NATURGEFAHRENREPORT 2016 - DIE SCHADEN-CHRONIK DER DEUTSCHEN VERSICHERER IN ZAHLEN, STIMMEN UND EREIGNISSEN - GDV
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Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V. Naturgefahrenreport 2016 Die Schaden-Chronik der deutschen Versicherer in Zahlen, Stimmen und Ereignissen
NATURGEFAHRENREPORT 2016 Inhaltsverzeichnis Einleitung 1 Editorial 2 „Wir müssen die neue Risikowelt noch besser verstehen lernen.“ Ein Gespräch mit GDV-Präsident Dr. Alexander Erdland 3 Schäden durch Naturgefahren auf einen Blick Kapitel eins: Unwetter-Frühsommer 2016. Katastrophen – und die große Hoffnung 6 So viel Katastrophe in so kurzer Zeit. Der Unterwetter-Frühsommer 2016 10 „Ärmel hochkrempeln und los.“ Das Schadenmanagement der Versicherer 14 Endlich Hilfe für das Weltklima. Der Gipfel von Paris 17 Klimaanpassung ergänzt Klimaschutz. Der Klimaschutzplan 2050 18 „Schutz kann eine Win-win-Situation sein.“ Ein Gespräch mit Dr. Achim Daschkeit von KomPass 20 „Wir wollen grundsätzliche Strukturen erforschen.“ Ein Gespräch mit Dr. Andreas Becker (DWD) und Dr. Olaf Burghoff (GDV) zum Starkregen-Projekt 22 Führende Stimmen für das Klima. Die Naturgefahrenkonferenz des GDV Kapitel zwei: Das Jahr der Stürme und Tornados. Die Schadenbilanz 2015 der Sachversicherung 26 Heiß, trocken, stürmisch. Der Jahresrückblick 2015 28 Der Sturm und seine tückischen Geschwister. Die Schadenbilanz 2015 30 Wie Schäden die Seele beschweren. Psychische Schäden nach Naturkatastrophen 32 Individuelle Lösungen auch für knifflige Fälle. Schutz für Unternehmen 34 Höchster Schutz vor gefährlichen Stoffen. Neue Richtlinien für Risikobranchen Kapitel drei: Vier Tage Hagel, verheerend. Die Schadenbilanz 2015 an Kfz 38 Schwer verhagelt: Freiburg und der Westen Kapitel vier: Die digitalen Dienstleister 42 Digital heißt kundennah. Wie die Versicherungswirtschaft die Digitalisierung nutzt 45 Mehr Daten für besseren Risikoschutz. Das Zonierungssystem ZÜRS Geo 47 Hausbesitzer unterschätzen Überschwemmungsgefahr. Ein Meinungsbild 48 Information und Vorsorge: Die Länderkampagnen und der Kompass Naturgefahren Anhang: Publikationen/Links
EINLEITUNG 1 Editorial Das Thema Naturgefahren wird für unsere Ge- Es gibt viele Möglichkeiten, um die Risiken zu redu- sellschaft immer wichtiger. Die Ereignisse dieses zieren. Über konkrete Möglichkeiten sprechen wir Jahres bestätigen das einmal mehr – leider. in diesem Report. Im Mittelpunkt steht die Klima- politik. Denn die Bekämpfung des Klimawandels Hatten wir bereits im vorigen Jahr die häufig un- ist zweifellos die wichtigste Aufgabe, wenn wir terschätzte Bedrohung durch Starkregen in den die Risiken durch Naturgefahren in der Zukunft Mittelpunkt gestellt, so kam es in diesem Jahr beherrschbar halten wollen. Das Potsdam-Institut noch schlimmer: Allein die versicherten Schäden, für Klimafolgenforschung hat erst vor wenigen die von den schweren Unwettern des Frühsom- Wochen noch einmal deutlich gemacht: Ohne ei- mers verursacht wurden, liegen bei über einer nen Kurswechsel werden sich allein die Schäden Milliarde Euro. Gemeinden wie Braunsbach oder durch Überschwemmungen vervielfachen. Simbach am Inn haben schwerste Zerstörungen davongetragen. Menschen haben ihr Leben verlo- Das Klimaabkommen von Paris ist dabei nur ein ren, zahllose andere ihr Eigentum. Häuser wurden Anfang. Entscheidend ist, dass auf die Worte jetzt geflutet. Und Hunderte sind so schwer beschä- Taten folgen. Wie wir die anspruchsvollen Klima- digt, dass sie abgerissen werden müssen. ziele in Deutschland, in Europa und weltweit er- reichen – das muss jetzt Gegenstand der öffentli- Diese Ereignisse sind uns eine Warnung. Wir chen Debatte und klarer, verbindlicher Beschlüsse dürfen die Gefahren durch Sturm und Starkre- werden. Diese Diskussion führen wir in diesem gen, Hagel und Hochwasser nicht auf die leichte Report, und wir werden uns dazu auch in der Schulter nehmen. Wir haben hier unser Schicksal kommenden Zeit immer wieder hörbar zu Wort auch ein Stück weit selbst in der Hand. Das fängt melden. Denn wir helfen nicht nur, wenn das bereits im Kleinen an. Es ist eben nicht trivial, wo Schlimmste geschehen ist. Sondern wir helfen vor und wie gebaut wird. Es macht einen Unterschied, allem dabei, das Schlimmste zu verhindern. Denn ob man auf einer Anhöhe lebt oder ein Haus am wir kennen die Herausforderungen und die Risi- Rande eines Überflutungsgebietes errichtet. Es ken, die Zahlen und die Fakten. Wir unterstützen macht einen Unterschied, ob wir in der Stadt- und und begleiten die Erforschung des Klimawandels Landschaftsplanung der Natur und dem Was- und der Naturgefahren. Wir beraten Menschen ser Raum lassen, oder ob Flächen versiegelt und und Kommunen bei der Verbesserung ihrer Si- Überschwemmungsgebiete bebaut werden. Was cherheit. So wollen wir dazu beitragen, eine neue wir brauchen, ist ein neuer Umgang mit diesem Risikokultur zu entwickeln. Risiko. Dr. Alexander Erdland Dr. Jörg von Fürstenwerth Präsident Vorsitzender der Geschäftsführung
2 INTERVIEW „Wir müssen die neue Risikowelt noch besser verstehen lernen.“ Die Ergebnisse der Klimakonferenz von Paris sind ein Anfang, auch für Deutschland. Die Anpassung an den Klimawandel ist das Gebot der Stunde. GDV-Präsident Dr. Alexander Erdland erklärt im Interview, wie die Versicherer das Klimaziel anpacken wollen. Herr Dr. Erdland, die Wasserfluten um Überflutungsflächen und Rückhaltebecken von Braunsbach und Simbach am kümmert. Da könnte der Bund durch klare Regeln Inn haben die Deutschen in diesem und Fördermittel zum Beispiel über die Städtebau Sommer erschreckt. Wie haben Sie programme helfen. sich im Angesicht der Katastro- phenbilder gefühlt? Müssen wir uns also vor allem an den Klimawan- Als ich die Bilder zum ersten Mal ge- del anpassen? sehen habe, die in Braunsbach von Natürlich müssen wir uns auf den Klimawandel den Menschen gemacht wurden – vorbereiten. Selbst wenn es gelingt, wie man es das hat mich sehr getroffen. Als sich in Paris vorgenommen hat, die Erwärmung Versicherer weiß ich natürlich, dass unserer Erde auf zwei Grad zu begrenzen, wird sich so etwas eigentlich fast überall pas- unser Leben merklich verändern. Wir müssen aber sieren kann, dass das Risiko in den auch alles dafür tun, dass wir wenigstens dieses letzten Jahren eher größer gewor- Klimaziel erreichen. In einer Welt, die vier oder fünf Dr. Alexander Erdland den ist. Aber Wahrscheinlichkeiten Grad wärmer ist, werden Risiken und Kosten wahr- sind eben das eine. Wenn es konkrete Menschen scheinlich unkalkulierbar. trifft, die Haus und Hof, vielleicht sogar Freunde und Angehörige verlieren, dann ist da aber immer Was sind hier Ihre Erwartungen an die Politik? auch ein Mitleiden. Zuerst einmal habe ich großen Respekt, dass die Klimakonferenz in Paris tatsächlich konkrete Er- Und was denkt der Präsident der Versicherungs- gebnisse gebracht hat. Dass es ein Übereinkom- wirtschaft in so einem Moment? men gibt, das war ja alles andere als sicher. Aber Ich ärgere mich vor allem, dass wir in Deutschland jetzt muss es weitergehen. Deutschland und Eu- immer noch viel zu wenig tun, um solchen Ereig- ropa müssen Vorreiter bleiben. Dazu gehört auch nissen vorzubeugen. Natürlich gibt es nie hundert- die schnelle Ratifizierung der Verträge. Nachdem prozentige Sicherheit. Aber wir können viel tun, die USA und China bereits unterzeichnet haben, um das Ausmaß der Schäden zu reduzieren. Das sollten die Staaten der Europäischen Union schnell fängt an bei der Stadt- und Landschaftsplanung folgen. und endet bei der Frage, ob sie im Keller die Elektro- kabel am Boden oder an der Decke verlegen. Und was können – und müssen – die Versicherer tun? Was ist aus Ihrer Sicht die Ursache dafür? Wir müssen die neue Risikowelt noch besser ver- Die Politik hat das Problem eigentlich erkannt. Der stehen lernen. Dazu brauchen wir mehr Daten und Entwurf zum sogenannten Hochwasserschutz- Forschungsergebnisse. Die Digitalisierung bietet gesetz II etwa geht in die richtige Richtung. Aber uns da große Möglichkeiten. Und gleichzeitig die Vorgaben, z. B. für hochwasserangepasstes müssen wir die Menschen stärker sensibilisieren. Bauen, sind oft nicht konkret genug. Und vielen Viele unterschätzen das Risiko und sind darum Kommunen fehlt schlicht das Geld, um sich besser auch unzureichend versichert. Da würden wir auch gegen Naturgefahren zu schützen. Im Zweifel wird gern stärker mit der Politik zusammenarbeiten. lieber ein neues Wohn- oder Industriegebiet aus- Ein gemeinsames Naturgefahrenportal wie in der gewiesen oder die Schule saniert, bevor man sich Schweiz wäre etwa ein wichtiger Schritt nach vorn.
