Wie wohnen im Alter? Atelier Mondial - Das Magazin der Christoph Merian Stiftung - Nr. 6 Dezember 2018
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Editorial DIE ZEICHEN Die Christoph Merian Stiftung (CMS) engagiert sich seit Jahr- Balsam DER ZEIT zehnten im Altersbereich und hat in den 50er-Jahren des Wie illustriert man ‹Wohnen im Alter›? Mit Fotos lächelnder Seniorinnen und Senioren? RADAR ERKENNEN letzten Jahrhunderts mit der Errichtung von Alterssiedlungen hat einen anderen Weg gewählt. Wir haben das Pionierarbeit geleistet. Sie ermöglichte in den schwierigen Basler Illustrations- und Projektkollektiv Balsam beauftragt. Seit Oktober 2016 stellt das Netzwerk Nachkriegsjahren und danach mit ihren Alterssiedlungen im St. Johann jungen Illustratorinnen und Illus- tratoren temporäre Arbeitsplätze zur Verfügung gerade auch wenig begüterten älteren Menschen ein Leben und unterstützt sie bei Aufträgen und Auftritten. Eine von ihnen, Annina Burkhard, hat für diese in damals modernen Wohnungen zu moderaten Preisen. Ausgabe das Titelbild und die Porträts der sechs Menschen gezeichnet, die wir zum Leben und Seither haben sich die Ausgangslage und die Bedürfnisse Wohnen – heute und im Alter – befragt haben. www.balsam.cc von Seniorinnen und Senioren entscheidend verändert: Die Lebenserwartung ist markant gestiegen, der Umzug in eine Alterssiedlung erfolgt immer später. Somit haben das Durch- schnittsalter und die Verletzlichkeit der Bewohnerinnen und Bewohner stark zugenommen, ebenso die sozialen Anforde- rungen und die ökonomischen Auswirkungen. Die CMS hat erkannt, dass sie als Vermieterin für diese anspruchsvolle Aufgabe nicht mehr das zwingend nötige Know-how mitbringt. Deshalb hat sie sich entschieden, die Verantwortung und den Betrieb ihrer Alterssiedlungen einer Institution anzuvertrauen, die für diesen spezifischen Bereich über eine reiche Erfahrung verfügt und auch zertifiziert ist. Nicht irgendeiner Institution oder privaten auswärtigen Inves- toren, die im Altersbereich aufs schnelle Geld aus sind, son- dern: dem Bürgerspital Basel. Ein idealer Partner, weil es eine 3 Neuorientierung der CMS-Altersstrategie Institution der Bürgergemeinde ist und wie die CMS öffent- Gut bleiben, aber anders lich-rechtlich und eng verbunden mit der Stadt Basel. Wir sind uns bewusst, dass Neustrukturierungen auch 4 Alter ist nicht gleich Alter Erkenntnisse aus der Altersforschung Verunsicherungen auslösen können. Gerade bei den Bewoh- nerinnen und Bewohnern der CMS-Alterssiedlungen, denen 5 Gefragt: Radikales Umdenken wir uns als Liegenschaftsbesitzerin und Vertragspartnerin des Die neuen Alten ticken anders Bürgerspitals verpflichtet fühlen. Die CMS fädelt sich aus dem Engagement für die ältere Generation mit der Übergabe 6 Wie hätten wir’s denn gerne? 12 Fragen an 6 Menschen unserer Alterssiedlungen an das Bürgerspital im Übrigen auch aus 3 Generationen nicht aus. Ganz im Gegenteil. Wir werden uns im Förderbe- reich für neue Projekte im Altersbereich vor allem in wenig 12 Vom Land zurück in die Stadt Wohnräume und -träume einer privilegierten Quartieren einsetzen und bestehende Projekte grauen Pantherin noch gezielter auf spezifische Bedürfnisse der älteren Gene- ration hin ausrichten. 13 Jeder Mensch eine Autorin Dieses RADAR vermittelt Ihnen einen Überblick über For- Sein eigenes Buch schreiben mit der Edition Unik schungsresultate zum Thema ‹Leben und Wohnen im Alter›, lässt Expertinnen und Experten zu Wort kommen, individuelle 14 4seasons Stimmen – und hat sechs ganz unterschiedliche Menschen aus Saisongerecht kochen und erst noch Spass haben drei Generationen zu ihren Vorstellungen befragt. Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre! 15 Hundert Jahre Iglingerhof Einst fast eine visionäre Kleinstadt Dr. Lukas Faesch Präsident der Kommission der Christoph Merian Stiftung 16 Aktuelles aus der CMS Hasel und Hartriegel, junge Mütter und ihre Kinder 2
Strategie UNSER ENGAGEMENT Unter dem Titel ‹Wohnen mit Service› garantiert das Bürgerspital neu ein umfassenderes Betreuungs- angebot, als die CMS dies bisher anbieten konnte. FÜRS ALTER Neben den im Pensionspreis inbegriffenen Leistungen (wie zum Beispiel Sprechstunden, 24-Stunden-Notruf, Anlässe und vieles andere) können neu individuell à la carte zusätzliche, kostenpflichtige Leistungen des NICHT WENIGER, Bürgerspitals vor Ort und unkompliziert in Anspruch genommen werden (Coiffeur, Handwerker, Wäscherei, Schneiderei etc.). ABER ANDERS Die beiden schlecht erschlossenen und nicht alters- gerechten CMS-Alterssiedlungen auf dem Bruderholz (Friedrich Oser-Strasse und Albert Schweitzer-Strasse) werden nicht mehr als Alterssiedlungen weitergeführt. Die jetzigen Bewohnerinnen und Bewohner können, so lange sie wollen, dort wohnen bleiben – oder in eine andere Alterssiedlung umziehen. Frei werdende Woh- Die Alterssiedlungen der Christoph Merian und Bewohner mit einem Durchschnittsalter von 84 nungen in diesen beiden Siedlungen werden künftig vor Stiftung (CMS) waren einst Pionierprojekte. Jahren. Dies zwang die Stiftung zum Handeln, im allem auch an jüngere Interessenten vermietet – was ein Das ist lange her. Seither hat sich vieles betrieblichen wie im baulichen Bereich. Zum einen spannendes Zusammenwohnen von Jung und Alt wollte sie die Alterssiedlungen mit dem gemeinsam mit ermöglicht, das auch in den Interviews in diesem RADAR verändert: Das Durchschnittsalter der Be- der Age-Stiftung entwickelten Konzept ‹Avantage› von allen Generationen gewünscht wird (Seiten 6-11). wohnerinnen und Bewohner ist deutlich nach den Ansätzen der Gemeinwesenarbeit weiterent- Für eine Übergangsphase von zwei Jahren bietet höher. Die Anforderungen an die Betreuung wickeln, zum anderen realisierte sie mit einem alters- die CMS mit dem Bürgerspital überdies den Bewohnern älterer Menschen sind gestiegen. Und auch gerechten Neubau an der Wettsteinallee ein Vorzeige- der beiden Bruderholz-Siedlungen einen zusätzlichen die Vorstellungen und Bedürfnisse älterer projekt und unterzog in den Jahren 2013 bis 2014 die mobilen Service mit Sprechstunden, Tages- und Not- Menschen, wie sie leben und wohnen möch- Altersresidenz Dalbehof einer aufwendigen Sanierung. fallnummern und Mittagstischen an. Dieses attraktive ten, haben sich gewandelt. Die CMS hat den Zusatzangebot ist gleichzeitig ein möglicherweise Dringend nötige Standortbestimmung zukunftsweisendes Pilotprojekt: Wenn es erfolgreich ist Betrieb ihrer traditionellen Alterssiedlungen Der Bedarf älterer Menschen generell und einzelner und auch genutzt wird, prüft die CMS ein solches einer kompetenten, lokalen Partnerinstitu- Mieterinnen und Mieter der CMS-Siedlungen nach mehr Angebot auch für ihre anderen Liegenschaften. Eine tion übergeben: dem Bürgerspital Basel. (Zusatz-)Betreuung, mehr Service und auch Pflege interne Untersuchung bei einer CMS-Liegenschaft im Im Interesse vor allem der Bewohnerinnen stieg unterdessen kontinuierlich. Dies bewog die CMS Gellert hat beispielsweise ergeben, dass dort 38 Pro- und Bewohner. Ein Rückblick und Ausblick. 