No 17 Discussion Paper - Generationenübergreifendes bürgerschaftliches Engagement für Zukunftsthemen in Kommunen - Serviceagentur Demografischer ...

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No 17 Discussion Paper - Generationenübergreifendes bürgerschaftliches Engagement für Zukunftsthemen in Kommunen - Serviceagentur Demografischer ...
Population
and Policy

Discussion
Paper

No 17
Januar 2023

Autorin
              Generationenübergreifendes
Claudia Neu
              bürgerschaftliches Engagement
              für Zukunftsthemen in Kommunen
              Potenziale der verschiedenen Altersgruppen im Blick
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Impressum

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Fon		     +49 30 2061383-30                              Claudia Neu
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                                                         S. 36: Portrait Prof. Dr. Neu © Anna Tiessen

                        Discussion Paper | Januar 2023
No 17 Discussion Paper - Generationenübergreifendes bürgerschaftliches Engagement für Zukunftsthemen in Kommunen - Serviceagentur Demografischer ...
No 17 / Januar 2023

Claudia Neu

Generationenübergreifendes
bürgerschaftliches Engagement
für Zukunftsthemen in Kommunen

Potenziale der verschiedenen Altersgruppen im Blick

                                       population-europe.eu
No 17 Discussion Paper - Generationenübergreifendes bürgerschaftliches Engagement für Zukunftsthemen in Kommunen - Serviceagentur Demografischer ...
Inhalt

Zusammenfassung4

Einleitung4

Generationenbegriffe und -diskurse                                          5

 Generationenverhältnisse5
 Generationenbeziehungen6
 Von Generationenkonflikten keine Spur?                                      7
   Bostelwiebeck – Spiel der Generationen                                   8

Gesellschaftliche Rahmenbedingungen für
intergenerationelles Engagement                                            10

 Mitten im demografischen Wandel	                                           10
 Pluralisierung von Lebensformen	                                           10
 Vereinzelung und Vereinsamung?	                                            12
 Wandel des Engagements	                                                    13
   Neuruppin – wie ein verwilderter Stadtpark wieder Menschen zusammenbringt15
 Kontextbedingungen generationsübergreifendes Engagement                    18
   Balow – ein Dorf für alle                                               19

                    Discussion Paper | Januar 2023
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Transformation wird vor Ort konkret                                               21

 Mehrgenerationenhäuser                                                           21
   Chemnitz – Demokratieförderung als Zukunftsthema                               22
 Multifunktionshäuser24
 Erprobungsräume                                                                  24
 Neulandgewinner24
 Soziale Orte                                                                     25
   Ulm – ein offenes Haus für Digitalisierung                                     26

Wo Generationen sich begegnen                                                     28

 Bilanz der Untersuchung                                                          28
 Chancen für Begegnung erhöhen –
 Ansatzpunkte für intergenerationelles Engagement in Kommunen                     30

Methodische Anmerkungen                                                           32

Fußnoten, Quellen und weiterführende Links                                        33

Die Autorin	                                                                      36

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Zusammenfassung

Demografischer Wandel, Pandemie und Klimakrise              Intergeneratives Miteinander ist insofern ein Erfolg
stellen die Frage nach Generationensolidarität und          beziehungsweise hat Zukunftspotenzial, wenn die
gesellschaftlichem Zusammenhalt wieder mit Nach-            Interessen und Bedarfe verschiedener Generationen
druck. Welchen Beitrag kann hier generationen-              gleichberechtigt verfolgt werden. Dazu gehört insbe-
übergreifendes Engagement leisten? Wo kommen                sondere, dass die Wünsche der jüngeren Generation
Menschen verschiedener Generationen zusammen,               nach Gestaltung, Ausprobieren und Selbsterfahrung
welche Themen beschäftigen sie und was treibt sie           berücksichtigt werden. Jugendliche sind hier als Part-
an?                                                         ner*innen und nicht allein als Unterstützer*innen für
                                                            die Älteren zu sehen. Gesellschaftliche Herausforde-
Generationenübergreifendes Engagement findet in             rungen wie demografischer Wandel und Klimakrise
den unterschiedlichsten Kontexten statt: Eher „unge-        werden nur durch Kooperation von Zivilgesellschaft,
plant” und beiläufig in Vereinen, freien Gruppen oder       Verwaltung und Unternehmen zu bewältigen sein.
lokalen Initiativen; gezielt initiiert in Begegnungsstät-
ten, Mehrgenerationen- oder Multifunktionshäusern.          Generationsübergreifendes Engagement ist auf Ge-
In der Mehrzahl der Aktivitäten stehen Begegnung            legenheitsstrukturen und „Soziale Orte” angewiesen,
und Freizeitgestaltung im Vordergrund, initiierte in-       die Begegnung, Mitmachen und Gestalten ermögli-
tergenerative Projekte richten sich überwiegend an          chen. Dafür braucht es Ressourcen (Menschen, Zeit,
den Kommunikations- und Unterstützungsbedarfen              Geld, Erfahrung). Kurzfristige Projektförderung ist
der älteren Generation aus. An Lösungen für Zu-             hier kontraproduktiv, auf lange Sicht bedarf es einer
kunftsthemen wie Digitalisierung, Stadtentwicklung          Förderung von Prozessen, die intergenerative Akti-
und Demokratie arbeiten hingegen eher intergenera-          vitäten anregt und nachhaltig macht und so gesell-
tive Netzwerke aus lokalen Akteur*innen.                    schaftlichen Zusammenhalt stiftet.

Einleitung

Angesichts der zunehmenden demografischen, sozia-           Fürsorge für ältere und pflegebedürftige Menschen
len und räumlichen Bevölkerungsdiversität kommt             zum Ziel setzen.
der Förderung gesellschaftlichen Engagements und
intergenerationeller Solidarität eine immer wichti-         Ältere und jüngere Menschen finden sich dabei häu-
gere Rolle bei der Stärkung des sozialen Zusam-             fig in jeweils altersgruppenspezifischen Lebenswel-
menhalts zu, insbesondere in strukturschwachen              ten wieder, obwohl viele aktuelle gesellschaftspoli-
Räumen mit großer Bevölkerungsfluktuation be-               tische Herausforderungen, wie Umweltschutz und
ziehungsweise -abwanderung und daraus resul-                Klimaanpassung, die Bewältigung der Folgen der
tierender demografischer Alterung. Träger solcher           Pandemie oder die seit dem Ukraine-Krieg drohen-
Aktivitäten sind neben den zivilgesellschaftlichen          de Wirtschaftskrise, ein stärkeres intergenerationel-
Organisationen (Parteien, Freizeit- und Sportverei-         les Miteinander eigentlich sinnvoll erscheinen ließen.
ne, Kirchen, Sozialträger usw.), in denen sich Men-         Während der COVID-19-Pandemie haben Isolation
schen engagieren können, auch eine Vielzahl von             und Vereinsamung sowie mentale Probleme sogar
spontan entstehenden Gruppen- und Einzelinitiati-           noch weiter zugenommen. Diese generationenty-
ven, die sich beispielsweise konkrete Veränderun-           pische Segmentation ist insofern überraschend, als
gen in einer Kommune oder einem Stadtviertel, ein           Jung und Alt sich bei derartigen Aktivitäten mit den
besseres nachbarschaftliches Miteinander oder die           jeweilig zur Verfügung stehenden zeitlichen oder fi-

