"Wenn ich es nicht tue, dann macht's ein anderer" - Subjektwerdungen und Verantwortung
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supported by Geogr. Helv., 74, 113–124, 2019 https://doi.org/10.5194/gh-74-113-2019 © Author(s) 2019. This work is distributed under the Creative Commons Attribution 4.0 License. „Wenn ich es nicht tue, dann macht’s ein anderer“ – Subjektwerdungen und Verantwortung Klaus Geiselhart and Tobias Häberer Institut für Geographie, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Germany Correspondence: Klaus Geiselhart (klaus.geiselhart@fau.de) Received: 24 August 2018 – Revised: 19 January 2019 – Accepted: 5 March 2019 – Published: 27 March 2019 Kurzfassung. Poststructuralist theory focuses largely on describing how and why subjects reproduce the social conditions they have internalised. This is a deconstruction of the central idea of the Enlightenment, the human capacity for autonomous action. At the same time, however, it also denies all individuals any responsibility and ultimately leads criticism into a crisis. Pragmatist philosophy offers the possibility of determining the role of the mind in processes of becoming a subject without abandoning the achievements of the poststructuralist concept of subjectification. The concept of transaction describes how actors constitute each other as subjects within social situations. The relationships that arise through such processes depend, among other things, on the personalities of those people involved. Accordingly, it is possible to identify the responsibility of individuals to govern their social relations and personality development. Since these aspects can only be determined in localised individual cases, this offers a particularly suitable starting point for geographical critic. 1 Einleitung ziert. Diese Praktiken werden in erster Linie körperlich aus- geführt, entspringen also weitgehend einem praktischen Be- Wer sich heute empirisch mit konkreten Handlungsvollzü- wusstsein und sind erst in zweiter Linie mit Verstehensleis- gen auseinandersetzt, sieht sich mit einer etwas unbefriedi- tungen der Individuen und explizitem Wissen verknüpft. Die genden Situation konfrontiert. Der Practice Turn hat deut- meisten praxeologischen Ansätze haben demnach ihre Stär- lich gemacht, dass die klassischen Handlungsrationalitäten ke darin, zu erklären warum Individuen Gesellschaft weitge- der Handlungstheorie (zweck-, sinn- und wertrational) al- hend auf bereits etablierte Weise reproduzieren, obwohl viel- lenfalls retrospektive Rationalisierungen erlauben, Handlun- leicht gesellschaftliche Problematiken ein verändertes Han- gen aber niemals in genau diesem Sinne freie, also willent- deln erfordern würden. Nun ist aber auch deutlich, dass es lich intendierte Entscheidungen des Individuums sind. Em- durchaus einen gesellschaftlichen Wandel gibt, doch wel- pirisch kann also allenfalls ein methodologischer Individua- che Rolle Individuen bei der Hervorbringung dieses Wandels lismus angesetzt werden (Werlen, 2013). Bei derartiger For- spielen ist erstaunlich wenig reflektiert. In der Regel werden schung ist man sich schon vorab bewusst, dass der eingesetz- an dieser Stelle heute poststrukturalistische Theorien einge- te handlungstheoretische Blick eine Verkürzung darstellt. In setzt und der Wandel bspw. durch Iteration, also durch die den jüngeren kultur- und sozialwissenschaftlichen Debatten unwillentlichen Veränderungen der Praktiken, die in den je- wurde nun vor allem der Begriff der Praktik als konzeptio- weiligen Einzelausführungen geschehen, erklärt (z.B. Schä- nelle Kern-Kategorie herausgearbeitet (Schmidt, 2012; Hil- fer, 2013). Dies widerspricht aber der Selbstwahrnehmung lebrandt, 2014; Reckwitz, 2016). Diese Ansätze fanden auch der Menschen, die uns als Interviewpartner bspw. in der geo- in der Geographie entsprechende Rezeption (u.a. Everts et graphischen Stadtforschung begegnen, denn diese verstehen al., 2011). sich durchaus als bewusste, handlungsfähige Subjekte. Eine Praktiken sind demnach als konventionalisierte Aktivitäts- Reflexion über den Subjektbegriff wird derzeit aber haupt- formen einer Gesellschaft zu denken, welche von den Indi- sächlich aus poststrukturalistischer Perspektive geleistet. viduen wiederholt aufgegriffen werden, wodurch sich diese Gesellschaft in ihrer historisch spezifischen Weise reprodu- Published by Copernicus Publications for the Geographisch-Ethnographische Gesellschaft Zürich & Association Suisse de Géographie.
114 K. Geiselhart and T. Häberer: „Wenn ich es nicht tue, dann macht’s ein anderer“ Besonders fruchtbar sind poststrukturalistische Ansätze leistet, selbst wenn Einzelne sich ihrer erwehren. Derartigen dahingehend, dass sie Subjektivierungsweisen beschreiben, Positionen hat die poststrukturalistische Theorie nichts ent- die aus sozialen Ordnungsstrukturen hervorgehen. Demnach gegenzusetzen. Ein Begriff von individueller Verantwortung bringt Subjektivierung die Individuen in eine bestimmte ge- aber ist u.E. notwendig, um die Angemessenheit menschli- sellschaftliche Position und die Individuen reproduzieren chen Handelns beurteilen und entsprechend auch Kritik üben in der Folge dann die Bedingungen ihrer Subjektivierun- zu können. gen. Was diese „Ansätze eint, ist, dass sie alle die Wider- ständigkeit des Subjekts gegen bestehende hegemoniale ge- sellschaftliche Verhältnisse betonen“ (Dzudzek and Strüver, 2 Subjektivierung im Poststrukturalismus 2013:147). Dabei bleibt aber unklar, woher genau sich die- se Widerständigkeit speist. Dass die gesellschaftliche Pra- Der Begriff des Subjektes unterlag in den sozial- und kultur- xis trotz aller Kontinuitäten einem Wandel unterliegt wird wissenschaftlichen Debatten einem enormen Wandel. Klassi- häufig auf das Konzept der Iterabilität zurückgeführt (Dzud- scherweise wurde das Subjekt mit dem Mentalen in Verbin- zek, 2013). Widerständigkeit und sozialer Wandel erklären dung gebracht. Bewusstsein wurde als seine Basis und Not- sich entweder aus den Wiederholungen innerhalb der Pra- wendigkeit angesehen (Frank, 1988; Reckwitz, 2008). Dem- xis und den dabei auftretenden Abweichungen, oder auch nach braucht der Mensch den Geist, um ein Subjekt sein zu daraus, dass Subjekte mehrfach konstituiert sind. Die Tatsa- können und nur mittels des Geistes ist er fähig nicht nur die che, dass sich heute die „Lebensbezüge vervielfacht“ haben, Welt, sondern auch sich selbst zu erkennen. Im kartesiani- führt dazu, dass das Subjekt die eigene Positionalität „immer schen Sinne wird das Subjekt bspw. verstanden als etwas, das wieder aufs Neue zu entwerfen hat“ (Dzudzek and Strüver, aller Erfahrung zugrunde liegt, eine Instanz, die dem Denken 2013:147). Menschen handeln dann auf unerwartete Weise, vorausgeht, die