2017 zu einer Standortbestimmung. Sie beauftragte zent der Bewohnerinnen und Bewohner über 75 Jahre Roland Wormser, einen ausgewiesenen Alters- und alt sind. Da immer mehr ältere Menschen so lange wie Seit den 1950er-Jahren engagiert sich die CMS in Organisationsexperten, mit einer umfassenden Analyse möglich in ihrer angestammten Wohnung bleiben und Wohnprojekten für ältere Menschen. Sie leistete nach (siehe Seite 4). Diese zeigte klar auf, dass Zustand und nicht in ein Alters- und Pflegeheim wechseln möchten dem Krieg im Alterswohnungsbau sogar eigentliche Ausrichtung der CMS-Alterssiedlungen in der heutigen (vgl. die Beiträge in diesem RADAR), könnten solche Pionierarbeit. 1954 errichtete sie eine erste Alterssied- Form aktuellen und künftigen Anforderungen an Woh- mobilen CMS-Services für ältere Mieterinnen und Mieter lung an der Rheinfelderstrasse mit 95 Wohnungen für nen in (hohem) Alter nicht mehr genügten. Weder einem grossen Bedürfnis entsprechen. rund hundert Personen. Die Mietzinse waren moderat bezüglich Betreuung noch bezüglich Service und Pflege Die Übergabe der CMS-Alterssiedlungen an das und betrugen damals zwischen CHF 63.– und 68.– pro oder baulicher Ausstattung: Die CMS-Immobilien aus Bürgerspital Basel erfordert auch neue Verträge der Monat. Weitere Alterssiedlungen folgten: 1960 die den 1950er- bis 1980er-Jahren sind nicht durchgehend bisherigen Bewohnerschaft mit dem Bürgerspital, der Alterssiedlung Gellertfeld, 1966 die Alterssiedlung barrierefrei. Es fehlen zum Beispiel vereinzelt Lifte. neuen Betreiberin. Die neuen Pensionsverträge entspre- Albert Schweitzer-Strasse und 1981 schliesslich die Nasszellen und Küchen sind nicht überall altersgerecht. chen den hohen Schweizer und Basler Standards für Alterssiedlung Friedrich Oser-Strasse. Darüber hinaus Zudem liegen zwei der Siedlungen an schlecht erschlos- Alterssiedlungen mit Service, sind seit Jahren für solche übernahm die Stiftung den Betrieb der Alterssiedlung senen Orten auf dem Bruderholz – was im Widerspruch Wohnformen eigentlich üblich und bieten überdies Basler Dybli von der gleichnamigen Stiftung in Riehen steht zu den heutigen Vorstellungen von altersgerech- einen noch umfassenderen Kündigungsschutz als die und den Dalbehof von der Sevogel-Stiftung an der tem ‹Wohnen im Alter›: Mobilität und Einkaufen sind alten Verträge. Kapellenstrasse. für gehbehinderte Menschen schwierig bis unmöglich. Mit dem wachsenden Wohlstand stieg gleichzeitig Die Analyse hat zudem auch aufgezeigt, dass klassi- Es bleibt noch viel zu tun der individuelle Raumbedarf. Bereits in den 1980er- sche Alterssiedlungen ohne Pflegeangebote ausgedient Die CMS wird sich über die Kooperation mit dem Bürger- Jahren reagierte die Stiftung darauf und legte die klei- haben. spital hinaus weiter in anderen Bereichen für die Anliegen nen Einzimmerwohnungen (einst ohne Warmwasser) Was also tun? Mit einem historisch gewachsenen, der älteren Generation in der Stadt Basel engagieren. zu komfortableren Zweizimmerwohnungen zusammen. veralteten Modell weitermachen als auf diesem Gebiet Auch und gerade im Förderbereich. Die Abteilung So halbierte sich das Wohnungsangebot an der Rhein- nicht spezialisierte Förderstiftung? Nein. Die CMS hat Soziales hat 2016 eine umfassende Bedarfsanalyse felderstrasse und im Gellertfeld. Der Dalbehof sowie deshalb entschieden, ihre Alterssiedlungen nicht selber durchgeführt. Das Resultat: Viele sozial Benachteiligte, die Friedrich Oser-Strasse berücksichtigten bereits bei weiterzuführen, sondern einen kompetenten, verläss- finanziell schlecht gestellte und vereinsamte ältere der Erstellung das Bedürfnis nach mehr Wohnraum. lichen Partner zu suchen, der über eine hervorragende Personen, auch mit Migrationshintergrund, Menschen Danach geschah dreissig Jahre lang wenig bei den Fachkompetenz im Altersbereich verfügt. im hohen Alter, die sich auf Wohnungssuche begeben Alterssiedlungen, auch jenen der CMS. Veränderungen müssen, und pflegende Angehörige bräuchten eigentlich gab es hingegen im klassischen Altersheimbereich in Zukunftsweisende Kooperation viel mehr Unterstützung und Hilfe. Hier klaffen noch der Schweiz und auch in Basel: Weil ältere Menschen Mit dem Bürgerspital Basel hat sie ihn gefunden. Das immer gravierende Lücken im sozialen Netz, auch in in immer höherem Alter in ein Heim übersiedelten, Bürgerspital, eine Institution der Bürgergemeinde und Basel. Ein Thema sind auch neue Formen von Nachbar- begannen Altersheime zusätzlich Pflegeleistungen wie die CMS eine renommierte öffentlich-rechtliche schaftshilfe. In all diesen Bereichen wird die CMS sich anzubieten und wurden zu kombinierten Alters- und Basler Institution, hat eine fundierte Erfahrung im weiter engagiert einsetzen. Pflegeheimen. Die Alterssiedlungen der CMS funktio- Altersbereich. Es betreibt bereits sechs Alterszentren nierten dagegen weiterhin als Teil des regulären Vermie- und ist damit in Basel der grösste Anbieter. Die CMS Dr. Beat von Wartburg tungsgeschäfts. wird dem Bürgerspital per März 2019 den Betrieb von Direktor Christoph Merian Stiftung Ab 2010 begann sich abzuzeichnen, dass die Aus- vier ihrer sechs Alterssiedlungen übergeben (Basler stattung der CMS-Alterssiedlungen den aktuellen Dybli, Dalbehof, Gellertfeld, Wettsteinpark). Die Lie- Anforderungen der immer älteren Bewohnerinnen und genschaften selber bleiben im Besitz der CMS. Wo nötig, Bewohner zum Teil nicht mehr genügte: In den 276 werden von der CMS altersgerechte Umbauarbeiten Wohnungen lebten mittlerweile 300 Bewohnerinnen vorgenommen. 3
