Wie wohnen im Alter? Atelier Mondial - Das Magazin der Christoph Merian Stiftung - Nr. 6 Dezember 2018

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Wie wohnen im Alter? Atelier Mondial - Das Magazin der Christoph Merian Stiftung - Nr. 6 Dezember 2018
Das Magazin der Christoph Merian Stiftung

Wie wohnen
 im Alter?
Atelier Mondial
           Nr. 6 Dezember 2018
Wie wohnen im Alter? Atelier Mondial - Das Magazin der Christoph Merian Stiftung - Nr. 6 Dezember 2018
Editorial

DIE ZEICHEN   Die Christoph Merian Stiftung (CMS) engagiert sich seit Jahr-     Balsam
DER ZEIT      zehnten im Altersbereich und hat in den 50er-Jahren des           Wie illustriert man ‹Wohnen im Alter›? Mit Fotos
                                                                                lächelnder Seniorinnen und Senioren? RADAR
ERKENNEN      letzten Jahrhunderts mit der Errichtung von Alterssiedlungen      hat einen anderen Weg gewählt. Wir haben das

              Pionierarbeit geleistet. Sie ermöglichte in den schwierigen       Basler Illustrations- und Projektkollektiv Balsam
                                                                                beauftragt. Seit Oktober 2016 stellt das Netzwerk

              Nachkriegsjahren und danach mit ihren Alterssiedlungen            im St. Johann jungen Illustratorinnen und Illus-
                                                                                tratoren temporäre Arbeitsplätze zur Verfügung
              gerade auch wenig begüterten älteren Menschen ein Leben           und unterstützt sie bei Aufträgen und Auftritten.
                                                                                Eine von ihnen, Annina Burkhard, hat für diese
              in damals modernen Wohnungen zu moderaten Preisen.                Ausgabe das Titelbild und die Porträts der sechs
                                                                                Menschen gezeichnet, die wir zum Leben und
                 Seither haben sich die Ausgangslage und die Bedürfnisse        Wohnen – heute und im Alter – befragt haben.
                                                                                www.balsam.cc
              von Seniorinnen und Senioren entscheidend verändert: Die
              Lebenserwartung ist markant gestiegen, der Umzug in eine
              Alterssiedlung erfolgt immer später. Somit haben das Durch-
              schnittsalter und die Verletzlichkeit der Bewohnerinnen und
              Bewohner stark zugenommen, ebenso die sozialen Anforde-
              rungen und die ökonomischen Auswirkungen.
                 Die CMS hat erkannt, dass sie als Vermieterin für diese
              anspruchsvolle Aufgabe nicht mehr das zwingend nötige
              Know-how mitbringt. Deshalb hat sie sich entschieden, die
              Verantwortung und den Betrieb ihrer Alterssiedlungen einer
              Institution anzuvertrauen, die für diesen spezifischen Bereich
              über eine reiche Erfahrung verfügt und auch zertifiziert ist.
              Nicht irgendeiner Institution oder privaten auswärtigen Inves-
              toren, die im Altersbereich aufs schnelle Geld aus sind, son-
              dern: dem Bürgerspital Basel. Ein idealer Partner, weil es eine
                                                                                3 Neuorientierung der
                                                                                    CMS-Altersstrategie
              Institution der Bürgergemeinde ist und wie die CMS öffent-        Gut bleiben, aber anders

              lich-rechtlich und eng verbunden mit der Stadt Basel.
                 Wir sind uns bewusst, dass Neustrukturierungen auch            4 Alter ist nicht gleich Alter
                                                                                Erkenntnisse aus der Altersforschung
              Verunsicherungen auslösen können. Gerade bei den Bewoh-
              nerinnen und Bewohnern der CMS-Alterssiedlungen, denen
                                                                                5 Gefragt: Radikales Umdenken
              wir uns als Liegenschaftsbesitzerin und Vertragspartnerin des     Die neuen Alten ticken anders

              Bürgerspitals verpflichtet fühlen. Die CMS fädelt sich aus dem
              Engagement für die ältere Generation mit der Übergabe             6 Wie hätten wir’s denn gerne?
                                                                                12 Fragen an 6 Menschen
              unserer Alterssiedlungen an das Bürgerspital im Übrigen auch      aus 3 Generationen
              nicht aus. Ganz im Gegenteil. Wir werden uns im Förderbe-
              reich für neue Projekte im Altersbereich vor allem in wenig       12 Vom Land zurück in die Stadt
                                                                                Wohnräume und -träume einer
              privilegierten Quartieren einsetzen und bestehende Projekte
                                                                                grauen Pantherin
              noch gezielter auf spezifische Bedürfnisse der älteren Gene-
              ration hin ausrichten.                                            13 Jeder Mensch eine Autorin
                 Dieses RADAR vermittelt Ihnen einen Überblick über For-        Sein eigenes Buch schreiben mit
                                                                                der Edition Unik
              schungsresultate zum Thema ‹Leben und Wohnen im Alter›,
              lässt Expertinnen und Experten zu Wort kommen, individuelle
                                                                                14 4seasons
              Stimmen – und hat sechs ganz unterschiedliche Menschen aus        Saisongerecht kochen und erst
                                                                                noch Spass haben
              drei Generationen zu ihren Vorstellungen befragt.
                 Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre!
                                                                                15 Hundert Jahre Iglingerhof
                                                                                Einst fast eine visionäre Kleinstadt

              Dr. Lukas Faesch
              Präsident der Kommission der Christoph Merian Stiftung            16 Aktuelles aus der CMS
                                                                                Hasel und Hartriegel, junge Mütter
                                                                                und ihre Kinder

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Wie wohnen im Alter? Atelier Mondial - Das Magazin der Christoph Merian Stiftung - Nr. 6 Dezember 2018
Strategie

UNSER ENGAGEMENT
                                                                                                                       Unter dem Titel ‹Wohnen mit Service› garantiert das
                                                                                                                       Bürgerspital neu ein umfassenderes Betreuungs-
                                                                                                                       angebot, als die CMS dies bisher anbieten konnte.

FÜRS ALTER
                                                                                                                       Neben den im Pensionspreis inbegriffenen Leistungen
                                                                                                                       (wie zum Beispiel Sprechstunden, 24-Stunden-Notruf,
                                                                                                                       Anlässe und vieles andere) können neu individuell à la
                                                                                                                       carte zusätzliche, kostenpflichtige Leistungen des

NICHT WENIGER,                                                                                                         Bürgerspitals vor Ort und unkompliziert in Anspruch
                                                                                                                       genommen werden (Coiffeur, Handwerker, Wäscherei,
                                                                                                                       Schneiderei etc.).