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nanziellen Ressourcen beziehungsweise unterschied-        Der vorliegende Bericht bietet nach der Einleitung
lichen Erfahrungshorizonten und Aktivitätsformen          zunächst einen kurzen Überblick über die verschie-
eigentlich ergänzen könnten.                              denen Generationenbegriffe und -konzepte. Welche
                                                          Rahmenbedingungen       generationenübergreifendes
Wie können wir jüngere und ältere Menschen wieder         Engagement beeinflussen, wird im anschließenden
stärker in gemeinsamen Initiativen zusammenbrin-          Kapitel erläutert, um danach einen vertiefenden
gen und „Soziale Orte” schaffen, an denen ein solches     Blick auf innovatives Gestaltungsengagement unter
Miteinander der Generationen gelingen kann? Diese         Generationenperspektive zu werfen. Es folgen die
Frage ist nicht nur für das gesellschaftspolitisch zen-   Ergebnisse der Studie, Handlungsempfehlungen und
trale Thema „Gesellschaftlicher Zusammenhalt” von         abschließend Anmerkungen zur Methodik.
großer Bedeutung, sondern auch für die Förderung der
vom Grundgesetz geforderten „Gleichwertigkeit der         Basis der vorliegenden Studie sind neben Literatur-
Lebensverhältnisse”. Denn die Gestaltung eines le-        analyse und Expert*innengesprächen fünf Fallbei-
benswerten Lebensumfelds wird gerade im ländlichen        spiele, die auf ihre je eigene Art intergeneratives En-
Raum neben den familiären und interfamiliären Bezie-      gagement in Kommunen gestalten. Diese fünf Fall-
hungsnetzwerken immer noch in wesentlichen Teilen         beispiele – aus den Dörfern Bostelwiebeck und Balow
von zivilgesellschaftlichen Aktivitäten und dem Vorhan-   sowie den Städten Chemnitz, Neuruppin und Ulm –
densein Sozialer Orte im lokalen Kontext geprägt.         finden sich eingestreut in den Text.

Generationenbegriffe und -diskurse

Demografische Veränderungen, der Wandel der Le-           jahrgänge oder der Gebrauch eines mobilen Endge-
bensformen und letztlich auch die Corona-Pandemie         räts ab Kleinkindalter? Der Soziologe Karl Mannheim
stellen die Generationenfrage für unser familiales        (1928/2017) deutete Generation nicht allein als das
und gesellschaftliches Miteinander mit neuer Dring-       Aufeinanderfolgen von Geburtsjahrgängen (Altersko-
lichkeit. Generationen sind dabei in zweifacher Hin-      horten), sondern er ging davon aus, dass vielmehr
sicht von Bedeutung: Einerseits auf gesellschaftlicher    die Möglichkeit der Teilhabe an „verbindenden Ereig-
Ebene, verstanden als Verhältnisse zwischen den Ge-       nissen oder Erlebnisgehalten” eine gemeinsame Ge-
nerationen in der Zeitabfolge, und andererseits auf       nerationenlagerung entstehen lassen würden. Deut-
der individuellen Ebene der eigenen Familie. Hier ist     lich spiegeln sich in Mannheims Generationenbegriff
wiederum zwischen inner- und außerfamiliären Be-          die unmittelbaren Erfahrungen des ersten Weltkriegs,
ziehungen zu unterscheiden. Intergenerative (syno-        aber auch die stilgebenden Elemente der bürgerlichen
nym: intergenerationelle, generationsübergreifende)       beziehungsweise bündischen Jugendbewegung zu An-
Begegnungen stehen demnach stets im Spannungs-            fang des 20. Jahrhunderts. So erfolgt seiner Ansicht
verhältnis zwischen Generationenverhältnissen und         nach diese tiefe Prägung vor allem in der Jugendphase:
-beziehungen.
                                                             „Die ersten Eindrücke haben die Tendenz sich als
                                                             natürliches Weltbild festzusetzen. Infolgedessen
Generationenverhältnisse                                    orientiert sich jede spätere Erfahrung an dieser
                                                             Gruppe von Erlebnissen, mag sie als Bestätigung
                                                             […] oder als deren Negation und Antithese emp-
Flakhelfer-Generation, Babyboomer, Generation-               funden werden.” (Mannheim, 2017, S. 99)
Golf, neuerdings die Generation Z oder die Generation
der Digital-Natives: An Generations-Etiketten ist kein    Einen Generationszusammenhang bildet eine Ju-
Mangel. Doch was genau macht eine Generation              gendkohorte aber erst dann, wenn aus der Mög-
aus? Die Teilnahme an einem Weltkrieg, die Geburts-       lichkeit einer Teilhabe an gemeinsamen Erlebnissen

                                                                  population-europe.eu     5
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tatsächliches Erleben wird – wie etwa die Erfahrung       Generationenbeziehungen
von Krieg und Vertreibung, sie also eine Schicksalsge-
meinschaft bildet. Reagieren Menschen beziehungs-
weise Institutionen in einheitlicher Weise auf das        Verschiedene Generationen treffen überwiegend im
Erlebte, zeigen sich dabei ähnliche Handlungs- und        familiären Zusammenhang aufeinander – im Alltag,
Bearbeitungsmuster oder „schwingen” verschiedene          bei Festen und Urlauben. Auch wenn diese familiären
Gruppen   innerhalb    eines   Generationszusammen-       Beziehungen nicht frei wählbar sind, so werden sie
hangs in ähnlicher Weise mit, dann ist für Mannheim       doch überwiegend von den Betroffenen als wichtig
eine Generationseinheit gegeben.                          und eng beschrieben. Die große Mehrheit der Groß-
                                                          eltern empfindet ihre Rolle als (sehr) erfüllend. Nach
Mannheims Generationenbegriffe sind noch nach             Angaben des Alterssurveys 2014, sagte ein knappes
mehr als neunzig Jahren von großer Eindringlichkeit,      Drittel der Großmütter und -väter, dass sie Enkelkin-
müssen aber an verschiedenen Stellen ergänzt wer-         der betreuen. Auch in den späteren Lebensjahren
den. Mannheims Blick auf die Generationen spiegelt        bleibt das Verhältnis zwischen den Großeltern zu den
vor allem die Situation der männlichen bürgerlichen       nun schon meist erwachsenen Enkelkindern (sehr)
Jugend nach dem 1. Weltkrieg wider, dabei vernach-        eng (Mahne & Klaus, 2017). Die 18. Shell Jugend-
lässigt er soziale Ungleichheiten ebenso wie die Ge-      studie (Albert et al., 2019) belegt ebenfalls, dass sich
schlechterperspektive. Zudem ist angesichts der           die allermeisten Jugendlichen (92 %) gut mit ihren
heutigen Langlebigkeit fraglich, ob Generationslage-      Eltern verstehen, die große Mehrheit (72 %) sieht sie
rungen tatsächlich vor allem in der Jugend geprägt        sogar als Erziehungsvorbild an.
werden oder ob nicht verschiedene Alterskohorten
ebenfalls später gemachte prägende Erlebnisse tei-        Außerfamiliäre Kontakte folgen eher dem Prinzip
len; und ob – analog zur Pluralisierung von Lebens-       der Sozial- und Altershomogenität, gerade bei en-
formen – nicht besser von einer Generationenplurali-      gen Freundschaften (Höpflinger, 2010). So zeigt die
tät zu sprechen sei (Findening, 2017, S. 46).             Shell-Studie, dass bei den 12 - 25-Jährigen gute Be-
                                                          ziehungen zu Freund*innen (97 %) und eine vertrau-
Generation kann also nicht ohne Weiteres als Schick-      ensvolle Partnerschaft (94 %) noch vor dem Wunsch
salsgemeinschaft verstanden werden, deren Zu-             nach einer guten Beziehung zu den Eltern rangieren.
sammenhalt auf gemeinsamen Erfahrungen in der             Auch in der zweiten Lebenshälfte gewinnen Freund-
Jugend beruht. Vielmehr kann Generation auch als          schaften an Bedeutung. Die 40 - 85-Jährigen hatten
Selbstbeschreibung, Inszenierung oder Identitäts-         2014 größere soziale Netzwerke als gut zwanzig Jah-
konstruktion (bestimmter) Altersgruppen oder Ge-          re (1996) zuvor (Böger et al., 2017).
meinschaften verstanden werden (Ziemann, 2020)
– denken wir nur an Florian Illies „Generation Golf”      Unklar muss an dieser Stelle bleiben, ob die Ver-
(2000), die das Lebensgefühl der wohlbehüteten            mutung fehlenden sozialen Kontakts zwischen den
Spätbabyboomer der Geburtsjahrgänge 1965 - 1975           Generationen (außerhalb der Familie) denn tatsäch-
beschreibt, die ihren Generationszusammenhang am          lich zutrifft – und ob mehr außerfamiliärer Kontakt
ehesten aus gemeinsamem Konsumerleben begrün-             zwischen den Generationen überhaupt gewünscht
deten. Generationenlabels sind daher auch eine Mög-       ist und wenn ja, von wem. Vorsicht ist zudem ge-
lichkeit, bestimmte Alterskohorten abzugrenzen und        boten, wenn eine idealisierende Vorstellung von in-
gesellschaftlich identifizierbar zu machen.               nerfamiliärer Solidarität auf intergenerative Projek-
                                                          te übertragen wird. Ohne Zweifel können Kontakte
Darüber hinaus dient diese Generationenkonstruk-          zwischen den Generationen wertvoll sein, doch al-
tion der sozialen Integration, denn sie ermöglicht dem    ters- und sozialhomogene Beziehungen bleiben die
Individuum sich einer Alterskohorte oder Gemein-          zentralen außerfamiliären Kontakte. Außerdem ist
schaft zuzuordnen und das eigene Schicksal im Lichte      ein Merkmal außerfamiliärer Beziehungen zwischen
der Generationenabfolge zu (re-)interpretieren (Zie-      Jung und Alt, dass sie „gerade nicht gemäß familia-
mann, 2020). Wie sehr die Corona-Pandemie eine            ler Beziehungsmuster funktionieren (sollen)” (Höpf-
ganze Generation oder besser verschiedene Genera-         linger, 2010, S. 3).
tionen geprägt hat, bleibt aktuell noch abzuwarten.