Forschung ALTER IST NICHT und Gegenstände. Bei einem Wechsel in ein Alters- oder Pflegeheim wollen Menschen deshalb oft nicht nur ‹Nützliches› mitnehmen, sondern das, was ihnen lebensgeschichtlich wichtig ist. GLEICH ALTER Die neuere Forschung bestätigt die lebensgeschichtliche Prägung der Wohnbedürfnisse eindrücklich. Die Altersforscherin Joëlle Zimmerli 2 hat nachgewiesen, dass unser Bild der heutigen älteren, pensionierten Generation noch immer stark vom traditionellen Gesellschaftsmodell der Vorkriegsgeneration mit den Jahrgängen 1915 bis 1942 bestimmt ist Die Vorstellung davon, wie wir im Alter (Sparsamkeit, Bescheidenheit und traditionelle Rollenbilder). Die heute über 75-Jährigen werden jedoch bei besserer Gesundheit älter, sie möchten leben und wohnen wollen, hat sich so lange wie möglich im privaten Zuhause wohnen und nicht in ein Alters- heim übersiedeln. Der Übertritt in ein Pflegeheim findet in dieser Gene- in den letzten Jahren grundlegend ration, verglichen mit früheren Generationen, deutlich später oder gar nicht mehr statt und beschränkt sich auf wenige, aber pflegeintensive verändert. Das hat nicht nur, aber Jahre (4. Alternsphase nach Höpflinger). Ihre Kinder wiederum, die heute 55- bis 75-jährigen Babyboomer (Jahrgänge 1943 bis 1963), sind mobiler, auch Konsequenzen für die Wohnungs- trennen sich häufiger vom Lebenspartner und wechseln auch ihr Wohn- umfeld häufiger. Für die Wohnungswirtschaft hat dies zur Folge, dass der wirtschaft und die Planung und Anteil alter Mieterinnen und Mieter aus beiden Generationen steigt und immer mehr alte Menschen zu Hause betreut werden möchten. Gestaltung von Wohnraum für ältere Diesen Trend bestätigt auch die vom Kanton Basel-Stadt regelmässig durchgeführte ‹Befragung 55plus›. In der letzten von 2015 3 gaben rund Generationen. Die CMS hat sich achtzig Prozent der Befragten an, dass sie im Alter sicher oder eher zu Hause bleiben möchten, eventuell mit Unterstützung etwa durch die bei der Neuausrichtung ihrer Alters- Spitex. Nur rund dreizehn Prozent konnten sich gut vorstellen, in eine Seniorenresidenz überzusiedeln. ‹Zu Hause bleiben› ist also ein zentrales siedlungen auf aktuellste Erkenntnisse Anliegen. Die unterschiedlichen Anforderungen der verschiedenen Alterns- gestützt. Eine Übersicht. gruppen an Wohnformen hat die im Altersbereich tätige Ökonomin Ruth Köppel 4 in einer richtungsweisenden Publikation von 2016 gebündelt. Sie definiert zwei Wohnmodelle der Zukunft: ‹Wohnen im Alter› ist zu einer Formel geworden, die so geläufig wie un- präzise ist. ‹Wohnen im Alter› umfasst vom selbstständigen Wohnen älterer Wohn-Typ A Menschen in ihrer angestammten Wohnung bis hin zur Vollbetreuung in Altersgerechte Wohnungen für frühzeitigen Einzug für die 1. und 2. Alterns- einem Pflegeheim die unterschiedlichsten Wohnformen. phase nach Höpflinger. In solche barrierefreien Wohnungen an möglichst Denn Alter ist nicht gleich Alter. Die Grenze beim AHV-Alter um das zentraler und gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln erschlossener Wohn- 65. Lebensjahr anzusetzen ist wenig hilfreich, weil Alternsprozesse viel- lage ziehen meist Paare, weil ihnen zum Beispiel ihre bisherige Wohnung fältig und mehrdimensional sind. Der bekannte Altersforscher François zu gross oder zu teuer geworden ist oder weil sie das Einfamilienhaus den Höpflinger 1 hat vor mehr als zwanzig Jahren eine Einteilung verschiedener Kindern übergeben wollen. Der Wohnungsmix umfasst 2½- bis 4½-Zim- Alternsphasen vorgenommen, die unter Fachleuten noch heute anerkannt mer-Wohnungen; wichtig ist die Möglichkeit, Parkplätze zu mieten. Wer und auch für die Abklärung der Lebens- und Wohnbedürfnisse älterer einzieht, bleibt lange. Bei günstigen Mietzinsen kann es Jahre dauern, bis Menschen nützlich ist: Interessierte oben auf der langen Warteliste angekommen sind. Die Bewohnerinnen und Bewohner brauchen weder Notruf noch Serviceleis- 1. Alternsphase tungen und sind deshalb erst bereit, für diese zu zahlen, wenn sie sie auch Noch Erwerbstätige (50+) beginnen sich mit dem Übergang in die nach- beanspruchen. berufliche Phase zu beschäftigen. Viele überprüfen ihre Wohnsituation. Wohn-Typ B 2. Alternsphase Betreute Wohnungen für späten Einzug für die Alternsphase 3 nach Höpf- Menschen im gesunden Rentenalter (65+) erleben heute dank moderner linger. Hier ziehen Hochbetagte (80 Jahre alt und älter) erst ein, wenn Medizin und gesunder, aktiver Lebensführung eine lange Phase behinde- sie die gebotenen Leistungen inkl. Pflege auch wirklich benötigen. Die rungsfreier Lebensjahre, oft für zwanzig Jahre und länger. Dank der Betreuungspauschale beträgt oft mehrere hundert Franken monatlich. heutigen Altersvorsorge können sie diese Phase oft autonom gestalten. Der Anteil der Alleinstehenden ist hoch. Der Wohnungsmix besteht aus kleineren Wohnungen (oft 1½-Zimmer- bis höchstens 3½-Zimmer-Woh- 3. Alternsphase nungen). Die Aufenthaltsdauer ist kürzer, und Wohnungen werden schnel- Verstärkte Fragilisierung. Gesundheitliche Beschwerden und funktionale ler frei. Parkplätze sind nur vereinzelt gefragt. Einschränkungen (Hören, Sehen, Gehen) können ein selbstständiges Leben erschweren oder verunmöglichen. Ein geeignetes Wohnumfeld ist Die Forschungsergebnisse und Analysen zeigen auf, dass es neue Wohn- jetzt wichtig – und oft auch Hilfe im Alltag (Putzen, Einkaufen). modelle, Wohnformen und Wohnangebote für die ältere Generation braucht. Hier ist die Wohnwirtschaft gefordert – aber auch Stiftungen 4. Alternsphase wie die CMS, welche die Herausforderung angenommen hat und ihre Pflegebedürftigkeit. Mehr als ein Drittel der über 85-Jährigen in der Alterssiedlungen nach neuesten Erkenntnissen in Kooperation mit dem Schweiz ist pflegebedürftig. Über vierzig Prozent von ihnen sind an De- Bürgerspital Basel neu ausrichtet. ROLAND WORMSER menz erkrankt. Wohnen sie noch zu Hause, benötigen sie meist tägliche Roland Wormser ist Partner bei H Focus AG, einem pri- Betreuung und Pflege durch Angehörige oder professionelle ambulante Dr. Roland Wormser vaten Kompetenz- und Beratungszentrum im Gesund- Dienste, oder sie sind in einem Alters- und Pflegeheim. heitswesen. Seit über zwanzig Jahren berät er Organi- sationen in der Strategie- und Organisationsentwicklung mit Schwerpunkt im Altersbereich. Elf Jahre lang war Wohnbedürfnisse und gewünschte Wohnformen sind weiter abhängig er Verwaltungsratspräsident eines Alterszentrums. Die vom Bildungshintergrund und den Einkommens- und Wohneigentums- CMS hat er bei der Strategieentwicklung für ihre Alters- verhältnissen. Auch regionale Faktoren spielen eine grosse Rolle, zum siedlungen unterstützt. Beispiel ob jemand in einer städtischen oder ländlichen Umgebung lebt. Wohnbedürfnisse und Wohnästhetik sind schliesslich von der indivi- duellen Lebensgeschichte geprägt. Jeder ältere Mensch trägt Spuren 1 F rançois Höpflinger/Joris Van Wezemael (Hg.): Age Report III, Wohnen in höherem Lebensalter. Grundlagen und Trends. Zürich/Genf 2014. 2 Joëlle Zimmerli: Wohnbedürfnisse und Wohnmobilität im Alter – heute und in Zukunft. Studie im Auftrag des Amts für Raumentwicklung Kanton Zürich. Zürich 2012, früherer Zeiten in sich. Die eigene Wohnung ist für sie oder ihn weit mehr online: http://www.zimraum.ch/studien/wohnbeduerfnisse-und-wohnmobilitaet-im-alter-heute-und-in-zukunft 3 Online: http://www.statistik.bs.ch/befragungen/kantonal/befragung-55plus.html 4 Ruth Köppel: Was Betagte sich wünschen. In: Age-Stiftung (Hg.): Age Dossier 2016. Betreute Wohnungen mit Heimvorteil. Zürich 2016, S. 5–10, als nur ein ‹Wohnraum›, sie ist vielmehr ein Ort persönlicher Erinnerungen online: https://www.age-stiftung.ch/fileadmin/user_upload/Publikationen/Age_Dossier/Age_Dossier_2016.pdf (alle abgerufen am: 08.11.2018). 4
