Immer anders, immer neu - Geschichten aus dem Tageshospiz - Hospiz Bewegung Salzburg

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Immer anders, immer neu - Geschichten aus dem Tageshospiz - Hospiz Bewegung Salzburg
Frühjahr 2021
                                                                                                   Verlagspostamt 5020 Salzburg· P.b.b. | 02Z031835M

NR.   1 lebensfreude

Immer anders, immer neu – Geschichten aus dem Tageshospiz
Anlässlich des 14. Salzburger Hospiztags im Herbst 2020 hielt Dr. Irmgard Singh, leitende Ärztin im Lebens-
raum Tageshospiz Kleingmain, einen Vortrag: Grenzerfahrungen im Tageshospiz. Oder: Wie uns die Physik die
Schönheit des Lebens zeigt.

                    Als ich diesen Vortrag vorbereitete, wurde Zuhause ge-     Das erinnerte mich an meine Arbeit im Tageshospiz.
                    rade unser Vorplatz neu gepflastert. Mein Sohn, theore-    Die Muster sind einander ähnlich und sind doch immer
                    tischer Physiker, fragte mich, ob ich mich für eine Pen-   wieder neu. Grenzerfahrungen bieten sich jeden Tag. Sie
                    rose-Parkettierung entschieden hätte. Das machte mich      bewegen sich oft zwischen zwei Polen, über die ich hier
                    neugierig und ich forschte nach und erfuhr: Roger Penro-   mit Ihnen gerne nachdenken möchte.
                    se, Nobelpreisträger für Physik 2020, hatte in den 70er-
                    Jahren sogenannte aperiodische Kachelmuster publiziert,    Zu Beginn jedoch – zur Einstimmung – eine kurze Parabel
                    mit denen man eine Fläche lückenlos parkettieren konnte,   vom „Jungen Mann und vom Tod“:
                    ohne dass sich ein Grundmuster periodisch wiederholte.     Ein junger Mann ersucht den Tod: „Bevor du mich abholst,

                    HOSPIZ BEWEGUNG Salzburg
Immer anders, immer neu - Geschichten aus dem Tageshospiz - Hospiz Bewegung Salzburg
editorial
                                                                         Doch wie genau lässt sich freie Selbstbestim-
                                                                         mung von sozialem und ökonomischem Druck
                                                                         oder von purer Verzweiflung abgrenzen? Was
                                                                         ist mit Menschen, die resigniert sind, weil sie
                                                                         niemanden haben, der sie in ihrem Leid beglei-
                                                                         ten kann oder weil sie bis an die Grenze ihrer
                                                                         Leidensfähigkeit zermürbt sind und bei aller Qual
                                                                         keine Lebensqualität mehr erfahren? Was ist mit
                                                                         Menschen, deren pflegende Angehörige unter
                                                                         der großen Last zusammenzubrechen drohen?
                                                                         Wie frei ist ein verzweifelter Mensch am Ende
                                                                         seiner Kräfte? Hier gilt es darauf zu achten, dass
                                                                         Menschen verlässlichen Schutz und Beistand für
Für das Sterben       Liebe Freund*innen und Förder*innen der            ein Leben in Würde erhalten.
                      Hospiz-Bewegung Salzburg!
  gibt es keinen                                                         Die haupt- und ehrenamtliche Arbeit vieler
                      Deutlicher könnte das Spannungsfeld, in dem        Menschen in der Hospiz- und Palliativbewegung
      Lockdown        Sterben in unserer Zeit stattfindet, wohl nicht    ist getragen von mitmenschlicher Begleitung
                      werden: in der Situation mit Covid-19 wurde        und einem tiefen Respekt vor einem zu Ende
                      als Handlungsleitlinie der Regierung verkündet,    gehenden Leben, und einem Sterben, das es
                      jedes Menschenleben zu retten, „koste es, was      weder hinauszuzögern noch frühzeitig zu been-
                      es wolle“ (Sebastian Kurz). Im selben Jahr wur-    den gilt.
                      de der Entscheid vom Verfassungsgerichtshof
                      gefasst, dass das „ausnahmslose Verbot“ der Bei-   Unsere Gesellschaft ist als ganze gefordert,
                      hilfe zur Selbsttötung aufzuheben ist.             die nötigen Ressourcen im Gesundheitswesen
                                                                         für eine bedarfsgerechte Hospiz- und Palliativ-
                      Das Lebensende ist in der modernen Gesellschaft    versorgung bereitzustellen und eine Kultur so-
                      zu einem hohen Anteil von menschlichem Zutun       lidarischen und zugewandten Begleitens zu
                      bestimmt: Medikamente und medizinisch-tech-        fördern, die eine überzeugende und die Not
                      nische Möglichkeiten verlängern das Leben, die     wendende Alternative bildet zu einer Praxis
                      meisten Menschen sterben in Institutionen wie      „selbstbestimmter“ Tötung“.
                      Krankenhäusern oder Senioreneinrichtungen.
                      Die Bedingungen der Pandemie haben die             Wir danken Ihnen allen, die Sie im vergangenen
                      Situation verschärft, indem viele Menschen ihre    Jahr einen Be(i)trag dazu geleistet haben und
                      letzten Lebenswochen und -monate isoliert von      bitten weiterhin um Ihre ideelle und finanzielle
                      ihren Angehörigen verbringen mussten. Dass         Unterstützung!
                      durch die erlebte massive Fremdbestimmung der
                      Ruf nach einem selbstbestimmten Sterben laut       Karl Schwaiger, Obmann
                      wird, verwundert nicht.                            Christof S. Eisl, Geschäftsführer

2         März 2021                                                      HOSPIZ BEWEGUNG Salzburg
Immer anders, immer neu - Geschichten aus dem Tageshospiz - Hospiz Bewegung Salzburg
leben und sterben in würde                                                                                       inhalt
                                                                                                                 leben und
                                                                                                                 sterben in
                                                                                                                 würde
                                                                                                                 1  Grenzerfahrungen
                                                                                                                    im Tageshospiz

                                                                                                                 10

                                                                                                                       Anmerkungen zur
                                                                                                                       Aufhebung des Verbots
                                                                                                                       der Suizidbeihilfe

                                                                                                                 kontaktstelle
                                                                                                                 trauer
warne mich bitte, sodass ich mich vorbereiten kann.“
Die Zeit vergeht und der Mann wird alt. Irgendwann
                                                       pausenlos im Krankenhaus war. Schließlich bat er
                                                       seine Frau: „Nimm mich mit nach Hause, mir ist es         14    Tränen weg und weiter!
                                                                                                                       Trauern Männer anders?
kommt der Tod, ihn zu holen, ohne Voranmeldung,        egal, ob ich sterbe.“ Danach ist er ins Tageshospiz

                                                                                                                 papageno
wie der Mann denkt. So beschwert er sich bitterlich:   gekommen, wir haben ihn „aufgepäppelt“ und er hat
„Warum hast du mich nicht vorgewarnt, Tod?“ Der        noch fast vier Jahre gelebt. In dieser Zeit hat er sein
Tod antwortet: „In Wahrheit habe ich Dir viele Vor-    Haus fertig gebaut, alle Möbel selbst gemacht und
warnungen geschickt: Sind nicht deine Haare grau
geworden? Gehst du nicht immer gebeugter? Kam
                                                       hatte noch eine glückliche Zeit. Soviel zu Prognosen.
                                                                                                                 18  Österreichischer
                                                                                                                   		 Kinderhospiz- und
                                                                                                                 		Palliativtag
nicht Krankheit um Krankheit hinzu?“                   Die Begleitungen im Tageshospiz sind verschieden
                                                       lang, wobei die kurzen oft noch intensiver sind.
Der Zeitpunkt
Bei uns im Tageshospiz ist der Tod in gewissem Sinn
                                                       Ich kann mich an eine Patientin erinnern, die kam
                                                       an einem Freitag zum ersten Mal zu uns mit dem
                                                                                                                 aus der hospiz-
erwartet. Unsere Besucher haben Diagnosen, bei de-     Auftrag: Ich möchte morgen auf die Hochzeit mei-          bewegung
nen aus medizinischer Sicht wahrscheinlich ist, dass   ner besten Freundin gehen. Sie hatte eine Schmerz-
sie in einem absehbaren Zeitraum daran versterben
werden. Und doch ist „absehbar“ natürlich dehnbar.
                                                       pumpe, die aber nicht gut eingestellt war. Ich bot
                                                       ihr an, diese umzustellen. Da ich sie aber eigentlich     24     Personelles,
                                                                                                                        Spenden
Das können Tage sein, Wochen, Monate oder manch-       gar nicht kannte, wir hatten uns ja zum ersten Mal
mal sogar Jahre, weil sich jemand vorübergehend        gesehen, war das ein gewisses Wagnis für sie. Nach
wieder ganz gut erholt.                                einiger Überlegung stimmte sie zu. Am Abend habe
                                                       ich mit ihr telefoniert und es ging gut. Am nächsten
Doch haben wir im Tageshospiz erlebt, dass Men-        Tag in der Früh war sie dann am Standesamt mit ih-
schen ihre Prognose weit überlebt haben. Ich denke     rer Freundin. Mittags hat sie sich hingelegt, danach
zum Beispiel an einen Patienten, der fast zwei Jahre   ist eine Mitarbeiterin vom mobilen Palliativteam ge-