einen festen Bezugspunkt darstellt (Volbers, wenn in konkreten Situationen verschiedene ihrer Prägungen 2017). Prototypisch steht dafür auch die Descartsche Philo- in Konflikt geraten, sie sozusagen überdeterminiert sind wie sophie, die den Geist zur eigenständigen Instanz, der res co- bspw. bei einer Lehrerin, die ihr eigenes Kind unterrichten gitans, erhob, indem sie ihn vom Materiellen unterschied. In muss. Die Dynamik der Praxis entsteht demnach aus einer der Selbstvergewisserung des „ich denke also bin ich“ er- Kombinatorik verschiedener strukturell induzierter Prägun- kennt sich demnach das Subjekt selbst als Gegenstück zur gen, welche in konkreten Situationen unvereinbar sind wo- Objekthaftigkeit der ihm äußeren Welt. durch eine Offenheit entsteht, in der sich Performativität ent- Diese neuzeitliche Erfindung des Subjekts wurde nun aber wickeln kann (Dzudzek, 2013; Strüver, 2013). Darüber hin- vom Poststrukturalismus vehement in Frage gestellt. Geist aus betont die poststrukturalistische Position die negativen ist demnach keineswegs die zentrale Instanz des Subjekts. Auswirkungen einer zunehmenden Selbstverantwortung der Da das Subjekt ebenso von Effekten der Körperlichkeit ab- Subjekte, in Gegnerschaft zu neoliberalen Tendenzen der Re- hängig ist, wird das poststrukturalistische Subjekt häufig als sponsibilisierung1 (Schwiter, 2013). dezentriert angesehen. Subjektivität wird als das Ergebnis Wir möchten in diesem Beitrag aufzeigen, dass ein prag- psycho-physischer Prozesse verstanden. Michel Foucault, matistischer Subjektbegriff der poststrukturalistischen Vor- Jaques Lacan, Judith Butler und Ernesto Laclau haben di- stellung von Subjektvierung auf der einen Seite sehr ähnlich stinkte, subjektorientierte Forschungsheuristiken entwickelt, ist, durch den veränderten Blickwinkel aber eine Perspektiv- denen, so betont Reckwitz (2008), gemeinsam sei, dass sie enerweiterung zulässt, die u.E. insbesondere für geographi- die Frage darauf richteten, wie sich Individuen unbewusst sches Arbeiten interessant ist. In dieser Perspektive lässt sich den kulturellen Ordnungen ihrer Gemeinschaften unterwer- Widerständigkeit in einer Dialektik des Selbst verorten, in- fen. Subjektivität entsteht innerhalb der gesellschaftlichen nerhalb derer auch die Rolle des bewussten Denkens, also Ordnung, wobei Identität eine zentrale Komponente des Sub- des Geistes, bestimmt ist. Hierdurch wird persönliche Ver- jekts ist. Identität wird dabei verstanden als „die Identifizie- antwortung abseits von Responsibilisierung fassbar. Im Fol- rung der einzelnen Person als Wesen mit bestimmten Eigen- genden problematisieren wir, dass es Akteure gibt, die ihr schaften in Differenz zu anderen im Rahmen der kulturellen Handeln mit Verweis auf die Alternativlosigkeit oder die Un- Subjektordnung“ (Reckwitz, 2008:79). Im poststrukturalisti- ausweichlichkeit bestimmter Entwicklungen mit dem Argu- schen Denken werden Subjektpositionen demnach als Identi- ment rechtfertigen, dass es immer jemanden geben wird, der täten repräsentiert. Dies geschieht, weil Individuen sich zum diesen Entwicklungen trotz moralischer Bedenken Vorschub Zwecke der Selbstvergewisserung und Selbstbeschreibung an in diskursiven Kontexten fixierten Vorstellungen orientie- 1 Responsibilisierung bezeichnet den gesellschaftlichen Vorgang ren und diese sich ihnen, auch vermittelt durch die gesell- einer sich verstärkt durchsetzenden Überbetonung persönlicher Ver- schaftliche Praxis, körperlich einschreiben. Aber auch Iden- antwortung, die die moralische Vorstellungskraft derart tief erfasst, titäten sind dezentriert. Da sie zu ihrer Bestimmung ein Au- dass es in vielen gesellschaftlichen Bereichen möglich wird, Ver- ßen benötigen, von dem sie sich differenztheoretisch unter- antwortung auf das Individuum abzuwälzen, ohne dass soziale Ge- scheiden, sind sie auch auf diese Weise in Diskurse einge- genwehr erfolgt. schrieben. Identitäten repräsentieren soziale Positionen, die Geogr. Helv., 74, 113–124, 2019 www.geogr-helv.net/74/113/2019/
K. Geiselhart and T. Häberer: „Wenn ich es nicht tue, dann macht’s ein anderer“ 115 vermittelt durch Diskurse als Macht wirken (auch: Macht- auch als ein „späterer Bruder im Geiste“ John Deweys an- Wissen), durch die die entsprechenden Subjekte erst her- gesehen werden (Keller, 2014:73). „Ein Individuum als ein vorgebracht werden. So beschreibt Michel Foucaults Kon- Mitglied verschiedener Gruppen kann in sich selbst geteilt zept der Subjektivierung, wie Individuen mittels sogenann- sein und im wahren Sinne widerstreitende Ichs besitzen oder ter Technologien des Selbst versuchen, den an ihre Identitäts- ein vergleichsweise desintegriertes Individuum sein“ (De- kategorie gestellten Anforderungen gerecht zu werden (Fou- wey, 1996[1927]:160). Dieser Aspekt tritt auch beim Sub- cault, 2009[1982/83]). Der Poststrukturalismus etabliert da- jektivierungskonzept Judith Butlers hervor. So schreibt sie in mit eine Gegenposition zu Vorstellungen, die den Menschen Hinblick auf geschlechterspezifische Identitäten, „that multi- als souveränes, eigenständig denkendes und handelndes We- ple and coexisting identifications produce conflicts, conver- sen ansehen. Die Vorstellung einer Human Agency und das gences, and innovative dissonances within gender configura- Empfinden von Selbstwirksamkeit sind demnach Illusionen. tions which contest the fixity of masculine and feminine pla- Der Mensch wird primär als ein durch Prägung und Anpas- cements with respect to the paternal law“ (Butler, 1999:85 f.). sung geformtes Wesen angesehen. Dies bedeutet nicht weni- Laut Butler (1997) zeigt sich auch der iterativ-performative ger als die Dekonstruktion der Vorstellung des Menschen als Charakter von Praktiken als Faktor des Wandels. Da in der autonomen Schöpfer seiner Selbst. Praxis keine Situation der anderen identisch ist, muss sich der Möchte man aber nicht nur die beständige Reprodukti- Vollzug relevanter Praktiken immer an einem spezifischen on bestehender gesellschaftlicher Institutionen erklären, son- Setting ausrichten. Subjektivierung zeigt sich demnach auch dern auch den empirisch sehr wohl beobachtbaren Wandel in der Kompetenz, Praktiken entsprechend zu justieren. Da- etablierter Rollenbilder oder auch das Zustandekommen ge- durch ist jeder Ausführung auch die Möglichkeit der Abwei- sellschaftlichen Widerstands, dann bedarf es weiterführender chung inhärent. Butler beschreibt damit eine „iterability of Überlegungen. So erhält das Subjekt einen Funken von Au- the subject that shows how agency may well consist in oppo- tonomie, „wenn es denn wahr ist, daß es keinen anderen, ers- sing and transforming the social terms by which it is spaw- ten und letzten Punkt des Widerstands gegen die politische ned“ (Butler, 1997:29). Derartige Konzeptionen werden mit- Macht gibt als die Beziehung seiner selbst zu sich.