Expertin «HÖCHSTE ZEIT, DASS WIR HANDELN!» Wer heute pensioniert wird, wird älter und bleibt länger jung scy als alle Generationen vor uns. Das erfordert ein radikales Umdenken der künftigen Lebens- und Wohnformen von Seniorinnen und Senioren. Anna Ravizza ist interimistische Leiterin der Abteilung ‹Wohnen im Alter› der CMS. RADAR hat mit ihr über Irrtümer, die neuen Herausforderungen und Chancen gesprochen. Und über brachliegende Ressourcen. Die Gerontologin, Human-Resources-Managerin und Unternehmensberaterin Nachbarschaftshilfe zum Beispiel, auch für die Betreuung von noch älteren Anna Ravizza ist seit Januar 2018 interimistische Leiterin des Bereichs ‹Wohnen im Menschen. Wer keine Betreuungsaufgaben übernehmen will, kann sich ja rein orga- Alter› der CMS. Die passionierte Golferin wohnt am Murtensee und pendelt von nisatorisch betätigen. Etwa generell bei der Freiwilligenarbeit auch auf anderen ihrem Wohnort seither dreimal in der Woche nach Basel, wo sie die innovative Gebieten. Oder sich politisch engagieren! Der Anteil der über 65-Jährigen Neuausrichtung der CMS-Alterssiedlungen mitkonzipiert hat und begleitet. Die in der Politik ist gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil viel zu klein.» Die erfahrene Beschäftigung mit Altersfragen ist für sie zu einer Herzensangelegenheit geworden. Altersexpertin: «Da sind vor allem die Gemeinden und die Quartiere gefordert. Und das kam so: Jemand muss den Lead haben, Ideen entwickeln und den Anstoss geben. Nicht von Anna Ravizza hat sich 2005 beim Uhrenunternehmen Rolex in Biel als eine der oben herab etwas verordnen, sondern unkompliziert Vernetzungen ermöglichen.» ersten Personaldirektorinnen systematisch um die Lebensplanung der Mitarbei- Für die ‹neuen Alten› sei vor allem auch eine ganz neue Wohnraumplanung tenden auch über die Pensionierung hinaus gekümmert. Weil sie der Überzeugung und -politik nötig, ist Ravizza überzeugt. Für ältere Menschen, die sich gegen einen war, dass ein Unternehmen gerade auch gegenüber langjährigen Mitarbeitenden Umzug in eine Altersresidenz entscheiden und so lange wie möglich selbstständig eine Verantwortung trage. Sie hat bei Rolex das Projekt ‹58plus› initiiert und Mit- wohnen wollten, seien die heutigen Wohnungsangebote ungenügend. Es mangle an arbeitende ab 58 mit fünf Weiterbildungstagen pro Jahr auf die Pensionierung zentral gelegenen und mit öV gut erreichbaren, nicht zu teuren Zwei- bis höchstens vorbereitet. Ist so etwas denn überhaupt nötig? «O ja», sagt Ravizza. «Aus dem 3½-Zimmer-Wohnungen (für Ehepaare) mit Lift, Internet, schwellenlosem Zugang Arbeitsprozess austreten, noch fit sein, aber plötzlich nicht mehr ‹gebraucht› oder auch zu und in den Nasszellen und der Möglichkeit, je nach individuellem Bedarf wahrgenommen werden: Da kommt oft die grosse Leere. Das kann depressiv Dienstleistungen à la carte beziehen zu können: Essen, Reinigung, Putzdienst, machen oder zu Suchtproblemen führen. Wie und wo möchte man in den nächsten Spitex. Zumal mobile Angebote weniger Kosten verursachten. Auf jeden Fall keine zwanzig, dreissig Jahren leben und wohnen, was tun mit all der Freizeit? Sich erst Alters-Ghettos, sondern idealerweise eine durchmischte Mietklientel. mit 65 mit diesen Fragen auseinanderzusetzen ist viel zu spät.» Gemischte Wohnmodelle mit Jung und Alt: tönt wunderbar. Aber was, wenn Die Erfahrungen mit ‹58plus› und die Gespräche mit Mitarbeitenden waren die Partys der Hipster die Älteren stören, wenn Babys nachts durchschreien und für Ravizza ein persönliches Aha-Erlebnis. Das Thema hat sie gepackt und ihr die Pingeligkeit der Älteren die Jüngeren nervt? Ravizza: «Unabdingbar ist bei Interesse an Altersfragen erst recht geweckt. Sie hat sich in Gerontologie weiter- gemischten Wohnmodellen, dass Alte und Junge Räume haben, in denen sie sich gebildet und in Biel eine neue Altersresidenz aufgebaut und geführt, die ganz untereinander austauschen können. Es muss eine kontinuierliche Kommunikation anders war als bisherige ‹Heime›. Kein isoliertes, beschauliches, blüemletes Trögli sichergestellt sein. Das trägt zum Verständnis bei. Warum nicht in solchen neuen am Waldrand weit weg vom Schuss, sondern das pure Gegenteil: modern, mitten Wohnmodellen institutionell eine Mediatorin oder einen Mediator anstellen, die in der Stadt, mit öV gut erreichbar, mit einem Mix von Wohnungen und Einzelzim- bei Konflikten gezielt vermitteln und eine gute Kommunikation ermöglichen? Das mern im Pflegebereich, zwei Restaurants, Seminarräumen mit viel Publikumsver- kommt allen zugute und wäre eine gute Investition.» Liegenschaftsbesitzer, -ver- kehr, integriertem Fitness-Center, einer Kita, einem stufenlosen Pflegeangebot mieter und Immobiliengesellschaften hätten das grosse Potenzial neuer, von Null bis Intensivpflege und einzeln buchbaren Serviceleistungen. Ravizza: «Die zukunftsgerichteter Wohnmodelle leider noch immer nicht erkannt. Gerade ältere ‹bescheidene› und ‹dankbare› Nachkriegsgeneration, die sich an den Waldrand Mieterinnen und Mieter seien langjährige, treue Mieter. Zögen nicht alle zwei Jahre ausgrenzen liess, stirbt weg. Die nachrückenden Seniorinnen und Senioren bleiben aus wie jüngere, was Hausbesitzern auch viele Umtriebe erspare. «Die Herausfor- länger jung, sind autonomer, selbstbewusster und wollen weder bemuttert noch derung ist: Wir müssen auch bei der ANNA RAVIZZA ‹parkiert› werden.» Planung von Wohnraum immer zwan- Die 65-jährige Anna Ravizza begann ihre Berufskar- Klar, nicht alle älteren Menschen würden sich für einen Umzug in eine Alters- zig Jahre vorausdenken, entsprechend riere in jungen Jahren als Fernmeldesekretärin bei residenz entscheiden, auch nicht in eine moderne. Die meisten wollten so lange bauen und renovieren. Wir leben in den ehemaligen PTT. Danach hat sie sich umfassend wie möglich selbstständig zu Hause wohnen. Aber egal, ob jüngere oder ältere unserer Gesellschaft zum ersten Mal weitergebildet: Wirtschaftsdiplom, Personalma- Seniorinnen, ob zu Hause oder in Altersresidenzen: «Man will Teil der Gesellschaft mit vier bis fünf Generationen zusam- nagement, General-Management, Master in Human Resources, dipl. Heimleiterin, dipl. Gerontologin, bleiben, wahrgenommen werden! Unter Menschen sein, weiterhin eine Rolle spie- men. Das ist eine völlig andere Aus- CAS-Weiterbildungen im Gesundheitswesen und im len und aktiv mitgestalten. Das grosse Potenzial der Menschen über 65 wird heute gangslage als noch bis vor Kurzem. Management. Sie war Personalchefin bei diversen noch viel zu wenig erkannt. Wer pensioniert wird, verschwindet heute oft vom Höchste Zeit, dass wir handeln.» Grossunternehmen (u.a. Bernmobil und Rolex) und gesellschaftlichen Radar. Das ist schlecht für die Betroffenen und schlecht für Direktorin verschiedener Alterszentren. Seit Januar unsere Gesellschaft.» 