Suchterkrankungen im Alter: erkennen und ansprechen!

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Suchterkrankungen im Alter: erkennen und ansprechen!
Thema   Suchterkrankungen im Alter:
        erkennen und ansprechen!

        Missbrauch und Abhängigkeit sind auch im Alter weit verbreitet

        B    ei Begriffen wie Sucht, Missbrauch, Abhän-
             gigkeit oder Drogen denken die meisten
        Menschen an Bilder wie die des jungen Hero-
        inabhängigen, des nach außen hin erfolg-
        reichen, kokainabhängigen Showstars oder das
        des obdachlosen Alkoholkranken. Die anderen,
        die Männer und Frauen im mittleren Lebens-
        alter, die angepasst, unauffällig und gewohn-
        heitsmäßig trinken, rauchen oder psychoaktive
        Medikamente einnehmen und vor allem die
        älteren und alten Menschen, die für ihren
        Suchtmittelkonsum oft mit einem Verlust an
        Selbstständigkeit und vielfältigen gesundheit-
        lichen Folgeproblemen bezahlen, werden da-
        gegen kaum wahrgenommen.
             In der Öffentlichkeit, in Medien, Politik,
        Wissenschaft und Forschung, wird das Thema
        Suchterkrankungen im Alter weitgehend ausge-
        klammert. Und auch in den Einrichtungen und
        Organisationen der Altenhilfe und Altenpflege
        findet diese Problematik bislang kaum Beach-
        tung. Suchtprobleme bzw. substanzbezogene
        Störungen sowie der Missbrauch von Alkohol
        und anderen Drogen kommen in den Ausbil-
        dungs- und Lehrplänen der Fachpflegeschulen
        nicht vor, und auch im Qualitätsmanagement
        der Altenhilfe- und Altenpflegeeinrichtungen
        ist der Umgang mit Suchtmitteln bislang kein
        Thema.
             Die genauen Zahlen kennt niemand, sicher
        ist aber, dass Alkohol, Tabak und psychoaktive
        Medikamente ein gravierendes Problem auch
        bzw. gerade unter älteren und alten Menschen
        sind.
             Grund genug für das KDA, sich an der
        Anfang dieses Jahres begonnenen Kampagne
        „Unabhängig im Alter – Suchtprobleme sind
        lösbar“ der Deutschen Hauptstelle für Sucht-
        fragen (DHS) zu beteiligen und die Proble-
        matik auch zum Schwerpunktthema dieser            Fotos: iStockphoto
        ProAlter-Ausgabe zu machen.

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Suchterkrankungen im Alter: erkennen und ansprechen!
Thema
Suchtprobleme kennen keine Altersgrenze

Aufgrund verschiedener Studien und Datener-      Eine Alkoholabhängigkeit kann sich auch noch
hebungen geht die Deutsche Hauptstelle für       im höheren Alter entwickeln bzw. weiter verfe-
Suchtfragen (DHS) davon aus, dass zwei bis       stigen. Wer trinkt, um körperliche Beschwer-
drei Prozent der Männer und circa ein Prozent    den zu lindern oder negative Gefühle wie
der Frauen ab 60 Jahren ein schwerwiegendes      Trauer, Einsamkeit, Langeweile, Angst etc.
Alkoholproblem haben, knapp 16 Prozent der       besser ertragen zu können, ist gefährdet.
Männer und sieben Prozent der Frauen im Al-
ter von 60 und mehr Jahren rauchen und ver-
mutlich zwischen fünf und zehn Prozent einen
problematischen Gebrauch psychoaktiver Me-
dikamente bzw. von Schmerzmitteln aufweisen.
Der Konsum illegaler Drogen, wie Kokain,
Heroin oder Cannabis, ist hingegen bei älteren
Erwachsenen gegenwärtig kaum verbreitet.
     Für die meisten Menschen in unserer
Gesellschaft gehören alkoholische Getränke
zum Alltag und erst recht zu Feierlichkeiten
aller Art. Wer heute 60, 70 oder 80 Jahre alt
ist, dem sind alkoholische Getränke und ihre
Wirkungen seit Jahrzehnten bekannt. Das
Älterwerden bringt aber Veränderungen mit
sich, die zu besonderer Vorsicht im Umgang
mit Alkohol raten lassen:
     Die Alkoholverträglichkeit nimmt im höhe-
ren Lebensalter deutlich ab. Mit steigendem
                                                 Alkohol im Alter: Lebenselixier oder Risikofaktor?
Alter sinkt der Wasseranteil im Körper. Die-
                                                 Foto: Werner Krüper
selbe Menge getrunkenen Alkohols verteilt sich
bei älteren Menschen deshalb auf weniger
Körperflüssigkeit und führt zu einem höheren     Alkohol belastet ganz allgemein den Orga-
Alkoholpegel. Zugleich benötigt die Leber        nismus und mindert die geistige und körperli-
mehr Zeit für den Abbau des Alkohols. Men-       che Leistungsfähigkeit. Das liegt u. a. daran,
gen, die früher problemlos vertragen wurden,     dass die Nervenzellen allein zum Abbau des
können deshalb zu Trunkenheit und darüber        Alkohols rund 80 Prozent des Zellsauerstoffs
hinaus zu Stürzen und anderen Unfällen führen.   benötigen. Dies ist umso schwerwiegender, als
     Im höheren Alter ist eventuell aufgrund     die Fähigkeit des Körpers, Sauerstoff aufzuneh-
chronischer Krankheiten wie Bluthochdruck,       men, im Alter zurückgeht. Eine Abnahme der
Osteoporose, Herzschwäche oder Arterioskle-      geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeit
rose die regelmäßige Einnahme von Medika-        kann also auch durch Alkohol verursacht sein.
menten notwendig. Zwischen den Wirkstoffen
vieler Medikamente und Alkohol kann es dabei
zu schädlichen oder gefährlichen Wechselwir-     Wo liegt die Grenze?
kungen kommen. Besonders problematisch ist
die Kombination von Alkohol und psychisch        Verständlicherweise besteht bei Laien und
wirksamen Medikamenten wie Schlaf- und           Fachleuten gleichermaßen der Wunsch nach
Beruhigungsmitteln oder Antidepressiva.          klaren Grenzwerten für einen garantiert
Sobald ein Medikament eingenommen wird,          unschädlichen Konsum. Die Angabe solcher
sollte deshalb immer durch Rückfrage in der      Grenzwerte ist jedoch sehr problematisch.
Arztpraxis oder Apotheke geklärt werden, ob      Zum einen sind persönliche Konstitution und
dennoch Alkohol getrunken werden darf.           Verletzlichkeit ganz unterschiedlich. Zum

                                                                Kuratorium Deutsche Altershilfe ProAlter 1/ 06     7
Suchterkrankungen im Alter: erkennen und ansprechen!
Thema   anderen ist Alkohol nur einer von mehreren          sum meist schon seit Jahrzehnten. Möglich,
        Risikofaktoren. Übergewicht, Veranlagung zu         dass sich die Folgen mit der Zeit kumuliert
        Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, regel-       haben und jetzt zu massiven Problemen führen.
        mäßige Medikamenteneinnahme und insbeson-
        dere Rauchen erhöhen das gesundheitliche
        Risiko.                                             Ältere trinken anders
             Die häufig genannten Grenzwerte von 20
        Gramm Alkohol täglich für Frauen und 30             Die Konsummuster Älterer sind insgesamt
        Gramm für Männer halten viele Experten              weniger auffällig als die jüngerer Menschen mit
        heute für zu hoch – im besten Fall gelten sie für   Alkoholproblemen. Ältere trinken in der Regel
        gesunde Erwachsene mittleren Alters. Zum            weniger exzessiv, und ihre Rauschzustände sind
        Vergleich: Ein sogenanntes Standardglas ent-        weniger ausufernd. Sie trinken eher über den
        hält rund zehn Gramm reinen Alkohols. So viel       Tag verteilt und halten dabei einen gewissen
        ist z. B. enthalten in einem Glas Bier (0,25 l),    Alkoholpegel konstant. Auch die Trinkorte
        einem Glas (0,125 l) Wein bzw. Sekt oder 0,04       sind andere: Ältere trinken eher zu Hause und
        Liter Spirituosen (33 Vol.-%). Für ältere und       allein, also unbemerkt. In diesem Zusammen-
        alte Menschen liegt der Grenzwert für einen         hang ist auch auf den verdeckten Alkoholkon-
        risikoarmen Konsum allein aufgrund der              sum hinzuweisen. Stärkungsmittel und Husten-
        abnehmenden Alkoholverträglichkeit im Alter         säfte enthalten bis zu 80 Prozent Alkohol. In
        in jedem Fall deutlich niedriger.                   Kombination mit weiteren Medikamenten,
                                                            weiterem Alkoholkonsum oder bei Alkohol-
                                                            problemen in der Vergangenheit ist dies sehr
        Ist Alkohol gesund?                                 problematisch.