“ (Fou- unter kritisch kommentiert: „Die poststrukturalistische [sic] cault, 2016[1981/82]:313). Die Technologien des Selbst sei- Perspektive Judith Butlers arbeitet sich an dem philosophi- en Foucault zufolge derjenige „Typus von Praktiken [. . .], schen Problem ab, die Freiheit eines Handlungsvermögens denen er zuspricht, sich – zumindest potenziell und auch zu begründen, das – so die Annahme – durch Determinati- nur partiell und momenthaft – aus der Umklammerung des on und Unterwerfung hergestellt wird. Das mag für Ansät- Macht-Wissens zu lösen“ (Münte-Goussar, 2015:120). Gou- ze einer kritischen Soziologie interessant sein, die sich von vernemental präfigurierte Subjektivierungen könnten hierbei den Theorietraditionen Frankfurter Provenienz absetzen will. durch Wahl von geeigneten Techniken sozusagen subvertiert Sie tut dies jedoch um den Preis des erneuten Versuches, die werden. Es bleibt jedoch fraglich, inwieweit diese margina- ,Eigentlichkeit des Subjekts‘ zu begründen, also Subjektphi- le Fähigkeit zu steuerndem Handeln wirklich von Foucault losophie nach der Subjektphilosophie zu betreiben“ (Keller, angedacht wurde oder, ob sie erst in der Rezeption hineinge- 2014:81). lesen wurde, weil sich hier eine offene Flanke in der Theo- Die Stärke der poststrukturalistischen Subjektkonzeption riebildung auftut, die nach Klärung verlangt. In dem für Fou- liegt in der kritischen Analyse etablierter gesellschaftlicher cault charakteristischen historischen Stil konzentriert er sich Subjektivierungsweisen. Diese Analysen können sozialen weitergehend darauf, zu beschreiben, wie zu verschiedenen Bewegungen, wie etwa der Genderbewegung, als Basis der Zeiten verschiedene Umgangsweisen mit dem eigenen Selbst Argumentation dienen. Die Erklärung aber, wie und warum dem Menschen als heilbringend galten, sodass „er einen ge- es zu sozialen Bewegungen kommt, warum Menschen trotz wissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der ihrer Prägungen gegen etablierte Verfahrensweise aufbegeh- Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt“ (Foucault, ren, ist und bleibt eine Herausforderung für die poststruktu- 1993[1982]:26). ralistische Theoriebildung. Aber der Poststrukturalismus ist In der Regel entstehen nonkonforme Effekte bei der Sub- nicht die einzige Theorietradition, die eine rein intentionalis- jektpositionierung im poststrukturalistischen Denken nicht tisch gedachte Vorstellung eines autonomen, rationalen Sub- als autonome Leistung des Individuums, sondern auf Grund- jekts in Frage stellt. Eine Verortung des Subjektes in ver- lage einer Kombinatorik. Wenn in einer Situation mehrere körperten Verhaltensweisen, sedimentierten Überzeugungen, widerstreitende Subjektivierungen eines Individuums gleich- Gewohnheiten und/oder Routinen wird ebenfalls in vielen zeitig zum Tragen kommen, dann entsteht eine Überdeter- praxisorientierten Ansätzen vorgenommen. Die Frage aber, minierung und damit die Möglichkeit neuer Modi des Han- welche Rolle der Geist, also bewusstes, reflektierendes Den- delns. Weil keine der etablierten Verhaltensweisen angewen- ken, bei der Formierung körper-geistiger Subjektwerdungen det werden kann, ohne mit anderen etablierten Verhaltens- spielt, wird u. E. lediglich vom klassischen Pragmatismus ex- weisen in Konflikt zu geraten, ist Handeln in diesem Mo- plizit behandelt. ment prinzipiell offen. Aufgrund dieser Möglichkeit, eine mehrfache Ausprägung des Ichs zu denken, könne Foucault www.geogr-helv.net/74/113/2019/ Geogr. Helv., 74, 113–124, 2019
116 K. Geiselhart and T. Häberer: „Wenn ich es nicht tue, dann macht’s ein anderer“ 3 Die pragmatistische Perspektive auf nes Objektivismus, der durchaus begründet bestimmte Kate- Subjektwerdungen als situative Ereignisse gorien entwirft und diese fortan für existent oder zumindest für geklärt ansieht. Damit erhebt sich das denkende Individu- Das Denken des klassischen Pragmatismus lässt sich eben- um mittels seiner rational kontemplativen Fähigkeiten über falls in die subjektkritische Tradition einordnen (Volbers, das eigene situative Dasein hinaus. Hat das Individuum aber 2017). Um aber die etwas andere Stoßrichtung verstehen zu auf diese Weise eine vermeintlich weitreichende Klarheit er- können, ist es notwendig einen Schritt zurücktreten und die zeugt, so kommt es früher oder später nicht umhin, das eige- Begriffe Individuum, Subjekt, Identität und Selbst zu diffe- ne, denkende, fühlende und handelnde Selbst in den von ihm renzieren. Dabei werden wir auch auf die Begriffe der Person selbst geschaffenen Kategorien zu erklären und damit sein und der Persönlichkeit treffen und sehen, wie all diese Be- eigenes singuläres Erleben seiner eigenen Konstruktion Un- griffe eine Sozialität voraussetzen, die oftmals vernachlässigt tertan zu machen. An dieser Stelle zeigen sich in der Regel wird. „Eine Person, ein Selbst, ein Subjekt zu sein sind Funk- dann auch die Grenzen der entworfenen Erklärungsleistun- tionen, die sich aus komplex organisierten organischen und gen. sozialen Interaktionen ergeben“ (Dewey, 1995[1929]:205). Das Individuum besitzt demnach eine „zweideutige Na- Ähnlich der poststrukturalistischen Kritik weist John Dewey tur des Selbst“, es nimmt eine „doppelte Stellung“ ein, zwi- darauf hin, dass der Individualismus des modernen Lebens schen den Erklärungsleistungen seines Egos und dem Erle- dazu neigt, den Menschen aus dem gemeinschaftlichen Le- ben einer äußeren, als gegeben erscheinenden Welt der Din- ben herauszuabstrahieren, wodurch das Subjekt als moderne ge und Personen (Dewey, 1995[1929]:237). Das Individuum Erfindung etabliert wurde. „In jedem Falle ist ein Individu- erlebt sich selbst in einer beständigen Spannung zwischen um nicht länger einfach etwas Partikulares, ein Teil, der seine dem, was es als objektiv vorhanden annimmt und der Ab- Bedeutung ausschließlich in einem Ganzen hat, sondern ein schätzung dessen, was es an diesen Bedingungen zu erklären Subjekt, ein Selbst, ein charakteristisches Zentrum von Be- oder sogar zu verändern vermag. In seinem Erleben ist es gehren, Denken und Hoffen“ (Dewey, 1995[1929]:212–213). gespalten zwischen der Notwendigkeit Bedingungen akzep- Dewey macht deutlich, wie der Geist mittels der Anschau- tieren zu müssen, die unhintergehbar zu sein scheinen und ung eine Vorstellung von der Welt, bestehend aus ihm äußer- der vagen Idee, es gäbe vielleicht doch eine Möglichkeit die lichen Objekten, erschafft. Weil diese Konstruktionsleistung äußeren Bedingungen zu verändern. Diese doppelte Bewe- individuell vorgenommen wird, geschähe dies „in einem Me- gung etabliert die Bewusstheit eines Menschen in einem be- dium, das