstag. Gleichzeitig hat sie aber auch ge-
mischte Gefühle. Denn im Unterschied zu ih-
ren gleichaltrigen Freundinnen lebt Lea seit
ihrem zehnten Lebensjahr bei einer Pflegefa-
milie, weil ihre leiblichen Eltern nicht für sie
sorgen können. Jedes zweite Wochenende ver-
bringt sie bei ihrer leiblichen Mutter, die nach
wie vor an psychischen Problemen leidet. Zu
ihrem Vater hat sie kaum Kontakt. Lea weiss,
dass sie offiziell nur bis zu ihrem 18. Geburts-
tag in der Pflegefamilie bleiben kann, da die
Unterstützung durch die Kinder- und Jugend-
hilfe mit Erreichen der Volljährigkeit endet.
Lea wird deshalb in den nächsten Monaten
mit den Pflegeeltern und ihrer Beiständin be-
                                                        Illustration: Sarah Weishaupt

sprechen, ob sie noch länger in der Pflegefa-
milie leben oder ausziehen wird. Einerseits
würde sie sich freuen, mit Erreichen der Voll-
jährigkeit ausziehen und selbständig wohnen
zu können. Gleichzeitig macht sie sich aber
auch Gedanken darüber, wie sie als Schülerin
und später als Studentin ihren Lebensunter-                  Jahren endet, erfolgt der Übergang in die Selb-     Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt
halt finanzieren kann und ob sie all die Aufga-              ständigkeit bei Care Leavern früher und ra-         untersuchte, wie Pflegekinder auf den Über-
ben, die nach dem 18. Lebensjahr auf sie zu-                 scher als bei Gleichaltrigen, die bei ihren leib-   gang in die Selbständigkeit vorbereitet wer-
kommen, allein bewältigen kann. Ihre                         lichen Eltern leben. Ebenso erhalten Pflege-        den, wie sie diese Vorbereitung einschätzen,
leiblichen Eltern, dessen ist sie sich bewusst,              und Heimkinder weniger materielle, soziale          wie sie den Auszug aus der Pflegefamilie er-
werden sie nur bedingt unterstützen können.                  und emotionale Unterstützung von ihren Fa-          lebten und welche Unterstützung sie für den
Und bei ihrer Mutter kann und will Lea nicht                 milien als Gleichaltrige. Verschiedene Studien      Übergang ins Erwachsenenalter benötigt hät-
wohnen. Mit solchen Fragen beschäftigen sich                 aus dem Ausland zeigen, dass die Entwick-           ten. Das Projekt wird von der Stiftung Merca-
die meisten von Leas Freundinnen und Freun-                  lung von Care Leavern gefährdet sein kann:          tor Schweiz finanziert.
den noch nicht. Sie bleiben in der Regel bis                 Sie haben zum Beispiel ein höheres Risiko, im            Ziel des partizipativen Projekts ist es,
zum Abschluss der Erstausbildung bei ihren                   Erwachsenenalter arbeitslos zu werden oder          Pflegekinder stärker an der Vorbereitung auf
Eltern oder einem Elternteil wohnen.                         Sozialhilfe zu beziehen. Für die Schweiz gibt       den Übergang in die Selbständigkeit zu betei-
                                                             es bislang kaum Untersuchungen zur Situati-         ligen. Im Zentrum stehen deshalb die Ideen
Übergang in die Selbständigkeit                              on von Care Leavern.                                und Vorschläge von (ehemaligen) Pflegekin-
Junge Erwachsene, die wie Lea mit 18 Jahren                                                                      dern. Ihre Erfahrungen und Bedürfnisse wur-
oder später aus der Pflegefamilie oder dem                   Projekt «Übergang in die Selbständigkeit:           den mit einer Befragung erfasst. Zudem be-
Heim ausziehen, werden im Fachdiskurs als                    Pflegekinder wirken mit!»                           gleitete eine Gruppe von ehemaligen
Care Leaver bezeichnet. Da in der Schweiz –                  Vor diesem Hintergrund realisierte die ZHAW         Pflegekindern das Forschungsteam der ZHAW
wie auch in anderen Ländern – die Unterstüt-                 Soziale Arbeit das Projekt «Übergang in die         während der gesamten Projektdauer in regel-
zung durch die Kinder- und Jugendhilfe mit 18                Selbständigkeit: Pflegekinder wirken mit!».         mässigen Treffen kritisch. Diese Begleitgrup-

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Nichtbezug von Sozialleistungen - ZHAW Zürcher Hochschule ...
Publikation

pe nimmt verschiedene Aufgaben wahr und             REZEN SION
wirkte insbesondere bei der Entwicklung von
Unterstützungsangeboten mit. Basierend auf
den Ergebnissen des Projekts entstanden ein
                                                    Heimgeschichte erklärend
Mentoring-Programm und eine Website.                verstehen
www.zhaw.ch/pflegekinder