        Immer wieder ist zu hören, Alkohol habe auch
        eine gesundheitsfördernde Wirkung. Doch nur         Alkoholfolgeschäden
        ein sehr geringer Alkoholkonsum, wie etwa           im höheren Alter
        jeden zweiten Tag ein kleines Glas Bier oder
        Wein, senkt unter Umständen für Menschen im         Bei Männern und Frauen im höheren und
        mittleren oder höheren Alter das Risiko,            hohen Alter stehen andere Alkoholfolgeschä-
        bestimmte Herzerkrankungen, insbesondere            den im Vordergrund als in jüngeren Jahren.
        einen Herzinfarkt, zu erleiden. Weit zuverlässi-    Neben häuslichen Unfällen, wie Stürzen, sind
        ger und ohne schädliche „Nebenwirkungen“            dies vor allem eine – nicht durch Altersabbau
        kann das Herzinfarktrisiko durch körperliche        verursachte – verminderte körperliche und
        Aktivitäten und eine fettarme Ernährung             geistige Leistungsfähigkeit und Voralterung der
        gesenkt werden.                                     Organe sowie alkoholassoziierte Krankheiten
                                                            wie Lebererkrankungen bis hin zu Leber-
                                                            zirrhose, hirnorganischen Schädigungen und
        „Late onset“ und „Early onset“                      Krebserkrankungen, z. B. der Speiseröhre, der
                                                            Bauchspeicheldrüse, des Enddarms und der
        In der Gruppe der Älteren mit Alkoholproble-        weiblichen Brust.
        men werden im Allgemeinen zwei Gruppen
        unterschieden: „Late onset“ und „Early
        onset“. „Late onset“ bezeichnet diejenigen, die     Alkoholprobleme erkennen
        erst im höheren Alter ein Alkoholproblem
        entwickeln. Dabei kann das Alkoholproblem           Manchmal sind Alkoholprobleme nicht zu
        dadurch entstehen, dass der Alkoholkonsum           übersehen: eine große Zahl leerer Flaschen,
        gesteigert wird. Aber auch ohne dass mehr           häufiger eine „Fahne“, Torkeln und Lallen sind
        Alkohol getrunken wird, kann Alkoholkonsum          deutliche Hinweise. Viele andere Anzeichen
        mit zunehmendem Alter zu Problemen führen.          eines missbräuchlichen oder abhängigen Alko-
        Die weitaus meisten Betroffenen zählen zur          holkonsums sind dagegen unspezifisch, das
        Gruppe der „Early onset“. Bei ihnen besteht         heißt, sie können, müssen aber nicht durch
        ein schädlicher oder abhängiger Alkoholkon-         Alkohol verursacht sein. Bei älteren Menschen

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Suchterkrankungen im Alter: erkennen und ansprechen!
kann das Erkennen eines Alkoholproblems               Fragebogen zur Erfassung von

                                                                                                                    Thema
zusätzlich dadurch erschwert werden, dass es          Alkoholproblemen älterer Menschen
nicht gelingt, zwischen altersbedingten Verän-
derungen und alkoholbedingten Folgeschäden            Speziell für die Erfassung von Alkoholproble-
zu entscheiden.                                       men älterer Menschen wurde der MAST-G
    Die folgenden Symptome können auf einen           (Michigan Alcohol Screening Test –
schädlichen oder abhängigen Gebrauch von              Geriatric Version) mit 24 Fragen und der
Alkohol oder von benzodiazepinhaltigen Medi-          S(Short)-MAST-G mit zehn Fragen entwickelt
kamenten hindeuten:                                   (siehe unten). Mit ihrer Hilfe kann erkannt
                                                      werden, ob der Konsum von Alkohol zu Pro-
•     Sturz, insbesondere wiederholte Stürze          blemen für die befragte Person führt. SMAST
•     Kognitive Defizite: mangelnde Konzentra-        unterscheidet nicht zwischen Missbrauch und
      tion, nachlassende geistige Leistungsfähig-     Abhängigkeit, und tatsächlich ist die Grenzzie-
      keit, mangelnde Aufmerksamkeit                  hung zwischen beiden nicht einfach. Da in
•     Interesselosigkeit/Interessenverlust            beiden Fällen ein Gesprächs- und Hilfeangebot
•     Vernachlässigung des Äußeren und des            erfolgen sollte, ist eine Unterscheidung
      Haushaltes                                      zunächst auch nicht erforderlich. Die genaue
•     Durchfälle                                      Diagnosestellung ist eine ärztliche Aufgabe
•     Schwindel                                       bzw. Aufgabe einer Fachberatungsstelle.
•     Gesichtsröte
•     Tremor (Zittern)
•     Appetitverlust                                  Beratung und Behandlung bei
•     Fehlernährung                                   Alkoholproblemen
•     Voralterung
•     Stimmungsschwankungen, depressive               Je nach Schwere des Alkoholmissbrauchs bzw.
      Verstimmungen, Ängste                           der Alkoholabhängigkeit ist der Weg zur Über-

    Wenn Sie zwei oder mehr der folgenden Fragen mit Ja beantworten, haben Sie vermutlich ein
    ernsthaftes Alkoholproblem entwickelt und sollten Hilfe und Beratung annehmen:

    1. Haben Sie anderen gegenüber schon einmal untertrieben,
        wie viel Alkohol Sie trinken?                                                  Ja              Nein
    2. Haben Sie nach ein paar Gläsern Alkohol manchmal nichts gegessen
        oder eine Mahlzeit ausgelassen, da Sie sich nicht hungrig fühlten?             Ja              Nein
    3. Helfen ein paar Gläser Alkohol, Ihre Zittrigkeit oder Ihr Zittern
        zu verhindern?                                                                 Ja              Nein
    4. Haben Sie, nachdem Sie Alkohol getrunken haben, manchmal
        Schwierigkeiten, sich an Teile des Tages oder der Nacht zu erinnern?           Ja              Nein
    5. Trinken Sie üblicherweise Alkohol, um zu entspannen oder Ihre
        Nerven zu beruhigen?                                                           Ja              Nein
    6. Trinken Sie, um Ihre Probleme für einige Zeit vergessen zu können?              Ja              Nein
    7. Haben Sie schon einmal Ihren Alkoholkonsum erhöht, nachdem Sie
        einen Verlust in Ihrem Leben erlitten haben?                                   Ja              Nein
    8. Hat Ihnen schon einmal ein Arzt/eine Ärztin oder eine andere Person
        gesagt, sie mache sich Sorgen bezüglich Ihres Alkoholkonsums?                  Ja              Nein
    9. Haben Sie jemals Trinkregeln aufgestellt, um besser mit Ihrem
        Alkoholkonsum klarzukommen?                                                    Ja              Nein
    10. Hilft Ihnen ein alkoholisches Getränk, wenn Sie sich einsam fühlen?            Ja              Nein

    Quelle: Short Michigan Alcohol Screening Test – Geriatric Version,
    (c) The Regents of the University of Michigan, 1991