                   6     Discussion Paper | Januar 2023
Von Generationenkonflikten                             jungen Menschen den Politiker*innen nicht wichtig
keine Spur?                                           ist (Albert et al., 2019; Andresen et al., 2022). So
                                                       entsteht ein seltsames Paradoxon, dass die persön-
                                                       lichen intergenerativen Beziehungen in der Mehr-
Generationenverhältnisse und -beziehungen sind         heit als erfüllend und wichtig erlebt werden, aber im
stark vom gegenseitigen Austausch von Ressour-         Hinblick auf die gesellschaftlichen Generationenver-
cen (materiell, emotional) und damit der Gewäh-        hältnisse deutlich pessimistischer eingestuft werden
rung von Lebenschancen geprägt. Wird die gegen-        (Höpflinger, 2010, S. 3).
seitige Reziprozitätserwartung nicht eingelöst, dann
entstehen Spannungen. Scheint im Nahraum die           Der kleine Exkurs in die Soziologie der Generationen
Norm der intergenerativen Solidarität in Familie,      deutet bereits an, dass eine Definition beziehungs-
Freundeskreis und Nachbarschaft (Unterstützung         weise Abgrenzung von Generationen nicht leicht zu
im Bedarfsfall) weitgehend zu funktionieren, so ge-    bewerkstelligen ist – und in der Praxis auch häufig
rät der sogenannte „Generationenvertrag”, wie seit     vermieden wird. Stattdessen wird etwa eine Politik
einigen Jahren beklagt wird, ins Wanken. In den        „für alle Generationen” oder „für Jung und Alt” ge-
2000er Jahren gab es sogar einen Diskurs um den        fordert – ohne genauer zu bestimmen, wer damit
vermeintlich drohenden „Krieg” der Generationen,       eigentlich gemeint sei.
getrieben von der Sorge um demografieinduzierte
Verwerfungen im Sozialsystem (etwa Schirrmacher,       Generationenverhältnisse und -beziehungen existie-
2004). Ist die Rente sicher? Wer kommt für die ex-     ren nie unabhängig voneinander, sie beeinflussen sich
plodierenden Gesundheitskosten auf? Auch wenn          immer wieder gegenseitig (Findening, 2017, S. 63).
diese Fragen sicher nicht zufriedenstellend oder       Bei außerfamiliären intergenerativen Begegnungen,
abschließend geklärt sind, so verschiebt sich der      um die es hier schwerpunktmäßig geht, müssen bei-
Generationendiskurs heute mehr in Richtung Kli-        de Perspektiven (Generationenzusammenhang und
mawandel und -gerechtigkeit. „Fridays for Future”      -beziehung) stets mitgedacht werden. Anders als bei
und die „Letzte Generation” versuchen mit ihren        Findening (2017, S. 111) werden in der vorliegenden
Aktionen Gehör bei den älteren Generationen für        Untersuchung nicht nur „bewusste [sic!], begleitete,
die Wahrung ihrer Lebenschancen zu finden. An-         initiierte, kontinuierliche […] Interaktionen zwischen
lass zu Sorge bereitet auch die Beobachtung, dass      zwei verschiedenen außerfamiliären Generationen
die Mehrheit der Jugendlichen mit der Demokratie       für eine gemeinsame Sache” als intergeneratives En-
zwar grundsätzlich zufrieden ist, doch hat das Ver-    gagement verstanden, sondern generationsübergrei-
trauen in Politiker*innen insbesondere im Zuge der     fende Aktivitäten, die freiwillig, nicht-monetär und
Corona-Krise stark gelitten. Jugendliche glauben in    im öffentlichen Raum (für eine gemeinsame Sache)
der Mehrheit, dass sie nur wenig politischen Ein-      geschehen, unabhängig davon, ob sie bewusst initi-
fluss haben beziehungsweise dass die Situation von     iert und kuratiert sind.

                                                               population-europe.eu     7
Bostelwiebeck – Spiel der Generationen

Familiäre wie außerfamiliäre Generationenbeziehun-       zifischen Vorstellungen. Werden traditionelle Verei-
gen sind nicht immer ganz konfliktfrei. Gerade dann      ne wie etwa Bläserensemble oder Feuerwehren noch
wenn es um lange Traditionen der intergenerationel-      immer überwiegend von (älteren) Herren geleitet,
len Weitergabe geht – wie etwa bei Bauernfamilien        so haben Jugendliche und wohl auch die mittlere
und landwirtschaftlichen Betrieben. Das Mehrgene-        Generation bereits andere Erwartungen an das En-
rationen-Wohnen, das viele bäuerliche Familien noch      gagement (Nikolic, 2022). Wie aber kommen diese
immer leben, bietet hier nicht nur Unterstützung auf     Themen, die ja nicht selten latent im Untergrund
dem Feld und im Haushalt, sondern viel Konfliktpo-       schwelen, auf die Tagesordnung, wie werden sie
tenzial, wenn es um die Hofübergabe oder die Pfle-       sichtbar und damit auch „verhandelbar”?
ge der Altenteiler geht. Traditionelle Werthaltungen,
Geschlechterstereotype und Rollenmuster treffen auf      An dieser Stelle setzt das „Collaborative Village Play”
die Wünsche der jüngeren Generation, etwa nach           an, ein internationales künstlerisches Projekt, dessen
mehr Selbständigkeit, Entscheidungsfreiheit oder ei-     Mitglieder zwischen europäischen Dörfern reisen und
nem eigenen Rückzugsort (Pieper, 2022). Aber auch        dort jeweils spezifische lokale Aufführungsformen
die Gestaltung des Engagements und Ehrenamts in          finden. Die Künstlerin Antje Schiffers hat gemeinsam
ländlichen Räumen ist nicht frei von generationsspe-     mit der Dramaturgin und Kuratorin Katalin Erdödi das