Mentoring-Projekt «Take-off»                        Seit den 2010er Jahren werden Heimerziehung
Pflegekinder im Übergang in die Selbständig-
keit wünschen ergänzend zur professionellen         und Jugendfürsorge international verstärkt
Unterstützung auch eine Begleitung durch            erforscht – insbesondere über biografische Erzäh-
ehemalige Pflegekinder, um von ihren Erfah-
rungen zu profitieren.                              lungen von Menschen mit Heimerfahrung.
     Gemeinsam mit der Begleitgruppe wurde
daher das Mentoring-Projekt «Take-off» ent-         von Ulrich Leitner, Bildungshistoriker an der Universität Innsbruck
wickelt. Grundidee ist, dass ehemalige Pflege-
kinder sich als Mentorinnen und Mentoren
für jüngere Pflegekinder engagieren. Auf die-       Mit ihrer jüngst erschienenen Studie «Fremdplatziert» legen Gisela Hauss, Thomas
se Aufgabe werden sie vom Projektteam der           Gabriel und Martin Lengwiler einen konsequent multiperspektivisch wie interdis-
ZHAW Soziale Arbeit vorbereitet.                    ziplinär angelegten Forschungsaufriss zur Geschichte der Heimerziehung der
www.zhaw.ch/take-off                                Schweiz im 20. Jahrhundert vor, der nicht dokumentarisch ausgerichtet ist,
                                                    sondern analytisch verfährt. Der Band ist ein Ergebnis des Singeria-Projekts «Pla-
Website zur Vernetzung                              cing Children in Care. Child Welfare in Switzerland 1940–1990», an dem ein For-
Pflegekinder haben das Bedürfnis, sich mit          schungsteam von fünf verschiedenen Hochschulen zusammenarbeitete. Einge-
anderen Pflegekindern auszutauschen. Zu             nommen wird eine gesamtschweizerische Perspektive, die doppelt komparativ
diesem Zweck wurde in enger Zusammenar-             angelegt ist: Die verschiedenen Sprachregionen, Kantone und Konfessionen werden
beit mit der Begleitgruppe eine Website ent-        ebenso in Beziehung zueinander gesetzt wie die in der Fürsorgegeschichte wirk-
wickelt. Diese Plattform ermöglicht es (ehe-        mächtigen Diskurse, die erzieherischen Praktiken und das biografische Erleben der
maligen) Pflege- und Heimkindern einerseits,        Heimerziehung.
sich zu vernetzen. Andererseits stellt sie (ehe-          Die drei als sich überschneidende Achsen gedachten Kapitel des Buches the-
mals) fremduntergebrachten Jugendlichen             matisieren das Spannungsverhältnis zwischen staatlichem Handeln und subjekti-
und Erwachsenen sowie Fachpersonen Infor-           vem Erleben, die Ausbildung, Praxis und Theorie der Pädagogik für das Heim sowie
mationen zu aktuellen Projekten und Aktivi-         die Effekte der Institutionen auf die Lebensverläufe der Betroffenen. Besonders
täten zur Verfügung. In der Rubrik «Einbli-         hervorzuheben ist, dass die Beiträge vielfach ansonsten häufig vernachlässigte
cke» schildern Care Leaver ihre Erfahrungen.        Aspekte der Heimerziehung zum Thema machen. So wird etwa der professionelle
www.careleaver.ch                                   Blick auf die Eltern fremdplatzierter Kinder rekonstruiert. Mit den «neuen Prakti-
                                                    kanten» der 1960er und 1970er Jahre sowie dem nicht pädagogischen Personal wer-
                                                    den ferner Personengruppen berücksichtigt, die als significant others das Leben der
                                                    Kinder im Heim massgeblich beeinflussen konnten und deshalb in der künftigen
       Tagung Care Leaver in der Schweiz
                                                    Forschung mehr Aufmerksamkeit verdienen. Verwiesen wird auch auf (unbeab-
       Am 29. August 2019 findet im Toni-Areal in
       Zürich die Tagung «Care Leaver in der        sichtigte) Auswirkungen von Heimerfahrungen auf den Lebenslauf ehemaliger
       Schweiz» statt. Neben verschiedenen          Heimkinder sowie auf transgenerationale Aspekte, womit Aufgaben für die aktuel-
       Workshops steht die Präsentation der         le Praxis und Theorie der Heimerziehung ebenso verknüpft sind wie für die aktuel-
       Ergebnisse zweier Forschungsprojekte der     le Forschung zur Geschichte der Jugendfürsorge.
       ZHAW Soziale Arbeit und der FHNW                   Insgesamt macht dieses Buch die komplexen Zusammenhänge und Wirkfak-
       Hochschule für Soziale Arbeit auf dem        toren der Heimerziehung sichtbar, betont Ambivalenzen, Überlappungen und Un-
       Programm. An der Tagung wirken Care          gleichzeitigkeiten von Diskursen, Organisationen und Biografien und sensibilisiert
       Leaver aus beiden Projekten mit.
                                                    für blinde Flecken in der Forschung. Damit werden nicht nur gängige Denkmuster
       www.zhaw.ch/sozialearbeit/veranstaltungen
                                                    hinterfragt, sondern auch künftigen regionalen wie internationalen Projekten heu-
                                                    ristische Kategorien an die Hand gegeben.

                                                                                         Fremdplatziert.
                                                                                         Heimerziehung in der Schweiz, 1940–1990
                                                                                         Gisela Hauss, Thomas Gabriel, Martin Lengwiler (Hrsg.)
                                                                                         Chronos Verlag
                                                                                         2018 (E-Book 2019)
                                                                                         352 Seiten
                                                                                         ISBN 978-3-0340-1440-3
                                                                                         (E-Book 978-3-0340-6440-8)

sozial Magazin der ZHAW Soziale Arbeit                                                                                                                7
Nichtbezug von Sozialleistungen - ZHAW Zürcher Hochschule ...
Im Brennpunkt

                                                  NI CH T BEZU G VON SOZIAL L EIST U N GEN

                                Freiwilliger
                                 Verzicht?
                          Moderne Wohlfahrtsstaaten bieten Schutz vor Armut
                             und Ausgrenzung. Doch um von den Angeboten
                       profitieren zu können, müssen Betroffene meist selber aktiv
                          um Hilfe ansuchen. Warum geschieht dies oft nicht?
                                                            von Rahel Strohmeier Navarro Smith