                                                                   Kuratorium Deutsche Altershilfe ProAlter 1/ 06     9
Suchterkrankungen im Alter: erkennen und ansprechen!
Thema   windung des Problems sehr unterschiedlich. Im      hin die meist verordneten und verwendeten
        ersten Schritt geht es deshalb darum, das Aus-     psychoaktiven Medikamente.
        maß der alkoholbezogenen Störung und den               Benzodiazepine vermindern die Empfäng-
        Hilfebedarf genauer zu klären und einen            lichkeit bestimmter Rezeptoren des Gehirns
        Behandlungsplan aufzustellen.                      und wirken darüber zugleich angstlösend,
            In Deutschland gibt es rund 1.350 Bera-        schlafanstoßend, muskelentspannend und
        tungseinrichtungen, die auf die Beratung von       krampflösend. Die verschiedenen Benzodiaze-
        Menschen mit Alkohol- und anderen Abhän-           pin-Arten unterscheiden sich vor allem in ihrer
        gigkeitsproblemen und deren Angehörigen            Wirkdauer. Präparate mit langer Wirkdauer
        spezialisiert sind. Sie werden als psychosoziale   sind besonders gefährlich. Sie können noch am
        Beratungsstellen, Sucht- bzw. Drogenbera-          nächsten Tag zu erhöhter Unfallgefahr durch
        tungsstellen, Beratungsstellen für Alkohol- und    Müdigkeit, Gleichgewichtsstörungen und
        Medikamentenabhängige o. Ä. bezeichnet. Die        verminderter Bewegungskontrolle (Ataxie)
        Beratung ist kostenlos, und die Beratungsstel-     führen. Weitere „Hang-over“-Effekte sind eine
        len unterliegen der Schweigepflicht. Eine          verminderte Reaktionsfähigkeit, Benommen-
        andere Möglichkeit, das Problem Alkohol in         heit und Konzentrationsstörungen.
        Angriff zu nehmen, ist ein offenes Gespräch            Die Abhängigkeitsentwicklung kann bereits
        mit Hausarzt bzw. Hausärztin.                      wenige Wochen nach Einnahmebeginn einset-
            Die Phase der Klärung und Hilfeplanung         zen. Hat sich eine Abhängigkeit entwickelt,
        wird als Kontakt- und Motivationsphase             treten als Entzugserscheinungen oftmals u. a.
        bezeichnet. Die eigentliche Behandlung der         die Beschwerden auf, gegen die das Mittel
        Alkoholabhängigkeit wird modellhaft in drei        ursprünglich helfen sollte. Oft werden sie nicht
        Phasen gegliedert:                                 als Entzugserscheinungen erkannt, sondern
        • Akutbehandlung – stationäre oder ambu-           führen zur weiteren Verordnung des Medika-
            lante Entgiftung                               ments. Die große Mehrheit der Benzodiazepin-
        • Entwöhnung (Rehabilitation) – mehrere            abhängigen weist eine so genannte Niedrig-
            Wochen oder Monate dauernde ambulante          Dosis-Abhängigkeit auf. Bei dieser Form der
            oder stationäre Psychotherapie zur Absi-       Abhängigkeit kommt es nicht zu einer Dosis-
            cherung der Abstinenz                          steigerung, sondern es wird über viele Jahre
        • Nachsorge – Angebote zur Vermeidung              eine im therapeutischen Bereich liegende Dosis
            von Rückfällen                                 eingenommen. Gerade bei den langwirkenden
                                                           Benzodiazepinen kann es trotzdem zu einer
        Je nach individuellem Hilfebedarf werden die       Kumulation (Anhäufung) des Wirkstoffs im
        verschiedenen Behandlungsangebote flexibel         Körper kommen.
        miteinander kombiniert. Die oben erwähnten
        Fachberatungsstellen für Suchtgefährdete und
        Suchtkranke verstehen sich auch als „Pfadfin-
        der“ bei der Auswahl geeigneter Hilfen.
                                                           Foto: istockphoto

        Medikamente mit Missbrauchs- und
        Abhängigkeitspotenzial

        Für die Problematik des Medikamentenmiss-
        brauchs und der Medikamentenabhängigkeit
        im höheren und hohen Alter sind Schlaf- und
        Beruhigungsmittel mit einem Wirkstoff aus der
        Gruppe der Benzodiazepine von herausragen-
        der Bedeutung. Seitdem das große Abhängig-
        keitspotenzial der Mittel bekannt wurde, ging
        die Zahl der Verordnungen stark zurück. Sie
        hat sich zwischen 1990 und 2005 in etwa
        halbiert. Dennoch sind Benzodiazepine weiter-

10      ProAlter 1/ 06 Kuratorium Deutsche Altershilfe
Suchterkrankungen im Alter: erkennen und ansprechen!
Kurzfragebogen zum

                                                                                                                Thema
 Handelsnamen häufig verordneter                   Medikamentengebrauch
 Benzodiazepine
                                                   Der folgende Kurzfragebogen erfasst Gewohn-
 Schlaf- und Beruhigungsmittel:                    heiten und Schwierigkeiten, die infolge einer
 Noctamid, Radedorm, Lendormin,                    häufigen Einnahme von Schlaf- und Beruhi-
 Flunitrazepam ratio, Remestan, Planum,            gungsmitteln, Schmerzmitteln sowie von Medi-
 Rohypnol, Dalmadorm                               kamenten zur Behandlung von Stimmungstiefs
                                                   auftreten können. Das Auswertungsschema zu
 Tranquilizer:                                     diesem Kurzfragebogen sieht einen problemati-
 Diazepamratiopharm, Tavor, Adumbran,              schen Gebrauch bei vier und mehr Ja-Antwor-
 Oxazepamratiopharm, Bromazanilhexal,              ten als gegeben an und empfiehlt in diesem
 Normoc, Lexotanil 6, Faustan                      Fall, ärztlichen Rat einzuholen. Für Betroffene
                                                   mit einer Niedrig-Dosis-Abhängigkeit erscheint
 Muskelrelaxans (Muskelentspannung):               dieser Wert recht hoch. Sicherlich ist empfeh-
 Musaril                                           lenswert, auch bei einer Zustimmung zu weni-
                                                   ger als vier Aussagen den Medikamentenge-
                                                   brauch mit ärztlicher Hilfe zu überprüfen.

Starke Entzugserscheinungen
                                                    Kurzfragebogen
möglich
                                                    Prüfen Sie bei jeder Aussage, ob diese auf
Nach längerer, regelmäßiger Einnahme können         Sie zutrifft oder nicht. Bei einer Zustimmung
nach dem Absetzen zum Teil quälende Entzugs-        zu zwei oder mehr der folgenden Aussagen
erscheinungen wie Zittern, starke Ängste,           sollten Sie Ihren Medikamentengebrauch mit
depressive Verstimmungen und Krampfanfälle          ärztlicher Hilfe überprüfen:
auftreten. Die Stärke und Dauer der Entzugser-      1. Ohne Medikamente kann ich schlechter
scheinungen ist nicht genau vorherzusehen und            einschlafen.
nicht direkt dosisabhängig. Haben sich Wirk-        2. Ich habe mir sicherheitshalber schon
stoffe im Fettgewebe des Körpers abgelagert,             einmal einen kleinen Tablettenvorrat
treten Entzugserscheinungen nur verzögert auf.           angelegt.
Benzodiazepinhaltige Arzneimittel werden in         3. Zeitweilig möchte ich mich von allem
der Regel ausgeschlichen, das heißt schrittweise         zurückziehen.
abgesetzt. Das sollte niemals ohne ärztliche        4. Es gibt Situationen, die schaffe ich ohne
Betreuung erfolgen.                                      Medikamente nicht.
                                                    5. Andere glauben, dass ich Probleme mit
                                                         Medikamenten habe.
Medikamentenprobleme erkennen                       6. Die Wirkung meiner Medikamente ist
                                                         nicht mehr so wie am Anfang der Ein-
Der erste Schritt: eine Bestandsaufnahme                 nahme.
    Das Erstellen einer einfachen Übersicht         7. Weil ich Schmerzen habe, nehme ich oft
(siehe dazu das Muster auf Seite 12) über alle           Medikamente.
eingenommenen Arzneimittel – egal ob verord-        8. In Zeiten erhöhter Medikamentenein-
net oder frei verkäuflich – kann viel dazu               nahme habe ich weniger gegessen.
beitragen, dass Über- und Untermedikationen         9. Ich fühle mich ohne Medikamente nicht
vermieden und eventuell auftretende Neben-               wohl.
wirkungen (einschließlich einer Abhängigkeits-      10. Manchmal war ich selbst erstaunt, wie
entwicklung) erkannt werden. Zeigt diese                 viele Medikamente ich an einem Tag
Bestandsaufnahme, dass Medikamente mit                   eingenommen habe.
Missbrauchs- und Abhängigkeitspotenzial seit        11. Mit Medikamenten fühle ich mich oft
längerem eingenommen werden, kann das auf                leistungsfähiger.
eine Medikamentenabhängigkeit hinweisen.            (Watzl, Rist, Höcker& Miehle, 1991)