                   8    Discussion Paper | Januar 2023
Village Play initiiert und in den vergangenen Jahren     dagegen einen anderen Ansatz: Themen und Auf-
mit verschiedenen Partnern realisiert – im südlichen     führungsform werden mit den Mitwirkenden erar-
Ungarn 2021 (Water Melone Republic) und 2022 an          beitet. In regelmäßigen Gesprächsrunden mit dem
der galizischen Atlantikküste im Nordwesten Spani-       sogenannten Findungskomitee und in verschiedenen
ens (Das Lied des Fischauktionärs, 2022).                Einzelinterviews mit Dorfbewohner*innen und Künst-
                                                         ler*innen kristallisierten sich zwei Themen – Genera-
   „An jedem Ort erfinden wir das Village Play mit       tionswechsel und Garten – heraus, die im Zentrum
   neuen   Mitwirkenden:     Bauern,   Landarbeitern,    des zu entwerfenden Theaterstücks stehen sollten.
   Pendlerinnen, Großhändlerinnen, Fischern, Auk-        „Was ist gerecht, wie viel Abstand braucht man, wo
   tionären, Netzflickerinnen, Alteingesessenen und      hält man besser den Mund, was verdankt man ein-
   Neuangekommenen, Lehrern, Studentinnen, lo-           ander, welche Modelle gibt es, wenn Höfe übergeben
   kalen Musik- und Theatergruppen, politisch Invol-     werden, oder allgemeiner im Umgang der Generati-
   vierten und interessierten Nachbarn. Wir begin-       onen miteinander? Und der Garten: als Ort der Ent-
   nen jedes Mal mit einem leeren Blatt, bei null, mit   spannung, der Sorge, der Gestaltung, der Arbeit, des
   dem, was wir vor Ort finden, mit Alltagskultur und    Feierns”, rekapituliert Antje Schiffers noch einmal die
   dem, was den Mitwirkenden wichtig ist.” (Antje        zentralen Fragen. Von März bis Anfang September
   Schiffers, villageplay.net)                           2022 erarbeiteten rund fünfzig Menschen aus der Re-
                                                         gion gemeinsam mit Antje Schiffers, Katalin Erdödi
In dem kleinen niedersächsischen Dorf Bostelwiebeck      vom Village Play sowie Anja Imig, Thomas Matschoss
(Gemeinde Altmeding, Landkreis Uelzen) machte            und India Roth vom Jahrmarkttheater an ihrem Vil-
das „Dorftheater” im Sommer 2022 Station. Die-           lage Play „Alte Bäume werfen Schatten”. „Hier ha-
se Standortwahl war nicht zufällig, denn seit 2013       ben plötzlich Menschen zusammengespielt und Din-
bietet in dem winzigen 45 Seelen-Dorf das „Jahr-         ge besprochen, die vorher vor anderen kaum sagbar
markttheater”, eine professionelle freie Theatertrup-    gewesen wären. Aber von allein ging das nicht, auf
pe, Aufführungen für und mit den Bewohner*innen          einen Zeitungsaufruf hat sich keiner gemeldet, aber
der ländlichen Region. Die Aufführungen haben ei-        über Ansprache funktioniert das schon”, berichtet
nen festen Standort, sind im Sommer aber nicht           Anja Imig vom Jahrmarkttheater.
selten Open-Air-Veranstaltungen, die einen ganzen
Hof miteinbeziehen können. Die Theaterstücke tra-        Am 3. September war es dann soweit: Trecker-Korso
gen so klingende Namen wie „Unser Lied für Torf-         und Fahrradkonvoi läuteten den Festtag ein. Die Mit-
borstel”, „Trecker kommt mit”, „Dorfgedanken” oder       wirkenden der Findungskommission brachten eine
„Schwundregion 300”. Wie erfolgreich die Organisa-       Open-Air-Veranstaltung im Garten des Jahrmarkt-
tor*innen dies tun, zeigt sich auch daran, dass 2021     theaters zur Aufführung. Ein besonderer Höhepunkt
das Jahrmarkttheater mit dem Theaterpreis des            für die zahllosen Zuschauer*innen war die Erstauf-
Bundes ausgezeichnet wurde.                              führung eines eigens von Thomas Matschoss für den
                                                         Posaunenchor komponierten Lieds. Für internationa-
   „In Bostelwiebeck entsteht 2013 ein Theater.          les Flair sorgten Gäste aus Ungarn mit einer „Was-
   Ohne Klapphocker, dafür mit Tribüne und Her-          sermelonen-Choreographie”. Das Fest war ein voller
   berts Eck. Oma Sanne taucht zum ersten Mal auf        Erfolg und dauerte bis spät in die Nacht.
   und es geht wieder und wieder um die Frage:
   Wie wollen wir leben? Was soll aus uns werden?        Jahrmarkttheater und Village Play schufen so inter-
   Natürlich haben wir keine endgültigen Antwor-         generative Gelegenheitsstrukturen für Mitarbeit, Be-
   ten, aber wir machen uns Dorfgedanken: Zum            gegnung und Erfahrung in einer ländlichen Region,
   Beispiel über Demokratie, den Wald und das            in der auch der demografische Wandel seine Spuren
   Anderssein. Schnacken mit Ihnen, unserem Pu-          hinterlässt – in Bostelwiebeck selbst lebt nur noch
   blikum.” (Anja Imig & Thomas Matschoss, Jahr-         ein Kind. Deutlich wird, dass Kunst und Kultur sich in
   markttheater.de)                                      besonderem Maße als Impulsgeber für Engagement
                                                         eignen und damit für die Verhandlung von gesell-
Bisher arbeitet das Jahrmarkttheater mit professio-      schaftlich relevanten Themen wie Generationenbe-
nellen Theaterschaffenden. Das Village Play verfolgt     ziehungen, Klima oder Demokratie.

                                                                population-europe.eu      9
Gesellschaftliche Rahmenbedingungen
für intergenerationelles Engagement

Die deutsche Gesellschaft hat in den vergangenen          35-Jährige die größte Altersgruppe. Die „Boomer”
Jahrzehnten tiefgreifende Veränderungen erfahren.         bleiben auch weiterhin die größte Alterskohorte, ge-
Nicht nur wirkt der demografische Wandel in der           hen aber nun dem Ende ihres Erwerbslebens entge-
Familien- und Gesellschaftsstruktur nach, sondern         gen (Statistisches Bundesamt, 2023). „Ab Mitte der
auch Lebensformen pluralisieren sich, die Bevölke-        2030er Jahre rücken die Babyboomer-Jahrgänge
rung altert, Generationenverhältnisse verschieben         in die Altersgruppe der ab 80-Jährigen auf. In den
sich. Klimakrise, Ukrainekrieg und nicht zuletzt die      2050er und 2060er Jahren werden dann zwischen 7
andauernde Corona-Pandemie stellen zudem große            und 10 Millionen hochaltrige Menschen in Deutsch-
Herausforderungen unserer Zeit dar. Gefühle gesell-       land leben”, führte Karsten Lummer vom Statisti-
schaftlicher Unverbundenheit und der Einsamkeit           schen Bundesamt am 2. Dezember 2022 in der Pres-
sowie des bröckelnden sozialen Zusammenhalts stel-        sekonferenz zur 15. Bevölkerungsvorausberechnung
len sich bei vielen Menschen ein. Bürgerschaftliches      in Berlin aus (Statistisches Bundesamt, 2022). Diese
Engagement bleibt von diesen Entwicklungen nicht          Entwicklung geht voraussichtlich mit einer sinkenden
unbeeinflusst.                                            Zahl von Menschen im Erwerbsalter einher: in den
                                                          kommenden 15 Jahren wird die Zahl der Erwerbstä-
                                                          tigen um 1,6 bis 4,8 Millionen Menschen sinken (Sta-
Mitten im demografischen Wandel                           tisches Bundesamt, 2022).