                                                                                                                              Bild: Mara Truog

«Ich würde es nicht verkraften, wenn überall       bei den kantonalen Bedarfsleistungen wie in-     mutsgrenze vor. Der Bezug von sozialstaatli-
mit dem Finger auf mich gezeigt würde», er-        dividueller Prämienverbilligung, Ergänzungs-     chen Unterstützungsleistungen käme für sie
klärte M. Broger in einem in der Öffentlichkeit    leistungen oder der Alimentenbevorschus-         nie in Frage und wäre schlichtweg unter ihrer
und in der Fachwelt breit und kontrovers dis-      sung ist von einem verbreiteten Nichtbezug       Würde. «Das Sozialamt ist für mich das
kutierten Fernsehbeitrag von «10vor10». Sie        auszugehen.                                      Schlimmste, was ich mir vorstellen kann»,
und ihr Ehemann haben sich gegen den Bezug                                                          hielt M. Broger denn auch fest. Der Beginn ih-
von Sozialleistungen entschieden. Wie jüngs-       Leben unter der Armutsgrenze                     res sozialen Abstiegs liegt einige Jahr zurück
te Untersuchungen zeigen, wird besonders in        Ein Nichtbezug von Sozialleistungen ist unter-   und ist auf einen Immobilienverlust sowie
der Sozialhilfe, aber auch in anderen Hand-        schiedlich motiviert und meist das Ergebnis      den Verlust ihrer Stellen im fortgeschrittenen
lungsfeldern der Sozialen Arbeit kein Ge-          einer bewussten Priorisierung und eines sorg-    Alter zurückzuführen. Beide fanden keine
brauch von rechtlichen Ansprüchen gemacht.         fältigen Abwägens der vorhandenen Möglich-       neue Anstellung mehr und mussten sich bis
In der Sozialhilfe betrifft dies gemäss einer      keiten. So möchte etwa das Ehepaar Broger        zu ihrer Rente und darüber hinaus mit Gele-
Studie für den Kanton Bern rund jede vierte        unter anderem nicht auf seine Hunde verzich-     genheitsjobs über Wasser halten. Wie das Ehe-
Person, auf dem Land sogar jede zweite. Auch       ten und zieht deshalb ein Leben unter der Ar-    paar Broger verzichten viele Betroffene auf

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Nichtbezug von Sozialleistungen - ZHAW Zürcher Hochschule ...
Im Brennpunkt