ABER ANDERS                                                                                                                 Die beiden schlecht erschlossenen und nicht alters-
                                                                                                                       gerechten CMS-Alterssiedlungen auf dem Bruderholz
                                                                                                                       (Friedrich Oser-Strasse und Albert Schweitzer-Strasse)
                                                                                                                       werden nicht mehr als Alterssiedlungen weitergeführt.
                                                                                                                       Die jetzigen Bewohnerinnen und Bewohner können, so
                                                                                                                       lange sie wollen, dort wohnen bleiben – oder in eine
                                                                                                                       andere Alterssiedlung umziehen. Frei werdende Woh-
Die Alterssiedlungen der Christoph Merian                   und Bewohner mit einem Durchschnittsalter von 84           nungen in diesen beiden Siedlungen werden künftig vor
Stiftung (CMS) waren einst Pionierprojekte.                 Jahren. Dies zwang die Stiftung zum Handeln, im            allem auch an jüngere Interessenten vermietet – was ein
Das ist lange her. Seither hat sich vieles                  betrieblichen wie im baulichen Bereich. Zum einen          spannendes Zusammenwohnen von Jung und Alt
                                                            wollte sie die Alterssiedlungen mit dem gemeinsam mit      ermöglicht, das auch in den Interviews in diesem RADAR
verändert: Das Durchschnittsalter der Be-
                                                            der Age-Stiftung entwickelten Konzept ‹Avantage›           von allen Generationen gewünscht wird (Seiten 6-11).
wohnerinnen und Bewohner ist deutlich
                                                            nach den Ansätzen der Gemeinwesenarbeit weiterent-              Für eine Übergangsphase von zwei Jahren bietet
höher. Die Anforderungen an die Betreuung                   wickeln, zum anderen realisierte sie mit einem alters-     die CMS mit dem Bürgerspital überdies den Bewohnern
älterer Menschen sind gestiegen. Und auch                   gerechten Neubau an der Wettsteinallee ein Vorzeige-       der beiden Bruderholz-Siedlungen einen zusätzlichen
die Vorstellungen und Bedürfnisse älterer                   projekt und unterzog in den Jahren 2013 bis 2014 die       mobilen Service mit Sprechstunden, Tages- und Not-
Menschen, wie sie leben und wohnen möch-                    Altersresidenz Dalbehof einer aufwendigen Sanierung.       fallnummern und Mittagstischen an. Dieses attraktive
ten, haben sich gewandelt. Die CMS hat den                                                                             Zusatzangebot ist gleichzeitig ein möglicherweise
                                                            Dringend nötige Standortbestimmung                         zukunftsweisendes Pilotprojekt: Wenn es erfolgreich ist
Betrieb ihrer traditionellen Alterssiedlungen
                                                            Der Bedarf älterer Menschen generell und einzelner         und auch genutzt wird, prüft die CMS ein solches
einer kompetenten, lokalen Partnerinstitu-
                                                            Mieterinnen und Mieter der CMS-Siedlungen nach mehr        Angebot auch für ihre anderen Liegenschaften. Eine
tion übergeben: dem Bürgerspital Basel.                     (Zusatz-)Betreuung, mehr Service und auch Pflege           interne Untersuchung bei einer CMS-Liegenschaft im
Im Interesse vor allem der Bewohnerinnen                    stieg unterdessen kontinuierlich. Dies bewog die CMS       Gellert hat beispielsweise ergeben, dass dort 38 Pro-
und Bewohner. Ein Rückblick und Ausblick.                   2017 zu einer Standortbestimmung. Sie beauftragte          zent der Bewohnerinnen und Bewohner über 75 Jahre
                                                            Roland Wormser, einen ausgewiesenen Alters- und            alt sind. Da immer mehr ältere Menschen so lange wie
Seit den 1950er-Jahren engagiert sich die CMS in            Organisationsexperten, mit einer umfassenden Analyse       möglich in ihrer angestammten Wohnung bleiben und
Wohnprojekten für ältere Menschen. Sie leistete nach        (siehe Seite 4). Diese zeigte klar auf, dass Zustand und   nicht in ein Alters- und Pflegeheim wechseln möchten
dem Krieg im Alterswohnungsbau sogar eigentliche            Ausrichtung der CMS-Alterssiedlungen in der heutigen       (vgl. die Beiträge in diesem RADAR), könnten solche
Pionierarbeit. 1954 errichtete sie eine erste Alterssied-   Form aktuellen und künftigen Anforderungen an Woh-         mobilen CMS-Services für ältere Mieterinnen und Mieter
lung an der Rheinfelderstrasse mit 95 Wohnungen für         nen in (hohem) Alter nicht mehr genügten. Weder            einem grossen Bedürfnis entsprechen.
rund hundert Personen. Die Mietzinse waren moderat          bezüglich Betreuung noch bezüglich Service und Pflege           Die Übergabe der CMS-Alterssiedlungen an das
und betrugen damals zwischen CHF 63.– und 68.– pro          oder baulicher Ausstattung: Die CMS-Immobilien aus         Bürgerspital Basel erfordert auch neue Verträge der
Monat. Weitere Alterssiedlungen folgten: 1960 die           den 1950er- bis 1980er-Jahren sind nicht durchgehend       bisherigen Bewohnerschaft mit dem Bürgerspital, der
Alterssiedlung Gellertfeld, 1966 die Alterssiedlung         barrierefrei. Es fehlen zum Beispiel vereinzelt Lifte.     neuen Betreiberin. Die neuen Pensionsverträge entspre-
Albert Schweitzer-Strasse und 1981 schliesslich die         Nasszellen und Küchen sind nicht überall altersgerecht.    chen den hohen Schweizer und Basler Standards für
Alterssiedlung Friedrich Oser-Strasse. Darüber hinaus       Zudem liegen zwei der Siedlungen an schlecht erschlos-     Alterssiedlungen mit Service, sind seit Jahren für solche
übernahm die Stiftung den Betrieb der Alterssiedlung        senen Orten auf dem Bruderholz – was im Widerspruch        Wohnformen eigentlich üblich und bieten überdies
Basler Dybli von der gleichnamigen Stiftung in Riehen       steht zu den heutigen Vorstellungen von altersgerech-      einen noch umfassenderen Kündigungsschutz als die
und den Dalbehof von der Sevogel-Stiftung an der            tem ‹Wohnen im Alter›: Mobilität und Einkaufen sind        alten Verträge.
Kapellenstrasse.                                            für gehbehinderte Menschen schwierig bis unmöglich.
     Mit dem wachsenden Wohlstand stieg gleichzeitig        Die Analyse hat zudem auch aufgezeigt, dass klassi-        Es bleibt noch viel zu tun
der individuelle Raumbedarf. Bereits in den 1980er-         sche Alterssiedlungen ohne Pflegeangebote ausgedient       Die CMS wird sich über die Kooperation mit dem Bürger-
Jahren reagierte die Stiftung darauf und legte die klei-    haben.                                                     spital hinaus weiter in anderen Bereichen für die Anliegen
nen Einzimmerwohnungen (einst ohne Warmwasser)                   Was also tun? Mit einem historisch gewachsenen,       der älteren Generation in der Stadt Basel engagieren.
zu komfortableren Zweizimmerwohnungen zusammen.             veralteten Modell weitermachen als auf diesem Gebiet       Auch und gerade im Förderbereich. Die Abteilung
So halbierte sich das Wohnungsangebot an der Rhein-         nicht spezialisierte Förderstiftung? Nein. Die CMS hat     Soziales hat 2016 eine umfassende Bedarfsanalyse
felderstrasse und im Gellertfeld. Der Dalbehof sowie        deshalb entschieden, ihre Alterssiedlungen nicht selber    durchgeführt. Das Resultat: Viele sozial Benachteiligte,
die Friedrich Oser-Strasse berücksichtigten bereits bei     weiterzuführen, sondern einen kompetenten, verläss-        finanziell schlecht gestellte und vereinsamte ältere
der Erstellung das Bedürfnis nach mehr Wohnraum.            lichen Partner zu suchen, der über eine hervorragende      Personen, auch mit Migrationshintergrund, Menschen
     Danach geschah dreissig Jahre lang wenig bei den       Fachkompetenz im Altersbereich verfügt.                    im hohen Alter, die sich auf Wohnungssuche begeben
Alterssiedlungen, auch jenen der CMS. Veränderungen                                                                    müssen, und pflegende Angehörige bräuchten eigentlich
gab es hingegen im klassischen Altersheimbereich in         Zukunftsweisende Kooperation                               viel mehr Unterstützung und Hilfe. Hier klaffen noch
der Schweiz und auch in Basel: Weil ältere Menschen         Mit dem Bürgerspital Basel hat sie ihn gefunden. Das       immer gravierende Lücken im sozialen Netz, auch in
in immer höherem Alter in ein Heim übersiedelten,           Bürgerspital, eine Institution der Bürgergemeinde und      Basel. Ein Thema sind auch neue Formen von Nachbar-
begannen Altersheime zusätzlich Pflegeleistungen            wie die CMS eine renommierte öffentlich-rechtliche         schaftshilfe. In all diesen Bereichen wird die CMS sich
anzubieten und wurden zu kombinierten Alters- und           Basler Institution, hat eine fundierte Erfahrung im        weiter engagiert einsetzen.
Pflegeheimen. Die Alterssiedlungen der CMS funktio-         Altersbereich. Es betreibt bereits sechs Alterszentren
nierten dagegen weiterhin als Teil des regulären Vermie-    und ist damit in Basel der grösste Anbieter. Die CMS       Dr. Beat von Wartburg
tungsgeschäfts.                                             wird dem Bürgerspital per März 2019 den Betrieb von        Direktor Christoph Merian Stiftung
     Ab 2010 begann sich abzuzeichnen, dass die Aus-        vier ihrer sechs Alterssiedlungen übergeben (Basler
stattung der CMS-Alterssiedlungen den aktuellen             Dybli, Dalbehof, Gellertfeld, Wettsteinpark). Die Lie-
Anforderungen der immer älteren Bewohnerinnen und           genschaften selber bleiben im Besitz der CMS. Wo nötig,
Bewohner zum Teil nicht mehr genügte: In den 276            werden von der CMS altersgerechte Umbauarbeiten
Wohnungen lebten mittlerweile 300 Bewohnerinnen             vorgenommen.

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Wie wohnen im Alter? Atelier Mondial - Das Magazin der Christoph Merian Stiftung - Nr. 6 Dezember 2018
Forschung

ALTER IST NICHT
                                                                                     und Gegenstände. Bei einem Wechsel in ein Alters- oder Pflegeheim wollen
                                                                                     Menschen deshalb oft nicht nur ‹Nützliches› mitnehmen, sondern das, was
                                                                                     ihnen lebensgeschichtlich wichtig ist.