2018 ist sie interimistische Leiterin ‹Wohnen im Alter› der CMS. Nach der Neupositionierung der Wer heute 65 sei, sei so fit wie früher 55-Jährige, das belegten zahlreiche CMS-Alterssiedlungen wird sie ab Frühjahr 2019 zum Studien, sagt Ravizza. Die Generation Ü65 sei mobiler, sportlich häufig sehr aktiv Bürgerspital Basel wechseln, das die CMS-Alters- und gegenüber neuen Technologien im Übrigen entgegen allen Clichés sehr offen. siedlungen neu betreiben wird. Dort wird sie den «Fitte ältere Menschen könnten und müssten deshalb viel stärker für Gemein- Ausbau des neuen Geschäftsfelds ‹Wohnen mit schaftsaufgaben gewonnen werden. In beider Interesse. Für Engagements in der Service› begleiten. 5
Nachgefragt LEBEN UND WOHNEN HEUTE UND IM ALTER 12 FRAGEN AN 6 MENSCHEN AUS 3 GENERATIONEN ANITA TRAUB, 85 Schweizerin, pensionierte Buchhalterin, keine Kinder, lebt allein in der CMS-Alterssiedlung Gellertfeld 6
Nachgefragt scyRADAR hat sechs ganz unterschiedliche Menschen in Basel persönlich in Interviews befragt: zu existen- ziellen Fragen des Lebens, Zusammenlebens, sozialer Kontakte, Wohnens, Alterns, Sterbens – aber auch zu scheinbar Nebensächlichem wie Musikvorlieben und Lieblingsspeisen. Die beiden ältesten sind über achtzig Jahre alt und leben heute schon nicht mehr so, wie viele unserer überholten Alterskonzepte gegenwärtig noch funkti- onieren: mit Café complet und Schweizer Ländlern am AHMAD SCHECH MOHAMED, 18 kurdischer Syrer, Praktikant Fachmann Waldrand in einem Altersheim parkiert. Sie wollen wei- Betreuung in der Alterspflege, lebt mit Eltern und sechs Geschwistern im Gundeli terhin autonom leben und wünschen sich allenfalls punktuelle Unterstützung beim selbstständigen Leben und eine bessere Infrastruktur in ihren Wohnungen. Die beiden jüngsten Befragten sind noch keine zwanzig und gehen frühestens in 46 Jahren in Pension, ab 2064. Diese Generation wird gemäss demografischen Prog- nosen multikultureller sein und noch unterschiedlichere Biografien und Bedürfnisse haben als frühere. Nur ein Detail: Riz Casimir, Braten, klassische Musik oder Rock sind bei dieser Generation out. Angesagt sind hingegen Rap und internationale Küche, auch des Herkunfts- lands. Auch das wird, dereinst, die Rahmenbedingungen der künftigen Altersbetreuung mitbestimmen. Allen ist trotz aller Unterschiede etwas gemeinsam: Freunde, Familie und gute Kontakte zu einer möglichst gleichgesinnten, toleranten Nachbarschaft sind zen- tral für ihr Wohlbefinden. Alter ihres gewünschten Lebensumfelds: irrelevant. Gleichsam ein Plädoyer für gemischte Wohnformen. Sie alle verbindet zudem die Sorge, im Alter dement zu werden, Kinder und Familie zu belasten und die Kon- trolle über sich selbst zu verlieren. Deshalb ist auch der Freitod für einige ein Thema – als noch unbeantwortete Frage, mit grossen Zweifeln behaftet. Ahmad Schech Mohamed (18), Mira Rauscher (19), Emanuel Strässle (54), Silvia Gnech (54), Hans Lengs- feld (81) und Anita Traub (85) haben uns Antworten gegeben zu ihrem Alltag und existenziellen Lebensfra- gen. Wir geben sie hier kurz und pointiert wieder, in der Reihenfolge ihres Alters. 7
Nachgefragt WAS MUSS IHRE WOHNUNG UNBEDINGT HABEN, DAMIT SIE SICH WOHLFÜHLEN? SILVIA GNECH, 54 italienischschweizerische Doppelbürgerin, AHMAD Küche, Bad und zwei Zimmer. Am dipl. Therapeutin/Masseurin, lebt allein im liebsten würde ich in einem Dorf leben, das Klybeckquartier aber nicht zu weit weg von der Stadt liegen sollte. Lieber nicht in einem Appartement mit vielen Leuten, die aufeinander hässig sind und streiten. MIRA Unbedingt ein grosses, gemütliches Wohnzimmer mit einem grossen Sofa, in dem das gemeinschaftliche soziale Leben WAS WÜRDEN SIE IN stattfindet! Wichtig ist mir auch ein eigenes Zimmer, in das ich mich zurückziehen kann, IHREM LEBEN ÄNDERN, ganz für mich. Und ein kleiner Balkon. WENN SIE KÖNNTEN? EMANUEL Sie muss vor allem ruhig sein. Ich bin extrem geräuschempfindlich. Und sie AHMAD Ich wünschte, die Schule wäre nicht muss hell sein. Ich bin auf dem Land aufge- so schwierig. wachsen, lebe aber gerne in der Stadt. Ich WAS IST DAS WICHTIGSTE brauche beides: die Natur und die Anonymi- FÜR SIE IM LEBEN? MIRA Im Moment gar nichts! Ich bin sehr tät der Stadt. Ich liebe das Urbane. Ich habe zufrieden mit meinem bisherigen und heu- lange Zeit im Gotthelfquartier gewohnt. Das tigen Leben. war mir aber zu bürgerlich, zu wenig lebendig. AHMAD Meine Familie ist mir das Allerwich- tigste. EMANUEL Da ich keinen anderen Job SILVIA Licht und Sonne und einen Balkon! machen könnte, wäre es gut, wenn ich mit Sonst brauche ich keinen grossen Komfort. MIRA Die Menschen, die mir nahestehen. meiner künstlerischen Arbeit mehr Geld ver- Am wohlsten fühle ich mich in Altbauwoh- dienen würde. Dann könnte ich auch mehr nungen. EMANUEL Freiheit, Freiraum, freies Schaf- reisen: zum Beispiel nach Kalifornien, um fen. Auch deshalb bin ich Künstler. alte Freunde zu besuchen, bevor sie wegster- HANS Sie muss zentral in der Stadt liegen ben. Ich würde auch gerne mehr in der Natur und mit öV gut erreichbar sein, damit ich ins SILVIA Ein guter Freundeskreis, ein erfüllen- sein. Aber dafür fehlt mir momentan die Zeit. Kino, ins Theater, ins Konzert, in Museen und der Beruf und eine gesunde Lebensführung in die Lesegesellschaft gehen kann. Und sie mit guter Ernährung und genügend Schlaf. SILVIA Ich hätte meinen beruflichen Weg sollte einen Balkon haben. Und jetzt im Alter Und ein Ort, an dem ich mich zu Hause fühle vielleicht etwas früher gezielter einschlagen einen Lift. und mich auch mal zurückziehen kann. sollen. ANITA Eine schöne Küche, ein schönes Bad HANS Meine Familie. Wichtig sind mir auch: HANS Eigentlich nichts. Oder doch, etwas und einen Balkon, auf dem man Blumen Unabhängigkeit, Freiheit und Mobilität. ganz Praktisches: Ich hätte gerne einen Lift pflanzen kann. Die Wohnung muss zentral zu meiner Altbauwohnung im dritten Stock, gelegen sein – und es muss auch Grün drum ANITA Freunde und gutes Essen! Ein gemüt- in der ich seit fünfzehn Jahren wohne. rum haben. Wie die früher Alterssiedlungen liches Essen mit lieben Menschen ist für mich geplant haben weit weg vom Zentrum: etwas vom Schönsten. ANITA Ich würde wohl nicht mehr heiraten. furchtbar! 8