Sozialhilfe, weil sie finden, dass der Staat ih-        «Das Sozialamt                               • eine allgemeine Sensibilisierung von Fach-
nen die Selbstbestimmung raube, das Geld                                                               personen für die vermehrte Prävention
ohnehin nicht reiche und sie obendrein über             ist für mich das                               und Erkennung des Nichtbezugs im Sozial-
alles Rechenschaft ablegen müssen.                                                                     und Gesundheitsbereich
                                                        Schlimmste,                                  • die Verwendung einer einfachen, respekt-
Prozessuale und strukturelle Hürden …                   was ich mir                                    vollen Sprache im Umgang mit Betroffenen
Die Gründe für einen Nichtbezug von Sozial-
leistungen sind vielfältig und können nicht             vorstellen kann.»                            Diesen Massnahmen sind allerdings dort
abschliessend geklärt werden. Neueste wis-              M. Broger                                    Grenzen gesetzt, wo es an politischem Willen
senschaftliche Studien dazu legen jedoch                                                             fehlt: Zum Beispiel, wenn im Falle eines Sozi-
nahe, dass prozessuale und strukturelle Fakto-                                                       alhilfebezugs der Entzug der Aufenthaltsbe-
ren eine zentrale Rolle spielen. Auf Prozess-                                                        willigung droht. Paradoxerweise kann in die-
ebene sind neben der Definition der An-            rige von Betroffenen auswirken, die ein Ange-     sem Zusammenhang das Wahrnehmen eines
spruchsberechtigung und den eingesetzten           bot zur eigenen Entlastung nicht oder erst        rechtmässig zustehenden Unterstützungsan-
Mitteln für die bedarfsabhängigen Sozialleis-      sehr spät aufsuchen. Etwa weil sie sich in der    gebots mittelfristig einen gesellschaftlichen
tungen auch die Ausgestaltung des Antrags-         Pflicht sehen, allein und ohne fremde Hilfe für   Ausschluss zur Folge haben, wenn der – kan-
wesens und die Information darüber aus-            ihre unterstützungsbedürftigen Familienan-        tonal unterschiedliche – Grenzwert der bezo-
schlaggebend. Auf Strukturebene bestimmt           gehörigen zu sorgen – oftmals bis zur völligen    genen Sozialleistungen erreicht ist. Daher ist
die Zusammensetzung der Bevölkerung den            Erschöpfung. Die Studie «Tages- und Nacht-        verständlich, dass sich Personen mit dem Auf-
Bedarf und die Nachfrage, die Gemeinde-            strukturen» der ZHAW (in Kooperation mit          enthaltsstatus B und C zwei Mal überlegen, ob
grösse hat einen Einfluss auf die Angebotsge-      econcept) im Auftrag des BAG zeigt Faktoren       sie ihren Anspruch auf Sozialhilfe geltend ma-
staltung und das unterschiedliche Verständ-        auf, die darüber entscheiden, ob betreuende       chen oder nicht – notfalls auch entgegen den
nis der Rolle von Staat und Individuum dürfte      Angehörige von kranken, behinderten oder          unmittelbareren Bedarfen weiterer Haus-
ebenfalls einen Einfluss haben. Weitere Ursa-      hochbetagten hilfs- und pflegebedürftigen         haltsmitglieder.
chen sind beispielsweise soziale und psychi-       Partnerinnen und Partnern, Kindern und Ver-             Soll das Recht auf Hilfe in Notlagen nach
sche Beeinträchtigungen der Hilfesuchenden,        wandten Hilfe in Anspruch nehmen, und leitet      Artikel 12 der Eidgenössischen Bundesverfas-
mangelnde Information, fehlender monetärer         aus ihren Erkenntnissen Massnahmenvor-            sung umgesetzt werden, muss insbesondere
Nutzen sowie die Gefährdung des Aufent-            schläge für Verwaltung, Politik und Praxis ab.    auch der Staat dafür sorgen, dass dieses Recht
haltsstatus.                                       Es zeigt sich, dass die Gründe für eine Inan-     für alle Personen in der Schweiz seine volle
                                                   spruchnahme sowohl das Angebot (etwa an-          Wirkung entfalten kann. Dafür braucht es
Aus Sicht der Versorgung können folgende           gemessene Infrastruktur, passende Dienstleis-     eine organisierte Politik für die aktive Be-
Situationen unterschieden werden:                  tungen, Lage und Preis des Angebots) als auch     kämpfung des Nichtbezugs. Für die Soziale
1. Das Angebot ist nicht bekannt.                  die Nachfrage betreffen (etwa Belastung und       Arbeit bedeutet dies, Betroffene bei der Ge-
2. Das Angebot ist bekannt, wird aber 		           Gesundheitszustand der Angehörigen, Ver-          staltung dieser Politik bestmöglich einzu-
   nicht genutzt.                                  einbarkeit mit beruflichen Verpflichtungen        schliessen und sich insbesondere auch für die
3. Das Angebot ist bekannt und erfragt, die        und eigene Werte und Vorstellungen).              Verbesserung der Beziehungen mit sozial
   Leistungen wurden aber nicht erbracht.               Dass viele Menschen ihren Anspruch auf       schlechter gestellten Menschen einzusetzen.
4. Die Leistungen werden trotz Anspruchs-          Sozialleistungen nicht wahrnehmen, kann           Dabei ist neben den materiellen Leistungen
   berechtigung nicht erbracht.                    aus Sicht der Sozialen Arbeit als ein soziales    auch an die sogenannten immateriellen Leis-
                                                   Problem interpretiert werden. Denn die Betrof-    tungen zu denken, wie beispielsweise in der
Weiter gilt es, grundsätzlich zwischen einem       fenen verzichten nicht nur auf finanzielle Un-    Altershilfe und -pflege. Hier gilt es zum Bei-
absichtlichen Nichtbezug (etwa aufgrund von        terstützung, sondern auch auf professionelle      spiel zu hinterfragen, warum betreuende und
Wertvorstellungen oder eines inadäquaten           Beratung zur Verbesserung ihrer Situation.        pflegende Angehörige ambulante und teilsta-
Leistungsangebots) und einem ungewollten           Dies kann zu weiteren Problemen und gesell-       tionäre Entlastungsangebote nur zögerlich
Nichtbezug (etwa aufgrund von Verständnis-         schaftlichen Folgekosten führen. Im schlimms-     wahrnehmen. Je nachdem, ob gesellschaftli-
schwierigkeiten, fehlender Information und         ten Fall wird die Armut auf die nachfolgende      che Erwartungen bezüglich familiärer Pflich-
administrativen Hürden) zu differenzieren.         Generation übertragen.                            ten, Unkenntnis über die Angebote oder admi-
                                                                                                     nistrative, organisatorische oder finanzielle
… und wenig erforschte Folgen                      Bedarfsgerechte Gestaltung                        Hinderungsgründe dafür verantwortlich sind,
Im Gegensatz zu den Ursachen stehen die ef-        Ein eingeschränkter Zugang zu Sozialleistun-      muss der Nichtbezug von Sozialleistungen
fektiven Folgen eines Nichtbezugs von Sozial-      gen ist nicht nur aus rechtlicher Sicht ein       unterschiedlich angegangen werden.
leistungen weniger im Fokus wissenschaftli-        Problem. Gefragt ist daher eine umfassende
cher Untersuchungen oder öffentlicher              Herangehensweise, die die Prüfung der
Diskurse. Ein Grund dafür mag sein, dass der       Bedarfsgerechtigkeit des bestehenden Ange-              Weiterbildungen zum Thema
Nichtbezug trotz der inzwischen einschätzba-       bots sowie eine gesellschaftspolitische Ausei-          Der CAS Sozialhilferecht und der CAS
ren Verbreitung im Verborgenen geschieht           nandersetzung mit Stigmatisierungs- und                 Sozialversicherungsrecht beinhalten die
                                                                                                           wesentlichen rechtlichen Grundlagen des
und es sich dabei letztendlich um verdeckte        Disqualifizierungsprozessen mit einschliesst.
                                                                                                           Sozialwesens und vermitteln vertieftes
Formen der Armut handelt. Wie die Doku-            Mögliche Massnahmen sind:
                                                                                                           und praxisrelevantes Wissen.
mentation von Einzelfällen zeigt, bedroht ein                                                              www.zhaw.ch/sozialearbeit/weiterbildung
Nichtbezug die gesundheitliche Situation und       • Instrumente für ein regelmässiges Monito-
die soziale Einbettung der Betroffenen. Auch         ring der Nichtinanspruchnahme
kann ein unvorhergesehenes Ereignis wie die        • ein aktives Aufsuchen von potenziellen
Kündigung einer günstigen Wohnmöglichkeit            Anspruchsberechtigten – etwa mittels Ver-
eine bereits prekäre Lebenslage akut verschär-       waltungsdaten oder mit Unterstützung
fen. Die Situation kann sich auch auf Angehö-        von Sozialarbeitenden

sozial Magazin der ZHAW Soziale Arbeit                                                                                                               9
Nichtbezug von Sozialleistungen - ZHAW Zürcher Hochschule ...
Soziale Arbeit im Ausland

E CU AD O R

Leben im Alter:
Von Obdachlosigkeit
bis cariño y alegría
Wie sieht der Lebensabend von Menschen in
Ecuador aus? Darüber entscheiden vor allem zwei
Faktoren: Familienrückhalt und finanzielle Mittel.
von Manuela Rutishauser