GLEICH ALTER
                                                                                          Die neuere Forschung bestätigt die lebensgeschichtliche Prägung
                                                                                     der Wohnbedürfnisse eindrücklich. Die Altersforscherin Joëlle Zimmerli 2
                                                                                     hat nachgewiesen, dass unser Bild der heutigen älteren, pensionierten
                                                                                     Generation noch immer stark vom traditionellen Gesellschaftsmodell
                                                                                     der Vorkriegsgeneration mit den Jahrgängen 1915 bis 1942 bestimmt ist
Die Vorstellung davon, wie wir im Alter                                              (Sparsamkeit, Bescheidenheit und traditionelle Rollenbilder). Die heute
                                                                                     über 75-Jährigen werden jedoch bei besserer Gesundheit älter, sie möchten
leben und wohnen wollen, hat sich                                                    so lange wie möglich im privaten Zuhause wohnen und nicht in ein Alters-
                                                                                     heim übersiedeln. Der Übertritt in ein Pflegeheim findet in dieser Gene-
in den letzten Jahren grundlegend                                                    ration, verglichen mit früheren Generationen, deutlich später oder gar
                                                                                     nicht mehr statt und beschränkt sich auf wenige, aber pflegeintensive
verändert. Das hat nicht nur, aber                                                   Jahre (4. Alternsphase nach Höpflinger). Ihre Kinder wiederum, die heute
                                                                                     55- bis 75-jährigen Babyboomer (Jahrgänge 1943 bis 1963), sind mobiler,
auch Konsequenzen für die Wohnungs-                                                  trennen sich häufiger vom Lebenspartner und wechseln auch ihr Wohn-
                                                                                     umfeld häufiger. Für die Wohnungswirtschaft hat dies zur Folge, dass der
wirtschaft und die Planung und                                                       Anteil alter Mieterinnen und Mieter aus beiden Generationen steigt und
                                                                                     immer mehr alte Menschen zu Hause betreut werden möchten.
Gestaltung von Wohnraum für ältere                                                        Diesen Trend bestätigt auch die vom Kanton Basel-Stadt regelmässig
                                                                                     durchgeführte ‹Befragung 55plus›. In der letzten von 2015 3 gaben rund
Generationen. Die CMS hat sich                                                       achtzig Prozent der Befragten an, dass sie im Alter sicher oder eher zu
                                                                                     Hause bleiben möchten, eventuell mit Unterstützung etwa durch die
bei der Neuausrichtung ihrer Alters-                                                 Spitex. Nur rund dreizehn Prozent konnten sich gut vorstellen, in eine
                                                                                     Seniorenresidenz überzusiedeln. ‹Zu Hause bleiben› ist also ein zentrales
siedlungen auf aktuellste Erkenntnisse                                               Anliegen.
                                                                                          Die unterschiedlichen Anforderungen der verschiedenen Alterns-
gestützt. Eine Übersicht.                                                            gruppen an Wohnformen hat die im Altersbereich tätige Ökonomin Ruth
                                                                                     Köppel 4 in einer richtungsweisenden Publikation von 2016 gebündelt. Sie
                                                                                     definiert zwei Wohnmodelle der Zukunft:
    ‹Wohnen im Alter› ist zu einer Formel geworden, die so geläufig wie un-
    präzise ist. ‹Wohnen im Alter› umfasst vom selbstständigen Wohnen älterer        Wohn-Typ A
    Menschen in ihrer angestammten Wohnung bis hin zur Vollbetreuung in              Altersgerechte Wohnungen für frühzeitigen Einzug für die 1. und 2. Alterns-
    einem Pflegeheim die unterschiedlichsten Wohnformen.                             phase nach Höpflinger. In solche barrierefreien Wohnungen an möglichst
         Denn Alter ist nicht gleich Alter. Die Grenze beim AHV-Alter um das         zentraler und gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln erschlossener Wohn-
    65. Lebensjahr anzusetzen ist wenig hilfreich, weil Alternsprozesse viel-        lage ziehen meist Paare, weil ihnen zum Beispiel ihre bisherige Wohnung
    fältig und mehrdimensional sind. Der bekannte Altersforscher François            zu gross oder zu teuer geworden ist oder weil sie das Einfamilienhaus den
    Höpflinger 1 hat vor mehr als zwanzig Jahren eine Einteilung verschiedener       Kindern übergeben wollen. Der Wohnungsmix umfasst 2½- bis 4½-Zim-
    Alternsphasen vorgenommen, die unter Fachleuten noch heute anerkannt             mer-Wohnungen; wichtig ist die Möglichkeit, Parkplätze zu mieten. Wer
    und auch für die Abklärung der Lebens- und Wohnbedürfnisse älterer               einzieht, bleibt lange. Bei günstigen Mietzinsen kann es Jahre dauern, bis
    Menschen nützlich ist:                                                           Interessierte oben auf der langen Warteliste angekommen sind. Die
                                                                                     Bewohnerinnen und Bewohner brauchen weder Notruf noch Serviceleis-
    1. Alternsphase                                                                  tungen und sind deshalb erst bereit, für diese zu zahlen, wenn sie sie auch
    Noch Erwerbstätige (50+) beginnen sich mit dem Übergang in die nach-             beanspruchen.
    berufliche Phase zu beschäftigen. Viele überprüfen ihre Wohnsituation.
                                                                                     Wohn-Typ B
    2. Alternsphase                                                                  Betreute Wohnungen für späten Einzug für die Alternsphase 3 nach Höpf-
    Menschen im gesunden Rentenalter (65+) erleben heute dank moderner               linger. Hier ziehen Hochbetagte (80 Jahre alt und älter) erst ein, wenn
    Medizin und gesunder, aktiver Lebensführung eine lange Phase behinde-            sie die gebotenen Leistungen inkl. Pflege auch wirklich benötigen. Die
    rungsfreier Lebensjahre, oft für zwanzig Jahre und länger. Dank der              Betreuungspauschale beträgt oft mehrere hundert Franken monatlich.
    heutigen Altersvorsorge können sie diese Phase oft autonom gestalten.            Der Anteil der Alleinstehenden ist hoch. Der Wohnungsmix besteht aus
                                                                                     kleineren Wohnungen (oft 1½-Zimmer- bis höchstens 3½-Zimmer-Woh-
    3. Alternsphase                                                                  nungen). Die Aufenthaltsdauer ist kürzer, und Wohnungen werden schnel-
    Verstärkte Fragilisierung. Gesundheitliche Beschwerden und funktionale           ler frei. Parkplätze sind nur vereinzelt gefragt.
    Einschränkungen (Hören, Sehen, Gehen) können ein selbstständiges
    Leben erschweren oder verunmöglichen. Ein geeignetes Wohnumfeld ist              Die Forschungsergebnisse und Analysen zeigen auf, dass es neue Wohn-
    jetzt wichtig – und oft auch Hilfe im Alltag (Putzen, Einkaufen).                modelle, Wohnformen und Wohnangebote für die ältere Generation
                                                                                     braucht. Hier ist die Wohnwirtschaft gefordert – aber auch Stiftungen
    4. Alternsphase                                                                  wie die CMS, welche die Herausforderung angenommen hat und ihre
    Pflegebedürftigkeit. Mehr als ein Drittel der über 85-Jährigen in der            Alterssiedlungen nach neuesten Erkenntnissen in Kooperation mit dem
    Schweiz ist pflegebedürftig. Über vierzig Prozent von ihnen sind an De-          Bürgerspital Basel neu ausrichtet.
                                                                                                                                                                  ROLAND WORMSER
    menz erkrankt. Wohnen sie noch zu Hause, benötigen sie meist tägliche                                                                                         Roland Wormser ist Partner bei H Focus AG, einem pri-
    Betreuung und Pflege durch Angehörige oder professionelle ambulante              Dr. Roland Wormser                                                           vaten Kompetenz- und Beratungszentrum im Gesund-
    Dienste, oder sie sind in einem Alters- und Pflegeheim.                                                                                                       heitswesen. Seit über zwanzig Jahren berät er Organi-
                                                                                                                                                                  sationen in der Strategie- und Organisationsentwicklung
                                                                                                                                                                  mit Schwerpunkt im Altersbereich. Elf Jahre lang war
    Wohnbedürfnisse und gewünschte Wohnformen sind weiter abhängig
                                                                                                                                                                  er Verwaltungsratspräsident eines Alterszentrums. Die
    vom Bildungshintergrund und den Einkommens- und Wohneigentums-
                                                                                                                                                                  CMS hat er bei der Strategieentwicklung für ihre Alters-
    verhältnissen. Auch regionale Faktoren spielen eine grosse Rolle, zum                                                                                         siedlungen unterstützt.
    Beispiel ob jemand in einer städtischen oder ländlichen Umgebung lebt.
         Wohnbedürfnisse und Wohnästhetik sind schliesslich von der indivi-
    duellen Lebensgeschichte geprägt. Jeder ältere Mensch trägt Spuren               1 F rançois Höpflinger/Joris Van Wezemael (Hg.): Age Report III, Wohnen in höherem Lebensalter. Grundlagen und Trends. Zürich/Genf 2014.
                                                                                     2 Joëlle Zimmerli: Wohnbedürfnisse und Wohnmobilität im Alter – heute und in Zukunft. Studie im Auftrag des Amts für Raumentwicklung Kanton Zürich. Zürich 2012,

    früherer Zeiten in sich. Die eigene Wohnung ist für sie oder ihn weit mehr          online: http://www.zimraum.ch/studien/wohnbeduerfnisse-und-wohnmobilitaet-im-alter-heute-und-in-zukunft
                                                                                     3 Online: http://www.statistik.bs.ch/befragungen/kantonal/befragung-55plus.html
                                                                                     4 Ruth Köppel: Was Betagte sich wünschen. In: Age-Stiftung (Hg.): Age Dossier 2016. Betreute Wohnungen mit Heimvorteil. Zürich 2016, S. 5–10,
    als nur ein ‹Wohnraum›, sie ist vielmehr ein Ort persönlicher Erinnerungen           online: https://www.age-stiftung.ch/fileadmin/user_upload/Publikationen/Age_Dossier/Age_Dossier_2016.pdf (alle abgerufen am: 08.11.2018).