HOSPIZ BEWEGUNG Salzburg                                                                                         März 2021             3
Immer anders, immer neu - Geschichten aus dem Tageshospiz - Hospiz Bewegung Salzburg
leben und sterben in würde
                                        kommen und hat ihr eine Infusion angehängt. Am           Und doch liegt es an jedem einzelnen, ob eine sol-
                                        Abend war sie wieder auf der Hochzeit. Das war           che Beratung auch gewünscht ist. Meist warte ich
                                        der Samstag. Am Montag ist sie zu mir gekommen           quasi auf die Einladung des Patienten, der Patientin,
                                        und hat mich gefragt: „Glauben Sie, dass ich noch        sozusagen auf ein Stichwort, das aufzeigt, es passt
                                        eine Woche leben werde?“ Ich habe geantwortet:           jetzt über das Sterben zu sprechen. Ein Herr, dem es
                                        „Sie sind deutlich besser beisammen als am Freitag       sehr schlecht ging, hat mir diese Einladung nie ge-
                                        und die Hochzeit ist auch überstanden, eine Woche        geben. Und eines Tages dachte ich mir, der Tod ist
                                        wird’s wohl noch gehen.“ Am nächsten Tag ruft mich       jetzt schon so nahe und so habe ich selbst das Ge-
                                        der Ehemann an und sagt: „Meiner Frau geht es gar        spräch darüber eröffnet. Ich sagte ihm, dass ich mich
                                        nicht gut, darf ich sie ihnen mal geben.“ Da höre ich,   gerne mit ihm darüber unterhalten würde, was wir
                                        dass sie schon sehr schwer atmet. Sie fragt mich:        tun können, wenn es ihm nun noch schlechter geht.
                                                                                                 Da ist dieser Mann aufgestanden und hinausgegan-
                                                                                                 gen. Noch deutlicher kann man es nicht zeigen, dass
  „In der modernen Zeit ist es gar                                                               man über dieses Thema nicht sprechen will.
nicht leicht, Sterben zu begleiten.
Gestorben wird meist im Kranken-
                                                                                                 Vorstellung und Realität
  haus und viele Menschen haben
                                                                                                 In der modernen Zeit ist es gar nicht leicht, Sterben
     keine Möglichkeit, einen toten
     Menschen zu sehen, außer im
                                                                                                 zu begleiten und sich damit der realen Erfahrung
Fernsehen, wo Leichen oft furcht-                                                                anzunähern. Gestorben wird meist im Krankenhaus
 bar hergerichtet sind. Faktum ist,                                                              und viele Menschen haben keine Möglichkeit, einen
  dass die Vorstellungen über das                                                                toten Menschen zu sehen, außer im Fernsehen,
Sterben oft viel schrecklicher sind                                                              wo Leichen oft furchtbar hergerichtet sind. Faktum
                   als die Realität.“                                                            ist, dass die Vorstellungen über das Sterben oft viel
 Dr. Irmgard Singh, leitende Ärztin                                                              schrecklicher sind als die Realität.
       im Lebensraum Tageshospiz
                                                                                                 Wir können Menschen unterstützen, indem wir von
                                                                                                 unseren Erfahrungen erzählen, dass in der Beglei-
                                        „Kann es sein, dass ich jetzt sterben muss?“ Ich habe    tung von vielen Hundert Patientinnen und Patienten
                                        ihr geantwortet: „Das hätte ich gestern noch nicht       das Sterben vielleicht bei fünf Menschen schwer war.
                                        für möglich gehalten, aber wie es sich jetzt anhört,     Alle anderen hatten einen guten Tod, sofern man das
                                        kann es sein.“ Ein paar Stunden später ist sie im        von außen beurteilen kann.
                                        Beisein ihres Mannes, ihrer besten Freundin, einer
                                        Palliativschwester des mobilen Palliativteams und mir    Ich erinnere mich noch sehr gut an eine Angehöri-
                                        zuhause gestorben.                                       ge, die in der Besprechung über das bevorstehende
                                                                                                 Sterben ihres Mannes – was gehört organisiert, wie
                                        Das Thema Tod ist natürlich meist schwer zu bespre-      kann man das Zuhause gestalten, wer kann mithel-
                                        chen. Auch wenn er sich ankündigt, ist es doch unge-     fen – gesagt hat: „Ich werde meinen Mann zuhause
                                        wiss, wann genau er kommt. Was wir aber immer an-        behalten bis er nichts mehr mitkriegt, dann lasse
                                        bieten können, ist eine Beratung über Möglichkeiten,     ich ihn ins Krankenhaus bringen und dort kann er
                                        wie man das Drumherum gut gestalten kann.                dann sterben.“ Ich sagte ihr: „Ich fürchte, dass dieser

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Immer anders, immer neu - Geschichten aus dem Tageshospiz - Hospiz Bewegung Salzburg
leben und sterben in würde
Zwischenraum so kurz ist, dass das gar nicht geht.“     Das habe ich in meiner Arbeit immer im Hinterkopf.
Die Menschen können oft bis sie sterben mit uns         Welcher Teil ist physisch, den behandle ich natür-
kommunizieren, vielleicht werden sie nicht mehr         lich mit Tabletten. Aber gibt es z.B. soziale Probleme
viel sprechen, aber man kann sich über Augenkon-        oder psychische, wie Kinder, die unversorgt zurück-
takt, über Händedruck noch verständigen. Doch sie       bleiben?
war sich ganz sicher: „Nein, ich lass ihn dann ins
Krankenhaus bringen.“ Und was ist passiert? Ihr         Wichtig ist zu wissen, dass es in der Schmerztherapie
Mann ist zuhause gestorben, sie war dabei und           kein Limit nach oben gibt. Wir können immer etwas
ihre beiden Töchter. Danach hat sie gemeint: „Es        tun. Was wir brauchen, ist Geduld und gute Kom-
war überhaupt nicht schlimm. Ich bin so froh, dass      munikation, dass Patient*innen bereit sind, etwas
er daheimbleiben durfte.“ Sie hatte nur wahnsinnige     auszuprobieren und mir Rückmeldung zu geben, ob
Angst, dass Sterben ganz furchtbar ist.                 und was sich verändert hat. Manche Patient*innen
                                                        sind erst einmal höflich. Wenn ich sie frage, ob etwas          Wer nicht an Wunder
Mein Sohn sagte einmal zu mir: „Mama, dein Job          geholfen hat, meinen sie: „Jaja, danke, es passt alles.“        glaubt, ist kein Realist.“
ist doch furchtbar, alle Menschen sterben.“ Darauf      Sie wollen die Ärztin nicht enttäuschen. Aber das
antworte ich: „Nein, denn es ist ein Unterschied,       nützt niemandem. Je besser die Patient*innen den                       David Ben Gurion
wie Menschen sterben. Wenn man das Sterben gut          Schmerz beschreiben können, also wann tut was wie
vorbereitet und gestaltet, sodass die Angehörigen       weh, desto leichter tun wir uns in der Behandlung.
dabei sein können, kann es zu einem schönen und
würdigen Ereignis werden.                               Verlust und Dankbarkeit
                                                        Was wir bemerken, ist, dass sich das Leben immer
Auch zum Thema Schmerztherapie tragen Menschen          mehr verwandelt, je näher ein Mensch an den Tod
oft alte, innere Bilder in sich, die mit der Realität   kommt. Für uns Außenstehenden schaut es so aus,
wenig übereinstimmen, beispielsweise:                   als würde sich die Lebensqualität vermindern, aber
• Ein bisschen Schmerz soll man schon aushalten         beurteilen kann das nur der Patient, die Patientin
   können.                                              selbst.
• Mit Schmerzen büße ich meine Sünden ab.
• Schmerzen gehören eben dazu.                          Ich habe als junge Ärztin erlebt, dass ich am Vor-
                                                        mittag mit einer Patientin gesprochen habe, dass
Die Wahrheit ist, Schmerzen machen die Seele mür-       sie wohl nicht mehr lange leben wird. Und sie war
be. Menschen verlieren die Freude am Leben, dann        natürlich ganz betroffen und hat geweint. Und am
kommt der Wunsch auf, zu sterben. Deswegen ist          Nachmittag kam ich in ihr Zimmer und habe gese-
es ungemein wichtig, Schmerzen konsequent und           hen, wie sie Reisekataloge studiert. Das war mir da-
kompetent zu behandeln. An jedem Tag begleitet          mals höchst unbegreiflich, dass man Reisekataloge
mich das Konzept des „total pains“ von Cicely Saun-     studieren kann, wenn man die Reisen ziemlich sicher
ders, der Begründerin der internationalen Hospiz-       nicht mehr erleben wird. Aber inzwischen weiß ich,
bewegung. Schmerz besteht demnach immer aus             dass man dem Tod nicht immer ins Auge schauen
mehreren Komponenten. Er hat seine Anteile im           kann. Und wer weiß, geht es ja doch noch, dass man
Physischen, im Seelischen, im Sozialen und im           irgendwo hinreist?
Spirituellen.