Wohl in kaum einem anderen Land treffen so                    Die ethnische Zusammensetzung der Bevöl-            te lassen sich hauptsächlich in Privatkliniken
viele unterschiedliche Klimazonen aufeinan-                   kerung ist heterogen: Eine Mehrheit der             behandeln. Diese unterstehen dem Instituto
der wie in Ecuador. Das südamerikanische                      16 Millionen Menschen führt ihre Abstam-            Ecuatoriano de Seguridad Social (IESS) und
Land am Äquator ist flächenmässig knapp                       mung auf drei wichtige Ursprünge der Migra-         werden über Beiträge von Arbeitnehmenden
sechsmal grösser als die Schweiz. Die vielfälti-              tion in Südamerika zurück. Zu den grössten          und Arbeitgebenden finanziert. Das Honorar
ge Landschaft Ecuadors umfasst das östliche                   Gruppen, die sich in Ecuador niederliessen,         für eine einfache Konsultation liegt bei 20 bis
Amazonastiefland, das Andenhochland mit                       gehören die indigenen Völker, die Spanier, die      30 US-Dollar. Das jährliche Einkommen einer
Vulkanen von über 6000 Metern Höhe, die                       vor fünfhundert Jahren den grössten Teil Süd-       Lehrerin beträgt rund 15'500, das eines Kell-
Küstenregion sowie die Galapagosinseln. Die                   amerikas kolonialisierten, und die Schwarzaf-       ners rund 3'300 US-Dollar. Der Mindestlohn
Hauptstadt Quito liegt in den Anden auf einer                 rikaner, die von den Spaniern als Sklaven           beträgt 380 US-Dollar pro Monat.
Höhe von 2850 Metern über Meer und gilt                       importiert wurden. Das Ergebnis dieser Ver-               Auch die Altersrente wird vom IESS gere-
nach La Paz in Bolivien als die zweithöchst ge-               mischung führte zu neuen ethnischen Grup-           gelt. Die Höhe der Rente berechnet sich aus
legene Hauptstadt der Welt.                                   pen. Heute lebt in Ecuador eine Mestizen-           dem Durchschnitt der letzten sechs Jahre Er-
                                                              Mehrheit, die etwa 42% der Bevölkerung aus-         werbstätigkeit und reicht bei einem grossen
                                                              macht. Mestizen sind Nachkommen eines in-           Teil der Bevölkerung nicht aus, um die Le-
                                                              digenen und eines aus Europa stammenden             benserhaltungskosten zu decken. Wenn eine
     ECUADOR:
     INTERESSANTE ZAHLEN
                                                              Elternteils.                                        Person während des Erwerbsalters häufig die
                                                                                                                  Stelle wechselt und zeitweise arbeitslos ist,
                                                              Kranken- und Altersvorsorge                         verringert sich die Rente. Für Menschen ohne
                                                              Die Verfassung von 2008 verpflichtet den            familiären Rückhalt besteht das Risiko, ob-
                                            Quito
                                                              Staat, den Bürgerinnen und Bürgern kostenlo-        dachlos zu werden. «Abuelitos de la calle»,
                                                              sen Zugang zu ärztlicher Behandlung und zu          was frei übersetzt «Grosselterchen der Stras-
                                                              Medikamenten zu garantieren. Eine hinrei-           se» bedeutet, ist eine auf Spendenbasis ge-
                                                              chende Gesundheitsversorgung existiert je-          führte Hilfsorganisation, die Gratismahlzei-
     Fläche                             248’360 m² (2017)     doch nur in einigen grossen Städten. Zwar hat       ten an mittellose ältere Menschen verteilt und
     Einwohnerzahl                      16,6 Mio. (2017)      sich auf dem Land der Zugang zum Gesund-            ihnen ein Beschäftigungsprogramm anbietet.
     Städtische Bevölkerung             63,7% (2017)          heitssystem in den vergangenen Jahren ver-
     Bevölkerung                        28,4% (2017)
                                                              bessert, er ist aber deutlich schwerer als in den   Leben im Alter
     zwischen 0 und 14 Jahren                                 urbanen Zentren.                                    Besser sieht die Situation für ältere Menschen
     Bevölkerung über 65 Jahren         7,1% (2017)                Das staatliche Gesundheitssystem ist           mit Familienrückhalt aus. Es wird erwartet,
     Lebenserwartung                    76,3 Jahre (2016)     zweigliedrig. Die medizinische Infrastruktur,       dass sich Töchter oder Schwiegertöchter um
     Gesundheitskosten pro Kopf         530 US $ (2015),      unterhalten vom Ministerio de Salud Pública,        die Pflege ihrer Eltern und Schwiegereltern
                                        71 US $ (2001)        ist kostenlos – zumindest auf dem Papier. In        kümmern. Stirbt ein Elternteil, zieht der ande-
     Arbeitslosenquote                  4,6% (2017)           der Regel sind Medikamente, Röntgenaufnah-          re zur Tochter oder zum Sohn und zur Schwie-
     Armutsquote bei                    3,6% (2016)           men und Operationsmaterialien trotzdem              gertochter. Ältere Menschen leben selten al-
     nationaler Armutsgrenze
                                                              kostenpflichtig. In die staatliche Kategorie fal-   lein im Haus. Sind ausreichend finanzielle
     Mordrate                           5,9 Fälle / 100’000
                                                              len die Regionalkrankenhäuser in den Städten        Mittel vorhanden, werden Haushaltshilfen
                                        Einwohner (2016)
                                                              und Arztpraxen mit Notfalleinrichtungen, so-        ohne pflegerische Ausbildung für eine Betreu-
     Anzahl Kandidierender für die      18
     Bürgermeisterwahlen in Quito                             genannte dispensarios medicos. Diese öffent-        ung rund um die Uhr eingestellt. Pflegebe-
     im März 2019                       (Quelle: Wikipedia)
                                                              lichen Gesundheitseinrichtungen sind unter-         dürftige Eltern in Heimen unterzubringen gilt
     (Angaben: Knoema Weltdatenatlas)
                                                              entwickelt und werden nur von der armen             als verwerflich. Dies mag daran liegen, dass
                                                              Bevölkerungsgruppe genutzt. Besser Begüter-         Angebote qualitativ nicht befriedigend oder