                                                                                 4
Wie wohnen im Alter? Atelier Mondial - Das Magazin der Christoph Merian Stiftung - Nr. 6 Dezember 2018
Expertin

«HÖCHSTE ZEIT,
DASS WIR HANDELN!»
           Wer heute pensioniert wird, wird älter und bleibt länger jung
         scy

         als alle Generationen vor uns. Das erfordert ein radikales Umdenken
         der künftigen Lebens- und Wohnformen von Seniorinnen und
         Senioren. Anna Ravizza ist interimistische Leiterin der Abteilung
         ‹Wohnen im Alter› der CMS. RADAR hat mit ihr über Irrtümer,
         die neuen Herausforderungen und Chancen gesprochen. Und über
         brachliegende Ressourcen.

Die Gerontologin, Human-Resources-Managerin und Unternehmensberaterin                     Nachbarschaftshilfe zum Beispiel, auch für die Betreuung von noch älteren
Anna Ravizza ist seit Januar 2018 interimistische Leiterin des Bereichs ‹Wohnen im        Menschen. Wer keine Betreuungsaufgaben übernehmen will, kann sich ja rein orga-
Alter› der CMS. Die passionierte Golferin wohnt am Murtensee und pendelt von              nisatorisch betätigen. Etwa generell bei der Freiwilligenarbeit auch auf anderen
ihrem Wohnort seither dreimal in der Woche nach Basel, wo sie die innovative              Gebieten. Oder sich politisch engagieren! Der Anteil der über 65-Jährigen
Neuausrichtung der CMS-Alterssiedlungen mitkonzipiert hat und begleitet. Die              in der Politik ist gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil viel zu klein.» Die erfahrene
Beschäftigung mit Altersfragen ist für sie zu einer Herzensangelegenheit geworden.        Altersexpertin: «Da sind vor allem die Gemeinden und die Quartiere gefordert.
Und das kam so:                                                                           Jemand muss den Lead haben, Ideen entwickeln und den Anstoss geben. Nicht von
     Anna Ravizza hat sich 2005 beim Uhrenunternehmen Rolex in Biel als eine der          oben herab etwas verordnen, sondern unkompliziert Vernetzungen ermöglichen.»
ersten Personaldirektorinnen systematisch um die Lebensplanung der Mitarbei-                   Für die ‹neuen Alten› sei vor allem auch eine ganz neue Wohnraumplanung
tenden auch über die Pensionierung hinaus gekümmert. Weil sie der Überzeugung             und -politik nötig, ist Ravizza überzeugt. Für ältere Menschen, die sich gegen einen
war, dass ein Unternehmen gerade auch gegenüber langjährigen Mitarbeitenden               Umzug in eine Altersresidenz entscheiden und so lange wie möglich selbstständig
eine Verantwortung trage. Sie hat bei Rolex das Projekt ‹58plus› initiiert und Mit-       wohnen wollten, seien die heutigen Wohnungsangebote ungenügend. Es mangle an
arbeitende ab 58 mit fünf Weiterbildungstagen pro Jahr auf die Pensionierung              zentral gelegenen und mit öV gut erreichbaren, nicht zu teuren Zwei- bis höchstens
vorbereitet. Ist so etwas denn überhaupt nötig? «O ja», sagt Ravizza. «Aus dem            3½-Zimmer-Wohnungen (für Ehepaare) mit Lift, Internet, schwellenlosem Zugang
Arbeitsprozess austreten, noch fit sein, aber plötzlich nicht mehr ‹gebraucht› oder       auch zu und in den Nasszellen und der Möglichkeit, je nach individuellem Bedarf
wahrgenommen werden: Da kommt oft die grosse Leere. Das kann depressiv                    Dienstleistungen à la carte beziehen zu können: Essen, Reinigung, Putzdienst,
machen oder zu Suchtproblemen führen. Wie und wo möchte man in den nächsten               Spitex. Zumal mobile Angebote weniger Kosten verursachten. Auf jeden Fall keine
zwanzig, dreissig Jahren leben und wohnen, was tun mit all der Freizeit? Sich erst        Alters-Ghettos, sondern idealerweise eine durchmischte Mietklientel.
mit 65 mit diesen Fragen auseinanderzusetzen ist viel zu spät.»                                Gemischte Wohnmodelle mit Jung und Alt: tönt wunderbar. Aber was, wenn
     Die Erfahrungen mit ‹58plus› und die Gespräche mit Mitarbeitenden waren              die Partys der Hipster die Älteren stören, wenn Babys nachts durchschreien und
für Ravizza ein persönliches Aha-Erlebnis. Das Thema hat sie gepackt und ihr              die Pingeligkeit der Älteren die Jüngeren nervt? Ravizza: «Unabdingbar ist bei
Interesse an Altersfragen erst recht geweckt. Sie hat sich in Gerontologie weiter-        gemischten Wohnmodellen, dass Alte und Junge Räume haben, in denen sie sich
gebildet und in Biel eine neue Altersresidenz aufgebaut und geführt, die ganz             untereinander austauschen können. Es muss eine kontinuierliche Kommunikation
anders war als bisherige ‹Heime›. Kein isoliertes, beschauliches, blüemletes Trögli       sichergestellt sein. Das trägt zum Verständnis bei. Warum nicht in solchen neuen
am Waldrand weit weg vom Schuss, sondern das pure Gegenteil: modern, mitten               Wohnmodellen institutionell eine Mediatorin oder einen Mediator anstellen, die
in der Stadt, mit öV gut erreichbar, mit einem Mix von Wohnungen und Einzelzim-           bei Konflikten gezielt vermitteln und eine gute Kommunikation ermöglichen? Das
mern im Pflegebereich, zwei Restaurants, Seminarräumen mit viel Publikumsver-             kommt allen zugute und wäre eine gute Investition.» Liegenschaftsbesitzer, -ver-
kehr, integriertem Fitness-Center, einer Kita, einem stufenlosen Pflegeangebot            mieter und Immobiliengesellschaften hätten das grosse Potenzial neuer,
von Null bis Intensivpflege und einzeln buchbaren Serviceleistungen. Ravizza: «Die        zukunftsgerichteter Wohnmodelle leider noch immer nicht erkannt. Gerade ältere
‹bescheidene› und ‹dankbare› Nachkriegsgeneration, die sich an den Waldrand               Mieterinnen und Mieter seien langjährige, treue Mieter. Zögen nicht alle zwei Jahre
ausgrenzen liess, stirbt weg. Die nachrückenden Seniorinnen und Senioren bleiben          aus wie jüngere, was Hausbesitzern auch viele Umtriebe erspare. «Die Herausfor-
länger jung, sind autonomer, selbstbewusster und wollen weder bemuttert noch              derung ist: Wir müssen auch bei der
                                                                                                                                      ANNA RAVIZZA
‹parkiert› werden.»                                                                       Planung von Wohnraum immer zwan- Die 65-jährige Anna Ravizza begann ihre Berufskar-
     Klar, nicht alle älteren Menschen würden sich für einen Umzug in eine Alters-        zig Jahre vorausdenken, entsprechend riere in jungen Jahren als Fernmeldesekretärin bei
residenz entscheiden, auch nicht in eine moderne. Die meisten wollten so lange            bauen und renovieren. Wir leben in den ehemaligen PTT. Danach hat sie sich umfassend
wie möglich selbstständig zu Hause wohnen. Aber egal, ob jüngere oder ältere              unserer Gesellschaft zum ersten Mal weitergebildet: Wirtschaftsdiplom, Personalma-
Seniorinnen, ob zu Hause oder in Altersresidenzen: «Man will Teil der Gesellschaft        mit vier bis fünf Generationen zusam- nagement, General-Management, Master in Human
                                                                                                                                      Resources, dipl. Heimleiterin, dipl. Gerontologin,
bleiben, wahrgenommen werden! Unter Menschen sein, weiterhin eine Rolle spie-             men. Das ist eine völlig andere Aus-
                                                                                                                                      CAS-Weiterbildungen im Gesundheitswesen und im
len und aktiv mitgestalten. Das grosse Potenzial der Menschen über 65 wird heute          gangslage als noch bis vor Kurzem. Management. Sie war Personalchefin bei diversen
noch viel zu wenig erkannt. Wer pensioniert wird, verschwindet heute oft vom              Höchste Zeit, dass wir handeln.»            Grossunternehmen (u.a. Bernmobil und Rolex) und
gesellschaftlichen Radar. Das ist schlecht für die Betroffenen und schlecht für                                                          Direktorin verschiedener Alterszentren. Seit Januar
unsere Gesellschaft.»                                                                                                                    2018 ist sie interimistische Leiterin ‹Wohnen im
                                                                                                                                         Alter› der CMS. Nach der Neupositionierung der
     Wer heute 65 sei, sei so fit wie früher 55-Jährige, das belegten zahlreiche
                                                                                                                                         CMS-Alterssiedlungen wird sie ab Frühjahr 2019 zum
Studien, sagt Ravizza. Die Generation Ü65 sei mobiler, sportlich häufig sehr aktiv
                                                                                                                                         Bürgerspital Basel wechseln, das die CMS-Alters-
und gegenüber neuen Technologien im Übrigen entgegen allen Clichés sehr offen.                                                           siedlungen neu betreiben wird. Dort wird sie den
«Fitte ältere Menschen könnten und müssten deshalb viel stärker für Gemein-                                                              Ausbau des neuen Geschäftsfelds ‹Wohnen mit
schaftsaufgaben gewonnen werden. In beider Interesse. Für Engagements in der                                                             Service› begleiten.