ganz eigentlich subjektiv genannt werden kann“ ständigen Alternieren zwischen einem Konstruieren und ei- (Dewey, 1995[1929]:216). Vernachlässigt werde dabei je- nem Erleben von Welt, also zwischen der geistigen Erschaf- doch häufig, dass derartige Erschaffungen auf Kommunika- fung von Objekten und dem praktischen Erleben der Rele- tion, auf gemeinschaftliche Sinnproduktion angewiesen und vanz dieser geschaffenen Kategorien (vgl. zu diesen Ausfüh- ausgerichtet sind. Nach Georg Herbert Mead (1998[1934]) rungen auch Volbers, 2017). Demzufolge ist es dem Einzel- kann ein Individuum nur Bewusstsein von etwas erlangen, nen „gleichermaßen natürlich wie unvermeidlich, [auch] sein indem es sich fragt, was wohl die anderen Mitglieder sei- eigenes Selbst innerhalb geschlossener Grenzen zu definie- ner Gemeinschaft über diese Sache sagen würden. Mead be- ren und dann zu versuchen, das Selbst in expansiven Akten schreibt das als eine Hereinnahme des Gesellschaftlichen in zu erproben, die unvermeidlich zuletzt in einem Zusammen- das Individuum. Ebenso verhält es sich mit der Vorstellung bruch des eingemauerten Selbst enden. Hier liegt die letz- vom eigenen Selbst, also der eigenen Identität. Diese kann te ,Dialektik‘ des Allgemeinen und des Individuellen“ (De- nur mittels einer Antizipation der Meinungen anderer explo- wey, 1995[1929]:236–237), die sich in einer beständig neu riert werden. Die Aufklärung und die Moderne seit der Re- justierten Spannung zwischen gesellschaftlicher Anpassung naissance hätten hingegen, so Dewey, das Erkennen des eige- und Selbstbehauptung äußert. Dies stellt sich als ein psycho- nen Selbst in einer Weise befördert, die zur Selbst-Isolierung physischer Prozess der gelebten Erfahrung dar. Der Mensch des Ichs geführt hätten und blind machten für diese Einge- als Körper-Geist-Wesen (Body-Mind) befindet sich in einem bundenheit dieses Ichs in den gesellschaftlichen Austausch. fortlaufenden Lernprozess der beständigen Auseinanderset- Seine beispiellose Attraktivität beziehe dieser Subjektivis- zung mit den Bedingungen der Welt. Dabei stehen geistige mus dabei aus der vom Individuum empfundenen konstruk- Aktivitäten in einer beständigen Rückbindung an praktische tiven Macht des eigenen individuellen Denkens. In solitärer Tätigkeiten und es finden emotionale Bewertungen statt, die Kontemplation, also dann, wenn man alleine im Studierzim- die jeweils weitere Geneigtheit des Individuums beeinflus- mer denkt, ist der Geist fähig die größtmögliche Illusion von sen. Die Fähigkeit des Menschen Erfahrungen zu machen Klarheit zu erzeugen. Die Bedingungen des Lebens erschei- charakterisiert, so Dewey, den Menschen als Körper-Geist- nen nun durchschaubar und damit zumindest potentiell auch Wesen. gestaltbar zu sein. Dem Individuum verschlossen bleibt da- Erfahrung ist damit aber nichts Individuelles. Zwar sind bei, dass dies nur möglich ist, weil relativierende, auf Kom- es einzelne Menschen, die Erfahrungen machen, doch er- plexität hinweisende Irritationen ausgeblendet werden. Ein fahren sie die Bedingungen ihrer Welt und ihre Gemein- derartiger Subjektivismus ist damit der ständige Begleiter ei- schaft. Mead (1998[1934]) beschreibt wie Individuen zwi- Geogr. Helv., 74, 113–124, 2019 www.geogr-helv.net/74/113/2019/
K. Geiselhart and T. Häberer: „Wenn ich es nicht tue, dann macht’s ein anderer“ 117 schen zwei Modi des Erlebens des eigenen Selbst alternie- schrieben werden kann, ist die Art und Weise, wie ein be- ren. Auf der einen Seite konstruieren sie ein „me“ indem sie stimmter Mensch auf Bedingungen, die ihm begegnen, rea- ihre eigene Identität auf gesellschaftlichen Rollenerwartun- giert. Die Persönlichkeitspsychologie befasst sich eben mit gen und Identitätskategorien aufbauen. Auf der anderen Seite dieser Tatsache, dass Individuen nicht immer gleich oder vor- erleben sie eine letztlich wenig kontrollierbare Instanz ihres hersehbar reagieren, aber aufgrund eines charakteristischen eigenen Selbst, das „I “, welches immer ein Stück weit mit Verhaltens trotzdem als eine bestimmte Person identifiziert den Rollenerwartungen der Identitätskonstruktionen in Kon- werden können (Asendorpf und Neyer, 2012). Die Persön- flikt gerät. Auf der einen Seite erfahren Individuen Gemein- lichkeit macht einen Menschen irgendwie berechenbar, aber schaft, ganz konkret in Traditionen, Bräuchen, Praktiken und keineswegs kann aus der Persönlichkeit eines Menschen all Institutionen, wodurch dafür nützliche Kompetenzen und ein ihr Handeln abgeleitet werden. Persönlichkeit ist demnach Verständnis gesellschaftlicher Rollen erschaffen werden. In- ein sozial sehr wirkungsvoller Einfluss, trotzdem erweist sich dividuen werden in einer bestimmten Gesellschaft erfahren, der Begriff als gesellschaftstheoretisch weitgehend vernach- wenn sie lernen, geschickt und sozial kompetent zu handeln. lässigt. Sie entwickeln ein Gespür dafür, was sie von anderen erwar- ten können, wenn sie selbst sich auf die in dieser Gemein- schaft üblichen Arten und Weisen verhalten. Aber die Men- 4 Persönlichkeit als vernachlässigte schen machen ihre Erfahrungen auf einzigartige Weise. Sie gesellschaftstheoretische Kategorie erleben sich selbst einerseits als charakteristischen Teil ihrer Gemeinschaft, gleichzeitig aber auch als Ausnahme. Sie erle- Betrachtet man Kategorien der Persönlichkeitspsychologie, ben sich als typisches Mitglied und gleichzeitig auch als Sin- dann wird deutlich, dass es dabei immer um Charakteristika gularität. Sie übernehmen entsprechend ihrer sozialen Iden- geht, die das soziale Verhalten von Personen betreffen (Asen- tität konventionalisierte Positionen, wie z.B. als Kinder, Er- dorpf und Neyer, 2012). Die fünf Dimensionen der Persön- wachsene, Schüler, Lehrer, Väter, Mütter, Berufstätige oder lichkeit, die im psychologischen Jargon auch häufig als „big religiöse Personen, doch gleichzeitig stehen sie mit diesen five“ bezeichnet werden, sagen primär etwas über den Um- gesellschaftlichen Positionen in Konflikt. gang eines Menschen mit sich selbst und Anderen aus. Men- Der Mensch wird erfahren, indem er lernt in einer Ge- schen sind in unterschiedlichem Maße offen für neue Erfah- sellschaft kompetent zu handeln. Das ist dem ähnlich, was rungen. Sie unterscheiden sich in ihrer Gewissenhaftigkeit, der Poststrukturalismus als Subjektivierung beschreibt. Er- also darin wie genau oder perfekt sie ihre Aufgaben erfüllen fahrung ist also weitgehend ein Erlernen und Begreifen ge- wollen. Sie treten unterschiedlich zurückhaltend oder offen- sellschaftlicher Bedingungen, aber darüber hinaus sind nach siv auf, unterscheiden sich also in ihrer Extraversion. Ihre so- pragmatistischer Vorstellung die Individuen aktiv und krea- ziale Kompetenz lässt sie unterschiedlich