3 Schäden durch Naturgefahren auf einen Blick Schadenaufwand 2015: knapp 2,6 Milliarden Euro in der Sach- und Kfz-Versicherung Sachversicherung Kfz-Versicherung Wohngebäude, Hausrat, Industrie, Gewerbe und Landwirtschaft Voll- und Teilkasko 1,9 1.800 Mio. € 100 Mio. € 650 Mio. € 5 Mio. € 655 Mrd. € Mio. € 1.520.000 30.000 325.000 1.250 Sturm- und Elementar- Sturm- und Überschwemmungs- Hagelschäden schäden Hagelschäden schäden Sachversicherung*: Jährlicher Schadenaufwand für Sturm, Hagel und Elementarereignisse** in Milliarden Euro*** 8,2 8 6,7 7 5,8 6 5,0 5,0 5 4,6 4 3 1,9 2 1 0 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015 *) Wohngebäude, Hausrat, Gewerbe, Industrie und Landwirtschaft **) Schäden durch Überschwemmung/Starkregen, Hochwasser, Erdbeben, Erdsenkung, Schneedruck, Lawinen/Erdrutsch und Vulkane ***) Sturm-/Hagel-, seit 1999 auch Elementarschäden; hochgerechnet auf Bestand und Niveau 2015 Quelle: GDV
5 Unwetter-Frühsommer 2016. Katastrophen – und die große Hoffnung So viel Katastrophe in so kurzer Zeit. An Orten, die es nicht erwartet haben. Unwetter mit Starkregen und Hagel überziehen Deutsch- land im Frühsommer 2016 mit Fluten, mit Geröll und mit Schlamm. Unfassbar, wie schnell kleine Bäche anschwellen und halbe Ort- schaften mit sich fortreißen können. Wie viel Klimawandel steckt in diesen Katastrophen? Welcher Schutz ist angemessen? Der Blick auf das Weltklima und den Klimagipfel von Paris zeigt, wie verletzlich die Erde geworden ist. Und mit ihr wir Menschen.
6 KAPITEL EINS: STARKREGEN D E R U N W E T TE R- F R Ü H S OM M E R 2 0 1 6 So viel Katastrophe in so kurzer Zeit Gewitterfronten, die einfach nicht abziehen wollen und Überschwemmungen bringen – in Regionen, die Hochwasser nicht kennen. Erdrutsche, Schlamm und wieder Starkregen. Die Naturkatastrophen im Mai und Juni 2016 richten im ganzen Land verheerende Schäden an. Eine Landkarte des Geschehens. 1Wiesbaden, Hessen 2 Minden, Stolberg, Hamminkeln, Nordrhein- In der Eifel beginnt es am 26. Mai, Tief Elvira Westfalen zieht rüber nach Hessen. Es hagelt weiße Klum- In Minden in Nordrhein-Westfalen ziehen Sturm- pen, die sich auf die Straßen legen als wäre Winter. böen, Hagel und Starkregen einen Tag später eine Unzählige beschädigte Dächer, Fahrzeuge, Fenster. Schadenschneise. Fünf Häuser werden wegen Einsturzgefahr geräumt, 33 Bewohner in Sicher- heit gebracht. Tief Elvira flutet auch die Stadt Eu- skirchen, den Ort Kall. In Stolberg im Rheinland stehen die Notruf Die Unwetter-Tiefs: Elvira und Friederike +++ Freitag, 26.5. +++ +++ Samstag, 27.5. +++ 26 27 Beginn des Unwetters Tiefdruckgebiet weitet sich über Mitte und Süden mit Starkregen und Deutschlands aus: Überflutungen in der Eifel, MAI Hagel in der Eifel MAI Wiesbaden, Kaiserslautern und Regensburg
10 7 11 2 Unwetter-Frühsommer 2016: die am stärksten betroffenen Regionen Deutschlands telefone nicht still. Laub und Schlamm verstopfen Kanalrohre, das Wasser 9 läuft über die Straßen weiter in die Kel- 3 ler. Die Feuerwehr pumpt das Wasser ab und baut mit Sandsäcken Deiche. 1 6 4 In Hamminkeln im Kreis Wesel droht 7 ein Deich zu brechen. 500 Feuerwehr- 5 leute aus der ganzen Region stabilisie- ren ihn eine ganze Nacht lang mit Tausen- 8 den Sandsäcken. 3 Koblenz, Nierendorf, Rheinland-Pfalz Regen und Hagel entlauben die Weinberge, unterspülen eine Zugstrecke. Erdrutsche sperren Straßen. Im kleinen Ort Nierendorf hält das neu gebaute Fachwerkstädtchen – zerstört. „Braunsbach wird Regenrückhaltebecken den Wassermassen nicht nie wieder, wie es war“, sagen die Einheimischen. stand und flutet den Ort. Die Menschen müs- sen per Hubschrauber von ihren Dächern geholt 6 Künzelsau, Baden-Württemberg werden. Künzelsau, 30.000-Einwohner-Stadt, nur wenige Kilometer von Braunsbach entfernt. Der 4 Schwäbisch Gmünd, Baden-Württemberg Starkregen flutet einen Großteil der Innenstadt. Die Unwetter dieses Frühsommers fordern Unzählige Häuser unter Wasser, Schulen und Kin- ihre ersten Toten. Vier Menschen sterben am dergärten bleiben tagelang geschlossen. Der Flut 29. Mai im rasenden Wasser, darunter ein Feuer- folgen die Müllberge: Hausrat, Fenster, Heizun- wehrmann, der einen Menschen retten wollte. gen, Parkett. „Auf so etwas kann sich niemand vorbereiten“, 5 Braunsbach, Baden-Württemberg sagt der Landesfeuerwehrchef: „Wenn ein gan- Kein Mensch kennt hier so ein Hochwasser. Es zer Ort unter Wasser steht und Straßen über- geht so schnell, so rasend schnell. Drei kleine Bä- schwemmt sind, dann dauert es seine Zeit, bis die che schwellen am 29. Mai an, vereinen sich, treten Hilfe überall ankommt.“ über die Ufer. Bäume, Autos, Öltanks schwemmt die Flut durch die Straßen, gegen und durch die 7 Ansbach, Würzburg, Bayern Häuser. Der Schlamm der umliegenden Felder Hagelschauer überziehen Straßen zentime- kommt mit, die Erde rutscht und bringt Geröll. terdick. Keller laufen voll, Bäume knicken um, Die Hälfte der Häuser zerstört, einsturzgefährdet. Autos schwimmen fort, immer wieder Blitzein- Menschen obdachlos. schläge. 65 Liter Regen pro Quadratmeter und 2.000 Tonnen Schutt räumt das Technische Hilfs- mehr. werk in den ersten Tagen nach der Katastrophe Die Altstadt von Ansbach entgeht knapp einer aus Braunsbach. Der Ort ist eine Woche lang nicht Überflutung. Schlamm und Geröll auf der Bahn- erreichbar, weil die Zufahrtsstraße geborsten ist. strecke Ansbach – Würzburg. Kein Zugverkehr, Kein Trinkwasser, kein Strom. Das hübsche kleine keine Schulbusse fahren. +++ Sonntag, 28.5. +++ +++ Montag, 29.5. +++ 29 Unwetter in Erzgebirge, Schwere Überschwemmungen in 28MAI Thüringer Wald, Bayern, Baden-Württemberg MAI Braunsbach, Schwäbisch Hall, Schwäbisch Gmünd, Baden-Württemberg
