Oberliner - Mit einem Versprechen fing alles an - Magazin für Soziales und Gesundheit - Oberlinhaus
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Oberliner Magazin für Soziales und Gesundheit www.oberlinhaus.de Ausgabe: 2021 Jubiläumsausgabe Mit einem Versprechen fing alles an
VORWORT GRUßWORT Fast alles hat sich in der ehemaligen Gemeinde Nowawes seit 150 Jahren verändert und gewandelt, vor allem die Straßen- und Umgebungsansichten. In Nowawes zwischen Berlin und Potsdam, dem heutigen Potsdam - Babelsberg, lebten vor 150 Jahren die kinderreichen Familien hauptsächlich von der Tuchweberei. Kleinkinder- betreuung und medizinische Ver- sorgung gab es nur spärlich bis gar nicht. Die industrielle Entwicklung löste einen Wachstumsschub aus, Einwohnerzahlen stiegen an, Flächen wurden bebaut, 150 Jahre das Bild von Nowawes veränderte sich Oberlinhaus Liebe Mitarbeitende stark. Babelsberg ist heute ein – wir feiern im Oberlinhaus, beliebter Stadtteil von Potsdam, vor allem für junge Familien. liebe Schwestern © Geburtstag und Brüder, 150 Jahre beinhalten auch zwei Weltkriege – Zerstörung und Wieder- bisher sind es Gottesdienste, die mich in Das Oberlinhaus hat sich zu einem modernen aufbau – sowie fünf politische Systeme. besonderer Weise mit dem Oberlinhaus diakonischen Unternehmen entwickelt und ist Das Oberlinhaus hat sich in all den verbinden. Im Frühjahr 2021 haben wir durch Jahrzehnte wechselvoller Geschichte Jahren zu einem Unternehmen weiter- gemeinsam den gewaltsamen Tod von vier gegangen. Trauer und Freude, aber auch die entwickelt, das zu den größten Arbeitge- Bewohnerinnen und Bewohnern im Auseinandersetzung mit den das gesellschaft- bern Potsdams zählt und an über Thusnelda-von-Saldern-Haus betrauert. liche Leben prägenden politischen Systemen 25 Standorten in Potsdam und Berlin, Im Herbst feiern wir gemeinsam das Jubiläum hat diese Geschichte bestimmt. im Land Brandenburg und in Wolfsburg „150 Jahre Verein Oberlinhaus“. In Trauer und Das Kontinuum war und ist das Vertrauen in vertreten ist. 150 Jahre Zeitenwandel, Entsetzen, in Freude und Dankbarkeit möchte Gottes Begleitung und Zuwendung. doch eines ist geblieben: Das Oberlin- und darf ich an Ihrer Seite sein. In all dem Dies zeichnet unsere diakonischen Einrich- haus erfüllt seither seinen diakonischen wissen wir uns gemeinsam getragen durch tungen aus, unter denen das Oberlinhaus eine Auftrag Menschen zu bilden, die Zuwendung Gottes zu uns und wichtige Rolle einnimmt: Unser Glaube ist der zu begleiten und zu behandeln. unserem Leben, Trauer und Freude. Grund, auf dem wir stehen. Er gibt uns Hoff- nung in schwierigen Zeiten. Und er prägt auch Auch die Generationen vor uns in der das unternehmerische Handeln, das 150 - jährigen Geschichte des Verein diakonische Arbeit in unserer Zeit möglich Oberlinhaus sind durch diese beiden macht. Vorstand und Mitarbeitende leben mit Grunderfahrungen geprägt. Aus einem dieser Prägung. Dafür danke ich Ihnen von persönlichen Trauerfall 1871 heraus – Herzen. Ich sende Ihnen die Grüße der Freiherr von Bissing-Beerberg versprach Landeskirche zum Jubiläum. Gott segne seiner Tochter auf dem Sterbebett, für die Ihren Dienst und das Leben in den kleinen Kinder zu sorgen – ist der Impuls verschiedenen Häusern. für die Gründung des Verein Oberlinhaus entstanden. Sorge -Arbeit im Bereich Bildung, Wohnen, Gesundheit und Pflege ist seitdem gewachsen und professionell geworden.
INHALT Zeitstrahl Herzlichen Glückwunsch 1871 – 1877 1990 – 1999 Mit einem Versprechen Aufbruch und fing alles an Umbau Seite 6/ 7 Seite 46/ 47 1878 – 1883 2001 – 2004 Mutterhaus und Neugründungen Prof. Dr. Jens Poll Poliklinik und Eröffnungen Aufsichtsratvorsitzender Seite 10/ 11 Seite 52/ 53 im Oberlinhaus Liebe Oberliner, 1886 – 1890 2006 – 2009 Erste Pfleglinge Neue Reha- und seit sechs Jahren begleite ich die Arbeit im Oberlinhaus Wohnangebote im Oberlinhaus im Aufsichtsrat, davon die Seite 16/ 17 Seite 56/ 57 letzten zwei Jahre als Vorsitzender. Das ist in der 150 - jährigen Geschichte des Oberlinhaus nur ein sehr kurzer Zeitraum, dennoch glaube ich, das Besondere vom Oberlinhaus, der 1891 – 1900 2010 – 2011 hier lebenden, behandelten, betreuten und arbeitenden Menschen und der Einbettung in Oberlinhaus – ein Zurück in ein selbst- die Stadt Potsdam erfahren zu haben. Wegbereiter bestimmtes Leben Normalerweise hätten wir ein Festjahr Seite 22/ 23 Seite 58/ 59 gehabt, das mit vielen kleinen und großen Veranstaltungen und Feiern das Jubiläum des Oberlinhaus gewürdigt hätte. Doch seit dem 28. April 2021, dem Tag als 1901 – 1906 2011 vier Menschen im Oberlinhaus gewaltsam ihr Erstes Taubblindenheim Die Oberlinschulen Leben verloren haben, hat sich auch der Blick Deutschlands Seite 62/ 63 auf das Jubiläumsjahr deutlich verändert. Seite 26/ 27 Wir alle haben mitverfolgt, mit welcher Dramatik die Wochen seit Ende April das IM FOKUS Oberlinhaus und uns alle in Beschlag genom- men haben. In dieser Zeit haben wir aber 1910 – 1929 2012 – 2018 auch erfahren können, dass ein so traditions- reiches Unternehmen wie das Oberlinhaus Ein Gesundheits- Besondere Von Strickschulen zu Kindergärten Seite 8/ 9 Ausbildung für ein selbstbestimmtes Leben Seite 48/49 auch die Kraft hat, mit solchen schrecklichen campus entsteht Momente Seite 32/ 33 Seite 66/ 67 Leben und Arbeiten im Oberlinhaus Seite 12/13 Von A wie Aktenvernichtung bis Z wie ... Seite 50/51 Ereignissen umzugehen und den Weg zurück ins Leben zu finden. Beim Betrachten dieses Diakonissen im Einsatz Seite 14/15 Ambulante und stationäre Rehaangebote Seite 54/55 großen Unternehmens Verein Oberlinhaus Soziale und gesundheitliche Fürsorge Seite 18/19 Oberlympics – Ein Sportfest für alle Seite 60 merken wir, dass sich gesamtgesellschaft- liche Veränderungen auch im Oberlinhaus 1930 – 1945 2019 – 2021 Wiege der Taubblindenarbeit Seite 20/21 Zu Tisch mit Frank-Walter Steinmeier Seite 61 spiegeln. Die lange Geschichte unseres Zeiten des Gemeinschaft Gleiches Recht für alle Seite 24/25 Lernen ist immer und überall möglich Seite 64/65 Verein Oberlinhaus gibt uns die Zuversicht, Krieges neu denken die Herausforderungen der Zukunft zu Oberlinkirche barrierefrei Seite 28/29 Die Oberlinrede Seite 68/69 Seite 36/ 37 Seite 70/ 71 meistern. Es ist ein anderes Feiern in diesem Die Geschichte hinter Orgel und Taufengel Seite 30/31 Partner für Stadtentwicklung Seite 72 Jahr, stiller und nachdenklicher. Aber vor Von der Krankenstation zur modernen Klinik Seite 34/35 Digitalisierungsprojekte Seite 72/73 allem ist es eine große Gelegenheit, für 150 Jahre erfolgreiches Wirken 1956 – 1984 Zerstörung und Wiederaufbau Seite 40/41 Bundesministerbesuch im Oberlinhaus Seite 73 zu danken. Große Ereignisse Prof. Dr. Jens Poll Seite 42 bis 45 4 Oberliner | 150 Jahre 5