                                                               Kuratorium Deutsche Altershilfe ProAlter 1/ 06   11
Suchterkrankungen im Alter: erkennen und ansprechen!
Thema      Nicht zuletzt können auch die auf Seite 9
           genannten Symptome auf einen schädlichen                  Verordnungsempfehlungen an
           oder abhängigen Konsum von benzodiazepin-                 Ärztinnen und Ärzte
           haltigen Medikamenten hinweisen. Die Betrof-
                                                                     Missbrauch und Abhängigkeit von Medika-
           fenen wirken wie „besoffen“, ohne dass die für
                                                                     menten sind Nebenwirkungen, die durch ih-
           Alkohol typische „Fahne“ zu bemerken ist.
                                                                     re richtige Anwendung möglichst vermieden
                                                                     werden sollten. Da fast alle Medikamente
                                                                     mit Suchtpotenzial verschreibungspflichtig
           Hilfe bei Medikamentenproblemen
                                                                     sind, kommt Ärzten und Ärztinnen hier eine
                                                                     besondere Verantwortung zu. Hierzu existie-
           Mehr noch als bei anderen Substanzen geht es
                                                                     ren folgende Empfehlungen:
           für von Medikamentenproblemen Betroffene
           darum, engagierte persönliche Begleitung und              1. Strenge Indikationsstellung, i. d. R. keine
           einen individuellen Weg zu finden, um Miss-                  Verschreibung an Patienten mit Abhän-
           brauch oder Abhängigkeit überwinden zu                       gigkeitsanamnese
           können.                                                   2. Kleinste Packung verschreiben, in niedri-
               Zunächst sollte die Frage, ob ein proble-                ger Dosierung, Rezept persönlich aus-
           matischer Medikamentengebrauch oder eine                     händigen
           Medikamentenabhängigkeit besteht, mit dem                 3. Therapiedauer vorher vereinbaren,
           behandelnden Arzt/der behandelnden Ärztin                    Notwendigkeit der Weiterbehandlung
           besprochen werden. Ist dies nicht möglich oder               jedes Mal sorgfältig prüfen
           führt das Gespräch nicht zu der gewünschten               4. „Ausschleichen“ nach längerer Behand-
           Klarheit, sollten weitere Beratungsmöglichkei-               lung begleiten
           ten genutzt werden.                                       5. Aufklärung der Patienten und Patientin-
               Eine wichtige Anlaufstelle bei medizini-                 nen, z. B. die Mittel nicht an Dritte
           schen Fragen ist die eigene Krankenkasse und                 weiterzugeben
           ihr Medizinischer Dienst. Der Medizinische                6. Unabhängige Informationen über die
           Dienst der Krankenversicherung (MDK) ist der                 jeweiligen Arzneimittel beachten,
           Beratungs- und Begutachtungsdienst der                       Abhängigkeitsfälle melden, z. B. der
           gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung.                Arzneimittelkommission der Deutschen
           An ihn wenden sich die Krankenkassen bei                     Ärzteschaft
           schwierigen medizinischen Fragen und vermu-
                                                                     (zitiert in Anlehnung an DHS [Hg.]:
           teten Behandlungsfehlern mit der Bitte um
                                                                     Jahrbuch Sucht 2005)
           Begutachtung.
               Zudem besteht immer die Möglichkeit,
           einen zweiten Arzt bzw. eine zweite Ärztin zu
           befragen. Die Fachberatungseinrichtungen für            amt können Auskunft darüber geben, welche
           Abhängige und ihre Angehörigen, Ärztekam-               Ärztinnen und Ärzte vor Ort über entspre-
           mern, Krankenkassen oder das Gesundheits-               chende Kenntnisse und Erfahrungen verfügen.

Bestandsaufnahme Medikamentenkonsum

Name des    Grund der                                       Dosierung bzw.
Medika-     Verordnung bzw.                 Verordnet       Häufigkeit der    Einnahme         Beobachtete
ments       Grund der Einnahme              durch:          Einnahme          seit:            Nebenwirkungen

12         ProAlter 1/ 06 Kuratorium Deutsche Altershilfe
Suchterkrankungen im Alter: erkennen und ansprechen!
Im nächsten Schritt ist dann zu klären, ob        Tabakentwöhnung – verschiedene

                                                                                                                 Thema
bestimmte Medikamente abgesetzt oder anders       Wege führen zum Erfolg
dosiert werden sollen und welche ärztliche und
eventuell psychotherapeutische Begleitung         • Rauchstopp in Eigenregie
dabei notwendig ist. In Frage kommen neben        Die meisten Ex-Raucherinnen und Ex-Raucher
ambulanten auch stationäre Behandlungsange-       haben es nach eigenen Angaben ohne fachliche
bote, z. B. in einem psychosomatischen Kran-      Hilfe und „von heute auf morgen“ geschafft.
kenhaus oder einer Fachklinik für Abhängig-       Der schließlich erfolgreiche Versuch war aber
keitskranke.                                      nur selten der erste, fast immer gehen eine
    Kommt eine längerfristige Therapie nicht      lange Zeit der Unzufriedenheit und mehrere
in Frage, muss auf psychosoziale Begleitung       Aufhörversuche dem endgültigen Rauchstopp
trotzdem nicht verzichtet werden. Viele Bera-     voraus. Gescheiterte Versuche in der Vergan-
tungsstellen bieten z. B. längere begleitende     genheit sind also kein Grund, es nicht noch
Beratung an. Weitere Möglichkeiten sind unter-    einmal zu versuchen. Im Gegenteil: Sie erhöhen
stützende Gespräche in der ärztlichen Praxis      die Wahrscheinlichkeit des Erfolgs.
oder in den Lebens-, Ehe- und Konfliktbera-            Auch ohne an einer intensiven bzw. organi-
tungsstellen der großen Wohlfahrtsverbände.       sierten Entwöhnungsbehandlung teilzunehmen,
Welche Angebote es vor Ort gibt, kann z. B. bei   können aufhörwillige Raucherinnen und Rau-
der Krankenkasse oder dem örtlichen Gesund-       cher auf Hilfen zurückgreifen, die ihre Aussicht
heitsamt erfragt werden.                          auf einen dauerhaften Erfolg erhöhen.
    Nicht zuletzt ist die Teilnahme an einer           Zu nennen sind dabei vor allem:
Selbsthilfegruppe ein Weg, Medikamentenpro-       • Die Rauchertelefone
bleme und mit ihr in Verbindung stehende          Sie bieten eine erste persönliche Beratung,
Probleme wie Ängstlichkeit, Schlaflosigkeit,      informieren über die verschiedenen Ausstiegs-
Trauer zu überwinden und Alternativen zum         hilfen und geben bei Bedarf weiterführende
Medikamentengebrauch zu entwickeln. Hier          Tipps (siehe S. 15).
vermitteln die Beratungstelefone (S. 15) Adres-
sen in Wohnortnähe.
                                                  Foto: iStockphoto

Tabak

Ältere Raucherinnen und Raucher, die sich für
einen Rauchstopp entscheiden, haben gute
Aussichten auf Erfolg. Allerdings haben Ältere,
der Beobachtung von Fachleuten zufolge,
vergleichsweise selten die Absicht, mit dem
Rauchen aufzuhören bzw. sind schwerer zu
motivieren, einen Rauchstopp zu planen. „Das
lohnt sich nicht mehr“, ist das ebenso gängige
wie falsche Argument, das man oftmals zu
hören bekommt.
    Richtig ist, dass durch jahrzehntelanges
Rauchen verursachte Organschädigungen
unumkehrbar sein können und dass es einige
Jahre dauert, bis das erhöhte Krebsrisiko deut-
lich zurückgeht. Viele andere Vorteile des
Nichtrauchens erleben Ältere aber ebenso wie
Jüngere innerhalb kurzer Zeit.
    Die amerikanische Krebsgesellschaft hat
die kurz- und langfristigen Vorteile eines
Rauchstopps untersucht und dazu eine Über-
sicht (siehe Seite 14) zusammengestellt.