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Alter in Ecuador: Familienrückhalt und finanzielle Mittel sind entscheidend.

aber zu teuer sind. Ausserdem spielen die reli-              nicht voll ausgelastet, weil sich nur eine      Zur Autorin:
giöse Einstellung der Bevölkerung und die                    Minderheit diese für ecuadorianische Ver-       Manuela Rutishauser studiert an der ZHAW Soziale
                                                                                                             Arbeit. Im Rahmen ihres Studiums hat sie ein Auslands-
ausgeprägte Familienzusammengehörigkeit                      hältnisse teure Wohnform leisten kann oder      praktikum in der Altersresidenz für Menschen mit Alz-
eine nicht zu unterschätzende Rolle.                         die Akzeptanz der Fremdbetreuung von            heimer «Punchanaya Kan» bei Quito, Ecuador, absolviert.
                                                             Familienangehörigen fehlt. Monatlich belau-
Punchanaya Kan – Angebot für Menschen                        fen sich die Kosten pro Person auf ungefähr
mit Alzheimer                                                1000 US-Dollar. Ein privat geführtes Alters-
Im Jahr 2017 gründete die Tochter einer von                  heim mit durchschnittlich 50 Personen in der-
Alzheimer betroffenen Mutter den «Club Ge-                   selben Region kostet ungefähr die Hälfte. Die
rontológico» namens Punchanaya Kan, um                       Qualität der Betreuung ist jedoch nicht ver-
ihrer Mutter und anderen von Alzheimer be-                   gleichbar.
troffenen Menschen familienähnliches Woh-                         Wer das Punchanaya Kan besucht, erlebt
nen zu ermöglichen. Der Name Punchanaya                      keine Aggressionen unter den Bewohnerin-
Kan bedeutet in Kichwa, der Stammessprache                   nen und Bewohnern, wohl aber viel Lachen,
in Ecuador, «noch ist es Tag». Die Altersresidenz            Musik und Tanz. Wie bei einer Grossfamilie
befindet sich eine knappe Autostunde von                     verlaufen die Tage unkompliziert und spon-
Quito entfernt und bietet maximal 15 Perso-                  tan, mit regelmässigen Aktivitäten wie Bas-
nen Platz. Der «Club Gerontológico» beschäf-                 teln, Gymnastik oder Singen. Die Angehöri-
tigt im Moment neun Angestellte, inklusive                   gen der Bewohnerinnen und Bewohner
Köchin und Raumpflegerin. Die Bewohnerin-                    schätzen es sehr, dass sie vom Personal über
nen und Bewohner erhalten viel Aufmerk-                      WhatsApp mit Fotos und Videos auf dem Lau-
samkeit und Herzlichkeit vom gesamten Per-                   fenden gehalten werden. Dieser Informations-
sonal. Körperliche Zuwendungen wie eine                      kanal zwischen Pflegepersonal und Angehöri-
Umarmung oder ein Kuss auf die Wange gehö-                   gen erlaubt eine enge Beziehung, sprengt aber
ren zum Alltag. Auch Angehörige, die ihre                    manchmal die Grenzen des Datenschutzes,
Eltern oder Grosseltern besuchen, begrüssen                  dem im Punchanaya Kan keine grosse Beach-
alle Anwesenden mit einem Wangenkuss oder                    tung geschenkt wird. Die Altersresidenz wür-
einer Umarmung. Aktuell wohnen elf Perso-                    de den professionellen Ansprüchen in der
nen im Punchanaya Kan. Davon sind mit Aus-                   Schweiz wohl kaum genügen. In Bezug auf
nahme von drei Ehepartnern alle von Alzhei-                  «cariño y alegría» – Herzlichkeit, Zuwendung
mer betroffen. Bis anhin war die Residenz                    und Fröhlichkeit – ist sie aber beispielhaft.

sozial Magazin der ZHAW Soziale Arbeit                                                                                                                           11
Alumni

                          S E B A ST I AN MAYE R , KONTAKT- UND ANLAU F ST EL L E F Ü R                                                hungskredit» aufzubauen. Man könne den
                          DR O G EN AB H ÄN GI G E D E R STAD T Z ÜR I CH                                                              Menschen nicht sagen, was sie zu wollen ha-
                                                                                                                                       ben, aber man können ihnen Wege aufzeigen.

                          Gestern war gestern,
                                                                                                                                       Ein Erfolg ist es für Sebastian Mayer beispiels-
                                                                                                                                       weise, wenn er es schafft, einen Klienten zu
                                                                                                                                       motivieren, seine Bussen abzuarbeiten.

                          heute ist heute
                                                                                                                                            Dass Sebastian Mayer das Wohlergehen
                                                                                                                                       von Menschen wichtig ist, zieht sich wie ein
                                                                                                                                       roter Faden durch seinen Werdegang. Bereits
                                                                                                                                       als Kind war er Jugendsanitäter. Sein Vater
                                                                                                                                       führte ein Baugeschäft, doch der junge Sebas-
                                                                                                                                       tian fand im Handwerk nicht die Erfüllung,
                          Privat könne er auch mal nachtragend sein, in seinem                                                         wie eine nicht beendete Malerlehre zeigte.
                                                                                                                                       Vielmehr zog es ihn in den Gesund­heits-
                          Beruf gehe das nicht, sagt Sebastian Mayer. In der                                                           bereich. So absolvierte er eine Ausbildung
                          Kontakt- und Anlaufstelle für Drogenabhängige der                                                            zum Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger
                                                                                                                                       in Erfurt, arbeitete danach in Deutschland in
                          Stadt Zürich soll der Weg zurück allen offenstehen.                                                          der Unfallchirurgie, bevor er nach dem Um-
                                                                                                                                       zug in die Schweiz in der Kinder- und Jugend-
                          von Nicole Koch
                                                                                                                                       psychiatrie sowie in der Akutpsychiatrie tätig
                                                                                                                                       war. Seit 2013 ist Sebastian Mayer Betreuer in
                                                                                                                                       der Kontakt- und Anlaufstelle für Drogenab-
                                                                                                                                       hängige, erst in Oerlikon, seit 2017 in der Ka-
                                                                                                                                       serne. Grund für den Weggang aus der Psych-
                                                                                                                                       iatrie war sein Wunsch, nicht mehr im
                                                                                                                                       Zwangskontext tätig zu sein und medizinisch
Bild: Timo Kellenberger

                                                                                                                                       Einfluss nehmen zu können.