ZEITSTRAHL 1874 Zeitgeschehen: Der Minis- terpräsident von Preußen und erster deutscher Reichskanzler Otto von Bismarck war prägend 1871 für die Politik Preußens. Nach dem Deutsch-Französischen Krieg beteiligte er sich am Mitbegründer des Oberlinvereins und erster 18. Januar 1871 maßgeblich an Vorsitzender des Zentralvorstandes von 1874 der Reichseinigung, die Pots- bis 1891 war Generalfeldmarschall Graf dam zur kaiserlichen Residenz- Helmuth von Moltke. Er entstammte einem stadt machte. In den darauf- alten mecklenburgischen Adelsgeschlecht, war Offizier der preußischen Armee und trug folgenden Jahren erlangte die einen wesentlichen Anteil an den Siegen in Stadt einen enormen wirtschaft- den drei Einigungskriegen, die zwischen 1864 lichen und infrastrukturellen und 1871 zur Entstehung des Deutschen Rei- Aufschwung. Zwischen Potsdam Graf Helmuth von Moltke ches führten. Sein soziales Engagement resul- Mit einem Versprechen (1800 – 1891) und Berlin lag die Gemeinde tierte aus der Verantwortung der preußischen Hocharistokratie, die im Zusammenhang mit Moltke rief die Bildungsstätte für Kleinkinder- Nowawes, der heute zu der Bismarck‘schen Sozialgesetzgebung den lehrerinnen in der Weberkolonie Nowawes ins Potsdam gehörende fing alles an Einsatz von Führungseliten forderte. Graf von Leben und legte 1877 den Grundstein für das Stadtteil Babelsberg. Moltke hat den Oberlinverein in den ersten Oberlinhaus in Potsdam-Babelsberg. In Nowawes („Nová Ves" Gründungsjahren in seiner Entwicklung Wesentliche Ziele des Oberlinvereins waren böhmisch für „Neues Dorf“) wegweisend voran gebracht. die Förderung und Gründung von Kleinkinder- hatten sich vornehmlich schulen, die Gemeindepflege sowie die Ausbildung von Fachkräften. böhmische Weberfamilien … so könnte die Erzählung von der Gründung 18 77 angesiedelt. Mit dem Voran- des Oberlinvereins 1871 beginnen. Olga von Nicht nur die Zahl an betreuungsbedürftigen Bissing war eine junge Frau, die sich in ihrem Kindern, sondern auch der Bedarf an schreiten der Industrialisierung schlesischen Heimatort Beerberg am Iserge- ausgebildeten Kleinkinderlehrerinnen wuchs verarmten die Familien und vor birge für Kinder verarmter Familien einsetzte, beständig an. Es wurde in den angemieteten allem die Kinder litten sich um sie kümmerte, ihnen Essen gab, sich Räumlichkeiten zu eng. Der Bau eines groß- stark unter den prekären mit ihnen beschäftigte. Dabei steckte sie sich zügigen neuen Gebäudes war dringend nötig. Lebensumständen. mit Tuberkulose an und verstarb in jungen In nur zwei Jahren nach der Ansiedlung in Jahren an dieser Krankheit. Am Sterbebett Nowawes stieg die Bekanntheit des Oberlin- seiner Tochter versprach ihr Vater, der Johanni- vereins und die Mitgliederzahl auf über territter Adolph Freiherr von Bissing-Beerberg, 2.000 Unterstützer. Für den Bau des in ihrem Namen sich weiterhin für die Kinder Diakonissen-Mutterhauses wurde 1877 der zu engagieren. 1865 eröffnete Adolph von Grundstein gelegt. Bissing in Beerberg die „Olgaschule“, benannt nach seiner Tochter, die erste Kleinkinderschu- le an diesem Ort. Einige Jahre später wurde er als Oberregierungsrat nach Berlin berufen. Von hier fokussierte er sich weiterhin auf den Aufbau von Kleinkinderschulen zur christlichen Fürsorge, Pflege und Bildung von Kindern. Johann Friedrich Ranke Zu diesem Zweck gründete Adolph von (1821 – 1892) Bissing-Beerberg 1871 gemeinsam mit wei- teren einflussreichen Vertretern aus Kirche, Als Leiter des Kaiserswerther Kleinkinder- Diakonie und Politik einen Verein, um das seminars hatte Johann Friedrich Ranke in Vermächtnis seiner Tochter Olga zu erfüllen. der Kleinkinderpädagogik bereits eine große Namensgeber des Vereins sollte der bekannte Bekanntheit. 1874 kam er als erster Direktor elsässische Pfarrer Johann Friedrich Oberlin des Kleinkinderseminars nach Nowawes sein, der in Waldersbach mit Strickschulen die bei Potsdam. Adolph Freiherr von Bissing-Beerberg (1800 – 1880) Kleinkinderpädagogik reformierte. Er ist der Begründer von mehreren christlichen Kleinkinderschulen. 6 Oberliner | 150 Jahre 7
IM FOKUS Von Strickschulen zu Kindergärten Bis ins 18. Jahrhundert wurde Kindheit nicht Sie brauchen Respekt und Wertschätzung, als eine Entwicklungsphase betrachtet, die Spiel und Freude sowie eine kindgerechte besonderer Zuwendung und Beachtung Begleitung und Bildung. „Erzieht eure Kinder bedurfte. Die "kleinen Erwachsenen" mussten ohne zu viel Strenge (…) mit andauernder nur alt genug werden, um möglichst schnell zarter Güte, jedoch ohne Spott", war sein bis in der Landwirtschaft, im Haushalt oder in heute gültiger Aufruf an die Gesellschaft. Im Handwerksbetrieben mitarbeiten zu können. elsässischen Waldersbach im Steintal gründe- Der Theologe, Pädagoge und Sozialreformer te Pfarrer Oberlin 1769 eine erste Kleinkinder- Pfarrer Johann Friedrich Oberlin erkannte, schule, die er Strickstube nannte. In dieser Die erste Kleinkinderschule dass Kinder weit mehr benötigen als nur Schule erlernten Kinder im Vorschulalter möglichst schnell zu wachsen, um bei der neben Stricken auch Malen oder Herbarien Anekdote: in Nowawes Arbeit zu helfen. anlegen, um die Konzentrations- Die Persönlichkeit und das Wirken Oberlins Aufgrund der Verarmung der Familien durch die Indust- fähigkeit und Fingerfertigkeit zu fördern. wurden auch in der Literatur verewigt. Im rialisierung mussten im 19. Jahrhundert auch die Frauen Die Kinder erhielten Unterricht in der fran- Frühjahr 1778 hielt sich der psychisch erkrank- verstärkt in die Erwerbstätigkeit gehen, wodurch sich die zösischen Sprache sowie in der Heimat-, te Schriftsteller Jakob Michael Reinhold Lenz Betreuungssituation der kleinen Kinder verschlechterte. Gesteins- und Pflanzenkunde. Oberlin war bei Oberlin in Waldersbach auf. Über diese Um dem wachsenden Betreuungsbedarf nachzukommen, unermüdlich in der Entwicklung von Unter- Zeit verfasste Oberlin einen Bericht, der zur wurden ab 1874 in Oberlin-Seminaren Kleinkinder- richtsmaterialien, Spielen und Lernkarten. Hauptquelle für Georg Büchners Erzählung lehrerinnen ausgebildet. In Kleinkinderschulen wurden Er legte einen Kräuter- und Naturlehrpfad „Lenz“ diente. Und auch für Balzacs Roman 4- bis 7-Jährige aufgenommen, betreut und gebildet. im Pfarrgarten an, verfasste pädagogische „Le médecin de campagne“ (1827) war Zur Errichtung eines Seminars des Oberlinvereins wurde Schriften und stellte Sammlungen zu Oberlin Vorbild. zunächst in der heutigen Garnstraße in Potsdam-Babels- naturkundlichen Themen aus allen Erdteilen zusammen. berg ein Haus angemietet. Hier wurden junge Frauen Zur Förderung von Erwachsenen gründete zu Kleinkinderlehrerinnen ausgebildet. er eine Bibliothek und richtete eine Leih- und Kreditanstalt ein, wodurch auch Frauen eine selbstständige berufliche Entwicklung ermöglicht wurde. In seiner Gemeinde eröffnete er weitere Kleinkinderschulen und verbreitete so die erste Form der Herzlichen Glückwunsch Frühpädagogik. Congratulations to the Oberlin- and Community Services. I truly respect your haus on the 150 years anniver- commitment and service to the people, and