8 Simbach, Rottal-Inn, Niederbayern 10 Hamburg 57 Kilometer von Passau entfernt, der Hoch- Ausnahmezustand in Hamburg. Ein Tornado wasserstadt des Jahres 2013. Der kleine Simbach, legt am 7. Juni 2016 weite Teile der Hansestadt Nebenflüsschen des Inn, hat an normalen Tagen lahm. Unzählige abgedeckte Dächer und vollge- eine Pegelhöhe von 50 Zentimetern. An diesem laufene Keller, über 1.000 Feuerwehrleute und Mittwoch, dem 1. Juni, steigt das Wasser auf das das Technische Hilfswerk sind im Einsatz. Es fal- Zehnfache, auf über fünf Meter. Einen halben Me- len an diesem Abend mehr als 50 Liter Regen pro ter hoch steht es in der Stadt. Es steht nicht, es Quadratmeter. strömt. Schwemmt Baumstämme, Autos, Öltanks mit sich, wie in Braunsbach, wie andernorts. Sieben 11 Damme bei Vechta, Niedersachsen Menschen sterben. Die niedersächsische Kleinstadt Damme „Gesperrt!“ sprühen Mitarbeiter des Technischen steht drei Tage später nahezu komplett unter Hilfswerkes fünf Tage nach diesem Höchststand an Wasser. 70 Liter pro Quadratmeter in 20 Minu- Dutzende der Häuser. Nicht mehr bewohnbar. „Öl ten schafft die Kanalisation längst nicht mehr. im Keller“ sprühen sie an andere. Die roten Schrift- „Wir hatten hier schon mal Wasser auf den Stra- züge teilen die Stadt. Zerstört die eine Hälfte. Viel- ßen stehen, aber so etwas wie heute hatten wir leicht noch zu retten die andere. Die Abrissbagger noch nicht“, sagt ein Polizeisprecher. Der Satz arbeiten längst. dieses Frühsommers: „So etwas hatten wir noch 175 Liter pro Quadratmeter Regen, binnen kürzes- nicht.“ ter Zeit. Der ganze Landkreis Rottal-Inn im Kata Weite Teile der Republik sind zu diesem Zeit- strophenzustand. In Bayern wird es den ganzen Juni punkt im Bann der Naturgewalten. Im Norden über nur einen einzigen Tag ohne Regen geben. tobt am zweiten Juni-Wochenende bereits die dritte Unwetterwelle des Frühsommers. 9 Eibenstock, Aue, Sachsen Hagel und Starkregen am 1. Juni über dem Die Bilanz der Katastrophen Erzgebirge. 50 Zentimeter hohe Eismassen auf den Straßen, Autofahrer eingeschlossen. In Aue fallen Hagel, Starkregen, Überschwemmung, Erd- 25 Liter pro Quadratmeter binnen weniger Stun- rutsch. Elf Tote. Vom Wasser eingeschlossene den, Straßen überflutet. Menschen in Lebensgefahr, Tausende zerstörte +++ Mittwoch, 1.6./Donnerstag, 2.6. +++ +++ Dienstag, 7.6. +++ 1 7 Gewitter, Starkregen vor allem über Niederbayern, Tornado in Hamburg, am stärksten betroffen: Simbach durch Starkregen schwere Unwetter in JUNI und Überflutung JUNI Niedersachsen
9 Häuser, Straßen, Bahnlinien. Im Westen, schlim- Sturzfluten, die die Kana- mer im Süden und Südwesten. lisation nicht fassen kann. „Sachschäden in Höhe Tief Mitteleuropa verharrt seit Ende Mai über Alles auf einmal. Lebensge- von rund 1,2 Milliarden dem Land und zieht nicht ab. Regnet, regnet, ha- fährlich. Euro. Noch nie haben gelt, gewittert. Hagelkörner bis zu sechs Zentime- Unwetter mit heftigen ter, Tagesmengen an Regen bis zu 150 Litern pro Was ist anders an diesen Regenfällen innerhalb Quadratmeter, teilweise binnen zweier Stunden. Unwettern 2016? Die Men- so kurzer Zeit so hohe Kein Bundesland in diesem Frühsommer ohne schen sprechen nicht mehr Schäden verursacht.“ Schäden. über das Unwetter, ohne auch vom Klimawandel zu Dr. Alexander Erdland, Was ist anders an diesen Überschwemmungs- sprechen. In einer aktuellen Präsident des GDV katastrophen, anders als das Juni-Hochwasser Sonderstunde des Bundes- 2013, das August-Hochwasser 2002 oder die tages nennen Politiker aller Oderflut 1997? Keine tagelange Vorwarnung, Fraktionen die menschengemachte Katastrophe keine nahende Scheitelwelle. Die Flut kommt von beim Namen und fordern: Klimaschutz und ange- oben, dann geht es rasend schnell. Kein Deich, messenen Schutz vor Naturgefahren im ganzen kein Schutz, weil niemand damit rechnet. Land. Die kleinen Bäche brechen sich ihre neuen, me- Hubert Weiger, der Vorsitzende des Bund Natur- terhohen und meterbreiten Verläufe direkt durch schutz, sagt in Bayern: „Mein erster Gedanke war: die Straßen, die Häuser. Andernorts Hagel und Niemand kann mehr sicher sein.“ Geschätzter Schadenaufwand durch Elvira und Friederike: 1,2 Milliarden Euro in der Sach- und Kfz-Versicherung Sachversicherung Kfz-Versicherung Wohngebäude, Hausrat, Industrie, Gewerbe und Landwirtschaft Voll- und Teilkasko 1.000 Mio. € 1,2 200 Mio. € Mrd. €
10 KAPITEL EINS: STARKREGEN DAS SC HADENMANAGEMENT DER VERSIC H ER ER „Ärmel hochkrempeln und los.“ Das Schadenmanagement der Versicherer nach Katastrophen folgt einem festgelegten Sonderablauf- plan. Routiniert, abgeklärt nicht. Es geht schließlich um Menschen, deren Existenz unter Schlamm liegt. Momentaufnahmen der Arbeit aus den Katastrophengebieten des Frühsommers 2016. In der Mittagszeit kommt der Ort für eine halbe Frühsommers 2016 einen Namen gibt. Brauns- Stunde zur Ruhe. Hunderte Helfer sitzen aufge- bach. 2.500 Einwohner, ländliches Baden-Würt- reiht im Straßendreck. Sie essen, was in der im- temberg, hübsche kleine Fachwerkhäuser. Davor. provisierten Suppenküche Danach ist die Hälfte der Häuser weg, liegt der in einer Garage für sie Ortskern unter Schlamm. „Für uns ist es besonders gekocht wird. Die Garage wichtig, schnell vor Ort gehört zu einer Bäckerei, Geräusche und Bilder. Als Breuning, der Chef bei den Betroffenen zu die keine Bäckerei mehr koordinator Schadenregulierung der Sparkassen- sein. Das gibt den Men- sein kann. Nichts mehr Versicherung, das erste Mal in Braunsbach ist, schen die Sicherheit, dass drin, feucht bis ins erste am Nachmittag nach der Katastrophe, sieht er sie zumindest mit den Stockwerk. einen Ort, der in Ohnmacht liegt. Wund gerissen, materiellen Schäden nicht an vielen Stellen noch Wasser, überall Schlamm alleingelassen werden.“ Ein halbe Stunde später und Geröll. Menschen vor den Resten ihrer Häu- kehren die Helfer an die ser. Furchtbar. Breuning kann keine Fotos machen. Roland Stoffels, Leiter der Arbeit zurück. Der Ort wird „Das ging irgendwie nicht.“ Das gehört eigentlich Geschäftsführung, Generali Deutschland Schadenmanage- wieder laut. Bagger reißen zu seinem Job: Fotos machen, Schäden dokumen- ment Gesellschaft die nassen Gemäuer ab, tieren. die Menschen schmeißen den unbrauchbar gewor- Wie kann er jetzt helfen? Zunächst hilft ihm ein denen Hausrat – Kühlschränke, Möbel, Kuckucks- Einheimischer, den er anspricht. Er hat ja ohnehin uhren – auf die Müllhalden an den Straßenrän- nichts anderes zu tun, sagt der Mann, der kein dern. Was noch da ist, muss jetzt auch weg. Haus mehr hat und führt ihn durch Braunsbach. 70 kaputte Häuser besucht Breuning, ihre Bewoh- Es sind diese Geräusche nach der Katastrophe, die ner, hört zu, macht Fotos jeder einzelnen Katast- Stephan Breuning wahrnimmt, als er zum zwei- rophe. Jetzt, nach den ersten Begegnungen, ist es ten Mal in den Ort fährt, der den Sturzfluten des möglich. 49 der 70 Häuser sind versichert.