                                                          Diese Entwicklungen lassen nicht nur Fragen nach
Der demografische Wandel hat Deutschland seit vie-        wohlfahrtsstaatlichen Bewältigungsstrategien auf-
len Jahren fest im Griff. Die sinkende Zahl der jün-      kommen (Generationenvertrag), sondern auch nach
geren bei gleichzeitig steigender Zahl älterer Men-       den konkreten Generationenbeziehungen.
schen verschieben den demografischen Aufbau der
Gesellschaft in bisher nicht gekannter Art und Weise.
In Deutschland ist aktuell jede zweite Person älter       Pluralisierung von Lebensformen
als 45 und jede fünfte Person älter als 66 Jahre. Al-
lerdings hat sich die Bevölkerung im vergangenen
Jahrzehnt durch einen positiven Einwanderungssal-         In engem Zusammenhang mit dem Ausbau des
do und leicht steigende Geburtenzahlen "verjüngt",        Wohlfahrtsstaates nach dem 2. Weltkrieg steht der
wenn auch in bescheidenem Umfang. Erfreulicher-           soziale Wandel und die Pluralisierung der Lebensfor-
weise kamen in den Jahren 2012 bis 2021 insgesamt         men. Emanzipation, Wertewandel und Individuali-
656.000 Kinder mehr zur Welt als im Jahrzehnt zu-         sierung haben seit den ausgehenden 1960er Jahren
vor. Gleichwohl bleibt die zusammengefasste Gebur-        Menschen zunehmend aus ihren traditionellen famili-
tenziffer 1 mit 1,58 Kinder pro Frau auf niedrigem Ni-    alen, regionalen und religiösen Bindungen freigesetzt
veau (Statistisches Bundesamt, 2023). Die Alterung        (Klages, 2001; Beck, 1986). Scheidung, Alleinleben,
der Gesellschaft wird daher auch zukünftig rasant         Partnerschaften ohne Kind, Wohngemeinschaften
voranschreiten.                                           oder homosexuelle Beziehungen wurden möglich
                                                          und werden auch gelebt. Diese Vervielfältigung der
Wie sehr der demografische Wandel bereits unseren         Lebensformen schaffte ungeahnte neue Beziehungs-
Altersaufbau verändert hat, zeigt ein Vergleich des       kombinationen, die auch sukzessive im Lebenslauf
Jahres 2021 mit dem Jahr der deutschen Vereini-           auftreten können: erst die Wohngemeinschaft im
gung 1990 (Abbildung 1). Die sogenannte Babyboo-          Studium, dann Living-apart-together (ein Paar sein,
mer-Generation, also die stark besetzten Jahrgänge        aber keine gemeinsame Wohnung haben) in einer
von 1955 bis 1970, bildeten im Jahr 1990 als 20- bis      ersten Beziehung, um später eine*n andere*n Part-

                  10     Discussion Paper | Januar 2023
Abbildung 1: Altersaufbau der Bevölkerung 2021
                 im Vergleich zu 1990                                                                       2021
                 Quelle: Statistisches Bundesamt (Destatis), 2022
                                                                                                            1990

                                                      Alter in Jahren

                 Männlich                                      90                             Weiblich

                                                               80

                                                               70

                                                               60

                                                               50

                                                               40

                                                               30

                                                               20

                                                               10

                                                                0

         800         600         400         200           0        0      200        400         600     800
       Tausend Personen                                                                Tausend Personen

ner*in zu heiraten; und das vielleicht nicht nur ein-               Dies bleibt nicht ohne Folgen für den Aufbau und die
mal im Leben. Die Ehe hat ihren alleinigen Geltungs-                Abfolge der Generationen: Haushalte und Familien
anspruch zur Legitimation von Lebenspartnerschaft                   werden kleiner. Bei insgesamt 40,7 Millionen Privat-
und Kindern verloren, Frauen haben nun das Recht                    haushalten machen die Ein- und Zweipersonenhaus-
auf ein „eigenes Leben” (Beck-Gernsheim, 1983).                     halte gut Dreiviertel aller Haushalte aus, in ledig-
Geheiratet wird immer später, wenn überhaupt: Bei                   lich noch 3,5 % der Haushalte leben fünf und mehr
Frauen liegt das durchschnittliche Heiratsalter bei 32              Menschen. In 11,6 Millionen Familien gibt es Kinder,
und bei Männern bei 35 Jahren, und das erste Kind                   allerdings wachsen lediglich 1,4 Millionen Kinder
kommt im Durchschnitt mit 30,5 Jahren (Statisti-                    mit zwei und mehr Geschwistern auf (Statistisches
sches Bundesamt, 2023).                                             Bundesamt, 2023). Verwandte und Enkelkinder wer-

                                                                           population-europe.eu    11
den „knapp”. Dabei wächst im gleichen Moment die          sind, sondern am Abend die Fußballjugend trainieren
Ur- und Großelterngeneration, so dass nun deutlich        oder den örtlichen Gesangsverein verstärken. Nar-
mehr Generationen gleichzeitig leben.                     rative von Verlust und „Abgehängtsein” verstärken
                                                          sich. Der gesellschaftliche Zusammenhalt scheint
Lange standen die Auswirkungen sinkender Gebur-           vielen gefährdet (Kersten et al., 2022).
ten und der stark gestiegenen Lebenserwartung
auf die sozialen Sicherungssysteme im Zentrum             Dieses Gefühl des bedrohten Zusammenhalts mag
der wissenschaftlichen und politischen Betrachtung,       auch damit zusammenhängen, dass nach einer lan-
mittlerweile erfährt auch die demografiebedingte so-      gen Phase der „Entfamilialisierung”, der Übertragung
zialräumliche Polarisierung deutlich mehr Aufmerk-        von familialen Fürsorgeleistungen an den Staat, wie-
samkeit. In den vergangenen dreißig Jahren litten         der eine verstärkte Rückverlagerung der Verantwort-
insbesondere die peripheren ländlichen Räume unter        lichkeiten bei sozialen Risiken wie Krankheit oder
anhaltendem Bevölkerungsschwund, wohingegen bis           Pflege in die Familie zu beobachten ist. Verschär-
Ende der 2010er Jahre großstädtische Agglomerati-         fend wirkt diese Re-Familialisierung auch dadurch,
onen wuchsen. Der Boom der Großstädte ist aktuell         dass Familien eben jenem Idealtypus der modernen
jedoch deutlich abgeflacht, wenn nicht sogar zum          Klein- oder Kernfamilie (insbesondere auf der Basis
Stehen gekommen. Denn einerseits ziehen vor allem         einer lebenslangen Ehe mit Kindern) nicht mehr ent-
junge Familien infolge der in die Höhe schnellenden       sprechen und neue Beziehungskonstellationen ent-
Miet- und Bodenpreise in Städten wie Stuttgart und        stehen, die anderen Mustern und Verbindlichkeiten
München, aber auch Göttingen und Oldenburg, ins           folgen. Anhaltend und unüberhörbar erschallt daher
günstigere Umland. Andererseits haben die Corona-         der politische Ruf nach persönlicher Verantwortungs-
Pandemie sowie neue digitale Arbeitsmodelle eine          übernahme,    Generationensolidarität      und   bürger-
neue „Landlust” entstehen lassen, die ländliche Räu-      schaftlichem Engagement, um die Folgekosten redu-
me wieder attraktiver – auch für Berufspendler*in-        zierter wohlfahrtsstaatlicher Leistungen – persönlich
nen – erscheinen lässt. Von einem „Comeback” des          und auf lokaler Ebene – auszugleichen (Böhnke et
ländlichen Raumes zu sprechen wäre allerdings ver-        al., 2015).
früht, denn weiterhin werden viele (periphere) Regio-
nen schrumpfen. Zudem bedeutet der Zuzug junger
Familien nicht, dass die Alterung „neutralisiert” wird,   Vereinzelung und Vereinsamung?
vielmehr schreitet die Alterung in Stadt und Land
weiter voran (Sixtus et al., 2022).
                                                          Die demografischen Veränderungen und die Plurali-
Die demografische und sozialräumliche Polarisierung       sierung der Lebensformen, die zu kleineren Haushal-
stellt die Frage nach der Gewährleistung der „Gleich-     ten und weniger Familien mit Kindern führten, haben
wertigkeit der Lebensverhältnisse” mit neuer Dring-       aber keineswegs zu der oft beschworenen „Einsam-
lichkeit. Anhaltende wissenschaftliche und politische     keitsepidemie” geführt. Denn für die Zeit vor Corona
Diskussionen ringen darum, wie die wohnortnahe            lässt sich allenfalls von einer leichten Zunahme der
Grundversorgung mit Gütern und Dienstleistungen           Einsamkeit über die vergangenen Jahrzehnte hin-
der Daseinsvorsorge, die Mobilität und Freizeitan-        weg sprechen (Luhmann et al., 2023). Weltweit hat
gebote für alle Regionen zu gestalten sind. Lange         jedoch die Corona-Pandemie die Prävalenz von Ein-
wurde übersehen, dass der Rückbau der daseinsvor-         samkeit ansteigen lassen (Ernst et al., 2022). Fühl-
sorgenden Infrastruktur (ÖPNV, Schulen, Gesund-           ten sich in den 2010er Jahren 14 % der Bevölkerung
heitsversorgung) in den vom demografischen Wandel         „manchmal einsam” (erhoben 2013 und 2017 mittels
besonders betroffenen Regionen auch sozialstruktu-        des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP)), so stieg
relle und politische Verwerfungen mit sich bringt.        bereits im ersten Lockdown die Zahl der Menschen,
Denn mit diesem Rückzug öffentlicher Einrichtungen        die sich „manchmal einsam” fühlten, sprunghaft auf
schwindet nicht nur die Möglichkeit zur Begegnung         rund 40 Prozent an (ebenfalls mit dem SOEP erho-
und Mitwirkung, sondern auch die lokale Mitte – die       ben). Im zweiten Lockdown änderte sich das Ein-
beruflich Qualifizierten, die nicht nur tagsüber als      samkeitserleben im Vergleich zum ersten Lockdown
Lehrkraft oder Verwaltungsmitarbeiter*innen aktiv         kaum noch (42 % „manchmal einsam”). Die höchsten