emphatisch, koope- tiv an diesen Prozessen beteiligt. Dem Individuum begeg- rativ und rücksichtsvoll sein und schließlich sind Individuen nen innerhalb der konkreten Situationen des Erfahrungen- in unterschiedlichem Maße emotional verletzlich. Menschen Machens bestimmte emotionale Qualitäten, anhand derer es denen Persönlichkeitsstörungen der sogenannten „dunklen sich seiner selbst gewahr wird. „Unterhalb und innerhalb die- Triade“, Narzissmus, Machiavellismus oder Psychopatholo- ser Geschehnisse, nicht außerhalb von ihnen oder ihnen zu- gie, attestiert werden, zeichnen sich vor allem durch unsozia- grundeliegend, finden sich jene Ereignisse, die Selbste ge- le, manipulative oder herrschsüchtige Verhaltensweisen aus nannt werden“ (Dewey, 1995[1929]:226–227). Bruchstück- oder gar dem Fehlen jeglicher Empathie. haft nur erscheint dem Individuum die Wahrnehmung einer Im Angesicht der Tatsache wie elementar Persönlichkeiten Situation und seines Eingebundensein in diese Situation, in- das soziale Miteinander beeinflussen, erscheint die mangeln- nerhalb der es sich auch seines eigenen Verhaltens bewusst de gesellschaftstheoretische Auseinandersetzung mit dem wird. Man erlebt sich selbst nur selten als souverän, häu- Thema geradezu fahrlässig. Man mache es sich vielfach zu fig eher als re-agierend denn als agierend, man könnte auch einfach, so Manfred Lutz (2009), wenn man, wie es häufig sagen getrieben. Im Eifer des Gefechtes ist eine rationale geschehe, bspw. Adolf Hitler als psychisch krank bezeich- Steuerung des eigenen Verhaltens kaum durchgängig mög- net, denn dieser hätte in unserer Gesellschaft niemals die lich, vielmehr reagiert man meist auf Basis individueller, für eine Diagnose notwendigen Bedingungen erfüllt. Er hätte erworbener und angeborener Dispositionen. Diese Disposi- sich selbst niemals als leidend präsentiert und nach Maßga- tionen geben den einzelnen Individuen ihr jeweils charakte- be seiner ganz eigenen Vorstellung, war er wohl durchaus ristisches Verhalten, welches auch als deren Persönlichkeit erfolgreich. So behandele unsere Gesellschaft die Falschen, bezeichnet wird (vgl. auch Volbers, 2017). Im pragmatisti- nämlich die, die am Wohle der Gemeinschaft interessiert wä- schen Denken bildet also nicht Identität die wesentliche sub- ren, und die, die an den Schwierigkeiten des sozialen Mit- jektrelevante Kategorie. Inwieweit jemand in identitätsrele- einanders verzweifelten. Jene aber, die sich wenig um das vanten Kategorien, bspw. Geschlecht, Beruf, soziale Funkti- Wohl anderer kümmern, haben hingegen oftmals einen Vor- on etc., angesprochen wird, ist situationsabhängig. Was aber teil. So kann sich eine narzisstische Persönlichkeitsstörung, über alle Situationen hinweg als weitgehend konstant be- die sich ja vor allem durch manipulatives Verhalten auszeich- www.geogr-helv.net/74/113/2019/ Geogr. Helv., 74, 113–124, 2019
118 K. Geiselhart and T. Häberer: „Wenn ich es nicht tue, dann macht’s ein anderer“ net, in vielen Fällen sogar karrierebegünstigend auswirken ten wird. Persönlichkeit beeinflusst nicht nur das Verhalten (vgl. auch Schneck, 2018). Die mangelnde Auseinanderset- der Person selbst, sondern auch das Verhalten anderer gegen- zung der Gesellschaftstheorie mit dem Begriff der Persön- über dieser Person. Persönlichkeit zeigt sich nur, wenn eine lichkeit ist auch nicht nachvollziehbar, wenn man bedenkt, soziale Situation eintritt, also wenn ein Individuum in Kon- dass es in der Praxis vielfach üblich ist, z.B. in Vorstellungs- takt mit Dingen oder anderen Menschen affiziert wird. Das gesprächen, gezielt Persönlichkeitsmarker, wie Teamfähig- Verhalten eines Individuums ist durch seine Persönlichkeit keit, Offenheit etc. abzufragen. Distinktion anhand von Per- aber keinesfalls determiniert, vielmehr stellt die Persönlich- sönlichkeitsmerkmalen wird also durchaus praktiziert, theo- keit eine Disposition dar, mittels derer Individuen den gesell- retisch aber kaum reflektiert. schaftlichen Positionen, die sie einnehmen, ein individuelles Diese Zurückhaltung der Gesellschaftstheorie bezüglich Gesicht geben. Die Kenntnis der charakteristischen Verhal- einer Betrachtung von Persönlichkeit ist wahrscheinlich auf tenstendenzen einer Person kann nun von anderen Akteuren die Nähe des Begriffes zu dem der Person zurückzufüh- genutzt werden, um in der Beziehung zu dieser Person er- ren. Der Begriff Person markiert den Unterschied zwischen wünschte Ergebnisse zu erzielen. Dabei werden Normen und dem Status ein Jemand und nicht nur ein Etwas zu sein Grenzen zwischenmenschlichen Verhaltens beständig situa- (Spaemann, 1996). Eine Person zu sein setzt die Anerken- tiv gezogen und erlebt. nung in einer Gemeinschaft voraus. Diese humanistische Menschen erfüllen ihre Rollen, Aufgaben und Pflichten Idee war Grundlage der Etablierung von Persönlichkeitsrech- in einer für sie charakteristischen Weise. Sie geben ihren ten und damit auch der Formulierung der Menschenrechte gesellschaftlichen Positionen ein einzigartiges Gesicht, sie (Joas, 2015). Persönlichkeitsrechte erheben denjenigen, dem werden also nur vermittelt durch ihre Persönlichkeiten zu der Status als Person zugestanden wird, gegenüber demjeni- Subjekten und das tun sie auch niemals alleine, sondern im- gen, der diesen Status nicht bekommt, wie das bspw. histo- mer nur in der Begegnung mit einem sozialen Gegenüber in risch beim Umgang mit Sklaven der Fall war (Lotter, 2012). konkreten Situationen. Im Moment des Aufeinandertreffens Ebenso zeigt der Begriff der persona non grata, dass es ge- machen sich Menschen gegenseitig zu Subjekten, es findet schehen kann, dass eine Person in einer Gemeinschaft nicht Transaktion statt. Im Gegensatz zum Konzept der Interak- mehr erwünscht ist. Es kann also auch Gründe geben, einem tion, das von bereits existierenden festen Entitäten ausgeht, Menschen den Status einer Person zu entziehen. Interessan- bezeichnet Transaktion die Tatsache, dass sich die Beteilig- terweise unterliegt das, was als eine Person angesehen wird, ten in einer Situation gegenseitig hervorbringen (Dewey und in hohem Maße der kulturellen Prägung (Geertz, 1987:294). Bentley, 1991[1949]; Steiner 2014). Menschen und ande- Gesellschaften entwickeln demnach spezifische Vorstellun- re Objekte werden nur im Kontakt zueinander zu dem, als gen, unter welchen Bedingungen die vollständig entfaltete was sie wahrgenommen werden. Sie fixieren sich gegensei- Würde einer Person auch vollständige Persönlichkeitsrech- tig auf eine Möglichkeit ihrer Selbst, die erst in dieser Situa- te beinhalten sollte. Auseinandersetzungen mit dem Begriff tion räumlich und zeitlich konkret werden kann. Somit kön- der Person laufen demnach Gefahr in Verdacht zu geraten, nen Aspekte wie bspw. das räumliche Setting