sary! As an international friend I wish you all well for the next century of Johann Friedrich Oberlin of the Oberlin Communities, continuity. J. F. Oberlin University in Tokyo is (1740 – 1826) I am very much pleased and also working hard for young people, sharing Der elsässische Pfarrer ist Namensgeber für das excited that you are celebrating the philosophical ideas of Oberlin. Oberlinhaus. Als Visionär und Begründer der organisierten the great history of Oberlinhaus Let’s continue to create new values together Kleinkinderfürsorge wurden weltweit nach ihm Einrichtun- with its excellent achievements for the next century. gen und Ausbildungsstätten benannt: Das Oberlinhaus in in the fields of Education, Health and Care, Job Skills, Potsdam-Babelsberg (als eine diakonische Einrichtung zur Hiroaki Hatayama, Ph.D. Rehabilitation behinderter Kinder und Erwachsener), das Oberlin College in der Stadt Oberlin in Ohio, (USA) oder Hiroaki Hatayama auch die J.F. Oberlin University in Tokyo, (Japan). President, J.F. Oberlin Universität, Tokyo 8 Oberliner | 150 Jahre 9
ZEITSTRAHL 1878 Zeitgeschehen: Die Zahl der Einwohner stieg in Potsdam und Umgebung 1880 Südlich der Havel, in Neuendorf und Nowawes, gab es bis vor Ende des 19. Jahrhunderts noch keinen einzigen niedergelassenen Arzt. Lediglich stundenweise kamen Ärzte des Kadetten- hauses aus Potsdam zur Unterstützung von 43.901 im Jahr der Reichsgründung auf über 62.000 in den Jahren vor und Anleitung von Schwestern ins Oberlin- dem Ersten Weltkrieg. Aus der Waisen- und Armenfürsorge entwickelte sich haus. Bereits 1878, noch vor der Einweihung Das Mutterhaus eine moderne Gesundheitsfürsorge. Neben dem städtischen Krankenhaus des späteren Diakonissen-Mutterhauses, eröffnete das „St. Josefs-Krankenhaus“ und das „Auguste-Viktoria-Kranken- wurde in dem Neubau eine Poliklinik eröffnet und 1880 um eine kleine haus“ sowie 1890 das Oberlinkrankenhaus. Der Oberlinverein hatte seit 1879 Krankenstation ergänzt. in Nowawes ein ganzes Areal mit Einrichtungen für körperlich und geistig Beeinträchtigte errichtet. Das Diakonissen-Mutterhaus überragte die seiner- Nach nur einem Jahr Bauzeit wurde am 29. Oktober 1878 das neue Haus in Nowawes zeit typischen kleinen Weberhäuser am Ort um ein Vielfaches und setzte bei Potsdam eingeweiht. Mit der Berufung damit ein Zeichen der sozialen Mitverantwortung. des ersten Vorstehers Pastor Theodor Hoppe und Thusnelda von Saldern zur Oberin im da- rauffolgenden Jahr entstand ein Diakonissen- Mutterhaus Kaiserswerther Prägung. Im Mut- 1883 terhaus lebten und arbeiteten 38 Schwestern, Thusnelda von Saldern von denen 21 in 15 Außenstationen eingesetzt Anekdote: (1837 – 1910) wurden und die anderen 17 die Arbeit im Haus Um für das Oberlinhaus Ein- Thusnelda von Saldern taten. Die Arbeitsfelder teilten sich in den nahmen aus dem Verkauf der wurde 1879 als erste erfolgreichen Familiensaga „Das Außenstationen in 16 Kleinkinderschulen, zwei Diakonisse des Hauses Magarethenbuch“ zu generieren, Gemeindepflegen und ein Altenhaus sowie eingesegnet und als verkaufte Thusnelda von Saldern im Diakonissen-Mutterhaus in zwei Schulen Oberin der Schwestern- noch zu Lebzeiten die Rechte an schaft eingeführt. Als und eine Poliklinik auf. Dass die Schwestern den Verlag und ließ die beträcht- Autorin verfasste sie daneben in Sonntagsschulen, Jungfrauenver- liche Summe dem Verein religiöse Romane und einen, Handarbeitsschulen, einzelnen Dienst- Auch der Bedarf an Betreuung und Pflege Oberlinhaus zukommen. Erzählungen, die noch leistungen bei Kranken und Privatpflegen tätig von Kindern im Alter von 0 bis 3 Jahren wuchs heute aufgelegt werden. waren, verstand sich in dieser Zeit von selbst. stetig an, so dass das Oberlinhaus 1883 Das Oberlinhaus benannte eine Kinderkrippe einrichtete. ihr zu Ehren 2010 einen Neubau für Wohnen und Rehabilitation für Erwach- sene mit erworbenen Körper- und Mehrfach- behinderungen oder mit Hirnschädigung. Theodor Hoppe (1846 – 1934) Der Theologe Pastor Theodor Hoppe war von 1879 bis 1929 erster Vorsteher des Oberlinhaus. Verantwortlich für die Schaffung von Rehabilitations- einrichtungen für Körperbehinderte sowie Taubblinde, galt er als Pionier der Körperbehindertenfürsorge. 10 Oberliner | 150 Jahre 11
IM FOKUS Kaiserswerther Mit Einweihung des Diakonissen-Mutter- Schwesternschaft hauses wurde auch das Oberlin-Seminar im Neubau untergebracht. 1836 gründeten Theodor und Friederike Fliedner das erste Diakonissenmutterhaus in Kaiserswerth. Diakonissen stellten aus ihrem Glauben an Gott heraus den Dienst am Menschen, die Krankenpflege und die Erziehung in den Mittelpunkt ihres Auftrages und gaben somit den Schwächsten in einer Zeit großer Armut und existentieller Nöte nicht nur Halt und Beistand, sondern auch gesundheitliche und pädagogische Fürsorge. Leben und Arbeiten Die Diakonissen lebten in Kaiserswerth in einer Lebens-, Glaubens- und Dienstgemein- im Oberlinhaus schaft. Die jungen evangelischen Christinnen erhielten eine gute pflegerische und pädagogi- sche Ausbildung. Diakonissen lebten in der Zu den Aufgaben des Vorstehers gehörten im Regel in einem Diakonissenhaus, das ihnen ausgehenden 19. Jahrhundert in erster Linie eine Aufgabe übertrug oder sie in einen die Seelsorge, Predigt und Leitung des Hauses nach innen und außen sowie die Dienst in Außenstationen entsendete. Sie verpflichteten sich zu einem einfachen Oberlin-Seminar zur Ausbildung Aufsicht der Außenstationen, in denen die Lebensstil und Ehelosigkeit. Ihre Tracht Schwestern des Oberlinhaus tätig waren. Des Weiteren übernahm kennzeichnete ihre Zugehörigkeit zur Diakonissen-Schwesternschaft. von Kleinkindlehrerinnen der Vorsteher die Redak- tion des Monatsblattes „Der Kleinkinderschul- bote“ und des Korres- 1874 wurde am Standort Nowawes das erste pondenzblattes für die Kleinkindlehrerinnen-Seminar des Oberlinhaus Diakonissen und Freunde des Oberlinhaus das 2021 mit einer Klasse und einem einjährigen Lehr- gang gegründet. Als fast 10 Jahre später 1883 Trachten von „Oberlinblatt“. in Berlin eine Ausbildungsstätte als Ableger Oberlin- des Kleinkindlehrerinnen-Seminars gegründet Diakonissen Zu den Aufgaben der Oberin gehörte die Ver- wurde, tritt zum ersten Mal der Begriff sind im Ober- waltung des Diakonissenhauses. Zudem war Oberlin-Seminar auf. Vom Gründungsjahr an lin-Museeum sie für die Einhaltung der Haus- und Tages- bis ins Jahr 1922 wurden über tausend Klein- im Mutterhaus ordnung verantwortlich. Die Oberin war die kindlehrerinnen ausgebildet, die dann ausgestellt. Mutter aller Diakonissen, Seminaristinnen, Kindergärtnerinnen hießen. Pensionärinnen und weiblichen Dienstboten. 1917 wurde im Oberlinhaus in Nowawes auch ein Hortnerinnen-Seminar eröffnet, das 1920 Anekdote: Heute haben statt Vorsteher Vorstände, die staatliche Anerkennung erlangte. 