                                                                                                                                       Deeskalieren und Lösungen finden
                                                                                                                                       2015 begann Sebastian Mayer den Master
                                                                                                                                       of Advanced Studies in Dissozialität, Delin-
                                                                                                                                       quenz, Kriminalität und Integration an der
                                                                                                                                       ZHAW. «Um Instrumente für einen fachliche-
                                                                                                                                       ren Zugang kennen zu lernen», wie er sagt.
                                                                                                                                       Die Motivation dahinter sei nicht primär, dass
                                                                                                                                       er von sich sagen wolle, seinen Job gut zu ma-
                                                                                                                                       chen, sondern dass der Klient für sich eine
                                                                                                                                       Zufriedenheit erlange in seinem Sein. Keine
                                                                                                                                       einfache Aufgabe: Der Umgang mit Men-
                                                                                                                                       schen, die unter schwierigen Bedingungen
                                                                                                                                       leben, ist herausfordernd. «Sie können Ver-
                                                                                                                                       haltensweisen zeigen, die für sozial integrierte
                                                                                                                                       Menschen schwer nachvollziehbar sind», er-
                                                                                                                                       klärt er. Seine Aufgabe sei es dann, zu deeska-
                                                                                                                                       lieren und auch unter diesen Bedingungen
                                                                                                                                       eine Lösung zu finden, bei der der Klient sein
                          «Wenn die Leute merken, dass man ihnen wohlgesinnt ist, öffnen sie sich.»                                    Gesicht wahren kann. Es gelte in jedem Fall,
                                                                                                                                       die Beziehung und das Angebot aufrecht zu
                                                                                                                                       erhalten und sich persönlich abzugrenzen.
                          Die Konsumräume sind karg und zweckmäs-                   Am richtigen Ort                                   Schliesslich lege er Wert darauf, dass die Men-
                          sig eingerichtet. Ein Schrank im Vorraum ist              Sebastian Mayer spricht wertschätzend über         schen sich den Weg zurück nicht verbauen
                          ausgestattet mit sterilen Spritzen und Nadeln.            seine Klientel, er kategorisiert nicht, nimmt      und ein Neustart jederzeit möglich ist. Die
                          Der Betreuer Sebastian Mayer erklärt, dass                sie nicht als Randgruppe wahr. Er sei über-        Tatsache, dass das Durchschnittsalter der Kli-
                          hier an manchen Tagen bis zu 300 Konsuma-                 zeugt, dass jeder Mensch in so eine Lage kom-      entel steigt, wertet Sebastian Mayer als Zei-
                          tionen stattfinden und bis zu 60 Personen auf             men könne: eine schwierige Lebensphase auf-        chen dafür, dass die Schutzmassnahmen grei-
                          einmal ihre mitgebrachten Drogen konsumie-                grund von Verlust, eine schwere Erkrankung,        fen. Gleichzeitig bedeute es, dass sich die
                          ren. Hier, das ist die Kontakt- und Anlaufstelle          die medikamentös behandelt werden muss,            Themen wandeln, mit denen die Betreuer
                          Kaserne an der Militärstrasse. Zusammen mit               stabilisierende Faktoren, die wegfallen.           konfrontiert sind. So werfe Sucht im Alter un-
                          den Standorten Selnau und Oerlikon soll sie               «Wenn die Leute merken, dass man ihnen             ter anderem Fragen nach adäquaten Wohnfor-
                          drogenabhängigen Erwachsenen mit Wohn-                    wohlgesinnt ist, öffnen sie sich», weiss er. Das   men auf.
                          sitz in der Stadt Zürich einen Ort bieten, an             ist es, was Sebastian Mayer antreibt. Er möch-
                          dem sie willkommen sind, unter hygienischen               te für Menschen da sein, die jemanden brau-        Das Zürcher Modell als Vorbild
                          Bedingungen ihre Drogen konsumieren kön-                  chen und niemanden haben. Sein Ziel ist es,        Die seit den 90er-Jahren geltende Zürcher Dro-
                          nen und bei Bedarf Unterstützung und Bera-                sie so zu begleiten, dass sie Hilfe annehmen       genpolitik basiert auf vier Säulen: Prävention,
                          tung erhalten.                                            können. Dabei sei es wichtig, einen «Bezie-        Therapie, Überlebenshilfe und Repression.