einer konkre- ob sie denn auch wirklich alle Menschen gleichbedeutend ten Situation oder die Konstellation der beteiligten Akteure als Personen ansähen oder, ob sie nicht insgeheim Kriteri- in den Fokus der Betrachtung rücken. In der gegenseitigen en für bessere und schlechtere Menschen formulieren (Spae- Hervorbringung als Subjekte bildet sich eine Beziehung zwi- mann, 1996; Lotter, 2012). Diese Diskussionen können hier schen den beteiligten Personen heraus, die so nur durch und nicht ausgeführt werden, doch in Anbetracht der Erkenntnis, zwischen exakt diesen Individuen existieren kann (Saunders, dass die Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen nicht 2005). Persönlichkeiten haben maßgeblich Einfluss darauf, nur genetisch, sondern immer auch sozial bedingt ist (Asen- wie Individuen in Situationen zu Subjekten werden und da- dorpf und Neyer, 2012:261ff.), wird die Dringlichkeit deut- mit auch darauf, welchen Charakter die Beziehungen zwi- lich, Fragen nach den Bedingungen gelingender Persönlich- schen ihnen annehmen. Das Vorhandensein eines Chefs und keitsentwicklung und den Möglichkeiten der selbstgesteuer- eines ihm unterstellten Teams garantiert noch lange kein pro- ten Entwicklung der eigenen Persönlichkeit zu stellen. duktives Arbeiten. Es ist von enormer Bedeutung wie sich die Beziehungen zwischen den Beteiligten ausprägen. Die Be- ziehungen wiederum entwickeln Pfadabhängigkeiten, die ein 5 Transaktion, Persönlichkeiten und Beziehungen gemeinsames Handeln auch langfristig entweder erleichtern oder, im Falle „belasteter Beziehungen“, verkomplizieren. Persönlichkeit sagt also nichts darüber aus, was jemand tut, sondern vielmehr, wie jemand in sozialen Situationen für ge- wöhnlich reagiert. Das Wissen um die Persönlichkeit eines 6 Subjekt und Geist Menschen hilft, dessen Verhalten zu antizipieren. Es lässt uns abschätzen, ob sich die Person in einer bevorstehenden Situa- Ein Subjekt kann man also nur sein, wenn man sozial auf je- tion tendenziell aufbrausend, leicht reizbar, leicht verletzlich, mand anderen oder etwas anderes bezogen ist. Ein Subjekt aggressiv oder eher zuvorkommend und hilfsbereit verhal- zu sein bedeutet affiziert zu sein, was wiederum heißt, dass Geogr. Helv., 74, 113–124, 2019 www.geogr-helv.net/74/113/2019/
K. Geiselhart and T. Häberer: „Wenn ich es nicht tue, dann macht’s ein anderer“ 119 man nur in sozialen Konstellationen und nur in Situationen, oder allgemeiner in auf Situationen bezogenem Denken, zum Subjekt wird. Ein Subjekt zu werden bedeutet eine Beziehung mit anderen zu leben, sozial angesprochen zu werden, akti- viert zu werden und durch die eigenen Reaktionen wiederum andere zu aktivieren. Es bedeutet nicht nur eine gesellschaft- liche Position einzunehmen, sondern auch betroffen zu sein und Haltungen zu entwickeln. Im Gegensatz zur Selbstiden- tität, die sich weitgehend aus intellektueller Reflexion über das eigene Selbst speist, muss Subjektivität praktisch vollzo- gen werden. Subjektwerdung beinhaltet reaktives Verhalten. Jeder kennt die Erfahrung, dass man sich im Nachhinein über das eigene Verhalten ärgert. Nicht immer erscheint die eige- Abb. 1. Subjektwerdung als situatives Ereignis. ne Art und Weise zu reagieren im Nachhinein effektiv oder angemessen. Aber genau dieses Erleben von Getriebenheit, dieses Ausgeliefertsein eröffnet im pragmatistischen Denken kann, weil es immer auf impliziten, verkörperlichten sozia- ein Fenster für Selbstwirksamkeit: eine Möglichkeit der Ein- len Dispositionen aufbaut, die nicht immer auch erwünschte flussnahme des Geistes. soziale Resonanzen bewirken (Volbers, 2017). Darüber hin- Individuen handeln in der Regel auf der Grundlage ei- aus bestimmt der Pragmatismus eine Fähigkeit des Indivi- nes „System[s] von Überzeugungen, Kenntnissen und Un- duums zur Reflexion über die eigenen Dispositionen derarti- kenntnissen, von Zustimmung und Ablehnung, von Erwar- ger Subjektwerdungen. Das Individuum kann seine eigenen tung und Würdigung von Bedeutungen, die unter dem Ein- Subjektwerdungen zwar nicht direkt und unmittelbar beherr- fluß von Brauch und Tradition eingeführt worden sind“ (De- schen, doch kann es danach streben seine Dispositionen zur wey, 1995[1929]:215). Individuen, die mit Verstand ausge- Subjektwerdung zumindest langfristig in einem gewünsch- stattet sind, meistern demnach ihren Alltag weitgehend, in- ten Sinne zu verändern. Der Pragmatismus bestimmt also die dem sie ihrem Sinn für das Gemeinsame (Common Sense) Human Agency als Fähigkeit, die eigene Prägung zu hinter- folgen. Hier zeigt sich, dass Geist kein rein individuelles Phä- fragen und die Voraussetzungen des eigenen Verhaltens zu nomen ist, sondern, dass dieser nur auf der Ebene „der Ver- korrigieren. Dies kann auch als Aufforderung zur Persönlich- gemeinschaftung, der Kommunikation und Teilhabe“ hervor- keitsentwicklung gelesen werden. gebracht wird (Dewey, 1995[1925]:261; vgl. auch Volbers, 2017). Zwar ist es das einzelne Individuum das denkt, doch 7 Auf der Suche nach der Verantwortung reproduziert es in weiten Teilen seines Denkens lediglich in- tellektuelle Konventionen seiner Gemeinschaft. Das Selbst Das poststrukturalistische Subjekt wird von den gesell- wird sich dieses Kontextes seines Handelns normalerweise schaftlichen Verhältnissen hervorgebracht, denn sowohl sei- nicht bewusst, zumindest solange dieser nicht brüchig wird, ne Überzeugungen wie auch seine Wünsche sind von die- bspw. wenn Vorhaben nicht wie üblich ablaufen oder die er- sen bestimmt. Letztlich ist das poststrukturalistische Indi- worbenen Fähigkeiten nicht weiterhelfen. In solchen Situa- viduum damit auch jeglicher Verantwortung enthoben. Es tionen, zwischen den Gewohnheiten und Routinen, beginnen subjektiviert sich entsprechend der produktiven Macht, oh- Individuen nachzudenken. Mit dem Impuls zum Nachden- ne einen eigenen selbstbestimmten Anteil daran zu haben. ken über bisherige Selbstverständlichkeiten erhalten die In- Aber nach derartigem Subjektverständnis können allenfalls dividuen die Chance, wie Dewey sagt, ihren Geist zu indivi- abstrakte Instanzen wie Kapitalismus, Rassismus oder Se- dualisieren, also die Chance über die in ihrer Gemeinschaft xismus als Ursachen von Ungleichheiten und Ungerechtig- konventionalisierten Grenzen hinauszudenken. Und es sind keiten benannt werden. Sicherlich ist es wichtig der Kri- derart individuelle Geister, die die Voraussetzung für eine tik derartige abstrakte Kategorien zur Verfügung zu stellen, kritische Position bilden. Deweys (1995[1925]:214) Unter- doch kann derart abstrakte Kritik nur dann transformative scheidung zwischen mit Geist ausgestatteten Individuen und Kraft entwickeln, wenn im tatsächlichen gesellschaftlichen individuellen Geistern bestimmt demnach die menschliche Leben jemand die Transferleistung vollbringt und diese ab- Wirkmächtigkeit als eine Fähigkeit zur Reflexion über die strakten Kategorien in konkreten Ereignissen auf bestimm- eigenen Ansichten, Verhaltensweisen und gesellschaftlichen te konkrete Akteure bezieht und diesen Verantwortung zu- Prägungen. schreibt. Unterlässt man eine Reflexion der Bedingungen un- Der Pragmatismus bestimmt demzufolge weder ein auto- ter denen derartige Zuschreibungen geschehen sollten, dann nomes Subjekt im Sinne der Aufklärung, noch ein völlig de- riskiert man zweierlei. zentriertes, jeglicher Handlungsfähigkeit beraubtes Subjekt Erstens kommt es nicht selten vor, dass dabei Grenzen (Abb. 1). Er skizziert ein situativ reaktives Emergieren von der Angemessenheit überschritten werden (Edlinger, 2015; Subjekten, das in gewisser Weise „riskant“ genannt werden Weiss, 2017). Um nur wenige Beispiele zu nennen stellte www.geogr-helv.net/74/113/2019/ Geogr. Helv., 74, 113–124, 2019