11 „In Krisensituationen rufen Normalerweise läuft es an- unglaublich kurzer Zeit. wir unsere Schadenregulierer dersherum. Versicherte Kun- Sparkassen-Versicherung, den melden ihren Schaden auch aus anderen Regionen Allianz, R+V Versicherung, telefonisch oder online bei zusammen und aktivieren Generali und Versiche- ihrer Agentur, fotografieren, unseren Handwerkerservice. rungskammer Bayern schreiben auf. Doch was Da heißt es dann für alle werden die am schlimms- ist schon normal in diesem Beteiligten: Ärmel hochkrem- ten betroffenen Unter- Juni 2016, in Braunsbach, peln und los.“ nehmen sein, das wissen Simbach, Künzelsau, in den Beatrice Fischer, Abteilungsleiterin sie Ende Mai indes noch Katastrophenorten im Süden Sach-Schaden, Region Südost, Allianz nicht. In Bayern nur ein und Südwesten, im Westen Versicherungs-AG einziger Tag ohne Regen, und Osten. Mit den Häusern im Südwesten und Wes- ist vieles weg, die Versiche- ten Unwetter an Unwet- rungspolicen, die Kameras. Also gehen die Scha- ter. Eine Schadenmeldung jagt die andere. denregulierer von der Sparkassen-Versicherung, der Allianz, der Generali, der Versicherungskam- „Die Maschinerie läuft“, heißt es bei der Sparkas- mer Bayern, der R+V Versicherung und vieler ande- sen-Versicherung. Auch der interne Sprech hat die rer Versicherer zu ihren Kunden und machen viele Routine verinnerlicht. Die Allianz fährt „ad hoc die der Schadenmeldungen selbst. Damit sich das Le- Service-Einheiten hoch“. Die Generali übergibt das ben wieder sortieren kann. Management der Einsätze an einen Kumulbeauf- tragten. „Wir haben die Lage im Griff“, meldet die Entscheidungen, Entscheidungen, R+V. „Wir sind vor Ort“, die Versicherungskammer Entscheidungen Bayern. Unwetterwarnungen und Wetter-News verfolgen, Die 24-Stunden-Hotlines der Versicherungsun- alle zehn Minuten. Teams in Bereitschaft verset- ternehmen sind geschaltet, auf denen Kunden zen, Innendienstler, Außendienstler. Anruf bei mit geringeren Schäden ihre Schadenmeldungen Handwerkern und Dienstleistern mit Trockenge- durchgeben können. Manche Unternehmen teilen räten: „Da kommt was. Ruckelt euch zurecht.“ Der ihre IT-Systeme, damit die großen Schäden, die Krisenstab ruft die Krise aus. Los. über 75.000 Euro, getrennt von den kleineren be- arbeitet werden können. Es sind Hunderte. Man- Sie wissen, was zu tun ist. Nach den Katast- che Unternehmen schicken ihre Innendienstler rophenjahren 2002 und 2013, den schweren mit in die Krisenregionen. Die Schadenregulierer Überschwemmungs- und Hageljahren, haben werden auch aus anderen Gebieten zusammen- Die Schadenregulierer packen selbst mit an: die Versicherungsunternehmen ihre Kumul- gezogen, damit sie schnell und konzentriert Schä- schaufeln den pläne konkretisiert, Pläne für Krisen wie die des den besichtigen, aufnehmen, Reparaturen und Schlamm weg, räumen Frühsommers, mit unglaublich vielen Schäden in Vorauszahlungen in die Wege leiten können. den Schutt auf.
VERSICHERER GEHEN INS 12 KAPITEL EINS: UNWETTER-FRÜHSOMMER 2016 R I S I KO In Ausnahmezeiten wie den Unwetter- katastrophen des Frühsommers 2016 geben Versicherer Tipps, was im Scha- „Bei starken Unwetter- denfall zu tun ist, managen die Scha- Schnell. Manchmal sind warnungen verfolgen denfälle vor Ort und beraten individuell. die Ablaufpläne schneller wir besonders intensiv als die Realität. Die Scha- Dabei agieren sie vorausschauend und die Wetterlagen. Sobald denregulierer der Generali gehen bewusst ins Risiko. Die NÜRNBER- wir meinen, da könnte kommen nach Simbach, die GER beispielsweise startet eine umfas- was Schlimmes kommen, Straßen sind noch gesperrt, sende Aufklärungsaktion noch während rufen wir unsere Hand- die Polizei geleitet sie, da ist der verheerenden Ereignisse. Ihre Ver- werker und Dienstleister das Wasser noch nicht ab- mittler vor Ort beraten gezielt diejenigen an: Bereitet euch vor.“ geflossen, die Häuser noch Kunden, die noch keine Elementarversi- voll Schlamm. Simbach ist cherung für ihr Gebäude abgeschlossen Stephan Breuning, Chefkoor- der zweite Ortsname der haben. Diese gibt Schutz auch bei Star- dinator Schadenregulierung, Sparkassen-Versicherung Juni-Unwetter. Im nieder- kregen und Überschwemmung. bayrischen Ort sterben Parallel dazu startet eine umfangrei- sieben Menschen, als der che Mailingaktion. Bundesweit werden anschwellende Simbach sich unter einer Brücke Kunden mit privaten und gewerblichen staut und sich in Minutenschnelle einen neuen Sachverträgen ohne Elementar-Ein- Weg durch den Ort, durch die Häuser bahnt. Mit schluss angeschrieben. Sie erhalten den Baumstämmen, Autos, Geröll beladen, walzt sich Hinweis auf ihre Versicherungslücke das Wasser alles aus dem Weg. und umfangreiche Informationen, wel- cher Versicherungsschutz der richtige Der Schlamm muss raus ist. Kunden, deren Häuser in Gebieten weitab von großen Flüssen liegen, er- Die Schadenregulierer sind so frühzeitig in Sim- halten auf Wunsch sofort ein passen- bach, dass sie noch gar nicht mit der Arbeit be- des Angebot von ihrem zuständigen ginnen können: Die genauen Schäden lassen sich Vermittler. Für Kunden in Gebieten mit noch nicht feststellen. Also packen sie mit an. höherem Überschwemmungsrisiko, den Sie räumen das Geröll mit weg, schaufeln den sogenannten ZÜRS-Gefährdungsklassen Schlamm aus den Häusern. Mit allem, was da noch 3 – 4, erstellt das Unternehmen individu- ist: Töpfen, Suppenschüsseln, Dosen. Der Schlamm elle Angebote. muss raus, bevor er trocken wird wie Beton und noch mehr zerstört. Helfen, wo Hilfe gebraucht wird, doch die Infra- Geräusche, Bilder, Gerüche. Der Geruch der Kata- struktur dafür fehlt. Kein Strom, kein Trinkwasser, strophen ist der von Öl. Günter Selentin von der kaum ein trockener Platz. Die Unternehmen bauen Versicherungskammer Bayern nimmt zuerst die- vor Ort Stützpunkte auf, in Containern oder den sen Ölgeruch wahr, als er in Simbach ankommt. heimischen Vertriebsagenturen, parken Versiche- Wieder – wie bei der Flut 2013 in Deggendorf – rungs-Vans. Von hier aus gehen die Schadenregu- zerdrückt das Wasser die Öltanks, reißt sie auf, lierer aus dem ganzen Land zur schwemmt sie fort. Das Öl Arbeit. Von hier aus werden die hängt im Schlamm, setzt sich Trockner ausgeliefert, die die „Das wissen wir seit den in den Hausmauern fest. To- feuchten, nackten Häuser wie- talschaden, Abriss. Auch das Überschwemmungska- der trocknen sollen. Hier lagert ist eine Erfahrung aus frü- tastrophen 2013. Wie das Material, das die Handwer- heren Überschwemmungs wichtig es ist, schnell ker der Unternehmen für die katastrophen: Das Öl hängt Reparatur brauchen. Denn das und persönlich bei den fest und geht nicht mehr gehört zum Netzwerk, neben Kunden vor Ort zu sein.“ raus, auch nach aufwendiger der reinen Schadenaufnahme. Günter Selentin, Leiter Son- Sanierung nicht. Schneller Auch den Wiederaufbau ma- derschaden Sachversicherung, fallen die Entscheidungen nagen die Versicherungsunter- Versicherungskammer Bayern für einen Abriss, weil ja doch nehmen für ihre Kunden. nichts zu retten ist.