HOSPIZ BEWEGUNG Salzburg                                                                                           März 2021                  5
Immer anders, immer neu - Geschichten aus dem Tageshospiz - Hospiz Bewegung Salzburg
leben und sterben in würde
                                 Ich möchte ihnen noch eine berührende Geschichte           Aber umgekehrt gibt es auch Besucherinnen und Be-
                                 erzählen: Ein Patient kam zu uns ins Tageshospiz und       sucher des Tageshospizes, die am Ende ihres Lebens
                                 sagte, er fände es ganz furchtbar, dass es in Öster-       etwas leben können, was früher nicht möglich war.
                                 reich keine aktive Sterbehilfe gäbe, denn so wie er        Ich erinnere mich an einen alten Herrn, der bei uns
                                 leide, könne man überhaupt nicht leben. Seit zwei          immer gut aufgelegt, freundlich und zuvorkommend
                                 Jahren habe er massive Schmerzen und würde am              war. Nach einer Familienkonferenz, in der wir be-
       Der Unterschied zwi-      liebsten sofort sterben. Ich habe dann ein bisschen        sprachen, wie es daheim gehen solle, sagte ein Enkel
       schen dem richtigen       mit ihm „verhandelt“, weil er gleichzeitig nicht zu        zu mir: „Sie brauchen aber nicht glauben, dass der
und dem beinahe richtigen        viel Schmerzmittel nehmen wollte. Doch, wenn er eh         bei uns immer so nett war wie bei euch.“ Bei uns
Wort ist so wie zwischen einem   sterben wolle, habe er ja nichts zu verlieren, mein-       im Tageshospiz konnte der Herr seine weiche, nette
Blitz und einem Glühwürm-        te ich dazu. Wir könnten einfach einmal alle Mittel        und zugewandte Seite leben. Dies mag auch daran
chen.“                           ausprobieren, bis wir hoffentlich eine gute Schmerz-       liegen, das wir, das hauptamtliche und das ehren-
                    Mark Twain   linderung finden. Es hat dann eine Zeit gedauert,          amtliche Team, keine Vergangenheit mit den Betrof-
                                 bis wir mit einer Schmerzpumpe die Schmerzen so            fenen haben und so als Ansprechpersonen leichter
                                 eingestellt hatten, dass er gesagt hat: „Ja, jetzt fühlt   zur Verfügung stehen, als wenn man sich schon ein
                                 sich das wieder ganz anders an.“ Nach ein, zwei            Leben lang kennt.
                                 Wochen hat er zu mir gesagt: „Wissen Sie, ich habe
                                 jetzt zwei Jahre überhaupt keine Lebensfreude mehr         Oft reicht es, dass man da ist, um Geborgenheit und
                                 gehabt und jetzt freue ich mich über jeden Tag. Ich        Gut-Aufgehobensein zu vermitteln. Manchmal ge-
                                 sitze wieder mit meiner Frau und meiner Nachbarin          ben sich diese Geborgenheit auch Erkrankte unter-
                                 zum Ratschen mit einem Glaserl Wein auf der Terras-        einander. Dazu eine sehr berührende Begebenheit
                                 se und freue mich, dass ich lebe.“ Das ist für mich        aus meiner ersten Zeit als Ärztin: Wir hatten auf der
                                 Lebensqualität. Das war derselbe Mensch, der vor-          Krebsstation, auf der ich gearbeitet habe, ein paar
                                 her sofort sterben wollte. Und seine Begleitumstände       Vierbettzimmer. Da die Chemotherapien mit einer
                                 waren alle andere als erfreulich. Er hatte künstliche      gewissen Regelmäßigkeit verabreicht werden, ken-
                                 Darm- und Blasenausgänge und war querschnittge-            nen sich natürlich die Patient*innen. Da gab es ein
                                 lähmt. Wenn ein solcher Mensch sagt, jetzt habe            Vierbettzimmer mit vier Damen. Und eine von ihnen
                                 ich wieder Lebensqualität, dann ist etwas sehr gut         war zum Sterben. Für die anderen drei, die ja auch
                                 gelungen.                                                  schwer krank waren, war es selbstverständlich, dass
                                                                                            diese eine Dame in ihrem Kreis versterben durfte.
                                 Einsamkeit und Geborgenheit
                                 Was wir immer wieder erleben ist, dass Menschen,           Warten und Hoffen
                                 bevor sie tatsächlich sterben, zuvor einen sozialen        Prognosen zu stellen ist eine sehr schwierige
                                 Tod sterben. Die Familie und Freunde ziehen sich           Sache. Es gibt zwar ein paar Eckdaten, aber jeder
                                 immer mehr zurück. Die Angehörigen halten es oft           Mensch ist ein Individuum. Meine Erfahrung ist,
                                 nicht mehr aus, dass Patient*innen immer dieselben         dass Patient*innen immer ein wenig mitbestimmen
                                 Geschichten erzählen, immer jammern, das Leben so          können, wann sie sterben, vielleicht nicht im Sinne
                                 problembehaftet ist. Oder, Freunde von früher wech-        von Jahren und Monaten, aber von Tagen und Stun-
                                 seln die Straßenseite, um Kranken nicht begegnen           den. Es kommt immer wieder vor, dass Menschen
                                 und miteinander reden zu müssen.                           auf jemanden warten. Einer unserer ersten Patienten

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Immer anders, immer neu - Geschichten aus dem Tageshospiz - Hospiz Bewegung Salzburg
leben und sterben in würde
im Tageshospiz hat auf seine Tochter gewartet, die in       Autonomie ist uns ein ganz hohes Gut. Wir ver-
Südamerika tätig war. Sie ist gekommen, er hat mit          suchen immer zu eruieren, was der Wunsch der
ihr gesprochen und eine halbe Stunde später ist er          Patientin, des Patienten ist und uns danach zu rich-
verstorben.                                                 ten. Das stellt uns als Team immer wieder vor große
                                                            Herausforderungen.
Eine andere Patientin konnte einfach nicht sterben
und es war uns unerklärlich warum. Eigentlich war
es ein Wunder, dass sie noch lebte. Sie selbst konn-                                                               Der Hospiztag 2020 konnte
ten wir nicht mehr befragen. So haben wir mit ih-                                                                  wertvolle Begegnungsräume
rem Mann überlegt, was sie noch halten könnte. Er                                                                  schaffen, trotz Einschränkun-
meinte, es sei alles geregelt, alles gesagt, alles geord-                                                          gen durch die Pandemie.
net. Ich habe den Mann dann gefragt, ob seine Frau
religiös sei. Ja, sehr. Sie hat auf die Krankensalbung
gewartet. Der Pfarrer ist gekommen und sie ist eine
halbe Stunde später friedlich gestorben. Wir dürfen
uns einfach öfter von unserer Intuition leiten lassen.
Vaclav Havel sagt: Hoffnung ist nicht die Überzeu-
gung, dass etwas gut ausgeht, sondern dass etwas
Sinn macht, egal wie es ausgeht.