120 K. Geiselhart and T. Häberer: „Wenn ich es nicht tue, dann macht’s ein anderer“ sich die Frage der Angemessenheit bspw. als beim Kölner Es geht hier aber keineswegs darum, Verantwortung aus- NoBorderCamp im Juli 2012 Aktivisten der Critical Whi- schließlich an den Folgen individuellen Handelns festzuma- teness Bewegung das Recht einforderten, Redebeiträge zu chen. Auf der einen Seite ist es wünschenswert, wenn je- stoppen, wenn sie persönlich diese als rassistisch empfinden der Einzelne sich im Sinne einer Verantwortungsethik (z.B. (ak, 2013), oder als in den USA eine jüdische Lesbe von ei- Jonas, 1979) unsozialer oder umweltschädlicher Verhaltens- ner Homosexuellenveranstaltung verwiesen wurde, weil sie weisen bewusst wird und diese zu vermeiden sucht, aber ei- ein T-Shirt mit der Aufschrift ,Proud Jewish Dyke‘ trug. In ne direkte Verantwortung für die ökologischen und sozia- der Vorstellungswelt einiger von der Intersektionalitätsdebat- len Probleme unserer Zeit kann der Einzelne nicht über- te inspirierten TeilnehmerInnen passte das nicht zu der Auf- nehmen. Diese zu lösen muss vielmehr als eine politische fassung des Zionismus als Täterkategorie (Weiss, 2017). Aufgabe angesehen werden. Leider habe sich, so Yascha Zweitens birgt das Versäumnis zu klären, unter welchen Mounk (2017), eine Rhetorik der persönlichen Verantwor- Bedingungen Kritik geübt werden sollte, die Gefahr, dass tung nicht nur in Ratgeberliteratur, Kolumnen und der politi- Muster der Kritik missbraucht werden. So werden bspw. heu- schen Sprache durchgesetzt, sondern auch unsere moralische te nicht selten feministische Ansprüche auf Selbstbestim- Vorstellungskraft tief erfasst und sogar die Natur der Wohl- mung und Fragen der Sicherheit von Frauen vor Übergriffen fahrtsstaaten verändert. Das Individuum wird in einem Ma- zur Rechtfertigung einer anti-islamischen, fremdenfeindli- ße verantwortlich gemacht, die es Kraft seiner individuellen chen Gesinnung herangezogen (Delfin, 2016). Entsprechend Wirksamkeit und der Zukunftsoffenheit des eigenen Lebens attestiert Bruno Latour (2007[2004]:16), dass die Waffen der und der gesellschaftlichen Entwicklungen gar nicht überneh- Kritik „über unklar gezogene Grenzen geschmuggelt wurden men kann. Es hat eine Naturalisierung von Verantwortung und der falschen Partei in die Hände gerieten“. Nun will sich und deren Verkörperungen in den Subjektvierungsweisen der Latour nicht „einfach damit beruhigen, daß bad guys nun Individuen stattgefunden. Diese Tendenz wird von poststruk- einmal jede Waffe benutzen, derer sie habhaft werden kön- turalistischen Autoren zu Recht kritisiert, streben sie doch ei- nen“ (2007[2004]:11), sondern fragt danach, ob nicht bei der ne Entunterwerfung der Subjekte von derartigen moralischen Formulierung der Waffen der Kritik etwas vergessen wur- Imperativen an. de. In diesem Geiste wollen wir im Folgenden einer Haltung Die von den Beförderern derartiger Responsibilisierung nachspüren, die u.E. gezielt Verantwortung leugnet und da- erhobenen Argumente entsprechen aber ironischerweise mit letztlich auch Ausdruck einer hauptsächlich am eigenen durchaus der poststrukturalistischen Logik. Bestimmte Ver- Vorteil interessierten Persönlichkeit ist. Wenn zur Begrün- haltensdispositionen einer Bevölkerungsmehrheit, so wird dung dieser Haltung aber poststrukturalistische Theorie her- argumentiert, müssen ökonomisch oder politisch als Voraus- angezogen wird, was leicht möglich ist, weil diese in diesem setzung betrachtet werden (subjektivierende Macht). Solange Bereich eine Leerstelle aufweist, dann wird der Poststruktu- sich dieser Diskurs nicht von der Basis her verschiebe, könne ralismus zum unfreiwilligen Erfüllungsgehilfen. man auch nichts ändern, ohne existenzgefährdende Verluste Die weit verbreitete Haltung des „wenn ich es nicht ma- an Wählerstimmen oder Kunden in Kauf nehmen zu müssen. che, dann macht‘s ein anderer“ drückt die Rechtfertigung Die Formel „wenn ich es nicht tue, dann macht’s ein ande- aus, etwas trotz besseren Wissens zu tun. Bei dieser Haltung rer“ ist nun genau der Ausdruck dieser Haltung, die mit Hin- geht es nicht darum ein einmaliges Ausnahmeverhalten zu weis auf die strukturellen Gegebenheiten verschleiert, dass rechtfertigen. Einmaliges unnachhaltiges, umweltschädigen- der Sprecher sich genau diese Gegebenheiten zum Vorteil des, konsumistisches oder anderweitig abträgliches Verhal- macht. Die Formel behauptet, dass es im Prinzip egal sei, ten kann auf vielfältige Weise entschuldigt werden, bspw. mit ob nun der Sprecher oder eine andere Person von der Über- den gegenwärtigen Umständen, dem Fehlen von Alternativen nahme der von ihm eingenommenen Position profitiere, weil oder auch dem aktuellen Wunsch nach Bequemlichkeit oder das für diejenigen, die von den von dieser Stelle ausgehenden Genuss. Derartiges Verhalten würde im Falle einer Unterlas- Wirkungen betroffen sind oder eventuell sogar geschädigten sung auch nicht von einer anderen Person ausgeführt wer- werden, letztlich keinen Unterschied mache. den. Mit Verweis auf eine gesamtgesellschaftliche Dimen- Verschwiegen wird in der Regel, dass mit Übernahme sion würden diesbezüglich eher Entschuldigungen wie „ich der zur Debatte stehenden gesellschaftlichen Position Ver- wäre ja blöd, wenn ich es nicht mache, denn alle anderen tun antwortung verbunden ist, derer sich die sprechende Person es ja auch“ angewendet. Hingegen weist aber die Äußerung bewusst stellen sollte, wenn sie diese Position übernimmt. „wenn ich es nicht mache, dann macht’s ein anderer“ unmiss- Die Formel verschweigt, dass man mit Macht ausgestatte- verständlich darauf hin, dass die sich derart äußernde Person te Positionen besser oder schlechter, autoritärer oder sozia- vor hat eine gesellschaftlich relevante Handlung auszuführen ler sowie demokratischer oder autokratischer ausfüllen kann. oder eine Position einzunehmen, die anderenfalls von einer Sie formuliert bewusst nicht, wie sie gedenkt diese Position anderen Person übernommen werden würde. Zudem ist es auszufüllen oder warum sie glaubt für diese Position beson- eine Formel, die die mit dieser Position verbundenen gesell- ders geeignet zu sein. Sie verschweigt, dass mit Übernah- schaftlichen Verantwortung bewusst nicht thematisiert. me einer gesellschaftlich einflussreichen Position, auch ein Anspruch an die Persönlichkeit des diese Position überneh- Geogr. Helv., 74, 113–124, 2019 www.geogr-helv.net/74/113/2019/