Nachgefragt EMANUEL STRÄSSLE, 54 Schweizer, Künstler, lebt mit der erwachsenen Tochter im Kleinbasel WEN HABEN SIE LIEBER ALS NACHBARN: GLEICHALTRIGE ODER WER KOCHT BEI IHNEN WELCHE MUSIK HÖREN GLEICHGESINNTE? ZU HAUSE – UND WAS SIE AM LIEBSTEN? AHMAD Ich wohne gerne mit jungen Men- ESSEN SIE AM LIEBSTEN? schen zusammen, aber auch mit alten. Ich AHMAD Songs vom amerikanischen Rapper habe alte Leute sehr gerne, weil sie so viele Whiz Kalifa, zum Beispiel ‹See you again›. spannende Geschichten erzählen. AHMAD Meine Mutter und meine älteste Aber natürlich auch kurdische und arabische Schwester kochen. Am liebsten mag ich Musik. Und Musik vom deutschen Rapper MIRA Nachbarn sollten tolerant sein, auch Mahshi mit gefüllten Weinblättern, Fleisch, Kurdo, der kurdisch-irakische Wurzeln hat. wenn man nicht viel mit ihnen zu tun hat. Reis, Kartoffeln, Auberginen und Tomaten. Wie alt sie sind, spielt für mich keine Rolle. MIRA Bands vor allem. Alles von Hip-Hop, MIRA Meine Mutter und mein Bruder kochen. Rap, Indie bis Ska und Reggae, ausser Charts EMANUEL Auf jeden Fall Gleichgesinnte. Ich Am liebsten mag ich Currys, asiatisch oder Musik. lebe in einem Haus, in dem auch andere indisch. Kunstschaffende und kulturell interessierte EMANUEL In meinen Jugendjahren gerne Menschen wohnen. Im Nebenhaus ist eine EMANUEL Ich koche gerne, für mich alleine, Pink Floyd, die Stones, die Beatles und später Studenten-WG. Die machten früher öfters meine Tochter und auch für Freunde: Pasta, auch gerne deutschsprachige Liedermacher, bis zum frühen Morgen Partys auch unter Risotto, mediterrane Küche, viel Gemüse heute querbeet. Vor zwei Jahren habe ich der Woche. Ich reflektiere aber am besten und saisonales Obst. Ich esse seit ein paar Akkordeon zu spielen begonnen. Ich versu- frühmorgens und brauche mindestens sechs Jahren kein Fleisch mehr. Meine Tochter ist che Lieder zu spielen, die mich bewegen. So Stunden Schlaf. Da musste ich dann schon Veganerin, da musste ich mir in der Küche wollte ich unbedingt das Wiegenlied lernen, intervenieren, um meine Arbeit überhaupt etwas einfallen lassen. das ich für meine Tochter gesungen habe, noch tun zu können. ‹Bajuschki Baju›, ein wunderschönes russi- SILVIA Ich koche selbst für mich – und meine sches Wiegenlied. SILVIA Ganz klar: Gleichgesinnte. Mir ist Freunde. Am liebsten mag ich Braten mit wichtig, dass ich mich mit den Nachbarn Kartoffelstock und Rotkraut mit Marroni. SILVIA Ich gehöre zur Rock-Generation und gut verstehe, egal wie alt sie sind. mag Rock am liebsten, auch Punkrock und HANS Ich lebe allein und koche nur, wenn Hardrock. Die Rolling Stones sind meine HANS Mir sind Nachbarn wichtig, denen ich ich Besuch habe, zu Weihnachten zum Bei- Lieblinge. vertrauen kann. Das müssen nicht Men- spiel Rindsbraten für die Familie. Mittags schen aus dem gleichen Umfeld sein. Das gehe ich in die Kantine meines ehemaligen HANS Ich habe bis vor Kurzem noch Klavier Alter spielt keine Rolle. In unserem Haus Arbeitgebers, abends esse ich kalt. Am liebs- gespielt. Klassische Musik sagt mir am meis- wohnt eine Familie mit Kindern. Das finde ten? Italienisch vielleicht, Spaghetti Bolog- ten zu – das bürgerliche Repertoire eben. ich sehr schön. nese. Auch zum Beispiel Beatles oder Leonard Cohen. Ich höre aber wenig Musik – und nie ANITA Das Alter spielt für mich keine Rolle. ANITA Ich koche selber für mich, und das nebenbei. Wichtig ist mir, dass ich mich mit meinen sehr gerne. Jeden Tag mindestens einmal Nachbarn gut verstehe, dass sie ein gewisses warm mit allem Drum und Dran und schön ANITA Klavierkonzerte, zum Beispiel von Niveau haben – und dass ich mit ihnen gute präsentiert mit Stil. Am liebsten habe ich Riz Beethoven. Und dazwischen sehr gerne auch Gespräche führen kann! Ob 20 oder 100: egal. Casimir. Oder eine schöne Gemüsesuppe. Ländler. 9
Nachgefragt WENN SIE ALT UND MIRA RAUSCHER, 19 GEBRECHLICH SIND: Schweizerin, Biologiestudentin WELCHE UNTERSTÜTZUNG im ersten Semester, lebt mit der Familie im Gotthelfquartier ERWARTEN SIE VON IHREN KINDERN, FREUNDEN, VOM STAAT? AHMAD In unserer Kultur ist es selbstver- ständlich, dass sich die Familie um ältere Menschen kümmert. Bei uns geht niemand in ein Altersheim. Aber ich finde das schon ok hier, dass die Menschen im Altersheim sind. Wenn Bewohnerinnen und Bewohner WIE OFT TREFFEN SIE zum Beispiel dement sind und die Verwand- ten keine Zeit haben, muss sich ja jemand SICH MIT FAMILIE UND um sie kümmern. FREUNDEN? MIRA Wenn ich vielleicht mal Kinder habe, würde ich nicht von ihnen verlangen, dass AHMAD Ich wohne ja noch zu Hause und sie mich unterstützen oder pflegen. Ich sehe meine Familie immer. Richtige Freunde möchte diese Verpflichtung auch gegenüber habe ich hier keine. Ich meine richtige meinen Eltern nicht eingehen müssen. Dafür Freunde, die immer für dich da sind. Ein gibt es heute und wohl auch in Zukunft richtiger Freund ist mein Cousin, der im Menschen, die dafür ausgebildet und auch Kriegsgebiet in Syrien lebt. Aber nette Kolle- bezahlt werden. Vom Staat? Ich denke, ich gen habe ich schon, und die sehe ich auch werde mal genug verdienen, dass staatliche häufig. Zweimal pro Woche im Fussballtrai- Unterstützung nicht nötig sein wird. ning – und auch liebe Kollegen aus meiner ehemaligen Schule hier. EMANUEL Meiner Tochter möchte ich mög- lichst nichts aufbürden. Ich kann mir nicht MIRA Ich wohne noch zu Hause und sehe vorstellen, dass ich je in ein Altersheim meine Familie täglich. Auch meine Freundin- gehen würde. Generationenübergreifende nen und Freunde treffe ich jeden Tag. Entwe- Alters-Wohnprojekte finde ich zwar gut – der im Zusammenhang mit meinen Hobbys aber ich bin sozial nicht durchwegs kompa- Fasnacht und Volleyball – oder in der Stadt, tibel. Ich könnte mir Alternativen vorstellen, an Partys, Konzerten und Festivals. Das wird, WEN BITTEN SIE UM HILFE, etwa in ein Kloster zu gehen. je nach Belastung im Studium, sicher abneh- WENN SIE EINE SCHWERE men in Zukunft. SILVIA Kinder habe ich keine. Ich möchte GRIPPE HABEN? mal in eine Alters-WG ziehen, sodass man EMANUEL Meine Tochter sehe ich natürlich sich gegenseitig helfen kann: Der eine kann regelmässig. Mittags esse ich oft mit meinen vielleicht nicht mehr gut laufen, die andere