                                                                Kuratorium Deutsche Altershilfe ProAlter 1/ 06   13
Suchterkrankungen im Alter: erkennen und ansprechen!
Thema   • Selbsthilfehandbücher                            Viel diskutiert wird die Frage der Rauchfreiheit
        Selbsthilfehandbücher enthalten neben Infor-       in öffentlichen Gebäuden. Bislang hängt der
        mationen vor allem Arbeitshilfen, mit denen        Nichtraucherschutz in Altenwohn- und Alten-
        das eigene Rauchverhalten analysiert und           pflegeheimen, Krankenhäusern, Behörden,
        Verhaltensalternativen entwickelt werden           Schulen, Ausbildungsstätten usw. von Engage-
        können.                                            ment und Einstellung der Verantwortlichen vor
        • Nikotinpflaster, Nikotinkaugummis und            Ort ab. Mindeststandard sollte es sein, dass
            andere Nikotinpräparate
        Der Einsatz von Nikotinpräparaten ist in der        Die gesundheitlichen Vorteile
        Tabakentwöhnung mittlerweile allgemein              eines Rauchstopps:
        anerkannt. Er sollte gerade bei älteren und
                                                            • Nach 20 Minuten:
        alten Menschen immer erst nach einer ärzt-
                                                            Puls und Blutdruck sinken auf normale Werte.
        lichen Beratung erfolgen.
                                                            • Nach 8 Stunden:
        • Passivrauchen und Nichtraucherschutz
                                                            Der Kohlenmonoxid-Spiegel im Blut sinkt,
        Drei Viertel des beim Abbrennen einer Ziga-
                                                            der Sauerstoffpegel steigt auf normale Höhe.
        rette entstehenden Rauches ziehen von der
                                                            • Nach 24 Stunden:
        Spitze der Zigarette in die Umgebung.
                                                            Das Herzinfarktrisiko geht bereits leicht
        Besonders in geschlossenen Räumen ist das
                                                            zurück.
        Einatmen von Tabakrauch (Passivrauchen)
                                                            • Nach 48 Stunden:
        unausweichlich. Unmittelbare Folgen eines
                                                            Die Nervenenden beginnen mit der Regene-
        Aufenthalts in verrauchten Räumen können
                                                            ration, Geruchs- und Geschmackssinn ver-
        sein: Reizungen der Schleimhäute, z. B. Bren-
                                                            bessern sich.
        nen in Augen und Nase, Kratzen im Hals,
                                                            • Nach 2 Wochen bis 3 Monaten:
        Heiserkeit, Kopfschmerzen, Atembeschwerden,
                                                            Der Kreislauf stabilisiert sich. Die Lungen-
        Husten, Schwindelgefühle.
                                                            funktion verbessert sich.
            Darüber hinaus kann ständiges, langanhal-
                                                            • Nach 1 bis 9 Monaten:
        tendes Passivrauchen die Gesundheit dauerhaft
                                                            Die Hustenanfälle, Verstopfung der Nasen-
        schädigen und schwerste Krankheiten wie
        chronische Bronchitis und Lungenemphysem            nebenhöhlen und Kurzatmigkeit gehen
        auslösen. Passivrauchen fördert wie das Aktiv-      zurück. Die Lunge wird allmählich gereinigt,
        rauchen, wenn auch in geringerem Maße, die          indem Schleim abgebaut wird.
        Verengung der Arterien und erhöht damit z. B.       • Nach einem Jahr:
        deutlich das Risiko, einen Herzinfarkt zu erlei-    Das Risiko, dass der Herzmuskel zu wenig
        den. Auch das Lungenkrebsrisiko steigt.             Sauerstoff erhält, ist nur noch halb so groß
                                                            wie bei einem Raucher.
        Ältere Menschen gehören zu den Personen-            • Nach 5 Jahren:
        gruppen, die besonders empfindlich gegenüber        Das Risiko, an Lungenkrebs zu sterben, ist
        Tabakrauch sind, vor allem bei bestehenden          um 50 % gesunken. Ebenso ist das Risiko
        Atemwegserkrankungen oder Herz-Kreislauf-           für Krebserkrankungen von Mundhöhle,
        Erkrankungen.                                       Luft- und Speiseröhre um die Hälfte zurück-
                                                            gegangen.
                                                            • Nach 10 Jahren:
        Foto: Designbüro, Münster
                                                            Das Lungenkrebsrisiko ist weiter gesunken
                                                            bis auf normales Niveau. Zellen mit Gewe-
                                                            beveränderungen, die als Vorstufe eines
                                                            Krebses aufzufassen sind, werden ausge-
                                                            schieden und ersetzt. Auch das Risiko für
                                                            weitere Krebsarten sinkt.
                                                            • Nach 15 Jahren:
                                                            Das Risiko eines Herzinfarkts ist nicht höher
                                                            als das eines Nichtrauchers.
                                                            Quelle: Arbeitskreis Raucherentwöhnung, Ratingen 1997

14      ProAlter 1/ 06 Kuratorium Deutsche Altershilfe
Suchterkrankungen im Alter: erkennen und ansprechen!
niemand – weder auf Personal- noch auf Be-         und verdrängt wurde. Schuld- und Schamge-

                                                                                                                Thema
wohner- bzw. Patientenseite – zum Passivrau-       fühle, das Gefühl, bloßgestellt zu werden, und
chen gezwungen ist. Ausführliche Informatio-       natürlich die Angst, auf das gewohnte Sucht-
nen und viele Arbeitsmaterialien, Vortragsfo-      mittel verzichten zu müssen, können zu hefti-
lien etc., die teilweise ohne großen Aufwand       ger Abwehr führen.
auch in anderen Einrichtungen und Institutio-          Hierfür stehen die Fachberatungsstellen
nen angewandt werden können, enthält das           und Beratungstelefone auch allen offen, die
Handbuch „Rauchfreies Krankenhaus“; es ist         sich über Suchtprobleme näher informieren
kostenlos erhältlich bei der Bundeszentrale für    und einem anderen Menschen Unterstützung
gesundheitliche Aufklärung (BZgA), Köln.           anbieten möchten. Machen Sie Suchtmittelkon-
                                                   sum zum Thema. Es lohnt sich – auch und
Über Suchtprobleme sprechen –                      gerade für ältere Menschen!
aber wie?                                                 Petra Mader und Dr. Raphael Gaßmann

Viele Untersuchungen belegen, dass es hilfreich
ist, wenn Betroffene auf ein (vermutetes) Sub-
stanzproblem angesprochen und auf Hilfeange-
bote hingewiesen werden. Das bestätigen auch
die Statistiken der Hilfeeinrichtungen im Sucht-
bereich: Zwei von drei Hilfesuchenden kom-
men über die Vermittlung von Freunden und                                      Petra Mader ist Journa-
                                                                               listin mit den thematischen
Angehörigen, über Arztpraxen, Sozialverwal-
                                                                               Schwerpunkten Gesund-
tungen oder die Justiz in die Einrichtungen.
                                                                               heitsförderung, Miss-
     Andererseits fällt es vielen Menschen                                     brauch und Abhängigkeit.
schwer, einen anderen – egal ob dieser jung
oder alt ist – auf ein (vermutetes) Alkohol-
oder Medikamentenproblem oder das Thema
Rauchen anzusprechen. Das gilt für Angehö-
rige und Freunde, aber auch für die Angehöri-
gen der verschiedenen Gesundheitsberufe. Sie
                                                                               Dr. Raphael Gaßmann ist
befürchten Auseinandersetzungen sowie eine                                     Referent für Grundsatz-
dauerhafte Belastung der Beziehung und                                         fragen und stellvertreten-
schlimmstenfalls den Abbruch des Kontakts.                                     der Geschäftsführer der
Unbegründet sind solche Bedenken nicht, vor                                    Deutschen Hauptstelle für
allem wenn das Problem bislang verleugnet                                      Suchtfragen.

Service:
Weitere Informationen und telefonische Beratung    •  Rauchertelefon des Deutschen Krebsfor-
für Betroffene, Angehörige und Professionelle:        schungszentrums: 0 62 21 / 42 42 00
• Bundesweite Sucht- und DrogenHotline                Montag bis Freitag von 15 bis 19 Uhr
    0 18 05 / 31 30 31 (12 Cent/Min.)              Ausführliche Informationen und die Adressen
    täglich von 0 bis 24 Uhr                       von Hilfeangeboten vermitteln auch:
• BZgA-Info-Telefon: 02 21 / 89 20 31              • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V.
    Montag bis Donnerstag von 10 bis 22 Uhr           Postfach 13 69, 59006 Hamm
    Freitag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr             Tel. 0 23 81 / 90 15-0
                                                      www.unabhaengig-im-alter.de
Speziell zum Thema Rauchstopp informieren             www.dhs.de
und beraten:                                          Auf den Internetseiten der DHS finden Sie
• Beratungstelefon der BZgA zum Nichtrau-             unter „Einrichtungen“ eine Adressdaten-
    chen: 0 18 05 / 31 31 31 (12 Cent/Min.)           bank mit allen Einrichtungen der Sucht-
    Montag bis Donnerstag von 10 bis 22 Uhr           krankenhilfe und den Trägern und Grup-
    Freitag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr             pen der Suchtselbsthilfe in Deutschland.

                                                               Kuratorium Deutsche Altershilfe ProAlter 1/ 06   15
DHS-Schwerpunktjahr 2006:
Thema
        „Unabhängig im Alter –
        Suchtprobleme sind lösbar“

        Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V.                 psychischen Entlastung und zu mehr Lebens-
        (DHS), der Zusammenschluss der bundesweit                     freude. Die zentrale Botschaft des Schwer-
        tätigen Verbände im Suchtbereich, hat das Jahr                punktjahres lautet deshalb: „Unabhängig im
        2006 zum Schwerpunktjahr „Missbrauch und                      Alter – Suchtprobleme sind lösbar!“
        Abhängigkeit im Alter“ erklärt. Die Deutsche
        Hauptstelle für Suchtfragen und ihre 26 Mit-
                                                                      Materialien und Internetseite zur
        gliedsverbände führen dieses Schwerpunktjahr
                                                                      Kampagne
        in Kooperation mit der BARMER und dem
        Kuratorium Deutsche Altershilfe durch.                        Um die Arbeit vor Ort zu unterstützen, hat die
             Hauptziel des Schwerpunktjahres ist es,                  DHS in Zusammenarbeit mit ihren Koopera-
        Frauen und Männern im höheren und hohen                       tionspartnern eine Reihe von Materialien
        Lebensalter den Zugang zu fachgerechter                       entwickelt. Zur breiten Verteilung stehen ein
        Beratung und Behandlung zu erleichtern.                       Plakat und drei Broschüren mit jeweils den
        Durch vielfältige Aktivitäten wollen die betei-               wichtigsten Informationen zu Alkohol-, Tabak-
        ligten Suchthilfeverbände und Suchtselbsthilfe-               und Medikamentenkonsum in höheren Lebens-
        verbände mit ihren Beratungs- und Behand-                     jahren bereit. Dieser ProAlter-Ausgabe ist
        lungseinrichtungen sowie ihren rund 7.500                     beispielhaft ein Exemplar aus der DHS-Bro-
        Selbsthilfegruppen dazu beitragen, dass Sucht-                schürenreihe beigelegt. Weitere kostenfreie
        probleme im Alter mehr Aufmerksamkeit und                     Broschüren zu den Themen Alkohol, Tabak-
        Beachtung finden als bisher und dass den                      und Medikamentenkonsum können Sie bei der
        Betroffenen häufiger als bislang Hilfe angebo-                Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V.,
        ten wird.                                                     Postfach 13 69, 59003 Hamm (mit einem mit
             Denn: Hilfe ist möglich. Entgegen verbrei-               0,85 Euro frankiertem DIN-A5-Rückumschlag,
        teter Vorurteile wie „Das lohnt sich nicht                    Büchersendung) anfordern. Die Broschüren
        mehr“ ist längst erwiesen, dass Ältere minde-                 sind aber auch als Download erhältlich
        stens ebenso von Beratung und Behandlung                      (http://www.unabhaengig-im-alter.de/web/
        profitieren wie jüngere. Gelingt eine Verhal-                 materialien/index.htm).
        tensänderung, zeigen sich oft sehr schnell                         Speziell für Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
        Erfolge, wie z. B. eine Verbesserung der                      ter psychosozialer Berufsgruppen wurde mit
        Gedächtnisleistungen oder eine bessere körper-                finanzieller Unterstützung der Bundeszentrale
        liche Fitness. Auch Beratungsgespräche oder                   für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) die
        eine entsprechende Psychotherapie führen                      Broschüre „Substanzbezogene Störungen im
        meist ganz unmittelbar zu einer spürbaren                     Alter – Informationen und Praxishilfen“ konzi-
                                                                      piert, die in einem Anhang verschiedene
                                            Christa Merfert-Diete     Kopiervorlagen für die praktische Arbeit ent-
                                            ist Referentin für        hält. Diese Broschüre ist ebenfalls allgemein-
                                            Öffentlichkeitsarbeit
                                                                      verständlich formuliert und kann bei Interesse
                                            und Prävention bei der
                                            Deutschen Hauptstelle
                                                                      z. B. an Angehörige von Menschen mit Sub-
                                            für Suchtfragen.          stanzproblemen weitergegeben werden.
                                            Kontakt: Tel.                  Alle Informationen über das Schwerpunkt-
                                            02381/9015-0,             jahr, Materialbestellungen zur Kampagne,
                                            Fax 0 23 81 / 90 15-30,   Berichte von Betroffenen und anderes mehr
                                            E-Mail: info@dhs.de       sind auch im Internet unter www.unabhaengig-
                                                                      im-alter.de zu finden.
                                                                             Christa Merfert-Diete

16      ProAlter 1/ 06 Kuratorium Deutsche Altershilfe
Thema
Integration von sucherkrankten Menschen im Altenheim

„Ich hätte keine andere Chance mehr gehabt“

Von Petra Tabeling

Gerhard Fischer war einmal ein völlig „norma-      Altenhilfeeinrichtung findet sich auch in ande-
ler“ Mensch – bevor sich die Sache mit dem         ren Häusern. So haben verschiedene Studien
Alkohol in sein Leben drängte. Er hatte eine       gezeigt, dass etwa acht bis neun Prozent der
Frau, einen Sohn und einen Job. Er arbeitete       Bewohnerinnen und Bewohner unter 65 Jahre
als Betriebsschlosser im Ruhrgebiet. Irgend-       alt sind. Nach Aussage von Prof. Dr. Siegfried
wann ging es abwärts – wie und warum, das          Weyerer vom Zentralinstitut für Seelische
weiß er heute nicht mehr so genau. Ein             Gesundheit in Mannheim finden sich in der
Abstieg, der ihn am Ende fast das Leben geko-      Gruppe der jüngeren Heimbewohnerinnen und
stet hätte. Er fing an zu trinken. Erst waren es   -bewohner neben schizophrenen Patientinnen
täglich ein paar Flaschen Bier und ab und zu       und Patienten auch Menschen mit geistiger
eine Flasche Korn, dann wurde es immer mehr.       Behinderung und vor allem alkoholkranke
Gerhard Fischer verlor erst den Job, dann die      Bewohnerinnen und Bewohner.
Wohnung. Er zog ins städtische Männerwohn-
heim in Ennepetal, wo es mit dem Trinken
immer schlimmer wurde. Alle waren irgendwie        Dämon Alkohol
abhängig, nahmen Drogen oder konsumierten
viel Alkohol. Gerhard Fischer hätte es dort nie    Der Alkohol hatte wie ein Dämon das Leben
geschafft, vom Trinken wegzukommen. „Wen           aller hier in Ennepetal begleitet. Und er tut es
hätte ich fragen können? Es hieß immer nur         noch: Die meisten leiden unter den schweren
‚saufen, saufen, saufen‘. Ich habe nicht darüber   physischen und psychischen Folgen ihrer
nachgedacht.“ Eines Tages machte sein Körper       Suchtabhängigkeit. Vor allem das Korsakow-
nicht mehr mit. Er konnte sich nicht mehr          Syndrom, eine Folgeerkrankung jahrelangen
bewegen, lag einfach da auf der Matratze,          Alkoholmissbrauchs, hat den meisten so zuge-
völlig unfähig, sich selbst zu versorgen, zu       setzt, dass sie pflegebedürftig wurden. Dass sie
essen, zu trinken. Eine Betreuerin brachte         im Seniorenzentrum Ennepetal auf fachkundige
Gerhard Fischer im März 2005 in das nahe           Hilfe stießen, hat die Erbschaft eines früheren
gelegene Seniorenzentrum Ennepetal. „Als er
zu uns kam, war er stark abgemagert“, berich-
tet Pflegedienstleiterin Ute Kuhlmann. Da war
er 53 Jahre alt, völlig verwahrlost und saß im
Rollstuhl. Mittlerweile hat Gerhard Fischer
über zehn Kilo zugenommen und sieht gut aus.
Er braucht keinen Rollstuhl mehr, nur einen
Gehstock. „Wenn ich nicht hierher gekommen
wäre, dann wäre ich da gelandet, wo es dunk-
ler ausschaut“, sagt Gerhard Fischer, der heute
„trocken“ ist.
     Als er in das Seniorenzentrum Ennepetal
kam, hörte er auf zu trinken. Ohne Entzie-
hungskur. Er hat einen starken Willen. Jetzt
lebt er in der „Wohngruppe IV“, zusammen
mit 26 Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern
im Alter von 41 bis 81 Jahren. Diese enorme        Gerhard Fischer hat es geschafft, vom Alkohol
Altersspanne in der Bewohnerschaft einer           loszukommen. Foto: Petra Tabeling

                                                                  Kuratorium Deutsche Altershilfe ProAlter 1/ 06   17
Thema   Heimbewohners ermöglicht. „Dadurch konn-            werden, veranstaltet Ergotherapeutin Susanne
        ten wir in einem der fünf Etagen einen Wohn-        Windhövel regelmäßig Übungen im Aufent-
        bereich für die schwer Suchtgeschädigten ein-       haltsraum der „Wohngruppe IV“. Spielerisch
        richten“, berichtet Ute Kuhlmann. Was längst        und locker, aber dennoch bestimmt. Da ist z. B.
        überfällig war: „Wir hatten einen großen Anteil     Alfons Maaks*, der sonst abwesend wirkt, aber
        an alkoholerkrankten – darunter auch jüngeren       noch genau den Text von „Die Gedanken sind
        – Menschen hier im Haus, verteilt auf alle          frei“ mitsingen kann, oder Ute Schneider*, eine
        Wohnbereiche. Daher haben wir uns überlegt,         der wenigen Frauen in der Wohngruppe. Sie
        wie wir das zentralisieren können, um zielge-       zählt langsam auf, welche Schminkutensilien in
        richteter zu helfen“, so Eva Seibel, Leiterin des   eine Damentasche gehören. Mit Fragen und
        Sozialen Dienstes.                                  Schlagern kitzelt die junge Ergotherapeutin das
                                                            Erinnerungsvermögen ihrer Patienten hervor.
                                                            „Ich versuche, jeden mit einzubeziehen und
        Schwere Schädigungen                                freue mich über jede noch so kleine Reaktion.“