                  12     Discussion Paper | Januar 2023
Einsamkeitswerte zeigte die Generation der unter        Demokratie aus. Denn einsame Menschen verlieren
30-Jährigen, fast die Hälfte (48 %) sagte, während      nicht nur ihr Vertrauen in Mitmenschen, sondern
Corona „manchmal einsam” gewesen zu sein (Entrin-       auch in Institutionen (Überblick bei Schobin, 2022).
ger, 2022, S. 20). Dies mag überraschen, wird doch      Sie gehen seltener zur Wahl (Langenkamp, 2021),
Einsamkeit vor allem mit dem Alter in Verbindung        neigen häufiger zur Unterstützung populistischer
gebracht. Luhmann und Hawkley (2016) konnten            Kandidaten (Bender, 2021; Cox, 2020) und hängen
ebenfalls auf der Basis der SOEP-Daten zeigen, dass     Verschwörungserzählungen an (Neu et al., 2023).
Einsamkeit im Lebensverlauf nicht linear, sondern in    Einsamkeit macht nicht nur einsam, sondern kann
Wellen auftritt. So erleben besonders Menschen im       auch eine Dynamik in Gang setzen, die den sozialen
jungen Erwachsenenalter, in den späteren mittleren      Zusammenhalt gefährdet.
und in den letzten Lebensjahren (80+) besonders
häufig Gefühle der Einsamkeit. Im Hinblick auf inter-
generative Beziehungen und Einsamkeitsprävention        Wandel des Engagements
erfordern junge Menschen offensichtlich zukünftig
eine stärkere Beachtung als bisher.
                                                        Engagement und Ehrenamt schaffen soziale Kontakte
Aber was genau ist Einsamkeit? Einsamkeit ist das       und Anerkennung, stiften Freundschaften und schüt-
subjektive Gefühl, zu wenig Kontakte zu haben, kei-     zen so auch vor sozialer Isolation und Einsamkeit.
ne Nähe zu anderen Menschen zu spüren (Hawkley &        Die veränderten Haushalts- und Familienformen oder
Cacioppo, 2010). Das subjektive Einsamkeitserleben      Arbeitsmodelle haben ebenso wie der Trend zur In-
ist jedoch losgelöst von faktischem Alleinsein. Kann    dividualisierung und Selbstentfaltung Einfluss auf die
Alleinsein durchaus selbstgewählt sein, als Erholung    Verfasstheit des bürgerschaftlichen Engagements.
erlebt oder als bewusste Abgrenzung zu andern ge-
staltet werden (Claussen & Lilie, 2022), so haftet      Für sehr viele Menschen gehört die Mitgliedschaft in
der Einsamkeit das Stigma der Unfreiwilligkeit, des     einem Verein oder die Übernahme eines Ehrenam-
Selbstverschuldeten und damit auch der Scham an         tes ganz selbstverständlich zum Leben dazu: Im Jahr
(Bohn, 2008). Soziale Isolation beschreibt, anders      2019 übten nach Angaben des Freiwilligen-Surveys
als Einsamkeit, kein subjektives Gefühl, sondern        39,7 % der über 14-Jährigen mindestens eine freiwil-
den objektiven Mangel an sozialen Kontakten und         lige Tätigkeit aus. Dies entspricht rund 29 Millionen
Beziehungen (Hawkley & Cacioppo, 2010). Soziale         Menschen. Bürgerschaftliches Engagement wird hier
Isolation meint somit den Zustand geringsten sozi-      verstanden als Aktivitäten, die „freiwillig und gemein-
alen Kontaktes beziehungsweise größter Distanz zu       schaftsbezogen ausgeführt werden, im öffentlichen
Mitmenschen. Soziale Isolation und Einsamkeit sind      Raum stattfinden und nicht auf materiellen Gewinn
also nicht deckungsgleich, haben aber eine große        gerichtet sind” (Simonson et al., 2022). Zwischen
Schnittmenge.                                           1999 und 2019 ist der Anteil freiwillig Engagierter
                                                        gestiegen, wobei er 2019 im Vergleich zu 2014 stag-
Erst in jüngster Zeit werden neben den individuel-      niert (ebenda). Die aktive Zivilgesellschaft zeigt sich
len Faktoren (geringes Haushaltseinkommen, nied-        auch darin, dass sich gut 17,5 Millionen Menschen
rige Bildung, Gesundheit, Behinderung, Migrati-         freiwillig in mehr als 600.000 Vereinen, allen voran in
onshintergrund), die Einsamkeit auslösen können,        den knapp 88.300 Sportvereinen, engagieren (Prie-
auch sozial- und raumstrukturelle Faktoren in der       mer et al., 2019).
Einsamkeitsforschung verstärkt in den Blick ge-
nommen (Neu, 2022). So können ganze Regionen            Allerdings ist bürgerschaftliches Engagement nicht
zu „Einsamkeitshotspots” werden (Bücker, 2021)          sozial gleichverteilt, vor allem die gut gebildete mitt-
oder der Mangel an Stadtgrün oder Freizeitangebo-       lere Generation ist öffentlich aktiv. Die 30- bis 49-Jäh-
ten Einsamkeit auslösen (Bücker et al., 2020; Lyu &     rigen üben mit 45 % mindestens eine freiwillige Tätig-
Forsyth, 2022). Einsamkeit kann nicht nur gesund-       keit aus, bei den 14- bis 29-Jährigen liegt der Anteil
heitliche Folgen (Depression, Angst) haben, sondern     der Engagierten bei 42 %. Ist die öffentliche Mitwir-
wirkt sich möglicherweise auch negativ auf das ge-      kung auch in allen Altersgruppen seit 1999 angestie-
sellschaftliche Miteinander und auf die Haltung zur     gen, so verzeichnet die Gruppe ab 65-Jahren einen