13 Die Schäden. Typische Überschwemmungsschä- aufgeben. „Das sind die bewegendsten Momente, Gewissheit geben, dass es weitergeht. den einerseits. Wasser bis ins Erdgeschoss, ins wenn wir solche Menschen beraten“, sagt Frau Auch das gehört erste Stockwerk. Alles feucht, alles muss raus. Fischer. Was bleibt, ist dabei oft: „Die positive Er- zum Job der Vom Hausrat bis zum Putz an den Wänden. Ent- fahrung, dass wir sie unterstützen können.“ Ge- Schadenregulierer. kernen. Trocknen, Sanieren. Wochen-, monate- wissheit geben, dass es weitergeht. Das gehört lange Bauarbeiten. zum Job dazu. Doch diese Sturzfluten, die mit Hagel und Blit- Das Geld von der Versicherung. Es bringt nichts zen einhergehen, bringen auch andere Schäden. zurück, nicht die persönlichen Erinnerungen, Mitgespültes Geröll und Schlamm, die abrut- nicht das Flair der alten schenden Erdmassen stürzen gegen Häuser und Fachwerkorte, in denen knicken Mauern weg. Das tosende Wasser un- die Menschen seit Genera- „Bei solchen Großereig- terspült die Gebäude und erschüttert die Statik. tionen leben. Haustür an nissen hilft es, dass wir Totalschaden, Abriss. Dutzendfach. Schäden in Haustür. Was es schafft: sämtliche regional anfal- Millionenhöhe. diese Gewissheit, dass es lenden Elementarschäden weitergeht. Dass eine neue bundesweit verteilen und Es hört nicht auf. Allein in zwei Wochen sind es Existenz aufgebaut werden bearbeiten lassen, damit 1,2 Milliarden Euro versicherte Schäden – an kann, in Braunsbach, Sim- es schneller geht.“ Wohngebäuden und Hausrat, an Gewerbe, In- bach oder anderswo. dustrie und Fahrzeugen. Es sind mehr, viel mehr Sylvine Löhmann, Gruppen leiterin Sachschäden Grundsatz, Schäden. Doch viele der kaputten Häuser sind gar „Glück im Unglück“, sagt R+V Versicherung nicht elementarversichert. der elfjährige Sohn, als seine Familie vom Scha- „Ärmel hochkrempeln und machen, besonnen“, denregulierer der Allianz nur so, sagt Beatrice Fischer, Abteilungsleiterin erfährt, dass sie Versicherungsschutz hat. Sie ste- Sach-Schaden bei der Allianz, lassen sich solche hen zu dritt in ihrem kahlen Haus in Simbach, ge- Katastrophenzeiten überhaupt schultern. Und rade neu erbaut, der Kredit noch nicht abbezahlt. auch persönlich überstehen: Sie alle begegnen Nahezu den kompletten Schaden werden sie Menschen, denen die Sturzfluten die Existenz ersetzt bekommen. „Glück im Unglück“, sagt der weggespült haben, die entscheiden müssen, ob Sohn, und die Familie kann, wenigstens in diesem sie bleiben oder gehen, wieder aufbauen oder einen Moment, wieder lachen.
14 KAPITEL EINS: STARKREGEN D E R K L I M A G I P F E L V O N PA R I S Endlich Hilfe für das Weltklima Naturkatastrophe folgt auf Naturkatastrophe. In Deutschland und weltweit. Der Klimagipfel in Paris hat Ende 2015 weitreichende Beschlüsse zum Stopp des Klimawandels gefasst. Was muss getan werden, damit sie wirksam umgesetzt werden? Fakten zum Klima und Statements von Jochen Flasbarth, Staats- sekretär im Bundesumweltministerium, deutscher Unterhändler beim Pariser Klimagipfel. Die Überschwemmungen in Deutschland Passau erlebt das stärkste Hochwasser seit 500 Jahren. Das bayerische Deggendorf steht nach ei- Juni 2016, ganz Deutschland. Ein Unwetter mit nem Deichbruch unter Wasser. Versicherter Scha- Sturm, Hagel und Starkregen bringt ungeahnte den innerhalb eines Monats: 1,8 Milliarden Euro. Überschwemmungen. Kleine Bäche schwellen August 2002, Mittel- und Norddeutschland. nach Regengüssen urplötzlich an und reißen Schlimmstes Elbhochwasser: Die historische halbe Ortschaften mit sich fort. Versicherter Altstadt von Dresden versinkt. Die Elbe schiebt Schaden: eine Milliarde Euro in 14 Tagen. den höchsten Wasserscheitel aller Zeiten vor Juli 2014, es regnet so stark – 292 Liter pro Qua sich her – überflutet Sachsen, Sachsen-Anhalt, dratmeter –, dass große Teile der Stadt Münster Niedersachsen, Hamburg. Versicherter Schaden: unter Wasser stehen. Versicherter Schaden: 1,8 Milliarden Euro. 200 Millionen Euro in sieben Stunden. Schäden durch Überschwemmungen könnten sich bis zum Ende des Jahrhunderts verdoppeln, „Das Pariser Abkommen gibt uns eine möglicherweise verdreifachen. Auch neueste For- klare Richtung vor: die Transforma- schungen bestätigen diese Ergebnisse der Klima- tion hin zu einer treibhausgasneutra- studie, die der GDV im Jahr 2011 mit führenden len und ökologisch wie sozial gerech- Klimaforschern, u. a. des Potsdam-Institut für ten Wirtschaft und Gesellschaft. Jetzt Klimafolgenforschung (PIK) und der Freien Uni- geht es darum, die Beschlüsse von versität Berlin, herausgegeben hat. Für Deutsch- Paris umzusetzen. Das tun wir, indem land heißt das: Hochwasser, die wir bisher alle wir unsere Klimaschutzziele für 2020, 50 Jahre erlebten, könnten künftig alle 25 Jahre auftreten. 2030 und 2050 einhalten. Und wir müssen uns immer wieder fragen, Die Überschwemmungen weltweit ob wir genug tun. Deshalb sehen Jochen Flasbarth wir unter anderem ein regelmäßiges Der Blick auf die Welt zeigt: Unter zunehmenden Monitoring vor.“ Überschwemmungen wird von allen Kontinenten am stärksten Asien leiden. Regen und Monsune Jochen Flasbarth werden extremer und häufiger auftreten. Gefahr droht auch den Inselstaaten. Die Küsten Europas Juni 2013, Passau, Deggendorf, Fischbeck, ganz sind stärkeren Sturmfluten ausgesetzt, weil vor Deutschland. Überschwemmungen an den allem das Eis Grönlands schmilzt und der Meeres- großen Flüssen und abseits der großen Flüsse. spiegel steigt.