Die Patienten hoffen sehr oft nicht mehr, dass sie
wieder ganz körperlich gesund werden, sondern da-
rauf, dass das Leben, das sie noch haben, gut sein          Eine unserer ersten Patientinnen im Tageshospiz
kann, ohne Schmerzen, selbstbestimmt; dass sich ihr         hatte ein Mundbodenkarzinom und starke Schmer-
Leben abrundet.                                             zen. Sie hat keine Schmerzmittel genommen und uns
                                                            aufgeschrieben: Ich weiß, warum ich diese Krankheit
Machbarkeit, Vorsorge, Autonomie                            habe. Ich habe böse über andere Menschen gespro-
Glücklicherweise gibt es viele Möglichkeiten vorzu-         chen und mit dieser Krankheit und diesen Schmer-
sorgen, z. B. mit einer Patientenverfügung oder einer       zen büße ich meine Sünden ab. – Das war für uns
Vorsorgevollmacht. In diesen Dokumenten kann ich            als Betreuungsteam äußerst schwierig: zu wissen,
festlegen, was ich will bzw. was ich nicht will, ab         man könnte diese Schmerzen deutlich lindern, aber
welchem Punkt meines Daseins ich beispielsweise             die Patientin lehnt es ab. Die Krönung des gesamten
keine Reanimation, Beatmung etc. wünsche. Es gibt           Problems war, dass ihre Freundinnen bei uns ange-
die verbindliche Patientenverfügung, sie gilt nun           rufen haben mit der Frage: Kann man denn nichts
sieben Jahre, und die andere Patientenverfügung,            tun gegen die Schmerzen? – Ja, man kann, aber nur,
die immer Gültigkeit hat, aber nicht 100 % rechts-          wenn die Patientin das auch will.
verbindlich ist. Ganz wichtig sind solche Vorsorge-
formen, wenn damit zu rechnen ist, dass eine be-            Angst und Vertrauen
stimmte Situation auftreten kann und der Mensch             Je näher Menschen an den Tod kommen und sich ihr
sich nicht mehr äußern kann.                                Leben einschränkt, desto eher tauchen Ängste auf

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Immer anders, immer neu - Geschichten aus dem Tageshospiz - Hospiz Bewegung Salzburg
leben und sterben in würde
                                      und fordern Vertrauen. Vertrauen gegenüber den An-         Nähe und Distanz
                                      gehörigen, dem Behandlungsteam, den Ärzt*innen             Die Angehörigen sind oft der Prellbock für die Ge-
                                      und anderen Personen, auf die man nun angewiesen           fühle Erkrankter. Ich hatte einmal einen Mann da,
                                      ist. Einer der wichtigsten Punkte für dieses Vertrauen     den ich gefragt habe, wie es ihm am Wochenende er-
                                      ist eine gute Kommunikation. Wir müssen verstehen,         gangen sei und er antwortete: „Schlecht.“ – „Möch-
                                      wovor die Angst besteht. Denn oft gibt es gewisse          ten sie etwas dazu sagen?“ Er meinte: „Ich war ganz
                                      Ängste, die man leicht ausräumen kann.                     böse zu meiner Familie, weil ich total wütend war.
                                                                                                 Sie dürfen weiterleben und ich muss sterben.“ – Die-
                                                                                                 se Ehrlichkeit im Angesicht des nahenden Todes
     „Wenn wir das Bild mit den
                                                                                                 hat mich schon immer sehr berührt. Die Menschen
      Penrose-Kacheln ansehen,
                                                                                                 lassen ihre Masken fallen und zeigen sich mit ih-
            zeigt es uns – in aller
  Individualität dessen, was das                                                                 rer inneren Angst, ihrem Schmerz, aber auch ihrer
Leben mitbringt, alles unwieder-                                                                 Schönheit.
   holbar, immer anders, immer
   neu –, es ist doch alles eins.“                                                               Ein weiteres Thema sind die Grenzen des Aus-
                                                                                                 haltbaren: manchmal sind Menschen durch ihre Tu-
                                                                                                 more sehr entstellt, oder es gibt zerfallende Tumore,
                                                                                                 die riechen, um nicht zu sagen stinken. Das ist oft
                                                                                                 schwer auszuhalten, aber man darf sich das einge-
                                                                                                 stehen. Auch in diesen Fällen kann die Palliativme-
                                                                                                 dizin- und pflege viel anbieten, um Beschwerden zu
                                                                                                 lindern.

                                      Beispielsweise haben Menschen, die an Lungen-              Brennen und Ausbrennen
                                      krebst leiden, oft Angst, zu ersticken. Wir können         Es ist wichtig für die Palliativmedizin, für die Hospi-
                                      den Menschen aber Medikamente zur Verfügung                zidee zu brennen. Zugleich müssen wir als in diesem
                                      stellen, dass sie sich auch selbst helfen können, sollte   Bereich Tätige aber darauf achten, nicht auszubren-
                                      Atemnot auftreten. Sie bekommen von uns eine Vor-          nen. Eine Mittel dazu ist, das Schicksal des Gegen-
                                      schreibung mit Information, was in diesem Falle zu         übers zu respektieren. Wir können Menschen zur
                                      nehmen ist. Diese Medikamente werden besorgt,              Seite stehen, sie begleiten, aber ihr Schicksal nicht
                                      liegen Zuhause in einer Schachtel und Patient*innen        ändern.
                                      und Angehörigen wissen, wie sie einzunehmen sind.
                                      Die Erfahrung zeigt, dass es eine große Beruhigung         In den Anfängen waren wir oft sehr maßlos mit dem
                                      für Menschen bedeutet, wenn sie einmal erlebt ha-          Anspruch zu helfen und sind über die eigenen Gren-
                                      ben, dass sie Atemnot selbst beherrschen konnten.          zen gegangen. Wir haben nicht darüber gesprochen,
                                      Mit einer vorausschauenden Besprechung kann                dass etwas eklig sein kann oder uns ein Patient lä-
                                      ganz viel seelische Not gelindert werden. Dabei ist        stig ist. Wir haben das mit einer übergroßen Geduld
                                      es wichtig, eine angemessene Sprache zu finden, in         getragen und es hat lange gedauert, bis wir gelernt
                                      der das Problem weder bagatellisiert wird, noch in-        hatten, uns selbst so wertzuschätzen und wichtig zu
                                      dem Ängste geschürt werden.                                nehmen, dass wir nicht alles duldsam hinnahmen.

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Immer anders, immer neu - Geschichten aus dem Tageshospiz - Hospiz Bewegung Salzburg
buchvorstellung

                                                         Ohne Verstehen ist alles nichts
In den vielen Jahren, die ich nun schon im Tageshos-     Anders als die naturwissenschaftlich orientierte Medizin, die Krank-
piz bin, hat sich für mich ein Zauberwort herausge-      heit vor allem als einen Defekt interpretiert, den es um jeden Preis
bildet, das sowohl für die Patient*innen wie für uns     zu beheben gilt, sieht der in Freiburg wirkende Arzt, Philosoph und
Begleiter*innen gilt: Pausen. Wenn man spürt, man        Medizinethiker Giovanni Maio seine Disziplin vorrangig nicht als eine
ist erschöpft, ist es gut, einmal Pause zu machen. Das   Kunst des Machens, sondern des Verstehens.
ist kein Zeichen von Schwäche, sondern eher ein Zei-
chen von Respekt sich selbst und der/dem anderen         Die Behandlung eines kranken Men-
gegenüber. Vielleicht ist es sogar Stärke?               schen „kann nur dann glücken, wenn
                                                         die Handlungen in eine gelingende
Trauer und Trost                                         Interaktion eingebettet sind“, postuliert
Wenn Angehörige in der ganzen Zeit der Krankheit         Maio, und fordert damit nicht weniger
und des Sterbens miteinbezogen sind, sagen sie oft       als eine „neue Grundorientierung in
danach: „Es war eine schwere Zeit, aber eine wichtige    der Medizin“ (S. 28). Anhand von fünf
und wertvolle Zeit.“ In dieser Zeit gehen Erkrankte      Beispielen aus der Praxis (chronische
wie Angehörige durch Trauerprozesse und je besser        Schmerzerfahrung, Krebs, Parkinson,
das Miteinander vorher gelingt, desto runder wird        Demenz, Sterben) zeigt der Autor,
der gemeinsame Weg, was sich auch auf die Trauer         dass es Kranken selbst bei größten
danach auswirkt.                                         Herausforderungen immer wieder ge-
                                                         lingt, noch Lebenssinn zu finden, mit ihrem Schicksal nicht zu hadern, sondern
Unsere Begleitangebote der Kontaktstelle Trauer trägt    daran zu wachsen. Begreift man als Ärztin, Assistenz oder Angehöriger die
den Folgen eines schwerwiegenden Verlustes Rech-         Vermittlung und Begleitung von Lebensbejahung als soziale Aufgabe, wie sie
nung und der Individualität von Trauer in Zeitdauer,     auch in der Hospizbewegung praktiziert wird, erscheint die aktuelle Diskussi-
Ausdrucksformen und Bedürfnissen. Trauer hat viele       on um den assistierten Suizid als „Entpflichtung der Gesellschaft“. Nicht der
Facetten und benötigt vor allem Ausdruck und Zeit.       „Privatisierung eines gesamtgesellschaftlichen Defizits“, sondern der „Entwick-
Wahrnehmen, Zuhören, Würdigen und Dasein … da-           lung einer Kultur der Anerkennung und Reintegration Schwerkranker“ sollten
ran liegt Trost für eine herausfordernde Zeit.           wir uns widmen, fordert Maio (S. 109ff.).