                                                                population-europe.eu      13
besonderen Anstieg: die Engagementquote ist hier          zu tun: einerseits steigt der Anteil der Engagierten
von 18 % im Jahr 1999 auf 31 % in 2019 gestiegen.         in frei organisierten Gruppen an, andererseits bleibt
Ebenso hat sich die Engagementquote von Männern           organisiertes Engagement weiterhin wichtig.
und Frauen, Ost- und Westdeutschland im Zeitver-
gleich angeglichen. Weiter geöffnet hat sich aller-       Wertewandel und Individualisierung, aber auch das
dings die Schere im Hinblick auf den Bildungsgrad         Verschwinden von öffentlichen Räumen und Frei-
der Engagierten: Menschen mit hoher Schulbildung          zeitangeboten haben ihre Spuren in der Engagement-
engagieren sich mit 51 %, mit mittlerer zu 37 % und       landschaft hinterlassen. Vermutet wird, dass weniger
mit niedriger Bildung nur zu 26 %. Ein gutes Viertel      verpflichtende Engagementformen bevorzugt wer-
der Menschen mit Migrationshintergrund (27 %) ist         den, die eher projekthaft und biografisch passgenau
öffentlich aktiv (Simonson et al., 2022). Trotz der       sind (etwa Blühdorn, 2013, S. 167 - 171). Zudem se-
steigenden Zahl Engagierter in den vergangenen            hen ganze Gruppen und einzelne Akteur*innen ihre
zwanzig Jahren deutet vieles darauf hin, dass wir         Interessen in den klassischen Institutionen der Zi-
es mit einem Form- und Funktionswandel des bür-           vilgesellschaft (wie Verbänden oder Vereinen) nicht
gerschaftlichen Engagements zu tun haben: indivi-         (mehr) abgedeckt (Rückert-John, 2005, S. 28) und
duell organisiertes, nicht-institutionalisiertes, unab-   suchen eigene, auch neue organisatorische Wege,
hängiges Engagement gewinnt stetig an Bedeutung.          um Selbstwirksamkeit innerhalb der Zivilgesellschaft
Machte „ungebundenes” Engagement 1999 lediglich           zu erleben und ihr Lebenswelt mitzugestalten. Neben
10 % aus, so entfielen 2019 bereits 17 % auf die-         den „klassischen” Engagements- und Ehrenamtsfor-
se Engagementform (Simonson et al., 2022). Die-           men, wie wir sie in Vereinen und Religionsgemein-
se Veränderung lässt sich als „Strukturwandel der         schaften vorfinden, und den eher ungebundenen
organisierten Zivilgesellschaft” beschreiben (Krim-       Gruppen und Initiativen scheint sich eine weitere
mer 2018). Denn die „klassischen” Vereine und             Form der öffentlichen Mitwirkung herauszubilden, die
Verbände, Kirchen und kommunalen Einrichtungen            Andreas Willisch (2021, 2022) „Gestaltungsengage-
bekommen zunehmend Konkurrenz durch „individu-            ment” nennt. Menschen finden sich für ein konkretes
ell organisierte” Gruppen, wie Grillclubs, Laufgrup-      Anliegen zusammen, suchen nach lokalen Lösungen
pen oder urbanes Gärtnern. Denn obwohl im Jahr            und stellen gemeinsam etwas auf die Beine, im bes-
2019 noch immer rund die Hälfte der Engagierten in        ten Fall entsteht etwas ganz Neues. Den Akteur*innen
Vereinen oder Verbänden organisiert waren, zeigte         geht es um sozialräumliche Veränderung, sie machen
sich im Zeitverlauf, dass der Anteil dieser Engage-       sich auf, die anstehenden Transformationsprozesse
mentform mit einem Verlust von 5,5 % seit 1999 am         (Klimawandel, Stärkung der Demokratie, Digitalisie-
stärksten schrumpft. Fast jeder vierte Verein – ge-       rung) vor Ort anzugehen. Sie schaffen Orte der Be-
rade in Dörfern und kleinen Gemeinden – beklagt           gegnung und Kommunikation und leisten damit einen
rückläufige Engagiertenzahlen (Gilroy et al., 2018,       Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Priemer et al., 2019). 15.547 Vereine haben sich im
vergangenen Jahrzehnt aufgelöst, zugleich verlang-        Im Kapitel „Transformation wird vor Ort konkret” – ab
samte sich auch die Zahl der insgesamt jährlich neu       Seite 21 – werden unterschiedliche Initiativen und
gegründeten Vereine in den letzten zwanzig Jahren         Konzepte vorgestellt, die Antworten auf die großen
(Gilroy et al., 2018). Somit haben wir es bei genau-      Herausforderungen unserer Zeit im Lokalen suchen
erer Betrachtung mit einer parallelen Entwicklung         und finden.

                  14     Discussion Paper | Januar 2023
Neuruppin – wie ein verwilderter Stadtpark
wieder Menschen zusammenbringt

Nähert man sich dem einst prachtvollen Stadtpark       Den Ausschlag für die aktuellen Entwicklungen im
Neuruppins, dessen früherer Glanz von jahrzehnte-      Stadtpark gaben allerdings Schüler*innen der Evan-
langer Verwahrlosung verdeckt wird, von der parallel   gelischen Schule Neuruppin (EVI). Im Laufe eines
zur nach Alt-Ruppin führenden Allee durch den Park-    Schulprojektes stellten die Schüler*innen 2018 fest,
rand geschlagenen Bundesstraße B 167, so eröffnet      dass es ihnen an einem öffentlichen Raum mangelt,
sich den Besucher*innen schon die elegant, dem         den sie für sich und ihre Interessen (Sport, Bewe-
leicht abschüssigen Gelände angepasste Sichtachse      gung, Aktivitäten) nutzen können. Hier kam der ver-
zum Ruppiner See, an den der Stadtpark unmittel-       waiste Stadtpark als möglicher Gestaltungsraum ins
bar im Osten angrenzt. Diese Sichtachse verweist       Spiel. Wirklich in Fahrt kam die Idee, den Stadtpark
einer Handschrift gleich auf den Gestalter dieses um   nicht nur zu einem Begegnungs- und Bewegungsort
1835 errichteten kulturellen Naturdenkmals Peter       zu machen, sondern zu einem Ausgangspunkt für die
Joseph Lenné (1789-1866). Die Idee für den Stadt-      zukünftige Stadtentwicklung, 2020 mit der Bewer-
park selbst geht allerdings auf Freiherrn Alexander    bung Neuruppins für die Förderung zur innovativen
von Wulffen (1784-1861) zurück, der 1835 einen         „Post-Corona-Stadt”. Neben 17 anderen Städten er-
Verschönerungsverein zur Gestaltung von Stadt und      hielt Neuruppin den Zuschlag und wird bis 2023 vom
Natur gründete. Eine Wiederbelebung erfuhr dieser      Bundesministerium des Innern und für Heimat geför-
Verein im Jahr 2005 durch Neuruppiner Bürger*in-       dert. Michael Landeck, Projektleiter und Lehrer am
nen, die sich nun wieder um den Stadtpark bemühen.     EVI, berichtet: „Corona war eine Zäsur. Wir mussten

                                                              population-europe.eu    15
„Bürgerschaftliches Engagement
ist etwas sehr Wertvolles.
Und ein wichtiger Standortfaktor.”
Michael Landeck, Projektleiter und Lehrer