1928 Geschäftsführungen und Referate die Leitung wurden schließlich die Kindergärtnerinnen- Die Frauen, die in Oberlin-Seminaren aus- des Unternehmens Oberlinhaus inne, das mit über 2.000 Mitarbeitenden zu den größten 1975 und Hortnerinnen-Seminare zu einer zwei- jährigen Fachschulausbildung mit staatlichem gebildet wurden, konnten der neu gegrün- deten Oberlin Diakonissen-Schwestern- Arbeitgebern Potsdams zählt. Von einst über Schwesternschü- Abschluss für beide Berufsfelder zusammen- schaft beitreten. Mit der Einweihung des 300 leben heute noch zwei Diakonissen und lerinnen vor dem gefasst. Ab 1943 ruhte die Arbeit des Oberlin- Diakonissen-Mutterhauses in Nowawes diakonische Schwestern im Oberlinhaus. Wie Diakonissen- Seminars aufgrund des Drucks der National- 1879 waren es 38 Schwestern. auch ihre Schwestern in vorherigen Zeiten Mutterhaus. sozialistischen Volkswohlfahrt, welche der Im Jahre 1900 waren es bereits wohnen sie auf dem Oberlin-Campus in Pots- NSDAP unterstand. In den Folgejahren zog 188 Schwestern. dam-Babelsberg. Schwester Birgit ist heute das Oberlin-Seminar komplett nach Berlin. die letzte Diakonisse der traditionellen Form Mit dem Bau der Mauer gehörte das Oberlin- und im aktiven Dienst im Oberlinhaus. Seminar nicht mehr zum Oberlinhaus. 12 Oberliner | 150 Jahre 13
IM FOKUS Viel unterwegs sind die Mitarbei- tenden auch heute noch, jedoch 2021 Diakonissen im Außendienst zunehmend mit Elektroantrieb. Geografisch und historisch bedingt, agierte und Herbstmonaten ca. 40 Kinder der das Oberlinhaus bevorzugt in Berlin, der Gutsangehörigen versorgte und im Winter damaligen Provinz Brandenburg und dem Gemeindepflege an Alten, Kranken, Kindern Herzogtum Anhalt. Das Oberlinhaus über- und Jugendlichen betrieb. nahm aber auch einige Arbeitsfelder in der Außerdem gab es noch eine zweite städtische damaligen Provinz Sachsen (im heutigen Land Kleinkinderschule für ca. 65 Kinder unter dem Sachsen-Anhalt) und in Schlesien. Vorsitz von Graf von Hagen-Möckern. Die erste Oberin im Oberlinhaus, Thusnelda von Saldern, geboren in Potsdam und auf- Zu Leuna, einer Industriestadt im Land Sach- 1901 Schwestern mit dem Rad unterwegs zu gewachsen in Schlesien, gründete 1894 in sen-Anhalt, gehört der Ortsteil Dölkau. Dort ihren vielfältigen Einsatzstellen, dorthin, Grenzdorf/ Schlesien eine Kleinkinderschule lebten die Grafen von Hohenthal, die dort eine wo Menschen sie brauchen. und Gemeindepflegestation. Über 80 Kinder Kinderbewahranstalt, das „Emil-Stift“ sowie wurden dort unterwiesen und betreut. Gleich- eine alte Dorfschule betrieben. 1882 trat in zeitig war das Haus auch Ferien- und Erho- das „Emil-Stift“ eine Oberlin-Schwester ein lungsort für die Schwestern des Oberlinhaus. und übernahm mit einer Gehilfin die ganztäg- liche Betreuung der Kleinkinder. In die Kleinkinderschule und Gemeindepflege Bis in die 1980er Jahre gab es diese in Möckern bei Magdeburg berief 1881 der Außenstellen. Graf von Hagen-Möckern für die Familien seiner Landarbeiter eine Schwester aus dem Oberlinhaus, die in den Frühlings-, Sommer- 1972 waren die letzten Diakonissen-Einseg- nungen im Oberlinhaus. Die heute 76-jährige Schwester Birgit ist eine davon. Das Oberlin- haus ist nicht nur ihre Wirkungsstätte, Diakonissen im Einsatz sondern auch ihr Zuhause, wie schon für viele Diakonissen vor ihr. Als Rentnerin arbeitet sie Diakonissen waren nicht nur in Außenstatio- noch heute 30 Stunden in der Woche in zwei nen im ganzen Land im Einsatz, sondern hal- Schichten und an Wochenenden in der Ober- fen auch in Kriegszeiten in Lazaretten bei der linklinik. Schwester Birgit ist am Empfang der Versorgung von verwundeten Soldaten. Klinik anzutreffen, sie gibt Auskünfte, stellt Diakonisse und später Oberin Agnes von Telefonate in die Stationen durch und gibt Saldern aus dem Oberlinhaus war eine von Trost und Beistand, wo es nötig ist. Den Men- ihnen, die im Ersten Weltkrieg als Schwester schen in seiner Gesamtheit sehen und nicht im Dienst war. nur in seinen Bedürfnissen ist ihr wichtig. Als Gemeindeschwestern kümmerten sich Diakonissen auch an anderen Orten außerhalb ihres Mutterhauses mit Hingabe um Alte und Kranke sowie um Kinder, wie hier in einer Außenstation in Bornstedt. 14 Oberliner | 150 Jahre 15
ZEITSTRAHL Hertha Schulz (1876 – 1957) 1887 Hertha Schulz stürzte mit vier Jahren die Trep- Oberin Thusnelda von Saldern selbst besuchte kam als erstes taublindes Mädchen pe hinunter und war vier Wochen bewusstlos. die Mutter in Berlin und veranlasste die Über- in das Oberlinhaus. Damit begann Durch eine Hirnhautentzündung während siedlung der inzwischen 11-jährigen Hertha die Taubblindenarbeit in Deutschland. dieser Zeit konnte sie nicht mehr sehen und 1887 ins Oberlinhaus, wo sie zunächst mit hören. Nachdem sie wieder aufgewacht war, körperbehinderten Kindern im Mutterhaus erzählte sie viel und aufgeregt, vernahm lebte und die Blindenschrift erlernte. aber nicht die Antworten ihrer Mitmenschen. Zunehmend benutzte sie Gebärden, um ihre Sie hatte nicht verinnerlicht, dass nicht die Gedanken auszudrücken. Hertha entwickelte Mitmenschen ihre Sprache verloren hatten, mit der Zeit verschiedene hauswirtschaftliche sondern sie selbst das Gehör. Sprachreste, Fähigkeiten, war ausgesprochen selbst- die noch haften geblieben waren, verschwan- ständig in all ihrem Tun und Handeln sowie den jedoch nach und nach aus dem Gedächt- sehr auf Ordnung und Sauberkeit bedacht. nis des kleinen Mädchens. Die Eltern nahmen Bis zu ihrem Tod im Jahre 1957 lebte sie im Kontakt zum Oberlinhaus auf, weil die Zu- Taubblindenheim. Sie ist auf dem Babels- stände zu Hause in einem Berliner Mietshaus berger Goethefriedhof beigesetzt. 1886 unhaltbar wurden: Hertha war sehr laut, weil sie sich selbst nicht hörte. Erste Pfleglinge Schon früh begann im Oberlinhaus die Arbeit mit Menschen, die eine körperliche Beein- trächtigung hatten. Bei ihrer Arbeit trafen die Schwestern immer wieder auf Familien in Not. 1886 lernten sie den zehn Jahre alten, im Oberlinhaus Dank ausdauernder medizinischer und physio- therapeutischer Betreuung lernte Ludwig nach wenigen Jahren an Krücken zu laufen und bedurfte beim Essen und Ankleiden keiner Hilfe mehr. Außerdem wurde er beschult und 1890 Das Wachsen des Ortes Nowawes und die hygienischen Anforderungen machten bald vollständig gelähmten Ludwig Gerhard aus beruflich im Korbflechten und Bürstenbinden den Bau eines Krankenhauses dringend Berlin kennen, der vollkommen hilflos sich angelernt. Die erste Heimaufnahme wurde notwendig. Mit Hilfe von Spenden konnte selbst überlassen war. Als sie dem Vorsteher zum ersten Rehabilitationserfolg: Neun Jahre der Verein Oberlinhaus auf seinem eigenen darüber berichteten, beschloss er, die Heraus- später kehrte der junge Mann in seine Familie Grundstück am 20. Oktober 1890 das erste forderung anzunehmen. nach Berlin zurück und begann in einer Krankenhaus in Nowawes mit 45 Betten Am 10. Mai 1886 wurde Ludwig im Oberlin- Zigarrenfabrik zu arbeiten. eröffnen. Zur Behandlung ansteckender Krank- haus aufgenommen. Zu diesem Zeitpunkt heiten errichtete man 1898 eine Isolierbaracke konnte er ohne Hilfe nicht einmal Nahrung mit 15 Betten. Schon zwei Jahre später konn- zu sich nehmen. ten in der Poliklinik 639 und im Krankenhaus 510 Menschen mit 16.391 Verpflegungstagen versorgt werden. 16 Oberliner | 150 Jahre 17