Was bleibt …                                             Drei Wege der Bewältigung von Krankheit werden auch mit Bezug auf Philoso-
Immer wieder werde ich gefragt: Was macht die Ar-        phie und Psychologie ausführlich erörtert: Annehmen (das gute Leben als die
beit mit uns? Das Größte, was ich aus meiner Arbeit      Kunst des Sich-Einrichtens), Vertrauen (als akzeptierte Verwundbarkeit, Ver-
ziehe, ist Dankbarkeit dafür, dass ich gesund bin,       pflichtung zur Gegenseitigkeit und gemeinschaftsstiftende Kraft) und Hoffen
dass ich denken kann, essen, mich bewegen, Familie       (als realistischen Zukunftsbezug, Nicht-Fixiertsein, Geduld, Impuls zum Han-
habe, eine so schöne Arbeit. Und das Wissen, dass        deln und Anerkennung der eigenen Verletzlichkeit). „Alles Hoffen ist Gemein-
es keine Selbstverständlichkeit ist, all das zu haben.   schaft“, es „bleibt angewiesen auf ein Du, auf Zwischenmenschlichkeit“ (S.
                                                         176ff.). Den kranken Menschen zu verstehen, bedeutet, ihn in seiner Gesamt-
Gerade in dieser Zeit sehen wir, wie brüchig das         heit (so gut wie möglich) zu sehen, sich „aus der Distanz hineinzudenken“,
Leben ist und wie schnell sich Umstände erschwe-         sich selbst infrage zu stellen, zu verweilen und auch gemeinsam schweigen zu
rend verändern können. Umso wichtiger ist es, das        können, denn „ohne Begegnung ist alles nichts“. Ein großartiges Buch!
Gute zu sehen und zu schätzen.                 p
                                                                                                                    Walter Spielmann

                                                         Giovanni Maio: Den kranken Menschen verstehen.
HOSPIZ BEWEGUNG Salzburg                                 Für eine Medizin der Zuwendung.                   März 2021                       9
                                                         Herder, 2020 (überarbeitete Neuauflage), 240 Seiten
                                                         ISBN: 978-3-451-60101-9, € 24,70
Immer anders, immer neu - Geschichten aus dem Tageshospiz - Hospiz Bewegung Salzburg
hospiz- & palliativversorgung

     Anmerkungen zur Aufhebung des Verbots der Suizidbeihilfe
     durch den Österreichischen Verfassungsgerichtshof
     Am 11.12.2020 hat der Österreichise Verfassungsgerichtshof das strafrechtliche Verbot der Suizidbeihilfe
     aufgehoben. Andreas M. Weiß, Assistenzprofessor für Theologische Ethik an der Universität Salzburg und
     Mitglied im Vorstand der Hospiz-Bewegung Salzburg, schildert im Folgenden seine Anmerkungen zu dieser
     Entscheidung.

                              D
                                  iese Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes       Medizin und die Angehörigen bedeutet das ein Zulas-
                                  war zu erwarten. Wer die Stellungnahme der           sen des Sterbens, die sog. „passive“ Sterbehilfe.
                              Österreichischen Bioethikkommission beim Bundes-         Jetzt wird auch die assistierte Selbsttötung, die Inan-
                              kanzleramt „Sterben in Würde“ von 2015 gelesen hat,      spruchnahme von Hilfe zur aktiven Beendigung des
                              der konnte in der dortigen Mehrheitsposition bereits     eigenen Lebens, in die sogenannte „Behandlungsho-
                              nachlesen, wohin der Weg gehen wird. Es ist eine         heit“ eines Patienten inkludiert. Es mache „keinen Un-
                              konsequente Entwicklung in einer Gesellschaft, in der    terschied“, so argumentiert der VfGH und relativiert
                              Autonomie als der höchste Wert verstanden wird.          damit die bisher ethisch und rechtlich grundlegende
                                                                                       Unterscheidung von Töten und Sterbenlassen. Schon
                              Bisher hat das Recht auf freie Selbstbestimmung das      vor Jahren hatte die Bioethikkommission beim Bun-
                              Recht begründet, medizinische Behandlungen abzu-         deskanzleramt geraten, die alten Unterscheidungen
                              lehnen, direkt oder in einer Patientenverfügung, und     von aktiver und passiver, von direkter und indirekter
                              auch, wenn diese Ablehnung zum früheren Tod führt.       Sterbehilfe nicht mehr zu verwenden: Semantische
                              Damit können Patient*innen eine unerwünschte Ver-        Politik als Vorbereitung der Aufweichung des Sterbe-
                              längerung des Sterbeprozesses verhindern und ihr         hilfeverbotes?
                              Recht auf ein natürliches Sterben durchsetzen. Für die

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leben und sterben in würde
Positiv fällt immerhin auf, dass einschränkend ein          ist mit Menschen, die mangels ausreichender Kapa-
„ausnahmsloses“ Verbot abgelehnt wird, dass auf die         zitäten des Gesundheitssystems keinen Platz in der
Abhängigkeit von Selbstbestimmung im wirklichen             Palliativstation finden und seitens des mobilen Pal-
Leben durch soziale und ökonomische Faktoren hin-           liativteams auf einen ersten Gesprächstermin in vier
gewiesen wird und dass der Gesetzgeber beauftragt           Wochen vertröstet werden müssen? Was ist mit Men-
wird, Missbrauch zu verhindern. Das lässt hoffen, dass      schen, die verzweifeln, weil sie zusehen müssen, wie
eine künftige Regelung differenziert sein wird. Besorg-     ihre pflegenden Angehörigen trotz allen guten Willens
niserregend erscheint dagegen der Hinweis, dass das         unter der ausweglosen Last zusammenzubrechen dro-
Verbot der Tötung auf Verlangen nur deshalb nicht           hen und sich uneingestanden ein baldiges Ende der
aufgehoben wurde, weil die Anfechtung zu wenig um-          Belastung wünschen? Werden auch solche Wünsche                      Stillschweigend haben
fangreich gewesen sei. Wird hier ernsthaft die nächste      nach einem schnellen „würdigen Sterben“ als „freie                  wir uns von der Vorstel-
Liberalisierung angedacht?                                  Selbstbestimmung“ durchgehen, falls man sie recht-          lung, in einer Gemeinschaft zu
                                                            zeitig in die Patientenverfügung inkludiert und damit       leben, verabschiedet und glau-
Suizidgedanken am Lebensende, in einer Situation            seine freie Selbstbestimmung formal korrekt dokumen-        ben, dass alle Probleme des
schweren Leidens sind oft nachvollziehbar. Das ist un-      tiert hat? Ist die Vorstellung freier Selbstbestimmung      modernden Menschen selbst
bestritten. Einen Suizid in der veralteten strafrechtli-    am Ende eines ausweglosen Krankheitsverlaufes, der          die existenziellsten, allein mit
chen Terminologie als „Selbstmord“ auch gleich mora-        Menschen bis an die Grenzen des Erträglichen bela-          seiner privaten Überzeugung
lisch zu verurteilen, ist definitiv nicht mehr zeitgemäß.   stet, nicht eine abstrakte philosophische Fiktion, weit     zu tun haben und nichts mit
Es bleiben jedoch zwei große Bedenken: Reicht die           weg vom realen Leben? Wie frei ist ein verzweifelter        der Gesellschaft, in der er lebt.“
freie Selbstbestimmung als Begründung aus und wel-          Mensch am Ende seiner Kräfte? Wie frei ist jemand,                           Giovanni Maio
che weitere Entwicklung wird hier mit der Freigabe          der Angst hat, er könnte in eine solche Situation gera-
der assistierten Selbsttötung angestoßen?                   ten und ohne angemessene Hilfe bleiben?

Wer einen Menschen, der in einer Situation unerträg-        Mit der Aufhebung des Verbotes der Suizidbeihilfe ge-
lichen Leidens zu dem tragischen Urteil kommt, dass         winnen die einen die gewünschte Freiheit, andere ver-
es besser sei, sich das Leben zu nehmen als weiter zu       lieren den verlässlichen Schutz, den ihnen der bishe-
leben, bei der Selbsttötung unterstützt, der wird künf-     rige gesetzliche Rahmen gewährt hat. Wird man dem
tig möglicherweise keine strafrechtlichen Sanktionen        chronisch überlastenden Gesundheitssystem auch in
zu fürchten haben, falls die freie Selbstbestimmung         Zukunft zumuten dürfen, seinen Krankheitsweg bis
des Suizidwilligen bewiesen werden kann.Aber genau          zum natürlichen Ende zu gehen, und von den Mit-
hier liegt das große Problem: Wie präzise lässt sich        menschen erwarten dürfen, dabei nicht allein gelassen
freie Selbstbestimmung denn von sozialen und ökono-         zu werden? Oder wird die überwältigende Mehrheit
mischen Beeinflussungen oder von purer Verzweiflung         ähnlich wie gegenüber Down-Syndrom-Kindern all-
abgrenzen? Was ist mit Menschen, die verzweifelt            mählich auch gegenüber sterbenden Menschen urtei-
sind, weil sie niemanden haben, der sie in ihrem Leid       len, ihre baldige Nicht-Existenz sei besser als die Bela-
begleitet? Was ist mit Menschen, die verzweifeln, weil      stung, und damit die vermeintlich freie Entscheidung
sie zwar medizinisch versorgt werden, aber durch die        durch den subtilen Druck der Mehrheitsmeinung in
ihre Lebensqualität zerstörenden Nebenwirkungen,            die gewünschte Richtung lenken?
für deren Behandlung niemand Zeit findet, bis an die
Grenze ihrer Leidensfähigkeit zermürbt werden? Was