                                                                                      5
Wie wohnen im Alter? Atelier Mondial - Das Magazin der Christoph Merian Stiftung - Nr. 6 Dezember 2018
Nachgefragt

LEBEN UND
WOHNEN
HEUTE UND
IM ALTER
12 FRAGEN AN 6 MENSCHEN
AUS 3 GENERATIONEN

             ANITA TRAUB, 85
             Schweizerin, pensionierte Buchhalterin,
             keine Kinder, lebt allein in der
             CMS-Alterssiedlung Gellertfeld

                        6
Wie wohnen im Alter? Atelier Mondial - Das Magazin der Christoph Merian Stiftung - Nr. 6 Dezember 2018
Nachgefragt

scyRADAR hat sechs ganz unterschiedliche Menschen
in Basel persönlich in Interviews befragt: zu existen-
ziellen Fragen des Lebens, Zusammenlebens, sozialer
Kontakte, Wohnens, Alterns, Sterbens – aber auch zu
scheinbar Nebensächlichem wie Musikvorlieben und
Lieblingsspeisen.
   Die beiden ältesten sind über achtzig Jahre alt und
leben heute schon nicht mehr so, wie viele unserer
überholten Alterskonzepte gegenwärtig noch funkti-
onieren: mit Café complet und Schweizer Ländlern am          AHMAD SCHECH MOHAMED, 18
                                                             kurdischer Syrer, Praktikant Fachmann
Waldrand in einem Altersheim parkiert. Sie wollen wei-       Betreuung in der Alterspflege, lebt mit
                                                             Eltern und sechs Geschwistern im Gundeli
terhin autonom leben und wünschen sich allenfalls
punktuelle Unterstützung beim selbstständigen Leben
und eine bessere Infrastruktur in ihren Wohnungen. Die
beiden jüngsten Befragten sind noch keine zwanzig
und gehen frühestens in 46 Jahren in Pension, ab 2064.
Diese Generation wird gemäss demografischen Prog-
nosen multikultureller sein und noch unterschiedlichere
Biografien und Bedürfnisse haben als frühere. Nur ein
Detail: Riz Casimir, Braten, klassische Musik oder Rock
sind bei dieser Generation out. Angesagt sind hingegen
Rap und internationale Küche, auch des Herkunfts-
lands. Auch das wird, dereinst, die Rahmenbedingungen
der künftigen Altersbetreuung mitbestimmen.
   Allen ist trotz aller Unterschiede etwas gemeinsam:
Freunde, Familie und gute Kontakte zu einer möglichst
gleichgesinnten, toleranten Nachbarschaft sind zen-
tral für ihr Wohlbefinden. Alter ihres gewünschten
Lebensumfelds: irrelevant. Gleichsam ein Plädoyer für
gemischte Wohnformen.
   Sie alle verbindet zudem die Sorge, im Alter dement
zu werden, Kinder und Familie zu belasten und die Kon-
trolle über sich selbst zu verlieren. Deshalb ist auch der
Freitod für einige ein Thema – als noch unbeantwortete
Frage, mit grossen Zweifeln behaftet.
   Ahmad Schech Mohamed (18), Mira Rauscher (19),
Emanuel Strässle (54), Silvia Gnech (54), Hans Lengs-
feld (81) und Anita Traub (85) haben uns Antworten
gegeben zu ihrem Alltag und existenziellen Lebensfra-
gen. Wir geben sie hier kurz und pointiert wieder, in der
Reihenfolge ihres Alters.

                                                 7
Nachgefragt

                                                                                                          WAS MUSS IHRE WOHNUNG
                                                                                                          UNBEDINGT HABEN, DAMIT
                                                                                                          SIE SICH WOHLFÜHLEN?

                                        SILVIA GNECH, 54
                                        italienischschweizerische Doppelbürgerin,                           AHMAD Küche, Bad und zwei Zimmer. Am
                                        dipl. Therapeutin/Masseurin, lebt allein im                         liebsten würde ich in einem Dorf leben, das
                                        Klybeckquartier                                                     aber nicht zu weit weg von der Stadt liegen
                                                                                                            sollte. Lieber nicht in einem Appartement
                                                                                                            mit vielen Leuten, die aufeinander hässig
                                                                                                            sind und streiten.

                                                                                                            MIRA Unbedingt ein grosses, gemütliches
                                                                                                            Wohnzimmer mit einem grossen Sofa, in
                                                                                                            dem das gemeinschaftliche soziale Leben
                                                   WAS WÜRDEN SIE IN                                        stattfindet! Wichtig ist mir auch ein eigenes
                                                                                                            Zimmer, in das ich mich zurückziehen kann,
                                                   IHREM LEBEN ÄNDERN,
                                                                                                            ganz für mich. Und ein kleiner Balkon.
                                                   WENN SIE KÖNNTEN?
                                                                                                            EMANUEL Sie muss vor allem ruhig sein. Ich
                                                                                                            bin extrem geräuschempfindlich. Und sie
                                                          AHMAD Ich wünschte, die Schule wäre nicht         muss hell sein. Ich bin auf dem Land aufge-
                                                          so schwierig.                                     wachsen, lebe aber gerne in der Stadt. Ich
WAS IST DAS WICHTIGSTE
                                                                                                            brauche beides: die Natur und die Anonymi-
FÜR SIE IM LEBEN?                                         MIRA Im Moment gar nichts! Ich bin sehr           tät der Stadt. Ich liebe das Urbane. Ich habe
                                                          zufrieden mit meinem bisherigen und heu-          lange Zeit im Gotthelfquartier gewohnt. Das
                                                          tigen Leben.                                      war mir aber zu bürgerlich, zu wenig lebendig.
  AHMAD Meine Familie ist mir das Allerwich-
  tigste.                                                 EMANUEL Da ich keinen anderen Job                 SILVIA Licht und Sonne und einen Balkon!
                                                          machen könnte, wäre es gut, wenn ich mit          Sonst brauche ich keinen grossen Komfort.
  MIRA Die Menschen, die mir nahestehen.                  meiner künstlerischen Arbeit mehr Geld ver-       Am wohlsten fühle ich mich in Altbauwoh-
                                                          dienen würde. Dann könnte ich auch mehr           nungen.
  EMANUEL Freiheit, Freiraum, freies Schaf-               reisen: zum Beispiel nach Kalifornien, um
  fen. Auch deshalb bin ich Künstler.                     alte Freunde zu besuchen, bevor sie wegster-      HANS Sie muss zentral in der Stadt liegen
                                                          ben. Ich würde auch gerne mehr in der Natur       und mit öV gut erreichbar sein, damit ich ins
  SILVIA Ein guter Freundeskreis, ein erfüllen-           sein. Aber dafür fehlt mir momentan die Zeit.     Kino, ins Theater, ins Konzert, in Museen und
  der Beruf und eine gesunde Lebensführung                                                                  in die Lesegesellschaft gehen kann. Und sie
  mit guter Ernährung und genügend Schlaf.                SILVIA Ich hätte meinen beruflichen Weg           sollte einen Balkon haben. Und jetzt im Alter
  Und ein Ort, an dem ich mich zu Hause fühle             vielleicht etwas früher gezielter einschlagen     einen Lift.
  und mich auch mal zurückziehen kann.                    sollen.
                                                                                                            ANITA Eine schöne Küche, ein schönes Bad
  HANS Meine Familie. Wichtig sind mir auch:              HANS Eigentlich nichts. Oder doch, etwas          und einen Balkon, auf dem man Blumen
  Unabhängigkeit, Freiheit und Mobilität.                 ganz Praktisches: Ich hätte gerne einen Lift      pflanzen kann. Die Wohnung muss zentral
                                                          zu meiner Altbauwohnung im dritten Stock,         gelegen sein – und es muss auch Grün drum
  ANITA Freunde und gutes Essen! Ein gemüt-               in der ich seit fünfzehn Jahren wohne.            rum haben. Wie die früher Alterssiedlungen
  liches Essen mit lieben Menschen ist für mich                                                             geplant haben weit weg vom Zentrum:
  etwas vom Schönsten.                                    ANITA Ich würde wohl nicht mehr heiraten.         furchtbar!