                          12
Buchtipp

Waren die Konsumräume der Kontakt- und               PU BL IKAT ION SH IN WEIS
Anlaufstellen zu ihren Anfängen noch um-
stritten, so dienen sie heute international als
Vorbild. Delegationen aus dem Ausland besu-
                                                     Cannabispolitik:
chen die Einrichtung, um mehr über das Zür-          Die Fragen, die niemand stellt
cher Modell zu erfahren und den Umgang mit
Drogenabhängigen im eigenen Land zu über-
denken. Auch an internationalen Kongressen           Erstmals befasst sich eine Studie mit den nicht
und Tagungen sind die Erfahrungen der Kon-
takt- und Anlaufstelle für Drogenabhängige           intendierten Auswirkungen des Drogenverbots
der Stadt Zürich gefragt, wie etwa im vergan-        in der Schweiz.
genen November an der European Harm Re-
duction Conference in Bukarest.                      von Michael Herzig, Institut für Sozialmanagement der ZHAW

Der Schritt über den Rubikon
Seine Masterarbeit hat Sebastian Mayer im
Frühling 2019 abgeschlossen. Darin befasste          Seit sich der Nationalrat 2004 gegen die vom Bundesrat vorgeschlagene Cannabis-
er sich mit der Frage, wie Klientinnen und Kli-      legalisierung entschieden hat, wird in der Schweizer Politik mehr oder weniger in-
enten davon abgehalten werden können, den            tensiv über mögliche Alternativen zum Prohibitionsregime diskutiert. Eine unaus-
Weg der Sucht wieder einzuschlagen. Was              gesprochene Prämisse lautet dabei, dass das Verbot besser sei als Regulierungs-
stärkt ihre Motivation und wie können ihnen          experimente mit unklarem Ausgang.
Würdigung, Akzeptanz und Empathie entge-                  Michael Herzig, Dozent am Institut für Sozialmanagement der ZHAW, Frank
gengebracht werden? Zentral bei seiner Arbeit        Zobel, Vizedirektor der Fachstelle Sucht Schweiz in Lausanne, und Sandro Cattacin,
ist das Rubikonmodell der Handlungsphasen,           Professor am Institut für Soziologie der Universität Genf, haben diese vermeintliche
ein motivationspsychologisches Modell, das           Gewissheit einem Realitätscheck unterzogen und die Ergebnisse im Buch «Canna-
Handlungsschritte in vier Phasen unterteilt:         bispolitik: Die Fragen, die niemand stellt» veröffentlicht. Sie haben dafür die Geset-
abwägen, planen, handeln und bewerten. An            ze und vor allem den Gesetzesvollzug untersucht und Interviews mit Betroffenen
welchem Punkt müssen Sozialarbeitende an-            sowie eine Literatur- und Medienrecherche durchgeführt.
setzen, um Einfluss nehmen zu können? Er-                 Die Prohibition schafft Drogen nicht aus der Welt. Nichtsdestotrotz werden in
kenntnisse aus seiner Masterarbeit möchte er         der Schweiz proportional zur Gesamtbevölkerung mehr Personen wegen Cannabis-
künftig in seinem Berufsalltag einsetzen und         straftaten belangt als in Deutschland, Österreich und Frankreich. Die Betroffenen
seine Klientel damit noch besser unterstüt-          machen sich meistens keiner schweren Straftat schuldig, werden aber zum Teil so
zen – für mehr Zufriedenheit in ihrem Sein.          behandelt.
                                                          Die aktuelle Vollzugspraxis ist so disparat und intransparent, dass man sich
                                                     fragen darf, ob Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit gegeben sind. Je nachdem,
                                                     wo und von wem man kontrolliert wird, kann der Besitz von weniger als 10 Gramm
       MAS in Dissozialität, Delinquenz,
                                                     Hanf straffrei ausgehen oder mit einer Ordnungsbusse oder Verzeigung belangt
       Kriminalität und Integration
       Menschen mit dissozialem oder straffälli-     werden. Einige Polizeicorps versuchen, die Betroffenen kumulativ für möglichst
       gem Verhalten zu beraten, zu betreuen         viele Konsumereignisse zu bestrafen.
       und zu begleiten ist eine vielseitige und          Im Strassenverkehr gilt für Cannabis ein ungleich härteres Regime als für Al-
       herausfordernde Aufgabe. Das interdiszip-     kohol, obwohl deutlich mehr Unfälle auf Alkoholkonsum zurückzuführen sind.
       linäre Arbeitsfeld entwickelt sich fachlich   Eine geringe Menge THC im Blut führt zum Ausweisentzug, selbst wenn der Kon-
       sehr dynamisch, neue Ansätze und              sum Tage zuvor stattgefunden hat oder die betroffene Person gar nicht Auto gefah-
       Erkenntnisse müssen in den Arbeitsalltag      ren ist, sondern von der Polizei an einem beliebigen Ort mit Cannabis erwischt wur-
       integriert werden. Fachleute der Sozialen
                                                     de. Die vom Bundesamt für Verkehr verwendete Definition einer Drogenab-
       Arbeit und Behördenmitglieder können
                                                     hängigkeit widerspricht den Richtlinien der WHO (ICD10).
       ihre fachliche Kompetenz und ihr theoreti-
                                                          Das geltende Bewilligungsverfahren für eine medizinische Anwendung von
       sches Wissen erweitern und aktualisieren.
       www.zhaw.ch/sozialearbeit/weiterbildung       Cannabis ist aufreibend. Die wenigen erhältlichen Medikamente wirken aus Sicht
                                                     der Befragten nur langsam und erst ab einer höheren Dosis als verschrieben. Zudem
                                                     kosten sie das Zehnfache des Schwarzmarktpreises. Kein Wunder also, dass sich die
                                                     Leute selbst helfen, indem sie Cannabis anbauen oder schwarz kaufen.

                                                                                         Michael Herzig, Frank Zobel,
                                                                                         Sandro Cattacin

                                                                                         Cannabispolitik
                                                                                         Die Fragen, die
                                                     Cannabispoliti

                                                                                         niemand stellt                 Cannabispolitik:
                                                                                                                        Die Fragen, die niemand stellt
                                                     Pini, Pellegrini, Cattacin, Fibbi

                                                                                                                        Michael Herzig, Frank Zobel, Sandro Cattacin
                                                                                                                        Seismo Verlag
                                                                                                                        2019
                                                                                                                        132 Seiten
                                                                                                                        ISBN: 978-3-30777-195-2
                                                                                                                        Das Buch ist auch in französischer Sprache erhältlich:
                                                                                         PENSER
                                                                                         LA SUISSE                      «Politique en matière de Cannabis:
                                                                                                                        Les questions que personne ne pose»

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