PA R I S I N FA K T E N & Z A H L E N Die historischen Beschlüsse von Paris, 15 getroffen von 195 Ländern: 1. Die Erderwärmung wird auf unter zwei Grad, idealerweise auf 1,5 Grad ge- genüber dem vorindustriellen Zeitalter, „Deutschland hatte schon vor der Pariser Klimakonferenz begrenzt. das Ziel, die Treibhausgasemissionen bis 2050 um 80 bis 95 Prozent zu mindern. Seit Paris ist klar, dass wir dabei 2. Die Länder verpflichten sich alle, zum eher den oberen Bereich dieses Korridors ansteuern müs- Klimaschutz beizutragen. Mit teilweise sen. Der Klimaschutzplan 2050 soll für diesen Prozess noch nachzuschärfenden nationalen Kli- maschutzplänen. inhaltliche Orientierung geben.“ 3. In der zweiten Hälfte des Jahrhun- Jochen Flasbarth derts soll Klimaneutralität erreicht wer- den – nur so viel Treibhausgasemissio- Treibhausgasemissionen ab 2050 weltweit. Aus- nen wie auch absorbiert werden können. stieg aus dem fossilen Zeitalter, Umstieg auf er- 4. Den Klimaschutz ergänzt die Klima- neuerbare Energien. anpassung. Dazu helfen die reichen In- Dr. Fred Hattermann: „Da muss jetzt noch kräftig dustrieländer den Entwicklungsländern draufgelegt werden.“ Denn die Ziele, zu denen sich mit Finanz- und Technologietransfer. die Staaten der Welt in Paris verpflichtet haben, ergeben in der Summe derzeit noch eine Erwär- mung um 3,3 Grad. Zu viel, um die Erde wirksam zu schützen. Die einzelnen Länderbeiträge brauchen Der Stopp der Erderwärmung transparente, klare Strategien. 2016 – zum nächs- ten Klimagipfel – sollen sie vorgelegt und fortan Dezember 2015, Paris. Nach 14 Tagen Verhand- alle fünf Jahre überprüft werden. lung einigen sich 195 Staaten auf einen Welt- klimavertrag, der die Erderwärmung auf unter Die Stürme in Deutschland zwei Grad begrenzen soll. „Historisch“, nennt die ganze Welt diesen Vertrag, der das Klima endlich Juni 2014, Deutschland. Orkan Ela wütet in unter Schutz stellt. Stopp des Klimawandels, wenn Deutschland und walzt Wälder nieder, reißt Dä- möglich soll der globale Temperaturanstieg sogar cher entzwei. Versicherter Schaden nach zwei Ta- auf 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Zeit- gen: 440 Millionen Euro. alter begrenzt werden. Alle Länder verpflichten sich dafür mit nationalen Klimaschutzplänen. „Ein ambitioniertes Ziel“, sagt Hydrologe Dr. Fred „Starkregen und Sturzfluten verursachen im Frühsommer 2016 Hattermann vom PIK, der an der Klimastudie erhebliche Schäden. Aber auch auf mehr Hitze und Dürren des GDV mitgewirkt hat. Sein Institut hat auch müssen wir uns u. a. in der Landwirtschaft sowie dem Gesund- ein wesentliches wissenschaftliches Argument heitswesen einstellen. Die Bundesregierung hat daher 2008 eine für Paris geliefert. Die Ökonomie. Es wird teurer, Anpassungsstrategie an die Folgen des Klimawandels beschlos- sich nur den Folgen des Klimawandels anzupas- sen und setzt diese Schritt für Schritt mit Aktionsplänen um.“ sen, als ihn auch zu begrenzen. Paris entscheidet sich für Begrenzung. Der Weg dorthin: Stopp der Jochen Flasbarth Globaler Anstieg der Temperatur Aus dem Sachstandsbericht des Weltklimarates: Abweichung der globalen Die weltweit beobachteten Tempe- 3,0 °C Jahresmittelwerte erdnaher raturen von Land- und Ozeanoberflä- 2,5 °C Temperaturen vom Mittel 1850 – 1900 (vereinfacht) chen zeigen einen Anstieg von etwa 2,0 °C Prognose nach verschiede- 0,85 °C zwischen 1880 bis 2012. nen Szenarien Paris: max. Erwärmung 1,5 °C Jedes der letzten drei Jahrzehnte war an der Erdoberfläche sukzessive 1,0 °C wärmer als alle vorangehenden 0,5 °C Jahrzehnte seit 1850. 0 °C Mittel 1850 – 1900 Quelle: Climatic Research Unit und IPCC, 1950 1970 1990 2010 2030 2050 2070 2090 2014 Synthesis Report
16 KAPITEL EINS: UNWETTER-FRÜHSOMMER 2016 1 Globale Klima-Brennpunkte 3 1 An den Polen und in den Höhenlagen schmilzt das Eis. 2 Zunehmende Überschwemmungen drohen vor allem in Asien. 5 2 3 Häufigere und heftigere Sturmfluten bedrohen die Inselstaaten und die Küsten Europas. 4 4 Unter zunehmender Hitze leidet Afrika am stärksten. 6 5 Stärkere Stürme sind in Nord- und Südamerika zu erwarten. 6 Die Versauerung der Meere lässt die Korallen am Great Barrier Reef nördlich Australiens sterben. „Versicherer sind bereits in der Vorsorge wichtige Partner und Stürmen am meisten leiden wird. Doch der globale Wissensträger. Sie sollten beim Verkauf von Versicherungs- Temperaturanstieg bringt nicht nur mehr Unwet- abschlüssen private und gewerbliche Kunden entsprechend ter und Stürme, er bringt mehr Hitze und Trocken- fachkundig beraten, um im eigenen wie im gesamtgesell- heit. Vor allem in Afrika. Die Ernteerträge könnten schaftlichen Interesse, Schäden und Schadenkosten so gering um 50 Prozent zurückgehen, weil das Wasser fehlt. wie möglich zu halten. Dabei darf die Eigenvorsorge jedoch Ein Drittel der Pflanzen und Tiere könnte bis 2080 nicht außer Acht gelassen werden.“ ausgestorben sein. Jochen Flasbarth Die neue Welttemperatur Dezember 2015, Paris. Der Stopp der Erderwär- Juli 2013, Niedersachsen, Baden-Württemberg, mung bei 1,5 Grad bis 2050. Deutschland. Ganze Straßenzüge mit zerstörten „Auch 1,5 Grad heißt ja nicht, dass wir keine klima- Dächern, ganze Ortschaften mit löchrigen Mau- tischen Veränderungen haben“, sagt Meteorologe ern. Durch Hagel. Allein eine Unwetterfront im Prof. Dr. Uwe Ulbrich von der Freien Universität Ber- Juli hinterlässt 1,6 Milliarden Euro zerstörte Sach- lin, der an der Klimastudie des GDV mitgewirkt hat. werte. Neben den zunehmenden Wetterextremen sind es Mai 2008, der Westen und Süden Deutsch- auch die mittel- und langfristigen Veränderungen lands. Unwetterfront Hilal überzieht weite Teile des Temperaturanstiegs, die das Ökosystem der Deutschlands mit Orkanböen und Hagelschlägen. Welt ins Wanken bringen. Der erwartete allmähli- Versicherter Schaden binnen 24 Stunden: 430 Mil- che Anstieg des Meeresspiegels bedroht die Insel- lionen Euro. staaten. Die Versauerung der Meere lässt die Ko- Noch verheerender sind die Winterstürme. Niklas rallen am Great Barrier Reef vor Australien sterben. zerstört im März 2015 Sachwerte von 750 Millio- Dennoch, auch Ulbrich wertet die Beschlüsse von nen Euro. Kyrill bringt im Januar 2007 2,1 Milliar- Paris als „Hoffnung gebend“. Es müssen nun Taten den Euro Schaden an zwei Tagen; Jeanett im Okto- folgen. Allein durch den Ausstieg aus dem fossilen ber 2002 760 Millionen Euro binnen 24 Stunden. Zeitalter ist das Schutzziel nicht zu erreichen. Es Bis zum Ende des Jahrhunderts könnten Schäden braucht auch Lösungen, wie das Treibhausgas CO2 durch Stürme und Hagel um 50 Prozent zuneh- in der Atmosphäre wieder gebunden werden kann. men, sagt die Klimastudie des GDV. Stürme, die Es braucht großflächige Wiederaufforstung, CO2- wir jetzt alle 50 Jahre erleben, könnten künftig alle Auffangsysteme für Industrieanlagen, weltweit. zehn Jahre auftreten. Das Versprechen von Paris: Es gibt Ausgleichszah- Stürme und Hitze weltweit lungen und Kredite für die ärmeren Länder. Damit sie das Klima schützen können, damit sie – wie die Der Blick auf die Welt macht von allen Kontinenten reichen Länder – sich wirksam vor den Folgen des Amerika – den Norden und den Süden – als den Klimawandels schützen können. Paris ist der Auf- Erdteil aus, der unter häufigeren und stärkeren takt für den Schutz des Weltklimas.