IM FOKUS Körperbehindertenarbeit Ende des 19. Jahrhunderts wird das Oberlinhaus bekannt als Ort, wo Menschen mit Behinderungen schnell wieder auf die Beine kommen. So wurde die Körperbehindertenarbeit zu einem weiteren wesentlichen Arbeitszweig des Oberlinhaus. Tatsächlich war es so, dass jemand ein Kind brachte und die Diakonissen bat, sich darum zu kümmern. Im Jahr 1899 betreute das Oberlinhaus bereits behinderte Soziale und gesundheitliche Menschen (46 Jungen, 46 Mädchen, 32 Erwachsene). Mit der erhöhten Aufmerksamkeit für Menschen mit Beeinträchtigungen nach dem Ersten Weltkrieg und der gesetzlichen Regelung der „Krüppelfürsorge“ (Menschen mit Behinderungen als „Krüppel“ zu Fürsorge im Oberlinhaus bezeichnen, war bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts geläufig) im Jahr 1920, stieg die Belegung des „Krüppelheimes“ im Oberlinhaus auf bis zu 350 Plätze. In den ersten Jahrzehnten seines Bestehens Räumlichkeiten war die Krankenstation nur wuchs das Oberlinhaus sehr schnell. Immer für Kinder und Frauen vorgesehen. Betreut neue Aufgaben wurden angenommen und wurden sie von jungen Militärärzten aus bewältigt, Häuser wurden entsprechend des Potsdam. Der Missstand, dass ein Ort von Herzlichen Glückwunsch ständig steigenden Bedarfes gebaut und die der Größe wie Nowawes keinen Arzt hatte, Zahl der Diakonissen und Mitarbeitenden bewog den Vorstand des Oberlinhaus dazu, nahm stetig zu. Neben der reinen Kleinkinder- sich mit einzelnen Fabrikbesitzern in Ver- betreuung kamen andere diakonische Aufga- bindung zu setzen, um die nötige finanzielle ben wie Kranken-, Alten- und Gemeindepflege Sicherheit für die Niederlassung eines Arztes Alexander Hollensteiner hinzu. Die Gesund- zu erreichen. Somit Geschäftsführer Kam- merakademie Potsdam, heitsfürsorge spielte wurde gleichzeitig die Mitglied des Beirats der eine immer wesent- richtungsweisende Oberlinstiftung lichere Rolle: Da die Einheit von Kranken- © Hilfen weitgehend pflege und Kleinkin- Liebe Oberlinerinnen und Oberliner, kostenfrei angeboten derschule geschaffen. wurden, erhielt hier Schon wenige Jahre Fahrende Bücher zum 150. Geburtstag gratulieren wir sehr die arme Bevölkerung später – 1890 – dräng- herzlich. 150 Jahre Einsatz für Menschen, Bis in die 1980er Jahre beherbergte das die unsere besondere Unterstützung, erstmals qualifiziert ten die hygienischen Mutterhaus im Erdgeschoss eine Bibliothek spezielle Hilfestellungen, Zuwendung und und nachhaltig medi- Anforderungen auf den für Mitarbeitende sowie Patientinnen und Pa- Aufmerksamkeit benötigen. Allen Mitarbei- zinische Versorgung. Bau eines Kranken- tienten der Oberlinklink. Die Bücher stapelten terinnen und Mitarbeitern, die diese beson- Eine erste Kranken- hauses, das mit sich in Regalen bis unter die Decke – neben dere Idee mit Leben füllen, gilt unser ganz station im Mutter- 45 Betten vom Oberlin- vielen aktuellen Titeln gab es hier auch eine herzlicher Dank. Als Orchester der Landes- haus wurde eröffnet, haus mit eigenen große Sammlung wunderschöner Bildbände. hauptstadt dürfen wir Sie, liebe Oberliner, um der sozialen Not Mitteln gebaut und Betreut wurde die Bibliothek zunächst von regelmäßig musikalisch begleiten. Diese zu begegnen. Auf- eröffnet wurde. zwei Diakonissen. Mit einem in der hauseige- Begegnungen gehören zu den schönsten grund der knappen nen Korbmacherei hergestellten Bücherwa- Momenten unserer Arbeit. Auf weitere er- gen fuhren sie von Station zu Station, um die füllte und tatkräftige Jahre freut sich Ihr Patienten mit Lesestoff zu versorgen. Später übernahmen zwei Mitarbeiterinnen diesen Alexander Hollensteiner Dienst. Um die Wendezeit herum wurde die Bibliothek geschlossen, weil es immer weni- ger „Langlieger“ in der Oberlinklinik gab. 18 Oberliner | 150 Jahre 19
IM FOKUS Wiege der Taubblindenarbeit Nachdem 1887 das erste taubblinde Mädchen im Oberlin- haus aufgenommen worden war, veranlasste Pastor Hoppe eine Zählung der Taubblinden in Deutschland, um die Bedeutung dieser Arbeit herauszustellen. Etwa 500 taubblinde Menschen wurden erfasst – die Notwendigkeit einer Bildungsstätte wurde mehr als deutlich: 1906 eröff- nete das Oberlinhaus das erste deutsche Taubblindenheim. Bis 1962 – also insgesamt 56 Jahre – blieb das Oberlin- haus die einzige Spezialeinrichtung dieser Art in Deutsch- land. Bei der Arbeit setzte das Oberlinhaus als Erstes den Fokus auf die Förderung der Kommunikation. Es gibt zum Beispiel ein eigenes Oberlin-Alphabet – ein Alphabet, das in die Hand gebärdet oder daktyliert wird. Seither trägt das Oberlinhaus – nunmehr sind es über 130 Jahre – dazu bei, deutschlandweit Maßstäbe zu setzen und die Lebensum- stände Betroffener und ihrer Angehörigen zu verbessern. Auch heute noch gibt es hier Wohnangebote, die ganz und gar auf taubblinde Menschen jeden Alters ausgerich- tet sind. So gibt es beispielsweise Zimmer, in denen ein Ventilator angeht, sobald jemand den Raum betritt. Damit der Bewohner, der nichts hört und sieht, am Luftzug spürt, dass jemand da ist. Begleitung und Assistenz für Menschen mit Autismus Hertha Schulz war 11 Jahre alt, als sie 1887 ins Oberlinhaus kam. Sie hatte ihr Gehör und ihre Sehkraft verloren. Hertha nahm an, dass die anderen die Sprache verlernt hatten: „Das war damals, Bis heute werden im Oberlinhaus Menschen mit den unterschiedlichsten Beeinträchtigungen als ihr noch sprechen konntet.“ Mit ihr begann die systematische Förderung und Begleitung bei der Gestaltung ihres möglichst selbstbestimmten und menschwürdigen Lebens unterstützt. taubblinder Menschen in Deutschland. Mit 17 war Hertha eine gebildete junge und berufstätige Frau. 2005 wurde dieser Leistungsbereich unter dem Namen „Lebenswelten“ zusammengefasst. Und es fand eine Ausweitung auf ein weiteres Spezialgebiet statt: Die Arbeit mit Menschen mit Autismus. Insbesondere Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit frühkindlichem Autismus sind ihr Leben lang auf Hilfestellungen angewiesen. Mit individueller Unterstützung, Begleitung und Assistenz können sie jedoch den Alltag meistern und maximale Selbstständigkeit und Selbstbe- stimmung erlangen – dafür bieten die Oberlin Lebenswelten viele verschiedene Angebote. 20 Oberliner | 150 Jahre 21