Künstlerkolleginnen und -kollegen und koche AHMAD Meine Familie natürlich, meine Mut- sieht vielleicht nicht mehr gut. Vielleicht auch gerne für Freunde. Zwei meiner Ge- ter vor allem. ziehe ich auch mit meiner Schwester zusam- schwister leben in der Region, die treffe ich men. Vom Staat? Ich habe immer geschaut, regelmässig. MIRA Meine Familie, mit der ich zusammen- dass ich gut versichert bin und mein Leben wohne und die mich umsorgt. möglichst selbst bestreiten kann. SILVIA Ich gehe jede Woche meine betagten Eltern besuchen, und am Freitag und Sams- EMANUEL Ich kann es mir kaum leisten, HANS Meine Kinder haben ihre eigenen tag gehe ich immer mit Freunden in den krank zu werden, und bin es zum Glück auch Familien und sind beruflich sehr gefordert. Ausgang. Ich tanze sehr gerne! selten. Ich versuche darum zu meinem Kör- Und solche Freunde habe ich nicht, von per zu schauen. Im Notfall würde ich auch denen ich Unterstützung oder Hilfe erwar- HANS Rund einmal pro Woche besuche ich Freunde oder Leute im Haus um Hilfe bitten. ten würde. Ich werde wohl mal auf Spitex eines meiner vier Kinder und deren Familien und Essen auf Rädern zurückgreifen. Im in Zürich und Basel. Dazwischen verabrede SILVIA Vor ein paar Jahren hätte ich noch Moment hätte ich sehr gerne Unterstützung ich mich auch mit Freunden, zum Wandern meine Mutter gefragt, aber sie ist mit ihren bei der Wohnungssuche, denn ich muss zum Beispiel. Und ich besuche regelmässig 82 Jahren jetzt zu alt und braucht selber wegen der Treppen wohl in absehbarer Zeit meine Freundin, die in Deutschland lebt. Hilfe. Ich habe einen guten Freundeskreis, raus aus meiner Wohnung. Es fehlt mir aber da hilft man sich gegenseitig. an Energie dafür. ANITA Meinen Bruder und meine Schwäge- rin treffe ich regelmässig oder telefoniere mit HANS Meine Ex-Frau, die mir eine vertraute ANITA Ich habe keine Kinder. Wenn es mir ihnen. Und ebenso oft meine Freundinnen Freundin geblieben ist. wirklich schlecht geht, dann höre ich einfach und Freunde. Mit den Kindern meiner ehe- auf zu essen und zu trinken. Dann werde ich maligen Pflegekinder fahre ich manchmal ANITA Für Kleinigkeiten frage ich meine schwach und schlafe nur noch. Die Neben- mit meinem elektrischen Rollstuhl aus. Die Nachbarinnen. Wenn es etwas Ernsteres ist: wirkungen überwacht mein Hausarzt, zu steigen dann auf den Rollstuhl auf und fah- meinen Bruder und meine Schwägerin oder dem ich grosses Vertrauen habe – und er wird ren mit – und wir finden das alle sehr lustig! meine Nichten und Neffen. die entsprechenden Massnahmen treffen. 10
Nachgefragt HANS LENGSFELD, 81 Deutscher, pensionierter Mitarbeiter eines grossen Basler Pharmaunternehmens, lebt allein in der Innenstadt, vier erwachsene Kinder und sieben Grosskinder WORAN DENKEN SIE, WENN SIE AN IHRE LETZTE LEBENSPHASE DENKEN – UND WAS MACHT IHNEN WIE GUT KOMMEN SIE KLAR DABEI AM MEISTEN SORGEN? MIT IHREM HEUTIGEN EINKOMMEN? REICHT ES FÜR AHMAD Vor Schmerzen habe ich Angst. HEUTE UND AUCH MORGEN? Oder dass ich dement werde und dann viel- leicht unhöflich werde und Menschen ver- letze. AHMAD Ich verdiene ein bisschen und gebe zu Hause etwas ab. Aber ich werde sicher MIRA Wenn ich mal dement und sehr krank mal einen guten Job haben als Krankenpfle- werden sollte, würde ich nicht weiterleben ger und werde dann hoffentlich genug ver- wollen. Dann käme für mich Sterbehilfe dienen. schon infrage. WIE ALT MÖCHTEN MIRA Ich habe eben mein Studium begon- EMANUEL Dass ich nicht genügend aufge- SIE WERDEN? nen und rechne damit, dass ich einmal einen räumt habe und dass meine Tochter meine gut qualifizierten und bezahlten Job haben Wohnung oder mein Atelier räumen müsste. werde, der mir Freude macht und mich auch Vielleicht gehe ich, wenn es nicht mehr geht, AHMAD 150! Ich möchte in die Zukunft im Alter gut abstützt. Im Moment jobbe ich in den Wald und lebe in der Natur und mit sehen können und wissen, wie das dann und verdiene mir einen Zustupf zu meinem Tieren und sterbe dann dort einen natürli- sein wird. Ob es dann immer noch Kriege Studium. chen Tod. Vorstellbar ist für mich auch ein gibt und die Menschen sich um Öl streiten. Freitod. Das Leben selbst zu beenden ist Ich hoffe, es wird dann nur noch ein Land EMANUEL Eigentlich reicht es heute schon meiner Meinung nach ein Grundrecht. Ich geben, nämlich das Land Erde – und nicht so nicht. Deshalb mache ich mir manchmal hoffe und denke, dass meine Tochter diese viele Länder, die sich bekriegen. grosse Sorgen, wie das wird, wenn meine Entscheidung akzeptieren würde. körperlichen Kräfte weiter schwinden. Aber MIRA Ich möchte so alt werden, dass ich irgendwie ging es ja immer. Ich hoffe natür- SILVIA Ich hoffe, dass ich möglichst lange mich noch gesund und fit fühle und das lich immer wieder, dass ich auch Kunstob- gesund bleibe, beschwerdefrei gehen kann Leben noch geniessen kann. jekte verkaufen kann. und nicht blind werde. EMANUEL Ich habe mit der Instanz ‹oben› SILVIA Ich lebe bescheiden und halte mich HANS Die Unplanbarkeit des Alters be- mal 86 abgemacht. Wenn ich aber schon an mein Budget. Wenn etwas mehr in der schäftigt mich. Und dass ich meine geistige früher nicht mehr frei sein kann, möchte ich Kasse ist, reserviere ich das für schlechtere Autonomie verlieren könnte und dement nicht auf dieser Zahl beharren. Natürlich Zeiten. werde. Ich bin unentschlossen: Exit ist für hoffe ich, dass ich die Zeichen der Zeit früh- mich ein Thema, wenn es so weit ist. Ande- zeitig erkennen und danach handeln kann. HANS Ich habe mehr als dreissig Jahre lang rerseits war es für mich sehr wichtig, das bei einem der grossen Basler Pharmaunter- natürliche Lebensende meiner Grosseltern SILVIA Hundert Jahre alt! Das wollte ich nehmen gearbeitet und habe eine gute Pen- und Eltern mitzuerleben. Um diese Erfahrung schon als Kind. sion und natürlich AHV. Es reicht – auch in möchte ich meine Kinder und Enkel eigent- Zukunft, hoffe ich. lich nicht bringen. HANS So alt, solange mein Verstand mich nicht im Stich lässt. ANITA Es reicht gut. Aber ich brauche auch ANITA Mir macht gar nichts Sorgen! Ich nicht viel. Meine Haare schneide ich mir zum weiss, was ich will – und ich kann mich auch ANITA Ich sagte früher: Ich will mal 124 Beispiel selber und spare so auch Geld für wehren. Und ins Spital lasse ich mich auch Jahre alt werden. Heute sage ich: Ich will den Coiffeur. Ich schnipple einfach ab, was nicht mehr einliefern. In letzter Zeit habe ich noch so lange leben, solange ich noch raussteht. Und sehe doch immer elegant aus das Vertrauen in diese Institutionen verloren. Freude am Leben habe. Sobald ich abhän- – nicht wahr? Dasselbe gilt für Pflegeheime. gig werde, will ich nicht mehr weiterleben. 11