         16   Discussion Paper | Januar 2023
uns fragen: ‚Was ist wichtig? Wie können wir Her-        Lennés Ansatz vom Flanieren an der frischen Luft ins
ausforderungen gemeinsam meistern?‘ Da lag der           21. Jahrhundert transportieren können und der Park
verwaiste Stadtpark wie ein Schatz vor der Haus-         zu einem kreativen öffentlichen Ort wird. Dabei war
tür.” Im Sommer 2021 fiel der Startschuss für das        DEIN PARK nur der Zündfunke für viele Aktivitäten
Projekt DEIN PARK. Zu den Unterstützer*innen und         außerhalb des Parks und in der Stadt”, sagt Michael
Beteiligten gehören neben den Initiatoren der Evan-      Landeck. Diese Aufgaben könne aber nur in Koopera-
gelischen Schule und der Verwaltung Vertreter*in-        tion mit starken zivilgesellschaftlichen Akteur*innen,
nen von Sportvereinen, Unternehmen, der Verschö-         Verwaltung, Unternehmen und der Stadtgesellschaft
nerungsverein und viele andere. „Nun kooperieren         gelingen. Auf diesem Weg werden neue kooperative
die verschiedensten Akteure aus Verwaltung, Schule       analoge und digitale Lösungsansätzen unter anderem
und Stadtgesellschaft. Das wäre vor drei Jahren noch     in den Bereichen Bildung, Bewegung und Gesundheit
nicht denkbar gewesen. DEIN PARK ist hier auch nur       sowie Klima- und Artenschutz erprobt. Dies spiegelt
der Anfang für einen gemeinsam getragenen Stadt-         sich auch im „Leitbild DEIN PARK" wider, das festhält:
entwicklungsprozess”, so Michael Landeck. Mittler-
weile werden Wege gerichtet, erläuternde Schilder zu     •   DEIN PARK ist ein grüner Freiraum für Kreativi-
den alten Bäumen erneuert und Bänke aufgestellt.             tät, Bewegung, Naturverbindung und Persönlich-
Sogar die Stadtwerke Neuruppin haben inmitten des            keitsentwicklung.
Waldes einen Trinkwasserbrunnen errichtet, damit
Jogger und Freizeitsportler genauso wie Spazier-         •   Es ist ein OFFENER ORT, der interaktive Angebo-
gänger sich hier kostenlos erfrischen können. Der            te für ALLE ermöglicht.
lange sich selbst überlassene Goldfischteich wurde
gesichert, der Blick auf eine dahinterliegende Brücke    •   Ein nachhaltiger Umgang mit dem Naturraum
wieder freigelegt und so die Fläche an der Kreuzung          und ein ausgeglichenes SCHENKEN UND EMP-
dreier Sichtachsen mit einer Grillstelle wiederbelebt.       FANGEN sind hier lebendig.
DEIN PARK verfolgt jedoch nicht nur den Ansatz, den
schon Peter Joseph Lenné vor fast zweihundert Jah-       •   Die Basis für eine kooperative Parkentwicklung
ren vorschwebte, den Park wieder zu einem attrakti-          bildet ein STARKES NETZWERK aus stadtweiten
ven Ort für Erholung und Begegnung für alle Genera-          Akteuren.
tionen zu machen:
                                                         Regelmäßige Netzwerktreffen helfen, die Akteur*in-
   „Überall war es bei vorliegendem Projekt mein         nen zusammenzubringen und neue Ideen zu entwi-
   Bemühen, die Verteilung des gegebenen Raumes          ckeln. Die Schüler*innen des EVI spielen auch wei-
   so zu leiten, dass neben dem Nutzen, welcher der      terhin eine wichtige Rolle als Mittler und Initiatoren
   Gemein[d]e aus den neuen Anlagen geschaffen           von generationenübergreifenden Aktivitäten rund
   werden soll, auch dem Vergnügen der Einwoh-           um den Stadtpark: Apps entwickeln, Laubharken mit
   ner sein Recht widerfahre. Denn je weiter ein         dem Verschönerungsverein, Aktionen beim „World
   Volk in seiner Kultur und in seinem Wohlstande        Cleanup Day” oder Stadtparklauf. Daneben finden
   fortschreitet, desto mannigfaltiger werden auch       sich weiter Angebote für alle Altersgruppen wie
   seine sinnlichen und geistigen Bedürfnisse. Da-       Waldbaden, Film- und Fotoworkshops, Kunstprojek-
   hin gehören dann auch die öffentlichen Spazier-       te, Naturerlebnistage oder auch Reha- und Fitness-
   wege, deren Anlage und Vervielfältigung in einer      angebote. Auch kleinere AGs, wie zur Erhebung von
   großen Stadt nicht allein des Vergnügens wegen,       Wetterdaten, bilden sich im Zusammenhang mit dem
   sondern auch aus Rücksicht auf die Gesundheit         Stadtpark. So wird der Park zum Erlebnisraum und
   dringend empfohlen werden muss.” (Peter Joseph        außerschulischen Lernort. Lehrer und Projektleiter
   Lenné, zitiert bei Günther, 1985, S. 187 )            Michael Landeck ist sich sicher, dass „Schülerinnen
                                                         und Schüler beim Engagement am Ball bleiben, wenn
Das Projekt geht weit darüber hinaus. Denn Ziel ist      es für sie etwas gibt, was für sie von Wert ist.” DEIN
es, Neuruppin gemeinsam resilienter für die Heraus-      PARK wird so zu einem relevanten Baustein für eine
forderungen des Klimawandels und der Folgen der Co-      resiliente Stadtgesellschaft, die für alle Generationen
rona-Pandemie zu machen. „Ich wünsche mir, dass wir      in Neuruppin von Bedeutung ist.

                                                                 population-europe.eu     17
Kontextbedingungen generations-                           Solidarität mit den Ältesten bewiesen. Das zuneh-
übergreifenden Engagements                               mende Ungleichgewicht zwischen den Generationen
                                                          zeigt jedoch schon Wirkung: Jugendliche empfinden
                                                          sich häufig als politisch einflusslos und ungehört
Lebens- und Engagementformen wandeln sich un-             (Andresen et al., 2022) – wohl auch angesichts ihrer
ter den demografischen, ökonomischen und sozialen         zahlenmäßigen Unterlegenheit, die sich in der abseh-
Bedingungen. Doch weder kann von einer „Einsam-           baren Zukunft noch verschärfen wird.
keitsepedemie” die Rede sein, noch von einer zuneh-
menden Entfremdung zwischen Jungen und Alten.             An dieser Stelle lässt sich stichpunktartig zusam-
Auch von einer brüchiger werdenden Generationen-          menfassen in welchem Kontext intergenerationelles
solidarität ist nichts zu spüren, haben doch die Kin-     Engagement aktuell zu betrachten ist:
der und Jugendlichen während der Pandemie große

    •    Der demografische Wandel beeinflusst unmittelbar die Generationengröße und
         abfolge. Wenige Enkel stehen vielen (Ur-)Großeltern gegenüber. Zudem hat die Langlebigkeit
         dazu geführt, dass sich auch die Senior*innen-Generation differenziert („Junge Alte”, Hochbe-
         tagte etc.).

     •   Emanzipation, Wertewandel und Individualisierung haben zu einer Auflösung traditi-
         oneller Bindungen geführt. Leben und Beziehungen werden wähl- und gestaltbar. Familiäre
         Bindungen bleiben wichtig, aber werden durch eine Bedeutungsaufwertung nicht-familiärer
         Netzwerke ergänzt.

     •   Mitgliedschaft in einem Verein bedeutet heute keine lebenslange Verpflichtung
         mehr. Engagement muss biografisch passgenau sein. „Klassisches” Ehrenamt und En-
         gagement in Sportvereinen, Chören und Landfrauenverbänden bekommt zunehmend Konkur-
         renz von freien Gruppen, die sich eher zwanglos und ohne institutionelle Anbindung treffen
         (Laufgruppen, Grillverein). Zudem treten innovative Akteurskonstellationen (aus Zivilgesell-
         schaft, Verwaltung, Unternehmen) auf den Plan, die auf Bedarfe vor Ort reagieren, konkrete
         Anliegen verfolgen und Gesellschaft stärker selbst gestalten wollen (Gestaltungsengagement).
         Die Schwächung von Pflicht- und Akzeptanzwerten, die mit einer Stärkung der Selbstentfal-
         tungswerten (Klages, 2001) einherging, hat seit einigen Jahrzehnten auch zu einer deutlich
         eingeforderten und gelebten Mitbestimmungskultur in Betrieb und Privatleben geführt. So ist
         der Wunsch nach Partizipation, Mitbestimmung und Gestaltung auch bei den Akteur*innen der
         Zivilgesellschaft deutlich angestiegen.

     •   Die Corona-Pandemie hat Gefühle der Einsamkeit bei vielen Menschen ausgelöst.
         Einsamkeit ist jedoch kein Thema allein der älteren Generation. Gerade junge Menschen ken-
         nen das Gefühl der gesellschaftlichen Unverbundenheit. Einsamkeit kann nicht nur traurig
         und krank machen, sondern das Vertrauen in Mitmenschen und demokratische Institutionen
         schwächen und stellt so eine Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt dar.

                 18     Discussion Paper | Januar 2023
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