KLIMA 2050 KLIMASCHUTZPLAN 2050 Klimaanpassung ergänzt Klimaschutz Mit dem Klimaschutzplan 2050 will die Bundesregierung den Treibhausgasausstoß Deutschlands ab 2050 auf null senken. Wie ergänzen sich dabei Klimaschutz und Klimaanpassung? Die Versicherungswirtschaft hat ihre Expertise in die Strategie eingebracht. Andreas Hahn, Experte für Sachversicherung des GDV, gibt Einblicke in die Entstehung des Klimaschutzplanes. April 2015. Das Bundesumweltministerium ruft mit Öl, und Neubauten werden – wo möglich – mit einen Beteiligungsprozess zum Klimaschutzplan sauberer Erdwärme oder aus anderen grünen Ener- 2050 aus. In Dialogforen für Bevölkerung, Kom- giequellen versorgt. Unsere Unternehmen gewähren munal- und Landespolitik und für Verbände soll auch dafür Versicherungsschutz, finanzieren im Scha- Deutschlands Weg zur Klimaneutralität entstehen. denfall schon heute den modernsten Standard. Ein Der GDV ist als starke Stimme für das Themenfeld Umstieg auf Ökostrom ist unaufwendig. „Gebäude“ dabei, die anderen Bereiche sind Energie, Industrie, Landwirtschaft und Verkehr. Unsere Versi- 2. Dialog der Verbände, 24. und 25. Februar 2016. Die cherungsunternehmen schützen nahezu alle Wohn Diskussion dreht sich um die weiteren Bausteine eines gebäude in Deutschland. Sie bieten Versicherungs- klimaneutralen Gebäudes. Konsequenterweise muss schutz bei Naturgefahren wie Sturm und Hagel für sein kompletter Lebenszyklus CO2-frei sein, dazu ge- über 90 Prozent des Gesamtbestandes, zusätzlich für hören Baustoffe, Bauweise, Unterhalt und Recycling. etwa 40 Prozent gegen Elementargefahren wie Über- Wir ergänzen Aspekte der Anpassung an Naturrisiken. schwemmung, Starkregen und Schneedruck. Klimaneutrale Materialien müssen auch widerstands- fähig bei Hochwasser, Hagel und Überschwemmung 1. Dialog der Verbände, 21. September 2015. Wohn- sein. Neubauten brauchen Standorte, die außerhalb gebäude, vor allem ihre Versorgung mit Heizung und von Überschwemmungszonen liegen. Auch Null- Warmwasser, sind für 30 Prozent der Treibhausgas- Energie-Häuser oder Plus-Energie-Häuser benötigen emissionen in Deutsch- baulichen Schutz vor Na- land verantwortlich. Wie turkatastrophen. Auch das lässt sich dieser Wert bis DER KLIMASCHUTZPLAN 2050 sind Herausforderungen bis 2050 auf null senken? 2050, wenn Versicherun- Nur durch Energie-Ein- Bis zum Jahr 2050 will Deutschland gen weiter bezahlbar blei- sparungen wird dieses seine Treibhausgasemission um 80 bis ben sollen. Ziel nicht erreicht wer- 95 Prozent gegenüber 1990 senken – Unsere Experten beraten den, das macht der Dia- der deutsche Beitrag zur Begrenzung dazu schon heute Haus log schnell deutlich. Rund der Erderwärmung auf unter zwei Grad. eigentümer. Fachleute der 40 Teilnehmende – Ver- Das bedeutet: Bis zu diesem Jahr muss Versicherungswirtschaft treter von Mieterbünd- die Energieversorgung komplett aus arbeiten an neuen Bauvor- nissen bis zu Energieer- erneuerbaren Energien erfolgen. Keine schriften für Deutschland zeugern – diskutieren Kohle mehr. Der Klimaschutzplan 2050 und Europa mit. Unser verschiedene Modelle. nennt Strategien, wie dieser Umstieg in Know-how im Bereich Die Schlussfolgerung des den Bereichen Energie, Landwirtschaft, Naturrisiken und Schä- GDV lautet: vollständiger Gebäude, Industrie und Verkehr zu ma- den durch Wetterextreme Umstieg auf erneuerbare chen ist. Sie sind wissenschaftlich fun- bildet die Grundlage für Energien. Das bedeutet: diert und fließen in die klimapolitischen eigene Forschungen, wie Altbauten heizen kom- Grundsätze und Ziele der Bundesregie- Klimaschutz und Klimaan- plett mit Ökostrom statt rung ein. passung zusammenwirken.
K L I M A A N PA S S U N G „Schutz kann eine Win-win-Situation sein.“ Die schweren Unwetter des Frühsommers 2016 haben gezeigt, wie hilflos Menschen mit all ihrem Hab und Gut Naturgewalten gegenüberstehen können. Wie lassen sich Orte, lässt sich ein Land vor solchen Naturgewalten schützen? Ein Gespräch mit Dr. Achim Daschkeit von KomPass, dem Kompetenzzentrum Klimafolgen und Anpassung des Umweltbundesamtes. Herr Dr. Daschkeit, wie verwundbar beziffern und Informationen über Ausmaß und ist Deutschland gegenüber Naturka- Wirkung von extremen Naturereignissen zu erhal- tastrophen und den Folgen des Kli- ten. In unseren Anpassungsprojekten arbeiten wir mawandels? mit vielen Institutionen zusammen, die uns Daten Der Klimawandel bringt eine Ver- zur Verfügung stellen. Ich wünschte mir, dass wir letzlichkeit mit sich, die wir bereits von allen belastbare Daten zeitnah und in einer jetzt spüren: Urbane Räume leiden gut verwertbaren Form erhalten würden. Das unter zunehmender Hitze und Stark würde unsere Forschungen auf eine noch solidere regen. Das hat Auswirkungen auf Basis stellen. die menschliche Gesundheit, bringt Überschwemmungsrisiken für Ge- Ihre Behörde hat für die Bundesregierung vor we- bäude und Infrastrukturen. Auch nigen Monaten einen Fortschrittsbericht zur Deut- Dr. Achim Daschkeit Flussüberschwemmungen bedrohen schen Klimaanpassungsstrategie aus dem Jahr Siedlungen und Infrastruktur. Die 2008 vorgelegt, der durch die Vulnerabilitätsstudie zunehmende Trockenheit in manchen Regionen fundiert ist. Was sind die Umrisse dieser Strategie? Deutschlands führt zu Schäden in der Land- und Die Strategie verfolgt zwei Zielrichtungen: zum Forstwirtschaft. Wir haben in unserer Vulnera- einen die Verletzlichkeit von natürlichen, gesell- bilitätsstudie diese Verletzlichkeit erforscht – als schaftlichen und ökonomischen Systemen zu Grundlage für die notwendige Anpassung an die mindern. Zum anderen: die Anpassungsfähig- Risiken. keit zu erhalten bzw. zu erhöhen. Und das in der Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Kom- Der GDV hat an der Vulnerabilitätsstudie mitge- munen und in 15 Handlungsfeldern, wie zum wirkt. Wo sehen Sie die Rolle der Versicherungs- Beispiel menschliche Gesundheit, Bauwesen und wirtschaft für Prävention und Anpassung an Na- Verkehr. Die Strategie ist der Rahmen dafür, dass turrisiken? Veränderungen durch den Klimawandel in allen Sie spielt eine wichtige Rolle. Ihre Schadendaten Planungs- und Entwicklungsprozessen berück- sind eine Grundlage, um versicherte Schäden zu sichtigt werden.