ZEITSTRAHL 1894 Der Betreuungsbedarf für Menschen, die 1899 körperlich versehrt waren, stieg stetig an und so beschloss der Verein Oberlinhaus ein „Kinderkrüppelhaus“ zu bauen. 1894 wurde es als erstes „Deutsches Vollkrüppelheim“ für 80 Kinder eröffnet. Ergänzung fand das erste „Deutsche Voll- krüppelheim“ 1899 durch den Anbau eines „Krüppelschulhauses“ – eher bekannt als „Schulstation“ und heutiger Sitz der Oberlin Kindertagesstätte Babelsberg – für zunächst 30 Schülerinnen und Schüler mit Körperbe- hinderungen und vier taubblinde Kinder. Im Erdgeschoss waren drei große helle Klassen- räume, oben die Schlafräume und das Zimmer für die Leiterin der Schulstation. Oberlinhaus – ein Wegbereiter 1891 rigkeiten hatte, mit Hertha Schulz umzugehen. Seine ersten Unterrichtsversuche waren nicht ohne Erfolg, auch wenn es damals in Deutsch- 1900 Noch vor der Jahrhundertwende erarbeitete land noch keinerlei Literatur zu dieser Proble- der damalige Hausvorstand (Oberin Thusnelda matik gab. Er versuchte Hertha die Lautspra- von Saldern und Pastor Theodor Hoppe) die Der „Königliche Taubstummenoberlehrer“ che zu lehren, hoffend, dass sie sich nach der Konzeption einer ganzheitlichen Rehabilitation. aus Berlin, Gustav Riemann, übernahm 1891 Lautentwicklung an die früheren Worte vor Bereits 1900 beruhten somit die medizini- den Unterricht von Hertha Schulz, dem ersten ihrer Hirnhautentzündung im Alter von vier schen, pädagogischen, beruflichen und taubblinden Kind im Oberlinhaus. Riemann Jahren erinnern würde. Das geschah jedoch sozialen Aufgaben auf einer geistlichen Basis, erhielt in Barby an der Elbe seine Lehrerausbil- nicht. Er war unermüdlich in der Entwicklung an den Bedürfnissen des Einzelnen orientiert. dung und wurde nach bestandenem Examen der Pädagogik auf diesem Gebiet tätig und 1900 wurde der Verein Oberlinhaus für das an die Königliche Taubstummenanstalt in hielt Vorträge in medizinischen sowie psycho- Konzept der komplexen Rehabilitation – ein Berlin berufen. Sein zweites Arbeitsfeld war logischen Gesellschaften. 1927, bereits hoch zu jener Zeit innovatives und richtungsweisen- die Arbeit als Taubstummenlehrer im Ober- in den Siebzigern, übergab er sein Amt an des Konzept – auf der Pariser Weltausstellung linhaus. Pastor Theodor Hoppe hatte sich Gustuv Damaschun. 1931 starb Gustav mit einer Goldmedaille ausgezeichnet. hilfesuchend an ihn gewandt, da man Schwie- Riemann geehrt und geachtet. 22 Oberliner | 150 Jahre 23
IM FOKUS Herzlichen Glückwunsch Zeitgeschehen: Wenn wir Von der Fürsorge zur Teilhabe heute barrierefreie Ver- Das 1957 in Kraft getretene „Körperbehin- kehrsmittel nutzen oder dertenfürsorgegesetz“ (KBFG), an dessen Matthias Platzeck Ministerpräsident des öffentliche Gebäude mit Entstehung evangelische Vertreter ebenfalls Landes Brandenburg Rampen und Aufzügen be- maßgeblich beteiligt waren, lehnte sich noch a.D. © treten, gilt das als selbstver- stark an das preußische Krüppelfürsorgege- setz an. 1961 wurde das KBFG in das Bundes- ständlich. Kaum einer denkt Was ich mit dem Oberlinhaus verbinde, sozialhilfegesetz eingegliedert und 1962 das das ist die Strahlkraft, die größer ist als die an diejenigen, die viele Jah- Schwerbehindertengesetz eingeführt. 1998 eigentliche Arbeit an den Patientinnen und re für Barrierefreiheit ein- gründete sich der „Bundesverband Evangeli- Patienten, den Schülerinnen und Schülern getreten sind. Aber welche sche Behindertenhilfe e.V.“ (BeB – das Ober- oder den Menschen mit einer Behinde- Rechte hatten und haben linhaus ist hier Mitglied), der am Neunten rung. Die im Oberlinhaus geleistete Arbeit ist größer als das Oberlinhaus selbst. Auch Menschen mit Behinderung Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) von 2002 mit- deshalb ist seine 150-jährige Geschichte eigentlich in Deutschland? arbeitete, worin die Belange von Menschen eine einzigartige Erfolgsgeschichte. Ich mit Behinderung neu geregelt wurden. Ziel Und welche Rolle spielt das bleibe dem Oberlinhaus auch in Zukunft war es, Benachteiligungen zu verhindern und Oberlinhaus dabei? eine möglichst selbstbestimmte Lebensfüh- verbunden. Aber vor allem hoffe ich mit allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern rung zu gewährleisten. Im März 2009 trat die und dem Vorstand, dass der einzigartige UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) Charakter dieses Hauses auch in in Deutschland in Kraft. Grundlegend für die Zukunft erhalten bleibt. UN-BRK ist der Gedanke der Inklusion: Gleiches Recht für alle! Menschen mit Behinderung gehören von Matthias Platzeck Anfang an mitten in die Gesellschaft. Richtungsweisend für den Aufbau der evan- gelischen Körperbehindertenfürsorge war die 1910 schloss sich der gegründete Verband der „Deutschen Vereinigung für Krüppelpflege Bundesteilhabegesetz tritt in Kraft Eröffnung des ersten Deutschen „Vollkrüppel- e.V.“ an. Innerhalb dieser Vereinigung betei- Auf vielen Gebieten leistet das Oberlinhaus Bundesteilhabegesetzes (BTHG) längst nicht heims“ 1894 im Oberlinhaus unter Leitung ligte sich das Oberlinhaus maßgeblich an der immer wieder Pionierarbeit und vollbringt mit alle Akteure zufrieden und rechneten statt mit des Vorstehers Theodor Hoppe. Zusammen Entstehung des ersten „Krüppelfürsorgege- ganzheitlichen Förderkonzepten und kreativen Verbesserungen sogar eher mit Verschlech- mit seinen Mitarbeitenden entwickelte er ein setztes“ , welches 1920 erlassen wurde. Es Therapien eine wichtige Arbeit. So waren mit terungen – gerade für Personen mit hohem Konzept der ganzheitlichen Rehabilitation, sicherte allen Menschen mit Behinderungen dem im Jahr 2016 vorgelegten Entwurf des Unterstützungsbedarf. Deshalb demonstrier- welches auf der Pariser Weltausstellung mit unter 18 Jahren einen Rechtsanspruch auf ten im selben Jahr die Oberliner zusammen einer Goldmedaille ausgezeichnet wurde medizinische Behandlung sowie schulische mit anderen Wohlfahrtsverbänden und und berufliche Ausbildung zu und führte eine Behindertenorganisationen vor dem Dem Konzept des Oberlinhaus folgend, allgemeine Meldepflicht ein. Für die Arbeit Brandenburger Landtag. Das in zentralen entstanden nach der Jahrhundertwende in in den Einrichtungen war dieses Gesetz von Punkten überarbeitete Gesetz, das für Men- ganz Deutschland weitere konfessionelle entscheidender Bedeutung. Von nun an war schen mit Behinderungen mehr Möglichkeiten „Krüppelheime“, die sich 1901 – auf Initiative die Körperbehindertenarbeit keine Gnaden- der Teilhabe und mehr Selbstbestimmung und unter Vorsitz von Pfarrer Theodor Hoppe, leistung mehr, sondern eine Pflichtleistung der schaffen soll, trat in seiner 1. Stufe zum zu einer Konferenz zusammenfanden und Gesellschaft und des Staates. Es bildet somit 1. Januar 2017 in Kraft. Die letzte von insge- einen Verbund gründeten. den Grundstein der heutigen Sozialgesetzge- samt vier Stufen des Gesetzepaketes erfolgt bung. Auf dieser Grundlage wuchs nach zum 1. Januar 2023. Bis dahin setzt sich das dem Ersten Weltkrieg die Nachfrage nach Oberlinhaus weiter für die Rechte von Betreuung beständig an. Menschen mit Behinderungen ein und bringt sich mit seinen langjährigen Erfahrungen in verschiedenen Arbeitsgruppen ein. 24 Oberliner | 150 Jahre 25