                                                                                8
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                                                                                                         Schweizer, Künstler, lebt mit der
                                                                                                         erwachsenen Tochter im Kleinbasel

WEN HABEN SIE LIEBER
ALS NACHBARN:
GLEICHALTRIGE ODER
                                                   WER KOCHT BEI IHNEN                                WELCHE MUSIK HÖREN
GLEICHGESINNTE?
                                                   ZU HAUSE – UND WAS                                 SIE AM LIEBSTEN?
  AHMAD Ich wohne gerne mit jungen Men-            ESSEN SIE AM LIEBSTEN?
  schen zusammen, aber auch mit alten. Ich                                                              AHMAD Songs vom amerikanischen Rapper
  habe alte Leute sehr gerne, weil sie so viele                                                         Whiz Kalifa, zum Beispiel ‹See you again›.
  spannende Geschichten erzählen.                    AHMAD Meine Mutter und meine älteste               Aber natürlich auch kurdische und arabische
                                                     Schwester kochen. Am liebsten mag ich              Musik. Und Musik vom deutschen Rapper
  MIRA Nachbarn sollten tolerant sein, auch          Mahshi mit gefüllten Weinblättern, Fleisch,        Kurdo, der kurdisch-irakische Wurzeln hat.
  wenn man nicht viel mit ihnen zu tun hat.          Reis, Kartoffeln, Auberginen und Tomaten.
  Wie alt sie sind, spielt für mich keine Rolle.                                                        MIRA Bands vor allem. Alles von Hip-Hop,
                                                     MIRA Meine Mutter und mein Bruder kochen.          Rap, Indie bis Ska und Reggae, ausser Charts
  EMANUEL Auf jeden Fall Gleichgesinnte. Ich         Am liebsten mag ich Currys, asiatisch oder         Musik.
  lebe in einem Haus, in dem auch andere             indisch.
  Kunstschaffende und kulturell interessierte                                                           EMANUEL In meinen Jugendjahren gerne
  Menschen wohnen. Im Nebenhaus ist eine             EMANUEL Ich koche gerne, für mich alleine,         Pink Floyd, die Stones, die Beatles und später
  Studenten-WG. Die machten früher öfters            meine Tochter und auch für Freunde: Pasta,         auch gerne deutschsprachige Liedermacher,
  bis zum frühen Morgen Partys auch unter            Risotto, mediterrane Küche, viel Gemüse            heute querbeet. Vor zwei Jahren habe ich
  der Woche. Ich reflektiere aber am besten          und saisonales Obst. Ich esse seit ein paar        Akkordeon zu spielen begonnen. Ich versu-
  frühmorgens und brauche mindestens sechs           Jahren kein Fleisch mehr. Meine Tochter ist        che Lieder zu spielen, die mich bewegen. So
  Stunden Schlaf. Da musste ich dann schon           Veganerin, da musste ich mir in der Küche          wollte ich unbedingt das Wiegenlied lernen,
  intervenieren, um meine Arbeit überhaupt           etwas einfallen lassen.                            das ich für meine Tochter gesungen habe,
  noch tun zu können.                                                                                   ‹Bajuschki Baju›, ein wunderschönes russi-
                                                     SILVIA Ich koche selbst für mich – und meine       sches Wiegenlied.
  SILVIA Ganz klar: Gleichgesinnte. Mir ist          Freunde. Am liebsten mag ich Braten mit
  wichtig, dass ich mich mit den Nachbarn            Kartoffelstock und Rotkraut mit Marroni.           SILVIA Ich gehöre zur Rock-Generation und
  gut verstehe, egal wie alt sie sind.                                                                  mag Rock am liebsten, auch Punkrock und
                                                     HANS Ich lebe allein und koche nur, wenn           Hardrock. Die Rolling Stones sind meine
  HANS Mir sind Nachbarn wichtig, denen ich          ich Besuch habe, zu Weihnachten zum Bei-           Lieblinge.
  vertrauen kann. Das müssen nicht Men-              spiel Rindsbraten für die Familie. Mittags
  schen aus dem gleichen Umfeld sein. Das            gehe ich in die Kantine meines ehemaligen          HANS Ich habe bis vor Kurzem noch Klavier
  Alter spielt keine Rolle. In unserem Haus          Arbeitgebers, abends esse ich kalt. Am liebs-      gespielt. Klassische Musik sagt mir am meis-
  wohnt eine Familie mit Kindern. Das finde          ten? Italienisch vielleicht, Spaghetti Bolog-      ten zu – das bürgerliche Repertoire eben.
  ich sehr schön.                                    nese.                                              Auch zum Beispiel Beatles oder Leonard
                                                                                                        Cohen. Ich höre aber wenig Musik – und nie
  ANITA Das Alter spielt für mich keine Rolle.       ANITA Ich koche selber für mich, und das           nebenbei.
  Wichtig ist mir, dass ich mich mit meinen          sehr gerne. Jeden Tag mindestens einmal
  Nachbarn gut verstehe, dass sie ein gewisses       warm mit allem Drum und Dran und schön             ANITA Klavierkonzerte, zum Beispiel von
  Niveau haben – und dass ich mit ihnen gute         präsentiert mit Stil. Am liebsten habe ich Riz     Beethoven. Und dazwischen sehr gerne auch
  Gespräche führen kann! Ob 20 oder 100: egal.       Casimir. Oder eine schöne Gemüsesuppe.             Ländler.

                                                                        9
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                                       MIRA RAUSCHER, 19
                                                                                                         GEBRECHLICH SIND:
                                       Schweizerin, Biologiestudentin
                                                                                                         WELCHE UNTERSTÜTZUNG
                                       im ersten Semester, lebt mit
                                       der Familie im Gotthelfquartier                                   ERWARTEN SIE VON
                                                                                                         IHREN KINDERN, FREUNDEN,
                                                                                                         VOM STAAT?