        Ein interdisziplinäres Team aus Altenpflegerin-
        nen, Krankenschwestern, einer Diplom-Päda-          Hilfe zur Selbsthilfe durch
        gogin sowie einer Ergotherapeutin wurde             Routine und Beschäftigung
        zusammengestellt, um der Aufnahme und
        spezifischen Versorgung der Erkrankten Rech-        Das Team des Seniorenzentrums Ennepetal, das
        nung zu tragen. Fast alle der 27 Bewohnerin-        zur Curanum AG, einem großen privaten
        nen und Bewohner der „Wohngruppe IV“                Betreiber von Pflegezentren, gehört, hat eigens
        leiden an unterschiedlichsten Erkrankungen,         eine „Konzeption für seine Bewohnerinnen und
        die vor allem durch den langjährigen Alkohol-       Bewohner mit einer Alkoholproblematik“
        konsum entstanden sind. Im Vordergrund steht        erarbeitet. Unterstützt wurde es dabei von
        dabei immer wieder das Korsakow-Syndrom             Fachärzten und Verbänden wie der Caritas-
        mit Symptomen wie Verlust des Kurzzeitge-           Suchthilfe. Dazu gehören beispielsweise neben
        dächtnisses, Apathie, Desorientierung sowie         individuellen Betreuungsplänen ein Körperpfle-
        neurologischen Geh- und Gleichgewichtsstö-          getraining, das die eigene Körperwahrnehmung
        rungen. Hinzu kommen bei vielen Bewohnern           schulen soll, sowie ein strukturierter Alltag mit
        Parallelerkrankungen wie Depressionen und           regelmäßigem Gedächtnistraining, Gymnastik,
        paranoide Wahnvorstellungen, aber auch              Basteln, Ausflügen oder hauswirtschaftlichen
        organische Probleme wie Leberzirrhose. Viele        Tätigkeiten wie Kochen in der wohngruppen-
        dieser Krankheiten sind nicht mehr heilbar. Die     eigenen Küche. Die Bewohnerzimmer können
        Betroffenen haben zudem Schwierigkeiten, sich       grundsätzlich mit eigenen Möbeln bestückt
        im Alltag zurechtzufinden und Neues hinzuzu-        werden. „Doch die meisten der Leute hier
        lernen. Umso wichtiger ist es, dass alte            besitzen oft gar nichts mehr, wenn sie in unsere
        Gewohnheiten und Fähigkeiten wieder aus der         Gruppe kommen“, berichtet Kuhlmann.
        Erinnerung abgerufen werden. Damit Gedächt-
        nis- und Konzentrationsfähigkeit trainiert          * Name von der Redaktion geändert.

                                                                             Quiz am Tisch: Regelmäßige
                                                                             Gedächtnisübungen unter Anleitung
                                                                             von Ergotherapeutin Susanne Wind-
                                                                             hövel stehen im Wohnbereich IV auf
                                                                             der Tagesordnung.
                                                                             Foto: Petra Tabeling

18      ProAlter 1/ 06 Kuratorium Deutsche Altershilfe
Kontrolliertes Trinken                            „Bei festgestellter Pflegebedürftigkeit gibt es

                                                                                                               Thema
                                                  kein Finanzierungsproblem. Aber die Versor-
In der Regel haben die Bewohnerinnen und          gungsnotwendigkeit wird häufig erst gar nicht
Bewohner der „Wohngruppe IV“ etliche Ent-         gesehen, zum Beispiel dann, wenn sich ein
ziehungskuren hinter sich und sind austhera-      Bewohner, der bei der Aufnahme völlig hilflos
piert, wenn sie in das Altenheim kommen. Und      und am Ende war, sich bei uns in kürzester
so versteht sich das Seniorenzentrum Ennepetal    Zeit etwas erholt hat. Dann bestätigt der Medi-
auch nicht als weitere „Entgiftungsstation“.      zinische Dienst der Krankenversicherungen
Einige der Wohngruppe-IV-Bewohnerinnen            weder Pflegebedürftigkeit noch – was verhäng-
und -Bewohner trinken kontrolliert weiter.        nisvolle Folgen hat – die Erforderlichkeit sta-
Geregelt wird der Konsum über eine strikte        tionärer Unterbringung.“ Eva Seibel ergänzt:
Taschengeldausgabe, die in Absprache mit den      „Diese sogenannte ‚Heimnotwendigkeitsbe-
gesetzlichen Betreuern erfolgt. Einige der        scheinigung‘ ist aber eine Voraussetzung für die
Bewohnerinnen und Bewohner benötigen noch         Kostenübernahme durch die Träger der Sozial-
ein bis zwei Bier am Tag, andere haben sogar      hilfe. Es kommt daher im ungünstigsten Fall
gar kein Interesse mehr am Trinken oder sie       vor, dass ein Bewohner in die Obdachlosigkeit
vergessen es schlichtweg – durch das Korsa-       entlassen werden muss, weil die Notwendigkeit
kow-Syndrom. Dafür sind fast alle starke          einer psychosozialen Betreuung nicht aner-
Raucher, wobei auch die Zigarettenausgabe         kannt wird.“
reglementiert ist. Damit kämen die Betroffenen         Ungeachtet dieser Schwierigkeiten setzt
gut zurecht, auch wenn es mal ab und zu „Aus-     sich das Team vom Seniorenzentrum Ennepetal
reißer“ gäbe, denn das Altenheim liegt mitten     sehr für „seine“ chronischen Alkoholiker ein.
in der Innenstadt, und die Geschäfte sind         Erleichtert wird das natürlich durch die Erb-
sofort erreichbar. „Wir haben gelernt, damit      schaft. Doch die ist bald aufgebraucht, und die
umzugehen, und setzen Grenzen“, so Sabine         weitere Finanzierung der Stelle der Ergothera-
Schober, die Wohngruppenleiterin.                 peutin ist noch nicht vollständig geklärt. Alle
                                                  hoffen aber, dass es so wie bisher mit der
                                                  „Wohngruppe IV“ weitergeht, denn „wir wol-
Zuspruch und Selbstständigkeit                    len auch zukünftig diesen alkoholabhängigen
                                                  Menschen ein würdiges Leben in einer Gemein-
Im „Wohnbereich IV“ nimmt vor allem die           schaft bis zu ihrem Tod ermöglichen“, so Sozi-
individuelle psychologische Betreuung eine        aldienstleiterin Eva Seibel.
große Rolle ein. Die meisten der Bewohnerin-           Und zu dieser Gemeinschaft zählen alle im
nen und Bewohner lebten vorher sehr isoliert,     Haus, wie Jürgen Schneider, Leiter der Pflege-
Freunde und Familie hatten sich durch den         einrichtung in Ennepetal, betont: „Wir sind
langjährigen Alkoholkonsum von ihnen losge-       eine offene Einrichtung, und zwar mit Bewoh-
sagt. Viele der Betroffenen waren zuletzt         nern, die ein Suchtproblem haben, und sol-
obdachlos. Was sie jetzt vor allem brauchen,      chen, die keines haben.“
sind Zuwendung und Anerkennung. So werden              In dem 1984 gegründeten Altenheim Enne-
beispielsweise in der sogenannten „Morgen-        petal leben über 130 Seniorinnen und Senioren
runde“ während des täglichen Frühstücks           auf fünf Etagen verteilt. Die Wohnbereiche
Kommunikation und das soziale Miteinander         unterscheiden sich kaum voneinander. Die
trainiert. Man spricht über das aktuelle Tages-   Korridore sehen gleich aus, wirken etwas kalt
geschehen, über den Tagesablauf, aber auch        und anonym. Das Gebäude aus der Nach-
über Wünsche und Bedürfnisse. Es ist diese        kriegszeit fungierte – bevor es zum Altenheim
Mischung aus Zuspruch und Selbstständigkeit,      umgebaut wurde – zeitweise als Hotel. Damit
die viele den Weg zurück ins Leben finden         die Heimbewohnerinnen und -bewohner nicht
lässt. Die meisten haben in kurzer Zeit enorme    die Orientierung verlieren, wurden die Etagen
Fortschritte gemacht.                             in unterschiedlichen, freundlichen Farben
     Doch solch eine individuelle Betreuung       gestrichen und mit gemalten Symbolen verse-
werde im offiziellen Kostensystem der Pflege-     hen, auch im Aufzug. Den „Wohnbereich IV“
kassen und Sozialhilfeträger nicht berücksich-    kennzeichnet ein Baum. Selbstgefertigte Fens-
tigt, kritisiert Pflegedienstleiterin Kuhlmann:   terbilder der Bewohnerinnen und Bewohner