HOSPIZ BEWEGUNG Salzburg                                                                                                März 2021                  11
leben und sterben in würde
                                     Die geforderte Gesetzesänderung muss nicht, aber            zu einigen. Jenseits abstrakter Philosophie heißt das:
                                     sie kann ein weiterer Schritt gesellschaftlicher Entso-     Dann muss eben jeder selbst schauen, wo er bleibt.
                                     lidarisierung sein. Die Schattenseite der gesellschaft-
                                     lichen Überhöhung der individuellen Autonomie ist           Doch ein wichtiger Lichtblick bleibt: Die haupt- und
                                     Gleichgültigkeit: Du darfst das selbst entscheiden, also    ehrenamtliche Arbeit vieler Menschen in Hospizwe-
                                     lass uns mit deinen Sorgen in Ruhe! Der Medizinethi-        sen, Palliativpflege und Palliativmedizin ist getragen
                                     ker Giovanni Maio hat es so formuliert: „Stillschwei-       von Werten, die einen tiefen Respekt vor dem Leben
                                     gend haben wir uns von der Vorstellung, in einer            und eben auch vor dem zu Ende gehenden Leben aus-
                                     Gemeinschaft zu leben, verabschiedet und glauben,           drücken. Sie bieten Menschen die Möglichkeit, „an
                                     dass alle Probleme des modernden Menschen selbst            der Hand eines Menschen und nicht durch die Hand
                                     die existenziellsten, allein mit seiner privaten Überzeu-   eines Menschen zu sterben“, wie es Kardinal Franz
                                     gung zu tun haben und nichts mit der Gesellschaft,          König einmal ausgedrückt hat.
                                     in der er lebt.“ (Den kranken Menschen verstehen.
                                     Für eine Medizin der Zuwendung, Freiburg/Basel/             Diese Grundhaltung und die damit verbundenen An-
                                     Wien 2015, 85f)                                             gebote behalten ihre Überzeugungskraft, egal, was im
                                                                                                 Strafrecht formuliert wird. Und gesellschaftlich wird
                                                                                                 eine solche Kultur solidarischen und geduldigen Be-
 Andreas M. Weiß ist Assistenz-                                                                  gleitens weit über ihren christlichen Ursprung hinaus
    professor für Theologische                                                                   eine überzeugende und wünschenswerte Alternative
   Ethik an der Universität Salz-                                                                bleiben zur künftigen Praxis „selbstbestimmter“ Tö-
 burg und Mitglied im Vorstand                                                                   tung. Die Verantwortung der Politik ist es jetzt, zu
der Hospizbewegung Salzburg.
                                                                                                 gewährleisten, dass unser solidarisches Gesundheits-
    In seinen Anmerkungen zur
                                                                                                 system auch für diesen Weg die ökonomischen Rah-
    Aufhebung des Verbots der
                                                                                                 menbedingungen sicherstellt, damit für die Menschen
        Suizidbeihilfe durch den
 Österreichischen Verfassungs-                                                                   am Ende des Lebens eine Wahlmöglichkeit bleibt. Von
       gerichtshof greift er u. a.                                                               Freiheit der Selbstbestimmung zu reden, wo alterna-
 Gedanken des Mediznethikers                                                                     tive Möglichkeiten nicht ausreichend verfügbar sind,
      Giovanni Maio aus dessen                                                                   wäre zynisch.
  Buch „Den kranken Menschen
 verstehen“ auf (s. a. Buchvor-                                                                  Wo entsprechende Angebote verfügbar sind, wer-
               stellung Seite 9).                                                                den sich viele Menschen für ein Leben bis zum na-
                                                                                                 türlichen Sterben entscheiden. Das ist die vielfache
                                                                                                 Erfahrung im Hospiz- und Palliativbereich. Diesen
                                     So wird die ethische Frage nach der „Würde“ im              Weg sollten wir als Hospiz-Bewegung deshalb auch
                                     Sterben zur privaten Einzelentscheidung erklärt. Das        dann unbeirrt weitergehen, wenn andere Lösungen
                                     gegenüber anderen Gesichtspunkten überragende Ar-           erlaubt sind und von manchen Menschen gewählt
                                     gument der freien Selbstbestimmung, der Autonomie,          werden. Ethisches Handeln lebt nicht von Strafandro-
                                     wird aufgeboten, weil die Gesellschaft als Ganze nicht      hungen, sondern von überzeugenden Modellen und
                                     mehr in der Lage ist, sich auf gemeinsame, mensch-          Vorbildern und den Sinnerfahrungen, die sie anbie-
                                     lich sinnvolle und vernünftige Lösungen und Grenzen         ten.                                              p

12                   März 2021                                                                                       HOSPIZ BEWEGUNG Salzburg
… wenn Patient*innen sagen, dass sie sterben wollen.
Solche Bitten tauchen häufig ganz unerwartet auf, wenn man mit dem Patienten unter vier Augen ist. Dann muss man ganz aufmerksam zuhören,
ohne zu streiten oder gar zu verurteilen. Manche benutzen diese Worte, um etwas ganz anderes zu vermitteln. Es ist wesentlich, dass der wirkli-
che Sinn dieser besonderen Bitte sorgfältig ans Licht gehoben wird. Mit solcher Bitte gemeint sein kann: „Lass mich sterben“ oder: „Ich möchte
gern sterben“ und seltener: „Töte mich.“

„Lass mich sterben“ ist die Bitte, mit jeder geplanten lebensverlängernden Behandlung jetzt aufzuhören. Der Patient fürchtet sich davor, in einer
Lebensqualität weiterleben zu müssen, die er nicht länger ertragen kann. Viele Menschen haben heutzutage Angst davor, unvermeidbar auf der
Intensivstation mit all ihren Prozeduren zu landen und wenig oder gar nichts dagegen tun zu können. Nachdem das Team die in Betracht kom-
menden Behandlungsmöglichkeiten erwogen hat, muss die für den Patienten als richtig erachtete mit ihm und seiner Familie im Vergleich zu den
anderen Möglichkeiten besprochen werden. Vielleicht brauchen sie auch die Zusicherung, dass die verabreichten Medikamente und Anwendun-
gen nur die Symptome kontrollieren sollen und damit die verbleibende Zeit leichter machen, aber nicht verlängern sollen….

Das Team sollte gleichzeitig herauszufinden versuchen, was das Weiterleben eigentlich so schmerzlich macht … Schmerzen, Schwäche und
auch das demütigende Gefühl, abhängig zu sein, das kann alles in Angriff genommen werden. Schmerzen sind offensichtlich am leichtesten zu
beheben, doch das Pflegeteam kann dem Patienten auch ersparen, sich allzusehr abhängig zu fühlen, indem es bei der Pflege darauf achtet.
Jemand, der sich nicht mehr ohne Hilfe im Bett umdrehen kann, kann die Erfahrung machen, dass er diese Prozedur kaum zu merken braucht,
wenn sie behutsam erfolgt und wenn ihm aufmerksam zugehört wird …

„Ich will sterben" ist Ausdruck einer Qual, die aufmerksames und erfahrenes Hinhören erfordert. Das Teammitglied muss unbedingt versuchen,
die Gründe für diesen Wunsch zu entwirren. Oft taucht er auf, wenn eine vorausgegangene Behandlung gegen Kummer und Leid unangemessen
gewesen ist und wenn nur oberflächlich zugehört wurde. Es gibt da wahrscheinlich viel emotionalen Schmerz aus der Vergangenheit, den man
nur erraten kann. Der Arzt muss analysieren und die Symptome behandeln und die Krankenschwester die Behandlung überwachen. Hier sind
jedoch der Sozialarbeiter oder das Seelsorgsmitglied des Teams angesprochen, die beide an negative Gefühle oder Verzweiflung gewöhnt sind…
Oft reicht es schon, wenn der Patient erkennt, dass er weiterhin besucht und betreut wird, ganz gleich, was gesagt wurde. So wird er allmählich
von seinem persönlichen Wert überzeugt. Man kann einer anderen Person nicht vermitteln, welchen Sinn es hat, die letzte, verbleibende Zeit aus-
zuleben. Sie müssen das selbst herausfinden, und das tun sie auch häufig. Wir können das Gefühl, wertlos zu sein, lindern helfen. Ein sehr stark
verändertes Körper-Bewusstsein, die quälende Sorge, eine übernommene Verantwortung nicht mehr erfüllen zu können, das verhasste Gefühl,
nach einem aktiven Leben nun passiv sein zu müssen, das alles kann als die Last, die es einfach ist, erkannt werden. Die Fähigkeit und die nur
zu bewundernde Ausdauer, mit solchen Widrigkeiten umzugehen, können von einem Teammitglied gefördert werden, das die Fähigkeit hat, am
Bett zu sitzen, ohne fertige Antworten …