K. Geiselhart and T. Häberer: „Wenn ich es nicht tue, dann macht’s ein anderer“ 121 menden Menschen gestellt wird. Es ist diese Zurückweisung verantwortungsbewusst zum Subjekt zu werden. Verantwort- von Verantwortung mit Verweis auf die übermächtige gesell- lichkeit erwächst demnach aus der menschlichen Fähigkeit schaftliche Struktur, die ganz auf Linie mit den poststruktu- zur Reflexion über das eigene Handeln und der damit verbun- ralistischen Vorstellungen von Subjektivierung liegt. denen Möglichkeit die eigene Persönlichkeit zu bilden. Per- sönlichkeitsentwicklung wird damit zur Aufgabe, sich ver- antwortungsvoll in die Gesellschaft einzupassen. 8 Die Verantwortung zur Dies entspricht auch einem weitverbreiteten Gerechtig- Persönlichkeitsentwicklung keitsempfinden, das letztlich auch in unserem Justizsystem abgebildet ist. Demnach ist es nicht gerecht, würde sich Aus pragmatistischem Verständnis aber kann eine andere Schuld und das Strafmaß nur am Tatbestand des Vergehens Art von Verantwortung benannt werden. Diese stellt keine bemessen. Vielmehr erscheint es angemessen vor Festset- überhistorische oder über alle gesellschaftlichen Bedingun- zung des Strafmaßes zu klären, ob eine Person überhaupt gen hinweg gegebene Konstante dar. In demokratischen Ge- schuldfähig ist, also mental ausreichend zur Selbstreflexion sellschaften aber ist eine gesellschaftliche Position mit der fähig ist und, ob ein Bewusstsein für die Schuld und ent- Verantwortung verbunden, alle Menschen im Einflussbereich sprechend Reue vorhanden sind. Wir gehen davon aus, dass dieser Position gleichermaßen als Personen anzusehen. Die Menschen prinzipiell dazu in der Lage sind, sich ihren Prä- Frage nach der „Person“ ist letztlich die Frage nach der gungen zu entziehen. So kann bspw. eine schlechte Kind- Anerkennung eines lebendigen Wesens als ein Individuum heit strafmildernd wirken, wird aber nicht bedingungslos als mit Rechten in einer Gemeinschaft gleichartiger Wesen. Die Entschuldigung für jedes Fehlverhalten akzeptiert. Um sich Stärke des Begriffes „Person“ liegt aber nicht in seiner defi- seinen Prägungen zu entziehen, muss man sein Denken indi- nitorischen Kraft zur Normsetzung, sondern vielmehr im Po- vidualisieren, man muss sich darauf einlassen, Erfahrungen tenzial, eine Basis für Kommunikation in gegenseitiger An- zu machen. Man muss es zulassen, sich zu verändern und erkennung darzustellen. sich der eigenen Zukunftsoffenheit stellen. „Das alte Selbst Die Frage nach der Person ist letztlich auch die Frage wird abgelegt, das neue Selbst bildet sich erst noch“ (Dewey, danach, was man glaubt von anderen Menschen erwarten 1980[1934]:238, vgl. auch 35ff.). zu können (Lotter, 2012:13). Im alltäglichen empathischen Miteinander unter Menschen entfalten sich Erwartungen wie auch Verantwortungsbewusstsein immer situativ. Entschei- 9 Fazit: Konsequenzen für die Kritik dungen darüber, was richtiges oder falsches Handeln ist, er- geben sich nach Maßgabe einer empfundenen Angemessen- Die pragmatistische Kritik verschiebt den Fokus von Iden- heit, die sich an den Erfordernissen der gelebten sozialen Be- tität auf Beziehung. Nicht immer begegnen Menschen ein- ziehungen, der gesellschaftlichen Aufgaben und Rollen ori- ander im Modus etablierter Differenzkategorien. So ist nicht entiert. In diesem Sinne sind soziale Kompetenzen, also die jeder männliche Chef seiner weiblichen Angestellten gegen- intuitiven und emotionalen Fähigkeiten wichtiger, als die ko- über ein Patriarch. Vielmehr bauen beide Beteiligten ihre gnitiven Fähigkeiten zum rationalen Denken, für das in ge- Praxis auf den derzeitigen Bedingungen auf, in denen Gende- gebenen Situationen naturgemäß die Zeit und der Überblick rungerechtigkeiten leider immer noch vorhanden sind. Nun fehlt. „Daher ist die Ausbildung der Fähigkeit, Konkretes dif- kann ein Unternehmer aber entweder diese Ungerechtigkei- ferenziert zu erfassen, von unverzichtbarer und in vielen Hin- ten für seine Vorteile ausnutzen oder er kann versuchen diese sichten primärer moralischer Bedeutung. Eine Person kann zumindest für seinen Betrieb zu minimieren. Dabei sind nicht die Überzeugung hegen, anderen Menschen in Schwierig- nur Identitätskategorien relevant, denn es spielen vielfälti- keiten nach Möglichkeit helfen zu sollen (und dies auch auf ge Fragen eine Rolle (betriebliche Altersvorsorge, Arbeits- postkonventionelle Weise formulieren), ohne je in eine sol- bedingungen, Lohngleichheit, etc.). Ebenso sind auch Fälle che Gelegenheit zu kommen, weil sie die psychische und so- individueller Fürsorge interessant, bspw. wenn ein Unterneh- ziale Lage ihrer Mitmenschen schlichtweg nicht wahrnimmt. mer einen bestimmten Angestellten bereitwillig weiterträgt, Auch bei voller Entwicklung der logischen Fähigkeiten kann auch in einer längeren Phase verminderter Leistungsfähig- es ihr an der dafür erforderlichen Sensibilität, Lebenserfah- keit, z.B. ausgelöst durch eine persönliche Krise oder Krank- rung und Empathie fehlen“ (Lotter, 2012:347). heit. Dem Unternehmer muss zweifellos zugestanden wer- Verantwortliches Handeln erfüllt sich demnach nicht den, bei derartigen Maßnahmen nur so weit zu gehen, wie in theoretischen Grundsätzen oder Handlungsanweisungen, er glaubt im Wettbewerb mit anderen Unternehmen, die für sondern in der empathischen Fähigkeit abstrakte Grundsät- ihre Mitarbeiter nicht im selben Maße soziale Bedingungen ze situationsbezogen angemessen anzuwenden, also in einer schaffen, noch konkurrenzfähig bleiben zu können. Verant- sozial integrativen Persönlichkeit, die ihre Handlungsspiel- wortung liegt demnach in der angemessenen Berücksichti- räume intuitiv gemeinwohlorientiert anwenden kann. Dazu gung seiner eigenen und der Bedürfnisse anderer. muss ein Individuum zur sozialen Inter- bzw. Transaktion fä- Durchaus komplizierter gestalten sich derartige Überle- hig sein, also die Fähigkeit besitzen in sozialen Begegnungen gungen, wenn man an Führungspositionen innerhalb größe- www.geogr-helv.net/74/113/2019/ Geogr. Helv., 74, 113–124, 2019
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