                                                              Kuratorium Deutsche Altershilfe ProAlter 1/ 06   19
Thema   verschönern das Treppenhaus. Der Speiseraum
        ist modern eingerichtet. Hinter der kalten
        Fassade des Zweckbaus herrscht aber eine
        warme und herzliche Atmosphäre.
             Aus den Hotelzeiten ist noch eine Kegel-
        bahn im Keller erhalten geblieben. Zur Freude
        vieler: Kegeln ist im Heim sehr beliebt, auch in
        der „Wohngruppe IV“. Vor kurzem erst gab es
        das erste Turnier zwischen ihnen und den
        Seniorinnen und Senioren, die auf den anderen
        Etagen leben. „Die Stimmung war richtig
        ausgelassen, und einige meiner männlichen
                                                           Neuer Lebensmut: „Ich hätte sonst keine andere Chance
        Schützlinge haben sogar mit den anderen
                                                           mehr gehabt.“ Foto: Petra Tabeling
        Damen geflirtet“, berichtet die Ergotherapeutin
        und schmunzelt. Mit viel Engagement und
        Liebe haben die Bewohner der „Wohngruppe           die Öffentlichkeit tragen, z. B. durch Fachvor-
        IV“ im vergangenen Jahr zum ersten Mal die         träge. Außerdem hat die Heimleitung der
        Grünflächen und die Balkone für die anderen        „Kreuzbundgruppe“, einer Selbsthilfe- und
        Heimbewohnerinnen und -bewohner gestaltet.         Helfergemeinschaft für Suchtkranke und Ange-
             Stark suchtabhängige Menschen können          hörige, Räume im Heim zur Verfügung gestellt,
        also mit Nicht-Abhängigen in einem Altenheim       damit sie sich einmal in der Woche dort treffen
        ohne Probleme miteinander leben? „Ja“, so die      können. Gleichzeitig haben so auch die betrof-
        Erfahrung der Pflegekräfte und des Heimleiters     fenen Bewohnerinnen und Bewohner die Mög-
        Jürgen Schneider: „Untereinander läuft es viel     lichkeit, daran teilzunehmen. „Man kann eben
        besser, als wir anfangs gedacht haben.“ Und        nicht einfach an der Problematik der älteren
        Eva Seibel betont: „Hier gibt es ganz alltägli-    alkoholabhängigen Heimbewohnerinnen und
        che Reibereien wie im normalen Leben auch,         Heimbewohner vorbeischauen“, betont Eva
        und das hängt mit Sympathien zusammen, aber        Seibel.
        nicht mit der Sucht.“ Wenn den Wohngruppe-              Nach Aussage von Prof. Dr. Siegfried
        IV-Bewohnerinnen und -bewohnern Vorurteile         Weyerer gibt es Hinweise darauf, dass der
        entgegenschlagen, dann manchmal auf den            Anteil Alkoholkranker in Einrichtungen der
        Ausflügen oder im Supermarkt. Dann siegt           stationären Altenhilfe im Vergleich zu älteren
        wieder das Stigma – der Alkohol. Das ärgert        Menschen in Privathaushalten überdurch-
        Susanne Windhövel, die die Außenaktivitäten        schnittlich hoch ist. Weyerer hat dazu im Zeit-
        organisiert, sehr: „Die Kassiererinnen sind        raum von 1995 bis 1998 und dann wieder von
        gelegentlich, meist ohne Grund, sehr unhöf-        2002 bis 2003 in 13 Mannheimer Altenpflege-
        lich.“                                             heimen bei jeweils über 1.200 Bewohnerinnen
             „In der Öffentlichkeit sieht man Alkohol-     und Bewohnern Untersuchungen durchgeführt.
        sucht ja eher nicht als Krankheit, sondern         Das Ergebnis: Etwa zehn Prozent der Bewoh-
        urteilt darüber nach dem Motto: ‚Die sind          nerschaft wiesen eine ärztliche Diagnose nach
        doch selbst schuld‘“, bemerkt Pflegedienstleite-   ICD 10 auf.
        rin Kuhlmann. Auch Peter Dresia, Leiter des             Neben Ennepetal gibt es viele andere Alten-
        Caritas Suchthilfezentrums Schwelm, Ennepe-        hilfeeinrichtungen in Deutschland, die nicht
        tal, Breckerfeld, kennt diese Vorurteile aus       nur einzelne, sondern zahlreiche Suchtkranke
        zwanzig Jahren Beratererfahrung. Er hat das        betreuen. So beispielsweise Haus Hohenfels,
        Seniorenzentrum in Ennepetal bei der Erstel-       ein Seniorenzentrum in Engelskirchen. Dort
        lung seines Suchtkonzepts maßgeblich unter-        sind ein Drittel der 54 Bewohnerinnen und
        stützt, Vorträge organisiert, Exkursionen in       Bewohner Alkoholiker, die durch klare Struk-
        Fachkliniken veranstaltet sowie die Pflege-        turen die Abhängigkeit trotzdem in den Griff
        kräfte in weiteren Fortbildungen geschult.         bekommen. Viele von ihnen wurden von dem
             Neben der Pflege und Betreuung im             Sozialdienst des Alexianer-Krankenhauses
        „Wohnbereich IV“ will das Seniorenzentrum          überwiesen, einer Station für Suchtfolgeerkran-
        die Thematik „Sucht im Alter“ auch weiter in       kungen in Köln.

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Neue Chancen                                     mehr zu seiner Familie hat. Sein neues Zuhause

                                                                                                              Thema
                                                 ist das Seniorenzentrum. „Es ist gar nicht mal
Es grenzt fast an ein Wunder, was heute aus      so schlecht hier. Ich hätte aber auch in dieser
Gerhard Fischer geworden ist.                    Gesellschaft gar keine andere Chance mehr
    Der ehemalige Schlosser beschäftigt sich     gehabt.“
heute mit Holzarbeiten. „Früher habe ich das
gar nicht gesehen, aber nun habe ich wirklich
Spaß daran. Es gibt immer was Neues hier.
Und ich kann das machen, was ich von mir aus
möchte, und nicht das, was jemand mir sagt.
Man muss sich beschäftigen und nicht nach
hinten gucken, sonst läuft man gegen einen
Baum“, weiß er heute. Dass Gerhard Fischer so
selbstständig geworden ist und wieder zu sich
gefunden hat, hat er vor allem „seinem“ Pfle-                              Petra Tabeling ist
geteam zu verdanken. Heute fühlt er sich nicht                             Journalistin und lebt
mehr isoliert – auch wenn er keinen Kontakt                                in Köln. Foto: privat

Wie Co-Abhängigkeiten in der Pflege
vermieden werden können

Erfahrungen eines dreijährigen Modellprojektes

Ende letzten Jahres ist in Schleswig-Holstein ein Modellprojekt zu Ende gegangen, bei dem drei
Jahre lang Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von ambulanten Pflegediensten im Umgang mit
suchtkranken älteren Klientinnen und Klienten geschult worden sind. ProAlter wollte wis-
sen, was dabei erreicht worden ist.

Bei dem Modellprojekt „Sucht im Alter“ des       Geschult wurden die Pflegefachpersonen und
Suchthilfezentrums Schleswig, das von der        Hauswirtschaftskräfte der Pflegedienste
Stiftung für Kirche und Diakonie – „In Würde     „Ambulante Pflege Angeln“ sowie des Diako-
alt werden“ in Rendsburg gefördert wurde,        niewerks Kropp mit der Sozialstation St. Elisa-
ging es um folgende Ziele:                       beth Schleswig. Es ging unter anderem um die
• Stärkung der Kompetenz von Mitarbeite-         Vermittlung von Handlungskompetenzen im
     rinnen und Mitarbeitern in der ambulanten   Umgang mit suchtauffälligen älteren Men-
     Pflege im Umgang mit suchtauffälligen       schen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
     älteren Menschen                            bekamen ein Interventionsmodell an die Hand,
• Frühintervention                               das es ihnen ermöglichen sollte, leichter mit
• Angebot angemessener Begleitung und            Pflegekunden, Betroffenen und Angehörigen
     Unterstützung                               über Auffälligkeiten im Zusammenhang mit
• Akzeptanzverbesserung der Problematik          Alkohol und Medikamenten zu sprechen.
     „Sucht im Alter“                            Neben dem offenen Informationsaustausch
• Vernetzung der Arbeitsfelder Pflege und        und der Vermittlung von Grundwissen zum
     Suchthilfe                                  Thema Sucht war das dritte und letzte Jahr des
• Verbesserung der Zusammenarbeit mit            Modellprojektes vor allem geprägt durch die
     Ärzten                                      praktische Umsetzung des in den ersten beiden

                                                             Kuratorium Deutsche Altershilfe ProAlter 1/ 06   21
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