Die spezifische Bitte „Töte mich“ oder „Mein Vater sollte nicht mehr aufwachen“ kommt immer noch äußerst selten vor trotz der – oft verworrenen –
Aufmerksamkeit, die die Medien diesem Thema widmen. Die betroffene Person weiß fast mit Sicherheit, dass wir dies nicht tun können, sie ist
sich aber vielleicht doch nicht ganz gewiss. Wir müssen eine klare Antwort geben, und diese ganz bestimmte Stellungnahme vermittelt eine
eigene Sicherheit. Ich betone noch einmal: Das jeweilige Teammitglied muss zuhören und zeigen, dass die Verzweiflung erkannt und verstanden
wird, die zu dieser Bitte geführt hat. Wir wissen, dass sie auf unbewältigte Ängste zurückführen kann oder – nur allzu verständlich – die Folge
einer unzureichenden Schmerzbehandlung ist. Es muss alles, was in der palliativen Behandlung getan werden kann, angeboten und mit dem
Versprechen verbunden werden, dass das unter gar keinen Umständen aufhört oder dass der Patient allein gelassen wird. Einige brauchen die
Beruhigung, dass der Tod selbst ganz einfach kommen wird, wenn es gute Betreuung gibt. Und die Befreiung von Schmerzen kann dazu führen,
dass die Bitte immer schwächer und schließlich vergessen wird.

Der Arzt oder die Krankenschwester dürfen nichts mit der primären Absicht tun, den Tod des Patienten zu verursachen … Diese Rechtslage
schützt viele Menschen, die genau dieser Gefahr ausgesetzt sind, weil für sie das Recht zu sterben zur mutmaßlichen Pflicht werden kann: „Ich
bin jetzt nur noch eine wertlose Last.“ Ich habe zur Hospizbetreuung vor vielen Jahren einmal folgendes formuliert: „Sie sind wichtig, weil Sie
eben Sie sind, und Sie sind bis zum letzten Augenblick Ihres Lebens wichtig. Wir werden tun, was wir nur können, um Ihnen zu helfen, nicht nur
in Frieden zu sterben, sondern auch bis zuletzt zu leben.“

Wir wollen die nicht verurteilen, die ihrem eigenen Leben ein Ende bereiten. Aber wir glauben, als professionelles Team sollten wir nicht freiwillig
den Schritt tun, eine solche Entscheidung zu unterstützen. Patienten werden ständig mit Medikamenten nach Hause entlassen, die für einen
beträchtlichen Zeitraum reichen, so wie auch die oben erwähnte Patientin. Trotzdem kommt es ganz selten vor, dass Patienten absichtlich eine
Überdosierung nehmen. Es ist ihre Entscheidung. Das muss immer erinnert werden, wenn ein Team meint, versagt zu haben. Die grundsätzliche
Philosophie von der Natur der Person und ihre Freiheit zu wählen sind hier sowohl auf den Patienten als auch auf das Team zu beziehen. Sich im
fachlichen und betreuenden Rahmen immer wieder zu fragen, was dies bedeutet, kann zu einer erhellenden Diskussion führen.

       Cicely Saunders (1918–2005), englische Sozialarbeiterin und Ärztin, Begründerin der modernen Hospizbewegung und Palliativmedizin
HOSPIZ BEWEGUNG Salzburg                                                                                   März 2021
                                                     Textabschnitte aus: Saunders, Cicely, Wenn Patienten sagen, dass sie sterben wollen,
                                                                                                                                             13
                                               in: Dies., Hospiz und Begleitung im Schmerz, Freiburg/Basel/Wien 1993, Seiten 117–124.
kontaktstelle trauer

     Tränen weg und weiter! Trauern Männer anders?
     „Können sie mir bitte erklären, was mit mir los ist und wie ich wieder normal funktionieren kann“. So oder so
     ähnlich werden Männer gerne in der Beratung vorstellig, nachdem sie wertvolle Menschen durch Tod oder
     Trennung verloren haben.

                                W
                                      enn ein Mann mit diesem Anliegen in eine           So begegnen uns folgende Verhaltensweisen bei Män-
                                      Beratungsstelle geht, hat er schon einen we-       nern häufig:
                                sentlichen, ungewöhnlichen Schritt gemacht: er hat       • Eigene Befindlichkeiten und Bedürfnisse werden in
                                sich Hilfe geholt. Und er hat gleichzeitig formuliert,     den Hintergrund gedrängt
                                wie er diese Situation einschätzt und wie er glaubt,     • Man gibt sich sprachlos und stumm in Bezug auf das
                                sie bewältigen zu können: rational, zielgerichtet und      eigene Innenleben
                                effizient.                                               • Mit Schwierigkeiten trachtet man allein fertig zu
                                                                                           werden
                                Wobei, wenn ich hier über „die Männer“ schreibe,         • Körperliche Warnsignale werden ignoriert
                                skizziere ich ein sehr häufig anzutreffendes Bild von    • Es wird versucht Kontrolle aufrecht zu halten über
                                Männlichkeit. Das heißt nicht, dass jeder Mann indi-       sich, die Situation und die eigenen Gefühle.
                                viduell so reagiert. Aber gerade unter dem Druck von
                                Pandemie und wirtschaftlichen Notlagen greifen viele     Aber in den abgründigen und verstörenden Grenzsi-
                                Männer wieder auf überwunden geglaubte Problem-          tuationen von Verlust und Trauer werden diese Stra-
                                lösestrategien zurück.                                   tegien demaskiert und oft als nicht hilfreich entlarvt.
                                                                                         Die abgründigen, niederschmetternden und erschüt-

14           März 2021                                                                                       HOSPIZ BEWEGUNG Salzburg
LEBENS
FREUDE

SONDER
T E I L               jahresbericht 2020
                                              Die Wirkung von Hospizarbeit sichtbar machen
                     „Ein einschneidendes Ereignis, nicht nur für den gemeinnützigen Sektor, sondern für die gesamte Gesellschaft, ist die
                     COVID-19-Pandemie. Diese hat auch in Österreich eine noch nicht dagewesene soziale Krise ausgelöst. In dieser heraus-
                     fordernden Zeit hat die österreichische Bevölkerung nicht nur große Disziplin bewiesen, sondern auch neue Maßstäbe der
                     Solidarität gesetzt. Ein stark gestiegenes Freiwilligenengagement, wie zum Beispiel in der Nachbarschaftshilfe, ist die
                     eine Seite dieser Entwicklung, eine wachsende Spendenbeteiligung ist die andere." (Spendenbericht 2020 vom Fundrai-
                     singverband Österreich) Der Jahresbericht 2020 soll dieses geleistete Engagement sichtbar machen und den sorgfältigen
                     und verantwortungsvollen Umgang mit den Mitteln, die uns von öffentlicher Hand und Spender/innen anvertraut werden,
                     transparent veröffentlichen.

1. Einleitung

Vision und Ansatz. Zweck des eigenständigen, ge-       Verlusten durch Tod. Mit bestens ausgebildeten, ange-
meinnützigen Vereins Hospiz-Bewegung Salzburg ist      stellten und ehrenamtlich tätigen Mitarbeiter*innen
die Verbesserung der Lebensqualität von Menschen       hilft die Hospiz-Bewegung Salzburg schnell, unbüro-
mit einer schweren Erkrankung, die Unterstützung       kratisch und unentgeltlich. Die angebotenen Dienst-
der An- und Zugehörigen, Begleitung trauernder         leistungen beruhen auf dem Prinzip der Freiwilligkeit
Menschen und die Sensibilisierung von Politik und      und der Mitgestaltung durch die Betroffenen. Die
Gesellschaft für Themen der Betreuung und Beglei-      wesentliche Kompetenz für die Bewältigung der ei-
tung rund um Sterben, Tod und Trauer.                  genen Situation bleibt in den eigenen Händen. Sie
                                                       werden ressourcen- und lösungsorientiert begleitet
Die Hospiz-Bewegung Salzburg setzt die Konzepte        und in ihren autonomen Entscheidungen gestärkt.
der Abgestuften Hospiz- und Palliativversorgung        Alle Mitarbeiter*innen der Hospiz-Bewegung Salz-
für Erwachsene (GÖG/ÖBIG 2004/2014) sowie für          burg unterliegen hohen Qualitätskriterien und einer
Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene (GÖG/         strengen Verschwiegenheitspflicht.
ÖBIG 2013) für die Bereiche mobile Hospizbegleitung,
Tageshospiz und Kinderhospiz- und Palliativbetreu-     Die Herausforderungen im Jahr 2020 lagen neben der
ung im gesamten Bundesland um.                         Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der Ange-
                                                       bote auch in der Bewältigung der durch Covid-19 ent-
Die Beratungs-, Betreuungs- und Behandlungsan-         standenen Situation. Diese stellte sowohl für die Betreu-
gebote die Hospiz-Bewegung Salzburg richten sich an    ung als auch wirtschaftlich eine besondere Herausfor-
Menschen, die von schwerer Erkrankung betroffen        derung dar. Die Eröffnung des Lebensraums Tageshos-
und mit dem absehbaren Tod konfrontiert sind, an       piz Pinzgau mit Standort Leogang war ein besonderer
ihre mitbetroffenen und trauernden An- und Zugehö-     Höhepunkt, der durch den Regionalitätspreis der Be-
rigen sowie an Menschen nach schwerwiegenden           zirksblätter auch öffentliche Wertschätzung erfuhr.