                                                                                                           AHMAD In unserer Kultur ist es selbstver-
                                                                                                           ständlich, dass sich die Familie um ältere
                                                                                                           Menschen kümmert. Bei uns geht niemand
                                                                                                           in ein Altersheim. Aber ich finde das schon
                                                                                                           ok hier, dass die Menschen im Altersheim
                                                                                                           sind. Wenn Bewohnerinnen und Bewohner
WIE OFT TREFFEN SIE                                                                                        zum Beispiel dement sind und die Verwand-
                                                                                                           ten keine Zeit haben, muss sich ja jemand
SICH MIT FAMILIE UND
                                                                                                           um sie kümmern.
FREUNDEN?
                                                                                                           MIRA Wenn ich vielleicht mal Kinder habe,
                                                                                                           würde ich nicht von ihnen verlangen, dass
  AHMAD Ich wohne ja noch zu Hause und                                                                     sie mich unterstützen oder pflegen. Ich
  sehe meine Familie immer. Richtige Freunde                                                               möchte diese Verpflichtung auch gegenüber
  habe ich hier keine. Ich meine richtige                                                                  meinen Eltern nicht eingehen müssen. Dafür
  Freunde, die immer für dich da sind. Ein                                                                 gibt es heute und wohl auch in Zukunft
  richtiger Freund ist mein Cousin, der im                                                                 Menschen, die dafür ausgebildet und auch
  Kriegsgebiet in Syrien lebt. Aber nette Kolle-                                                           bezahlt werden. Vom Staat? Ich denke, ich
  gen habe ich schon, und die sehe ich auch                                                                werde mal genug verdienen, dass staatliche
  häufig. Zweimal pro Woche im Fussballtrai-                                                               Unterstützung nicht nötig sein wird.
  ning – und auch liebe Kollegen aus meiner
  ehemaligen Schule hier.                                                                                  EMANUEL Meiner Tochter möchte ich mög-
                                                                                                           lichst nichts aufbürden. Ich kann mir nicht
  MIRA Ich wohne noch zu Hause und sehe                                                                    vorstellen, dass ich je in ein Altersheim
  meine Familie täglich. Auch meine Freundin-                                                              gehen würde. Generationenübergreifende
  nen und Freunde treffe ich jeden Tag. Entwe-                                                             Alters-Wohnprojekte finde ich zwar gut –
  der im Zusammenhang mit meinen Hobbys                                                                    aber ich bin sozial nicht durchwegs kompa-
  Fasnacht und Volleyball – oder in der Stadt,                                                             tibel. Ich könnte mir Alternativen vorstellen,
  an Partys, Konzerten und Festivals. Das wird,      WEN BITTEN SIE UM HILFE,                              etwa in ein Kloster zu gehen.
  je nach Belastung im Studium, sicher abneh-
                                                     WENN SIE EINE SCHWERE
  men in Zukunft.                                                                                          SILVIA Kinder habe ich keine. Ich möchte
                                                     GRIPPE HABEN?                                         mal in eine Alters-WG ziehen, sodass man
  EMANUEL Meine Tochter sehe ich natürlich                                                                 sich gegenseitig helfen kann: Der eine kann
  regelmässig. Mittags esse ich oft mit meinen                                                             vielleicht nicht mehr gut laufen, die andere
  Künstlerkolleginnen und -kollegen und koche             AHMAD Meine Familie natürlich, meine Mut-        sieht vielleicht nicht mehr gut. Vielleicht
  auch gerne für Freunde. Zwei meiner Ge-                 ter vor allem.                                   ziehe ich auch mit meiner Schwester zusam-
  schwister leben in der Region, die treffe ich                                                            men. Vom Staat? Ich habe immer geschaut,
  regelmässig.                                            MIRA Meine Familie, mit der ich zusammen-        dass ich gut versichert bin und mein Leben
                                                          wohne und die mich umsorgt.                      möglichst selbst bestreiten kann.
  SILVIA Ich gehe jede Woche meine betagten
  Eltern besuchen, und am Freitag und Sams-               EMANUEL Ich kann es mir kaum leisten,            HANS Meine Kinder haben ihre eigenen
  tag gehe ich immer mit Freunden in den                  krank zu werden, und bin es zum Glück auch       Familien und sind beruflich sehr gefordert.
  Ausgang. Ich tanze sehr gerne!                          selten. Ich versuche darum zu meinem Kör-        Und solche Freunde habe ich nicht, von
                                                          per zu schauen. Im Notfall würde ich auch        denen ich Unterstützung oder Hilfe erwar-
  HANS Rund einmal pro Woche besuche ich                  Freunde oder Leute im Haus um Hilfe bitten.      ten würde. Ich werde wohl mal auf Spitex
  eines meiner vier Kinder und deren Familien                                                              und Essen auf Rädern zurückgreifen. Im
  in Zürich und Basel. Dazwischen verabrede               SILVIA Vor ein paar Jahren hätte ich noch        Moment hätte ich sehr gerne Unterstützung
  ich mich auch mit Freunden, zum Wandern                 meine Mutter gefragt, aber sie ist mit ihren     bei der Wohnungssuche, denn ich muss
  zum Beispiel. Und ich besuche regelmässig               82 Jahren jetzt zu alt und braucht selber        wegen der Treppen wohl in absehbarer Zeit
  meine Freundin, die in Deutschland lebt.                Hilfe. Ich habe einen guten Freundeskreis,       raus aus meiner Wohnung. Es fehlt mir aber
                                                          da hilft man sich gegenseitig.                   an Energie dafür.
  ANITA Meinen Bruder und meine Schwäge-
  rin treffe ich regelmässig oder telefoniere mit         HANS Meine Ex-Frau, die mir eine vertraute       ANITA Ich habe keine Kinder. Wenn es mir
  ihnen. Und ebenso oft meine Freundinnen                 Freundin geblieben ist.                          wirklich schlecht geht, dann höre ich einfach
  und Freunde. Mit den Kindern meiner ehe-                                                                 auf zu essen und zu trinken. Dann werde ich
  maligen Pflegekinder fahre ich manchmal                 ANITA Für Kleinigkeiten frage ich meine          schwach und schlafe nur noch. Die Neben-
  mit meinem elektrischen Rollstuhl aus. Die              Nachbarinnen. Wenn es etwas Ernsteres ist:       wirkungen überwacht mein Hausarzt, zu
  steigen dann auf den Rollstuhl auf und fah-             meinen Bruder und meine Schwägerin oder          dem ich grosses Vertrauen habe – und er wird
  ren mit – und wir finden das alle sehr lustig!          meine Nichten und Neffen.                        die entsprechenden Massnahmen treffen.

                                                                             10
Nachgefragt

                                                       HANS LENGSFELD, 81
                                                       Deutscher, pensionierter Mitarbeiter
                                                       eines grossen Basler Pharmaunternehmens,
                                                       lebt allein in der Innenstadt, vier erwachsene
                                                       Kinder und sieben Grosskinder

                                                  WORAN DENKEN SIE,
                                                  WENN SIE AN IHRE LETZTE
                                                  LEBENSPHASE DENKEN –
                                                  UND WAS MACHT IHNEN
WIE GUT KOMMEN SIE KLAR
                                                  DABEI AM MEISTEN SORGEN?
MIT IHREM HEUTIGEN
EINKOMMEN? REICHT ES FÜR
                                                    AHMAD Vor Schmerzen habe ich Angst.
HEUTE UND AUCH MORGEN?                              Oder dass ich dement werde und dann viel-
                                                    leicht unhöflich werde und Menschen ver-
                                                    letze.
  AHMAD Ich verdiene ein bisschen und gebe
  zu Hause etwas ab. Aber ich werde sicher          MIRA Wenn ich mal dement und sehr krank
  mal einen guten Job haben als Krankenpfle-        werden sollte, würde ich nicht weiterleben
  ger und werde dann hoffentlich genug ver-         wollen. Dann käme für mich Sterbehilfe
  dienen.                                           schon infrage.
                                                                                                        WIE ALT MÖCHTEN
  MIRA Ich habe eben mein Studium begon-            EMANUEL Dass ich nicht genügend aufge-              SIE WERDEN?
  nen und rechne damit, dass ich einmal einen       räumt habe und dass meine Tochter meine
  gut qualifizierten und bezahlten Job haben        Wohnung oder mein Atelier räumen müsste.
  werde, der mir Freude macht und mich auch         Vielleicht gehe ich, wenn es nicht mehr geht,         AHMAD 150! Ich möchte in die Zukunft
  im Alter gut abstützt. Im Moment jobbe ich        in den Wald und lebe in der Natur und mit             sehen können und wissen, wie das dann
  und verdiene mir einen Zustupf zu meinem          Tieren und sterbe dann dort einen natürli-            sein wird. Ob es dann immer noch Kriege
  Studium.                                          chen Tod. Vorstellbar ist für mich auch ein           gibt und die Menschen sich um Öl streiten.
                                                    Freitod. Das Leben selbst zu beenden ist              Ich hoffe, es wird dann nur noch ein Land
  EMANUEL Eigentlich reicht es heute schon          meiner Meinung nach ein Grundrecht. Ich               geben, nämlich das Land Erde – und nicht so
  nicht. Deshalb mache ich mir manchmal             hoffe und denke, dass meine Tochter diese             viele Länder, die sich bekriegen.
  grosse Sorgen, wie das wird, wenn meine           Entscheidung akzeptieren würde.
  körperlichen Kräfte weiter schwinden. Aber                                                              MIRA Ich möchte so alt werden, dass ich
  irgendwie ging es ja immer. Ich hoffe natür-      SILVIA Ich hoffe, dass ich möglichst lange            mich noch gesund und fit fühle und das
  lich immer wieder, dass ich auch Kunstob-         gesund bleibe, beschwerdefrei gehen kann              Leben noch geniessen kann.
  jekte verkaufen kann.                             und nicht blind werde.
                                                                                                          EMANUEL Ich habe mit der Instanz ‹oben›
  SILVIA Ich lebe bescheiden und halte mich         HANS Die Unplanbarkeit des Alters be-                 mal 86 abgemacht. Wenn ich aber schon
  an mein Budget. Wenn etwas mehr in der            schäftigt mich. Und dass ich meine geistige           früher nicht mehr frei sein kann, möchte ich
  Kasse ist, reserviere ich das für schlechtere     Autonomie verlieren könnte und dement                 nicht auf dieser Zahl beharren. Natürlich
  Zeiten.                                           werde. Ich bin unentschlossen: Exit ist für           hoffe ich, dass ich die Zeichen der Zeit früh-
                                                    mich ein Thema, wenn es so weit ist. Ande-            zeitig erkennen und danach handeln kann.
  HANS Ich habe mehr als dreissig Jahre lang        rerseits war es für mich sehr wichtig, das
  bei einem der grossen Basler Pharmaunter-         natürliche Lebensende meiner Grosseltern              SILVIA Hundert Jahre alt! Das wollte ich
  nehmen gearbeitet und habe eine gute Pen-         und Eltern mitzuerleben. Um diese Erfahrung           schon als Kind.
  sion und natürlich AHV. Es reicht – auch in       möchte ich meine Kinder und Enkel eigent-
  Zukunft, hoffe ich.                               lich nicht bringen.                                   HANS So alt, solange mein Verstand mich
                                                                                                          nicht im Stich lässt.
  ANITA Es reicht gut. Aber ich brauche auch        ANITA Mir macht gar nichts Sorgen! Ich
  nicht viel. Meine Haare schneide ich mir zum      weiss, was ich will – und ich kann mich auch          ANITA Ich sagte früher: Ich will mal 124
  Beispiel selber und spare so auch Geld für        wehren. Und ins Spital lasse ich mich auch            Jahre alt werden. Heute sage ich: Ich will
  den Coiffeur. Ich schnipple einfach ab, was       nicht mehr einliefern. In letzter Zeit habe ich       noch so lange leben, solange ich noch
  raussteht. Und sehe doch immer elegant aus        das Vertrauen in diese Institutionen verloren.        Freude am Leben habe. Sobald ich abhän-
  – nicht wahr?                                     Dasselbe gilt für Pflegeheime.                        gig werde, will ich nicht mehr weiterleben.