ZEITSTRAHL 1901 Anekdote: Kaiserin Auguste Viktoria schenkte dem Oberlinhaus zur Einweihung der Oberlin- kirche am 12. Januar 1905 ihre persönliche Bibel mit einer Widmung. Die Bibel wird heute im historischem Archiv im Oberlinhaus aufbewahrt. Erstes Taubblindenheim Deutschlands Das Handwerkerhaus hat seinen Namen nicht von ungefähr: In dem historischen Gebäude wurden nach dessen Eröffnung am 26. Oktober 1901 Jungen und junge Männer mit Behinderung in einem Handwerk ausgebil- det. Daneben beherbergte es die Wohnräume 1906 Mit vier taubblinden Kindern zog Diakonisse Zentral in Potsdam-Babelsberg gelegen, leben hier heute 20 Kinder mit Hör -Seh- und zusätzlichen schweren Behinderungen mit umfassender Begleitung und Assistenz selbstbestimmt. Da die Kinder über sehr und Schlafsäle der Jugendlichen, denen Hand- Agnes von Saldern 1906 in ein kleines Weber- unterschiedliche Möglichkeiten der Kommuni- werksbetriebe zu dieser Zeit keine behinder- haus. Im selben Jahr wurde dieses zum kation verfügen, werden sie intensiv und tengerechte Ausbildung anboten. Zunächst ersten "Taubstummblindenheim" Deutsch- individuell entsprechend ihrer Fähigkeiten und 1905 zogen 23 Lehrlinge ein, die eine Ausbildung lands für durchschnittlich 40 Bewohnerinnen Bedürfnissen gefördert. Im Seitenflügel des zum Schumacher, Schneider, Stuhlflechter und Bewohner umgebaut. Es befand sich an Gebäudes befindet sich heute der Taubblin- oder Korb- und Bürstenmacher absolvierten. der Stelle, wo das heutige Hertha-Schulz-Haus denschulteil der Oberlinschule. Musikraum, Zudem wurde in einer Schlosserei mit ortho- steht. Auf der ganzen Welt gab es seinerzeit Keramikwerkstatt, Freizeitraum und Außen- pädischer Werkstatt gelehrt und gelernt. Hinzu lediglich sechs weitere Spezialeinrichtungen gelände mit Sinnesgarten werden gemein- kamen später noch eine Tischlerei und eine dieser Art. Um dem weiteren Bedarf gerecht sam vom Wohnbereich und dem Taubblinden- elektrisch betriebene Drechslerei. 1904 hatte zu werden, entstand an seiner Stelle ein roter schulteil genutzt. sich die Zahl der Lehrlinge bereits auf Klinkerneubau, der im Jahre 1912 eingeweiht 46 verdoppelt. Welchen der Ausbildungsbe- wurde. Hier erhielt Hertha Schulz auch endlich rufe die jungen Leute ergriffen, war abhängig Den Diakonissen stand für Gottesdienste eine Kapelle ihr eigenes Zimmer. Heute gehört das Hertha- von ihren Fähig- und Fertigkeiten – und der im Mutterhaus zur Verfügung. Für das geistliche Leben Schulz-Haus zu den ältesten Gebäuden des Beurteilung eines Arztes. Am Ende der Lehr- der Schwesternschaft sowie der Bewohnerinnen und Verein Oberlinhaus. 2001 wurde das Gebäu- zeit stand die Prüfung durch die Handwerks- Bewohner im Oberlinhaus bestand jedoch der Wunsch de vollständig modernisiert, rollstuhlgerecht kammer an. nach einer eigenen Kirche. Mehr als sechs Jahre lang umgebaut und um einen modernen Anbau er- wurden Spenden gesammelt. Kaiserin Auguste Viktoria gänzt. Dieses Bauvorhaben wurde mit öffent- unterstütze den Bau des Gotteshauses nach den Plänen lichen Mitteln gefördert, jedoch einen großen des Architekten Ludwig von Tiedemann mit 15.000 Mark. Teil der Kosten musste das Oberlinhaus selbst Grundsteinlegung war 1899, die Bauarbeiten begannen aufbringen. Zahlreiche Prominente haben sich 1903. Zwei Jahre später wurde das neogotische Bauwerk seinerzeit dafür engagiert und mit dazu beige- aus roten Backsteinen feierlich eröffnet. tragen, die notwendigen Gelder aufzubringen. 26 Oberliner | 150 Jahre 27
IM FOKUS 1965 Gottesdienst anlässlich der Einführung der 2019 Ein bunter und tanzfreudiger Gottesdienst „Mit allen Sinnen“ Oberin Huberta Müller zusammen mit der Afrikanischen am 14. März 1965. Gemeinde Potsdam. Oberlinkirche barrierefrei Anekdote: Die Kirchengemeinde im Oberlinhaus gibt es seit 1895. Thusnelda von Saldern ist eine von In der Oberlinkirche werden Gottesdienste Zudem sollten alle Menschen – mit und ohne vielen Diakonissen, die auf dem Friedhof in der auch inklusiv gefeiert: Bibeltexte werden Beeinträchtigung – selbstständig in die Kirche Goethestraße in Potsdam - Babelsberg bestattet z. B. durch Pantomime, Musik, Gebets- und gelangen. Deshalb wurde der Kirchvorplatz wurden. Seither haben hier nicht nur Diakonissen, Körpergebärden oder mit Filmen dargestellt barrierefrei umgestaltet und darüber hinaus sondern auch Vorsteher und weitere Persönlich- – und so mit allen Sinnen erfahren. Eine Ge- vergrößert. Mit einer Leinwand und einem keiten aus dem Oberlinhaus ihre letzte Ruhe bärdendolmetscherin übersetzt für Hörbeein- Soundsystem werden Gottesdienste, gefunden. trächtigte den Gottesdienst. „Wir tun schon Veranstaltungen und Konzerte nach draußen viel, aber es muss noch inklusiver werden“, auf den Vorplatz und in den anschließenden sagt Pastor Matthias Amme. Deshalb wird die Maria-Martha-Garten übertragen. So kann Oberlinkirche 2021 in eine barrierefreie Kirche Gemeinschaft – auch unter Corona-Schutz- umgebaut. bedingungen – gelebt werden. Menschen im Rollstuhl mussten bislang noch wegen installierter Sitzbänke im Mittelgang Krippenfiguren des Gotteshauses stehen und kamen nicht bis an den Altar heran. Festes wird mit mobilem Oberlin-Krippen-Figuren aus rötlichem Mobiliar ausgetauscht, auch der Altar durch Ton sind in ganz Deutschland beliebt. einen beweglichen ersetzt. Mit der neuen Sie entstanden auf Initiative von Pastor Bestuhlung ist es möglich, Zusammenkünfte Reinhold Kleinau in den 1950er Jahren individuell an die Bedürfnisse aller Teilneh- in den Werkstätten des Oberlinhaus. menden anzupassen und z. B. auch im Die Bildhauerin Ilse Scheffer entwarf die Kreis zu feiern. Figuren und schenkte die Gipsnegative 1954 dem Oberlinhaus, als sie von der DDR in die Bundesrepublik ausreiste. In der Keramikwerkstatt fertigen bis heute Menschen mit Behinderung die Figuren der Heiligen Familie. 28 Oberliner | 150 Jahre 29
IM FOKUS Geschichten, die sich hinter Orgel und Taufengel verbergen Die mehr als 100-jährige Orgel in der Oberlin- kirche sei von besonderem Klang, wird gesagt. 2004 wurde die Orgel restauriert und eingeweiht. An der Spendengewinnung zur Finanzierung der Orgelrestaurierung war Altkanzler Helmut Schmidt maßgeblich beteiligt. Leider konnte er die Orgel während eines Besuches im Oberlinhaus weder betrachten, noch spielen. Denn was vielleicht weniger bekannt ist: Helmut Schmidt war ein passionierter Pianist. Vor dem Schlafengehen soll er immer zur Entspannung auf dem Klavier gespielt haben. Er selbst schrieb sich als Musiker nur ein mittel- mäßiges Talent zu, der Pianist und Dirigent Justus Franz bezeichnete ihn hingegen als höchst begabt und nahm mit ihm klassische Konzerte auf. In der Oberlinkirche fällt der Taufengel aus Sandstein neben dem Altar sofort ins Auge. Das Kunstwerk stammt von dem Bildhauer und Wahl-Berliner Heinrich Wefing (1854 – 1920). Der Taufengel strahlt in seiner Zartheit eine stille Hingabe aus, die sofort spürbar ist. Und gleichzeitig vermittelt die Jugendlichkeit des Engels eine lebendige Kraft. All dies schien die Oberlin-Diakonisse Meta Schwester Meta Colberg kam 1889 in das Colberg verkörpert zu haben, denn Diakonissen-Mutterhaus. Ihr Gesicht und die sie war 1903 das Vorbild des Bild- Falten ihres Gewandes sind im Sandstein hauers Wefing für den Taufengel in des Taufengels verewigt. der Oberlinkirche. 30 Oberliner | 150 Jahre 31