HOSPIZ BEWEGUNG Salzburg                                                                                                                  I
jahresbericht 2020
                                                                 Gegenstand des Berichts. Transparenz ist uns
                                                                 wichtig. Der Jahresbericht 2020 informiert über die

                                herzlichen dank!                 Organisationsstruktur, die Arbeitsweise und die Leis-
                                                                 tungen der Hospiz-Bewegung Salzburg im Jahr 2020
                                                                 und macht die Wirkung der Arbeit sichtbar. Dabei
                                                                 orientiert er sich an den Standards der Social Repor-
           Dass das Jahr 2020 trotz Covid-19 gut bewältigt       ting Initiative e. V. (SRI). Ohne die Unterstützung der
      werden konnte, verdanken wir allen ehrenamtlich und        vielen Spender*innen und Sponsor*innen könnte das
                                                                 aktuelle Angebot nicht aufrechterhalten werden.
            angestellt tätigen Frauen und Männern, die Zeit,
     Arbeitskraft und Engagement einbringen und sich situ-       Situation durch COVID-19. Die COVID-19-Not-
                                                                 maßnahmenverordnungen haben das deutliche Si-
                ationsbedingten enormen Herausforderungen        gnal gesetzt, dass Palliativ- und Hospizbegleitung
        stellten, sowie allen finanziellen Unterstützer*innen:   vom Gesetzgeber als systemrelevant eingestuft und
                                                                 daher von Besuchsbeschränkungen ausgenommen
         dem Salzburger Gesundheitsfonds, der Stadt Salz-        wird. Für diese Tätigkeit wurde als Bedingung fest-
           burg, den Sozialversicherungsträgern und vielen       gelegt, dass sie den jeweiligen Schutzmaßnahmen
                                                                 Folge leistet. Die Notwendigkeit der Begleitung bei
       Gemeinden, der Erste Stiftung, Licht ins Dunkel, der
                                                                 kritischen Lebensereignissen wurde erst nach einigen
      Senator Otto Wittschier Stiftung, dem ESF-Hilfsfonds,      Wochen erkannt und rechtlich ermöglicht.

              den Mitgliedern sowie den Spender*innen und
                                                                 Aufgrund von Covid-19 konnten manche Leistungen
         Sponsor*innen. Gerade in Zeiten, in denen unsere        der Hospiz-Bewegung zeitweise nur in eingeschränk-
         Gesellschaft auch mit einer so außergewöhnlichen        tem Ausmaß angeboten werden. Der Vorstand der
                                                                 Hospiz-Bewegung Salzburg hat daher beschlossen,
       gesundheitspolitischen Herausforderung konfrontiert       aus wirtschaftlicher Notwendigkeit und betrieblicher
                  ist, ist es von großer Bedeutung, das meist    Sorgfaltspflicht das Modell Kurzarbeit einzuführen.
                                                                 Letztlich musste nur ein Viertel der beantragten Geld-
          „stille Leid“ in unserem Lebensumfeld nicht außer      er in Anspruch genommen werden, da der Betrieb in
     Acht zu lassen und die Lebensfreude am Lebensende           vielen Bereichen schon nach kurzer Zeit aufgrund des
                                                                 hohen Bedarfs im normalen Umfang notwendig war.
        möglich zu machen. Durch unsere Aufmerksamkeit
              und Unterstützung wollen wir Lebensqualität in     Für die als selbständige Ambulatorien geführten Ta-
                                                                 geshospize wurde seitens der Landessanitätsdirek-
                       schwierige Phasen des Lebens bringen.     tion von Anfang an betont, dass deren Offenhalten
                                                                 eine wichtige krankenhausentlastende Funktion
                                                                 habe. Mehrmals musste das Hygienekonzept auf
           Mag. Karl Schwaiger und MMag. Christof S. Eisl        die geltenden Verordnungen hin angepasst wer-
                                                                 den, wöchentliche Testungen wurden weder für
                                                                 Mitarbeiter*innen, noch für Patient*innen vorge-

II                                                                                   HOSPIZ BEWEGUNG Salzburg
jahresbericht 2020
schrieben, jedoch anlassbezogen durchgeführt, um        • Eine schwere Erkrankung bedeutet für viele Betrof-
die Sicherheit zu gewährleisten.                          fene und deren Familien die Gefahr sozialer Isola-
                                                          tion und ein sowohl emotional als auch finanziell
Einige ehrenamtliche Begleiter*innen haben ihre           äußerst belastendes Leben.
Tätigkeit bei der Hospiz-Bewegung Salzburg beendet,     • Viele Menschen fühlen sich über ihre Erkrankung
weil sie aus Altersgründen selbst der Risikogruppe        und deren Behandlungsmöglichkeiten unzurei-
angehören, ihre gefährdeten Angehörigen schützen          chend informiert und daher in wesentlichen Ent-
wollen, oder weil sie aufgrund von Covid-19 selbst        scheidungen alleine gelassen.
verstärkt Betreuungspflichten wahrnehmen müssen.        • Den individuellen Bedürfnissen und der Autonomie
                                                          schwer kranker und sterbender Menschen kommt
Das Angebot für Trauernde war durch die Situation         im bestehenden Gesundheitssystem eine viel zu ge-
besonders gefordert, da trauernde Menschen gerade         ringe Bedeutung zu.
durch die Kontaktbeschränkung besonders gelitten        • Der Druck auf Menschen, in einer höchst vulne-
haben. Große Erleichterung brachte das Signal an          rablen Situation, keine emotionale und wirtschaft-
Trauernde, dass die Gruppen- und Einzelbegleitungen       liche Belastung darzustellen, wird verstärkt. Die
bei Einhaltung aller Schutzmaßnahmen und Verord-          Herausforderung durch die zu schaffende neue
nungen stattfinden können. So wurden neben den lau-       Rechtslage zur assistierten Selbsttötung schafft
fenden offenen und geschlossenen Gesprächsgruppen         neue Herausforderungen.
sowie den Trauergruppen mit kreativem Ansatz eine
Elterntrauergruppe sowie eine Trauergruppe für junge    Die Hospiz-Bewegung Salzburg hat für diese gesell-
Erwachsene installiert.                                 schaftliche Problemlage ihr Angebot für schwer er-
                                                        krankte und trauernde Menschen entwickelt:
Eine besondere Herausforderung für die Organisation
stellen die Covid-Regelungen im Veranstaltungs- und     Die ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen der mobilen
Bildungsbereich dar. Weiterbildungen und Lehrgangs-     Hospizteams bieten im gesamten Bundesland Salz-
blöcke mussten verschoben und ganze Lehrgänge abge-     burg psychosoziale Begleitung, soziale Anbindung
sagt werden. Der aktuell sogar sehr hohen Nachfrage     nach außen und Möglichkeiten, auf die individuellen
nach Bildungsveranstaltungen zu den Themen Sterben,     Bedürfnisse einzugehen sowie pflegende Angehörige
Tod und Trauer sowie ehrenamtlicher Hospizarbeit        zu unterstützen.
kann daher derzeit nicht adäquat entsprochen werden.
                                                        Die Tageshospize in Salzburg und Pinzgau bieten
                                                        Lebensräume für teilstationäre Begleitung, Betreuung
2. Das gesellschaftliche Problem und der                und palliativmedizinische Behandlung von schwer
Lösungsansatz                                           kranken Menschen an.
Ein Leben in Würde bis zuletzt ist keineswegs selbst-
verständlich:                                           Angehörigen von Erkrankten oder Verstorbenen wer-
•Trotz aller Fortschritte und Möglichkeiten der        den in der Kontaktstelle Trauer Beratungs- und Ent-
  Schmerz- und Symptombehandlung werden viele           lastungsgespräche angeboten, die je nach Bedürfnis
  schwer kranke Menschen nach wie vor unzurei-          und Ressource in Einzeltrauerbegleitung oder zur
  chend und zu spät palliativ versorgt.                 Teilnahme an Trauergruppen führen.

HOSPIZ BEWEGUNG Salzburg                                                                                       III
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