                                                                           11
Graue Panther

«WIR SOLLTEN MÖGLICHST VIELEN
DAS MÖGLICHE ERMÖGLICHEN»
Die 75-jährige Elisabeth Nussbaumer                                                  Kinder ausgezogen waren, keinen zwingenden Grund dafür, sofort
                                                                                     etwas an meiner Wohnsituation zu ändern. Es war für mich klar,
ist Vizepräsidentin der ‹Grauen                                                      dass ich nicht irgendwo in der Stadt allein in einer Wohnung zusam-
                                                                                     men mit wildfremden Menschen zusammenleben wollte.
Panther Nordwestschweiz›, einer                                                            Wie aber eine Hausgemeinschaft neu aufbauen, wie ich sie
                                                                                     während 35 Jahren erlebt hatte? Unkompliziert, tolerant, verbind-
Lobby-Organisation für ältere                                                        lich und dennoch flexibel? Ich habe mich bei diversen Gruppierungen
                                                                                     kundig gemacht, einmal bin ich sogar fast in ein Projekt in der Stadt
Menschen in der Region. Für RADAR                                                    eingestiegen. Allerdings zeigte sich hier der Unterschied zwischen 30
                                                                                     und 65! Die Leichtigkeit, mit der wir uns als junge Familien mit ande-
hat sie ihre persönlichen Wohner-                                                    ren, ähnlich ‹gestrickten› Leuten zusammengetan hatten, ist eben
                                                                                     im höheren Alter nicht mehr vorhanden. Alle bringen unendlich viele
fahrungen und -vorstellungen fest-                                                   Erfahrungen mit. Und alle wissen – viel besser als vor fünfzig Jahren
                                                                                     –, was sie wollen oder vielmehr: nicht (mehr) wollen. Ich hatte dann
gehalten. Und sie sagt auch:                                                         den Mut oder die Energie nicht, mich auf das Experiment einzulas-
                                                                                     sen. Weil ich unsicher war, ob ich mich wohlfühlen würde – vielleicht
Hört auf, nur in Alterskategorien                                                    auch, weil ich die andern zu kompliziert fand. Zudem wohnte ich
                                                                                     nach wie vor sehr günstig in meinem viel zu grossen Haus, und es
zu denken.                                                                           bestand kein unmittelbarer Zwang, mich zu entscheiden.
                                                                                           Ich habe dann den Schritt doch gewagt. Seit gut vier Jahren
                                                                                     wohne ich jetzt tatsächlich in der Stadt. Durch Bekannte wurde ich
                                                                                     auf eine Wohnung aufmerksam, die von der Lage, von den Räumlich-
  Wohnen im Alter: Zu diesem Thema werden zahlreiche Studien                         keiten und von den Mitbewohnern her eine so attraktive Alternative
  erstellt, veröffentlicht, diskutiert – in öffentlichen Foren, in der Polit-        zu meinem Haus im Dorf bot, dass ich mich spontan begeistern
  landschaft, im Freundes- und Bekanntenkreis. Da frage ich mich                     liess. Ich hab’s bisher nie bereut. Ich habe den Rhein vor meinen
  manchmal schon: Gibt es eigentlich auch Studien zum Wohnen mit                     Fenstern, das Trämli in der Nähe, bin zu Fuss in fünf bis zehn Minu-
  25, mit 40? Und wenn nein, warum nicht? Welchen Hintergrund hat                    ten fast überall in der Stadt, und die meisten meiner Freundinnen
  das Kümmern um die Wohnbedürfnisse der Alten – und was heisst                      und Freunde wohnen in erreichbarer Nähe. Auch für die Grosskinder
  denn eigentlich im Alter?                                                          bin ich in zehn Minuten erreichbar. Glück gehabt – einmal mehr!
       Wohnen war für mich immer ein ganz wichtiger Bestandteil                            Auch mein Bedürfnis nach unkomplizierter Nachbarschaft hat
  meiner Lebensqualität. Sich zu Hause wohlfühlen ist elementar für                  sich in Bezug auf Verlässlichkeit und Toleranz erfüllt. Bekannte fan-
  meine Befindlichkeit. Das hat einerseits mit dem Ort, mit der Lage,                den zwar, mit siebzig solle man nicht in eine Wohnung ohne Lift
  mit der Architektur, mit der Umgebung zu tun – aber vor allem mit                  ziehen. Aber das tägliche Treppensteigen hält mich vorläufig noch
  den Menschen im nächsten Umfeld.                                                   fit. Ich hoffe, ich schaffe das mindestens noch fünf bis zehn Jahre
       Ich habe auch in jungen Jahren nie in einer WG gewohnt – ich                  lang – sonst ist dann halt wieder ein Wohnungswechsel fällig.
  brauche meine eigene Küche! Zu Beginn unserer Familienphase                              Wohnen im Alter – es ist mir klar, dass es da noch viele anderen
  haben wir in Reinach so gewohnt, dass rund um uns andere Familien                  Facetten gibt. Probleme mit der Vertreibung von langjährigen Mie-
  waren, mit denen zusammen wir Mittagstische, Spielgruppen, Baby-                   terinnen und Mietern aus der gewohnten Umgebung, unbezahlbare
  sitting etc. organisierten. Die Kontakte untereinander haben sich                  Mieten, Vereinsamung. Vieles ist in Bewegung, es gibt Projekte in
  bis heute erhalten, und wenn sich die damaligen Kleinkinder nach                   den Quartieren, die sich mit den Problemen auseinandersetzen. Es
  vierzig Jahren irgendwo treffen, tauschen sie Erinnerungen an                      gibt viele Ideen für neue Wohnprojekte und ‹altersgerechte› Über-
  damals aus. Später haben wir zusammen mit einer dieser Familien                    bauungen auch für generationenübergreifendes Wohnen. Bei einem
  ein altes Bauernhaus in einem Baselbieter Dorf gekauft und umge-                   Rundgang durch diverse Quartiere mit dem Schwerpunkt ‹Wie errei-
  baut. Auch dort war es wieder so, dass wir uns als Hausgemein-                     chen wir die unerreichbaren älteren Menschen?› ist mir allerdings
  schaft mit zunächst drei und später vier Familien den Alltag unseren               aufgefallen, dass sich Herausforderungen für das Zusammenleben
  Bedürfnissen entsprechend geteilt haben. Familie und Beruf waren                   wohl nicht nur mit Konzepten vom Reissbrett lösen lassen. Nach-
  darum kein Problem. Es war garantiert, dass immer jemand zu                        barschaftshilfe kann man nicht verordnen. Dort, wo in Quartieren
  Hause war, wenn die Kinder von der Schule heimkamen, und dass                      bisher tatsächlich etwas geschah, waren es immer einzelne Men-
  unter der Woche abwechselnd gekocht wurde. Diese Möglichkeit von                   schen, die sich an ihrem Arbeitsort oder innerhalb einer Siedlung
  Gemeinsamkeit und gleichzeitiger Privatsphäre in der eigenen Woh-                  unkompliziert und gezielt um andere kümmerten und so sehr viel
  nung finde ich optimal. Abends nach der Arbeit spontan bei einem                   bewirken konnten.
  Glas Wein zusammensitzen, aber sich auch zurückziehen können,                            Es gibt nicht einfach ‹das Alter› und es gibt nicht ‹die Alten›.
  wenn einem danach ist, das ist für mich Wohnglück pur.                             Es gibt kein Universalrezept – denn es gibt unendlich viele Individuen
       Ich bin kein ‹Landkind›. Ich bin in einem Vorort von Basel auf-               und wohl ebenso viele unterschiedliche Vorstellungen und Träume
  gewachsen, und es war für mich immer klar, dass ich – wenn ich denn                in Bezug auf Leben und Wohnen. Wir sollten möglichst vielen das
  einmal älter sein würde – in die Stadt zurückkehren wollte. Ein Trämli             Mögliche ermöglichen.
  vor dem Haus, zu Fuss auf den Markt, ins Kino oder ins Theater, alles
  Wesentliche in der Nähe, Freundinnen und Freunde, die spontan vor-                 Elisabeth Nussbaumer
  beikommen können.                                                                  Vizepräsidentin ‹Graue Panther Nordwestschweiz›
       Lange habe ich mich vor allem theoretisch mit Zukunftspers-
  pektiven beschäftigt. Denn mein ‹Traumhaus› auf dem Land wollte
  mich nicht loslassen. Zudem gab es, auch nachdem Ehepartner und                    www.grauepanther.ch

                                                                                12
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