Graue Panther «WIR SOLLTEN MÖGLICHST VIELEN DAS MÖGLICHE ERMÖGLICHEN» Die 75-jährige Elisabeth Nussbaumer Kinder ausgezogen waren, keinen zwingenden Grund dafür, sofort etwas an meiner Wohnsituation zu ändern. Es war für mich klar, ist Vizepräsidentin der ‹Grauen dass ich nicht irgendwo in der Stadt allein in einer Wohnung zusam- men mit wildfremden Menschen zusammenleben wollte. Panther Nordwestschweiz›, einer Wie aber eine Hausgemeinschaft neu aufbauen, wie ich sie während 35 Jahren erlebt hatte? Unkompliziert, tolerant, verbind- Lobby-Organisation für ältere lich und dennoch flexibel? Ich habe mich bei diversen Gruppierungen kundig gemacht, einmal bin ich sogar fast in ein Projekt in der Stadt Menschen in der Region. Für RADAR eingestiegen. Allerdings zeigte sich hier der Unterschied zwischen 30 und 65! Die Leichtigkeit, mit der wir uns als junge Familien mit ande- hat sie ihre persönlichen Wohner- ren, ähnlich ‹gestrickten› Leuten zusammengetan hatten, ist eben im höheren Alter nicht mehr vorhanden. Alle bringen unendlich viele fahrungen und -vorstellungen fest- Erfahrungen mit. Und alle wissen – viel besser als vor fünfzig Jahren –, was sie wollen oder vielmehr: nicht (mehr) wollen. Ich hatte dann gehalten. Und sie sagt auch: den Mut oder die Energie nicht, mich auf das Experiment einzulas- sen. Weil ich unsicher war, ob ich mich wohlfühlen würde – vielleicht Hört auf, nur in Alterskategorien auch, weil ich die andern zu kompliziert fand. Zudem wohnte ich nach wie vor sehr günstig in meinem viel zu grossen Haus, und es zu denken. bestand kein unmittelbarer Zwang, mich zu entscheiden. Ich habe dann den Schritt doch gewagt. Seit gut vier Jahren wohne ich jetzt tatsächlich in der Stadt. Durch Bekannte wurde ich auf eine Wohnung aufmerksam, die von der Lage, von den Räumlich- Wohnen im Alter: Zu diesem Thema werden zahlreiche Studien keiten und von den Mitbewohnern her eine so attraktive Alternative erstellt, veröffentlicht, diskutiert – in öffentlichen Foren, in der Polit- zu meinem Haus im Dorf bot, dass ich mich spontan begeistern landschaft, im Freundes- und Bekanntenkreis. Da frage ich mich liess. Ich hab’s bisher nie bereut. Ich habe den Rhein vor meinen manchmal schon: Gibt es eigentlich auch Studien zum Wohnen mit Fenstern, das Trämli in der Nähe, bin zu Fuss in fünf bis zehn Minu- 25, mit 40? Und wenn nein, warum nicht? Welchen Hintergrund hat ten fast überall in der Stadt, und die meisten meiner Freundinnen das Kümmern um die Wohnbedürfnisse der Alten – und was heisst und Freunde wohnen in erreichbarer Nähe. Auch für die Grosskinder denn eigentlich im Alter? bin ich in zehn Minuten erreichbar. Glück gehabt – einmal mehr! Wohnen war für mich immer ein ganz wichtiger Bestandteil Auch mein Bedürfnis nach unkomplizierter Nachbarschaft hat meiner Lebensqualität. Sich zu Hause wohlfühlen ist elementar für sich in Bezug auf Verlässlichkeit und Toleranz erfüllt. Bekannte fan- meine Befindlichkeit. Das hat einerseits mit dem Ort, mit der Lage, den zwar, mit siebzig solle man nicht in eine Wohnung ohne Lift mit der Architektur, mit der Umgebung zu tun – aber vor allem mit ziehen. Aber das tägliche Treppensteigen hält mich vorläufig noch den Menschen im nächsten Umfeld. fit. Ich hoffe, ich schaffe das mindestens noch fünf bis zehn Jahre Ich habe auch in jungen Jahren nie in einer WG gewohnt – ich lang – sonst ist dann halt wieder ein Wohnungswechsel fällig. brauche meine eigene Küche! Zu Beginn unserer Familienphase Wohnen im Alter – es ist mir klar, dass es da noch viele anderen haben wir in Reinach so gewohnt, dass rund um uns andere Familien Facetten gibt. Probleme mit der Vertreibung von langjährigen Mie- waren, mit denen zusammen wir Mittagstische, Spielgruppen, Baby- terinnen und Mietern aus der gewohnten Umgebung, unbezahlbare sitting etc. organisierten. Die Kontakte untereinander haben sich Mieten, Vereinsamung. Vieles ist in Bewegung, es gibt Projekte in bis heute erhalten, und wenn sich die damaligen Kleinkinder nach den Quartieren, die sich mit den Problemen auseinandersetzen. Es vierzig Jahren irgendwo treffen, tauschen sie Erinnerungen an gibt viele Ideen für neue Wohnprojekte und ‹altersgerechte› Über- damals aus. Später haben wir zusammen mit einer dieser Familien bauungen auch für generationenübergreifendes Wohnen. Bei einem ein altes Bauernhaus in einem Baselbieter Dorf gekauft und umge- Rundgang durch diverse Quartiere mit dem Schwerpunkt ‹Wie errei- baut. Auch dort war es wieder so, dass wir uns als Hausgemein- chen wir die unerreichbaren älteren Menschen?› ist mir allerdings schaft mit zunächst drei und später vier Familien den Alltag unseren aufgefallen, dass sich Herausforderungen für das Zusammenleben Bedürfnissen entsprechend geteilt haben. Familie und Beruf waren wohl nicht nur mit Konzepten vom Reissbrett lösen lassen. Nach- darum kein Problem. Es war garantiert, dass immer jemand zu barschaftshilfe kann man nicht verordnen. Dort, wo in Quartieren Hause war, wenn die Kinder von der Schule heimkamen, und dass bisher tatsächlich etwas geschah, waren es immer einzelne Men- unter der Woche abwechselnd gekocht wurde. Diese Möglichkeit von schen, die sich an ihrem Arbeitsort oder innerhalb einer Siedlung Gemeinsamkeit und gleichzeitiger Privatsphäre in der eigenen Woh- unkompliziert und gezielt um andere kümmerten und so sehr viel nung finde ich optimal. Abends nach der Arbeit spontan bei einem bewirken konnten. Glas Wein zusammensitzen, aber sich auch zurückziehen können, Es gibt nicht einfach ‹das Alter› und es gibt nicht ‹die Alten›. wenn einem danach ist, das ist für mich Wohnglück pur. Es gibt kein Universalrezept – denn es gibt unendlich viele Individuen Ich bin kein ‹Landkind›. Ich bin in einem Vorort von Basel auf- und wohl ebenso viele unterschiedliche Vorstellungen und Träume gewachsen, und es war für mich immer klar, dass ich – wenn ich denn in Bezug auf Leben und Wohnen. Wir sollten möglichst vielen das einmal älter sein würde – in die Stadt zurückkehren wollte. Ein Trämli Mögliche ermöglichen. vor dem Haus, zu Fuss auf den Markt, ins Kino oder ins Theater, alles Wesentliche in der Nähe, Freundinnen und Freunde, die spontan vor- Elisabeth Nussbaumer beikommen können. Vizepräsidentin ‹Graue Panther Nordwestschweiz› Lange habe ich mich vor allem theoretisch mit Zukunftspers- pektiven beschäftigt. Denn mein ‹Traumhaus› auf dem Land wollte mich nicht loslassen. Zudem gab es, auch nachdem Ehepartner und www.grauepanther.ch 12
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