19 Renaturierter Flusslauf, Grün statt Asphalt: Gewinn für Mensch und Klima. G U T E B E I S P I E L E D E R A N PA S S U N G Wie geschützt ist Deutschland vor dem Beispiel Eins: Grün-blauer Klima- Klimawandel? Korridor in Kamen Klimaanpassung fällt dort auf guten Boden, wo es interdisziplinäre und Die Stadt Kamen hat ihren Fluss Se- intensive Zusammenarbeit auf Augen seke auf über zwei Kilometern Länge höhe gibt. Wo unterschiedliche Fach- renaturiert. Das Betonbett ist entfernt, bereiche einer Verwaltung zusam- das Ufer erweitert und begrünt. Zudem ha- menarbeiten und Bürger einbezogen ben 80 Anwohner ihre Dächer und Freiflächen von werden. Viele Großstädte mit mehr als der Kanalisation abgekoppelt und lassen künftig ihr 100.000 Einwohnern sind gut aufge- Regenwasser in den Fluss fließen bzw. versickern. stellt. Sie haben z. B. Stabstellen einge- Win-win-Situation: Die Überschwemmungsgefahr richtet wie die Stadt Neuss oder Referate „Nachhaltige durch Starkniederschläge verringert sich, und im Stadtentwicklung“ wie die Stadt Ludwigsburg. Oder sie Sommer ist der Fluss vor dem Austrocknen ge- berücksichtigen in ihren Stadtplanungen umfangreiche schützt. Kamen hat ein neues, naturnahes Biotop Maßnahmen der Klimaanpassung, wie Bremen, Ham- für Pflanzen, Tiere und Menschen. burg oder Berlin für Hochwasser bzw. Starkregen. Viel getan hat sich auch in Sachen Hochwasserschutz in Beispiel Zwei: Natur in graue Zonen den Küstenregionen. Wichtig ist, dass wir künftig auch kleinere Kommunen Gemeinsam mit lokalen Unterneh- und Unternehmen besser erreichen. men haben Mitarbeiter des Wis- senschaftsladens Bonn versiegelte Wie geschieht das? Flächen zu Grünflächen umgestal- Wir geben Hilfestellungen, etwa mit wissenschaft- tet. In den Städten Erfurt, Wiesloch und lichen Vorhaben, die Anpassungsaktivitäten vor Ort Duisburg packen Quartiersbewohner mit an. begleiten und unterstützen. Das Umweltministerium Sie entfernen den Beton von Plätzen oder Park stellt Fördergelder für kommunale Leuchtturmprojekte, flächen und bepflanzen das gewonnene Land. Sie Bildungseinrichtungen und Unternehmen bereit. schaffen damit natürliche Räume für ein gesun- Mit unserem „Klimalotsen“ können Kommunen oder des Mikroklima und zur Erholung der Anwohner. Unternehmen einen Check-up zur Widerstandsfähig- Zudem nehmen die unversiegelten Böden Nie- keit und zu Anpassungsmöglichkeiten durchführen. Wir derschlagswasser auf und beugen Überschwem- organisieren Stakeholder-Dialoge und sind in Gremien mung vor. Eine unaufwendige, kostengünstige vertreten, die technische Standards, etwa für Gebäude Win-win-Situation. und Baumaterialien, festlegen. In unserer Onlineplatt- form Tatenbank sind zudem gute Beispiele von Kom- Beispiel Drei: Klimarobust Planen munen, Vereinen und Unternehmen zur Nachahmung und Bauen aufgeführt. Gebäude, die Naturkatastrophen Was ist für eine wirksame Klimaanpassung wichtig? standhalten sollen, brauchen beson- Es gibt nicht die eine Checkliste oder das eine Konzept. dere Schutzvorrichtungen, robuste Dafür sind die Regionen zu unterschiedlich von Extrem Baumaterialien – und Bauhandwerker, ereignissen betroffen. die in Sachen Resilienz das entsprechende Know- Wichtig ist, dass Maßnahmen zur Klimaanpassung how besitzen. Die Handwerkskammer Frankfurt- nachhaltig und vorausschauend sind. Dass bei der Pla- Rhein-Main entwirft ein Schulungskonzept für nung unterschiedliche Klimaszenarien berücksichtigt Berater der Handwerksorganisation. Der Lehrgang werden. Bayern beispielsweise plant bei der Konstruk- zum klimaresilienten Bauen wird mit insgesamt tion von Hochwasserschutzanlagen schon jetzt um 1.000 Teilnehmenden erprobt und evaluiert, die 15 Prozent mehr als aktuell notwendig wäre. Unterlagen werden anschließend kostenfrei zum Eine gute Maßnahme ist auch immer eine Win-win- Download bereitgestellt. Situation für alle Beteiligten.
20 KAPITEL EINS: UNWETTER-FRÜHSOMMER 2016 K L I M A A N PA S S U N G „Wir wollen grundsätzliche Strukturen erforschen.“ Mit dem Starkregen-Projekt erobern Deutscher Wetterdienst (DWD) und GDV wissenschaftliches Neu- land. Erstmals wird erforscht, wo Starkregen genau auftritt und welche Schäden er dabei anrichtet. Über die ersten Erkenntnisse auf dem Weg zu einer deutschlandweiten Gefahrenkarte berichten Mete- orologe Dr. Andreas Becker vom DWD und GDV-Experte Dr. Olaf Burghoff. Herr Dr. Becker, Herr Dr. Burghoff, verteilen. Allein diese Bestandsaufnahme ist in die verheerenden Überschwemmun- dieser Form weltweit einzigartig. gen des Frühsommers 2016 haben gezeigt, wie notwendig detaillierte Dr. Burghoff: Die zweite Frage ist: Worauf fällt Erkenntnisse über Starkregen und der Regen und wie verhält sich das Wasser? seine Schäden sind. Was genau er- Dazu haben wir ergänzend mit einem Gelände- forscht Ihr gemeinsames Projekt? modell für das Testgebiet Nordrhein-Westfalen Dr. Becker: Wir gehen dabei arbeits- entsprechende Strukturen ermitteln lassen und teilig vor. Der Deutsche Wetterdienst mit unseren Schadendaten abgeglichen. Die Test übernimmt den meteorologischen ergebnisse bestätigen die beiden zunächst nahe- Teil des Projekts. Wir werten die liegenden Annahmen: Es gibt dort mehr Schäden, deutschlandweiten Starkregen der wo es mehr und häufiger regnet. Und es treten Dr. Andreas Becker vergangenen 15 Jahre aus, über die mehr Schäden an Gebäuden in Senken auf, weil wir verlässliche Daten unserer 17 dort das Wasser länger stehen bleibt. Radarsysteme haben. Dazu kommen die Daten unserer aktuell rund 2.000 Wie sehen die nächsten Forschungsschritte aus? Messstationen, die teilweise bis zum Dr. Becker: Wir haben bisher diese Messungen Jahr 1950 zurückreichen. Wir bestim- im Stundenabstand ausgewertet. Diese werden men Dauer, Wiederkehrzeit und Nie- wir jetzt verfeinern, möglich ist dies bis zu Dau- derschlagsmenge der Starkregen. erstufen von fünf Minuten. Die Ereignisse des Frühsommers 2016 mit ihren kurzen, extremen Dr. Burghoff: Wir wollen grundsätz- Unwettern signalisieren, dass wir eine hohe Ge- liche Strukturen entdecken, erfor- nauigkeit brauchen. Zum anderen werden wir die schen, welcher Starkregen wo wel- Starkregenereignisse näher analysieren, die zu che Schäden verursacht. Deswegen hohen Schäden geführt haben. werden die meteorologischen Daten Dr. Olaf Burghoff mit den Schadendaten der Versiche- Dr. Burghoff: Dazu werden wir auch die Gelände- rungswirtschaft abgeglichen. Ziel ist modellierung auf ganz Deutschland ausweiten, eine Gefahrenkarte, die der Versicherungswirt- damit wir die Standortrisiken von Gebäuden noch schaft eine genaue Kalkulation ermöglicht und genauer erkennen können. Die Ergebnisse unserer damit ihren Kunden risikogerechten Versiche- Testregion in Nordrhein-Westfalen zeigen indes rungsschutz bietet. schon deutlich, dass Versicherungsschutz auch in Gebieten mit hohem Starkregenrisiko bezahlbar Das Forschungsvorhaben ist auf drei bis vier Jahre bleiben dürfte. angelegt. Wie ist – nach etwas mehr als einem Jahr Arbeit – der Erkenntnisstand? Welchen Einfluss haben die schlimmen Über- Dr. Becker: Wir haben jetzt die deutschlandwei- schwemmungen des Frühsommers 2016 auf Ihre ten Starkregen-Daten der vergangenen 15 Jahre Forschungen? aufbereitet. Das gibt uns einen ersten Überblick, Dr. Becker: Wir sollten in den Zusammenhang wie sich Starkregen in Häufigkeit und Intensität von Regen und Schaden auch die Kategorie des
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