ZEITSTRAHL 1911 Ab 1911 entstand eine kleine orthopädische Station im „Kinderkrüppelheim“: Es wurden Seitenflügel mit Veran- den und Balkonen, ein Röntgenkabinett und ein großer orthopädischer Saal eingerichtet. Ab 1919 wurde der Facharzt für orthopädische Chirurgie, Dr. Karl Stahlschmidt, hauptamtlich vom Verein Oberlinhaus berufen. Dank seiner Initiative – ab 1925 war Dr. Stahlschmidt als Landeskrüp- pelarzt tätig – wurden weitere Krankenzimmer sowie ein OP eingerichtet und das „Krüppelheim“ sukzessive zu einer orthopädischen Klinik ausgebaut. Neben der chirurgischen Behandlung wurden die Kinder 1910 physiotherapeutisch betreut. Ein Gesundheits- campus entsteht 1914 Bald wurde das erste 1890 eröffnete Kranken- 1879 trat das Oberlinhaus der Kaiserswerther haus zu klein. Dem zunehmenden Wachstum Generalkonferenz bei. 1914 wurde Pastor des Ortes Rechnung tragend, entschied der Theodor Hoppe zum ersten Vorsitzenden Landkreis Teltow (zu dem Nowawes gehörte) berufen. gemeinsam mit dem Oberlinverein ein neues und größeres Krankenhaus zu errichten. 1910 wurde das „Oberlin-Kreiskrankenhaus“ eröffnet. Hier standen den Patientinnen und 1929 Patienten größere und moderne Räumlich- keiten zur Verfügung. Eine feste Ärzteschaft und ausgebildete Oberlin-Schwestern konnten die vielen Patientinnen und Patienten jetzt nach neuesten medizinischen Erkennt- nissen und Methoden versorgen. Es gab nun zusätzlich eine chirurgische und eine innere Abteilung, großzügige Operationssäle und eine gynäkologische Station. Bis 1929 wurde Pastor Reinhold Kleinau das Kreiskrankenhaus gemeinsam vom Ober- (1888 – 1974) linverein und dem damaligen Landkreis Teltow Der Theologe war 43 Jahre im Auftrag und Dienst betrieben. Heute befindet sich im ehemaligen des Oberlinhaus. 1929 war er von Theodor Hoppe Krankenhausgebäude ein Teil der Oberlin- als sein Nachfolger und neuer Vorsteher im schule. Oberlinhaus eingeführt worden. Kleinau lenkte in den schwierigen Zeiten von 1930 bis 1950 das Oberlinhaus und setzte wegweisende Schritte in Prinzessin Eitel Friedrich von Preußen bei der Berufsausbildung von Menschen mit der Einweihung des Oberlin-Kreiskrankenhauses zu Nowawes, 2. Mai 1910 Behinderungen. 32 Oberliner | 150 Jahre 33
IM FOKUS In den 1980er Jahren war die Oberlinklinik die einzige orthopädische Einrichtung im Kreis Potsdam. Das fachliche Profil der Klinik konnte auch zu Zeiten der DDR-Mangelwirtschaft ausgebaut werden, da Medizintechnik und Als erste Klinik in den neuen Bundesländern Instrumente über das Diakonische Werk aus wurde 2016 in der Oberlinklinik das neuartige, Westdeutschland importiert wurden. Die An- strahlungsarme Röntgensystem EOS instal- Von einer Krankenstation aus zahl der Operationen stieg kontinuierlich: Von ca. 1.000 im Jahr 1980 auf ca. 1.400 im Jahr liert und damit einmal mehr der Anspruch unterstrichen, den Patientinnen und Patienten dem Jahr 1880 zu einer modernen 1995. Für eine qualifizierte und bedarfsge- eine bestmögliche medizinische Versorgung rechte Endoprothetik bedurfte es eines neuen im Bereich der Orthopädie zu ermöglichen. OP -Traktes, welcher 1995 eingeweiht wurde In den nächsten Jahren folgten weitere orthopädischen Fachklinik und die medizinisch-technische Ausstattung der Klinik wesentlich verbesserte. Umbau- und Sanierungsarbeiten: 2018 nahm die Oberlinklinik zwei neue und hochmoderne Operationssäle in einem neuen Anbau in Die Geschichte der Orthopädie im Oberlin- So wurde 1931 die bisher kleine orthopädi- In den folgenden Jahren wurden alle Statio- Betrieb. Die Operationssäle sind mit dem haus begann bereits 1890 mit der Eröffnung sche Station im „Kinderkrüppelheim“ durch nen des alten Klinikbereiches modernisiert Lüftungssystem „Opragon8“ ausgestattet, des ersten Krankenhauses in Nowawes: Der einen neuen vierstöckigen Krankenhausbau und teilweise umgebaut. Mit dem Aufbau der das die Patientensicherheit durch maximale damalige Chefarzt und ein Assistenzarzt ersetzt. Das Oberlinhaus übernahm die Ver- Abteilung Wirbelsäulen - und Beckenchirur- Keimfreiheit erhöht. Für junge Patientinnen betreuten auch das „Krüppelheim“ und sorgung weit über Potsdam hinaus, auch in gie, der Eröffnung der ersten orthopädischen und Patienten mit Erkrankungen, Fehlbild- sammelten hier erste Erfahrungen. Dr. Karl den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Tagesklinik im Land Brandenburg im Jahr ungen und Verletzungen des Bewegungs- Stahlschmidt hatte ab 1920 wesentlichen Mit der Versorgung von Kriegsverwundeten 2001 und der Eröffnung der Abteilung Neuro- apparates und der Wirbelsäule wurde Anteil daran, dass aus der medizinischen stieg die Patientenzahl drastisch an: orthopädie im Jahr 2005 wurden neue Be- 2019 eine neue Station für Kinder- und Abteilung für Körperbehinderte eine ortho- 1945 zählte die Statistik 788 Patienten, handlungsfelder gewonnen. 2007 wurde ein Neuroorthopädie eröffnet. pädische Fachklinik wurde und der Verein 1948 sogar 923 Patienten bei einer Kapazität zusätzlicher Erweiterungsbau eröffnet. Oberlinhaus seine orthopädisch-medizinische von 305 Betten. Heute verfügt die Oberlinklinik über Betreuung ausbaute. Zum Verständnis: Erst Das Leistungsspektrum wurde erweitert, 145 Betten und rund 270 Mitarbeitende und 1924 wurde die Orthopädie überhaupt als Zum umfänglichen Behandlungsspektrum der differenziert und qualifiziert. 2010 setzte ist damit eine der größten orthopädischen eine Spezialmedizin anerkannt. Oberlinklinik gehören orthopädische Spezial- Chefarzt Dr. med. Robert Krause (heute Ärzt- Fachkliniken im Land Brandenburg. Jährlich aufgaben wie etwa eine Risikosprechstunde licher Direktor der Oberlinklinik) erstmalig werden rund 5.000 Patientinnen und Patien- Im März 1927 waren 224 Kinder im „Krüppel- für Kleinkinder zur Früherkennung, eine Säug- europaweit eine maßgefertigte Knie-Endopro- ten stationär und teilstationär behandelt, heim“ untergebracht, die meisten von ihnen lingssprechstunde zur Untersuchung mögli- these mit einer neuartigen OP-Methode ein, weitere 15.000 Patienten ambulant. kamen zur medizinischen Behandlung. Die cher Hüftdysplasien und Skoliose. mit der Fehlpositionierungen sicher Ausrichtung und Spezialisierung auf Erkran- Jährlich werden in der Ambulanz bis zu vermieden werden konnten. kungen des Stütz- und Bewegungsapparates 20.000 Patientinnen und Patienten behandelt. setzte sich weiter fort. Durch die Folgen des Ersten Weltkrieges bedurften viele Menschen mit einer Behinderung der intensiveren medi- zinischen Betreuung. In Anbetracht der Situ- ation entschied sich der Verein Oberlinhaus, bauliche Erweiterungen vorzunehmen. 34 Oberliner | 150 Jahre 35
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