OKTOBER BIS 26. NOVEMBER 2020 RECYCLED CINEMA - LEBEN IN BILDERN 20 Jahre dok.at Duisburger Filmwoche zu Gast - Österreichisches ...

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OKTOBER BIS 26. NOVEMBER 2020 RECYCLED CINEMA - LEBEN IN BILDERN 20 Jahre dok.at Duisburger Filmwoche zu Gast - Österreichisches ...
22. OKTOBER BIS 26. NOVEMBER 2020
RECYCLED CINEMA
LEBEN IN BILDERN 20 Jahre dok.at
ANSPRUCH EINSPRUCH
Duisburger Filmwoche zu Gast

www.filmmuseum.at
Willkommen im
Österreichischen Filmmuseum
Das Österreichische Filmmuseum widmet sich seit 1964 der Samm-
lung, Bewahrung, Erforschung und Vermittlung des Mediums Film in
all seinen Aspekten. Das beinhaltet ganz zentral die Ausstellung und
Vermittlung von Film – als Kunstform, Kulturtechnik und Zeitdokument
– in unserem Kinosaal, dem »Unsichtbaren Kino« in der Albertina.
    Wir zeigen Werke aus der Geschichte des Films grundsätzlich im
jeweiligen Originalformat und in den weltweit bestmöglich erhalte-
nen Filmkopien (35mm bzw. 16mm). Werke, die ursprünglich auf
Video bzw. digital hergestellt oder präsentiert wurden, werden digi-
tal projiziert. In seltenen Fällen präsentieren wir auf Film hergestellte
Werke digital: Dies geschieht jeweils aus kuratorischen oder konser-
vatorischen Gründen und wird speziell ausgewiesen.
    Filme werden bei uns grundsätzlich in ihrer originalen Sprach-
fassung gezeigt und gegebenenfalls untertitelt. Für unsere inter-
nationalen Gäste weisen wir Vorführungen in englischer Sprache
bzw. Untertitelfassung gesondert aus.
Screenings in English or with English subtitles are marked with this symbol ★

INHALT
Allgemeine Informationen 2
Recycled Cinema 3
Viennale im Filmmuseum 29
Anspruch Einspruch. Duisburger Filmwoche im Filmmuseum 43
Den Wortschatz des Widerstands entwickeln. Symposium und Filme 45
Leben in Bildern. Kinoreal Spezial: 20 Jahre dok.at 46
Meine Reisen durch den Film. Buchpräsentation und Vortrag Harry Tomicek 51
Zyklisches Programm. Was ist Film 15–21 52
Schule im Kino 55
Spielplan. Alle Filme von 22. Oktober bis 26. November 2020 56
Informationen. Viennale im Filmmuseum 61
Dank/Impressum 62

Innerhalb eines Themas sind die Filme in der Reihenfolge
ihrer Programmierung geordnet.
ALLGEMEINE INFORMATIONEN
Häufig gestellte Fragen zu den Corona-Maßnahmen finden Sie hier:
www.filmmuseum.at/besuch/covid-19_massnahmen_faq
SPIELORT/VEREINSSITZ 1010 Wien, Augustinerstraße 1
TICKETS
Kassaöffnungszeiten: Montag bis Freitag ab 15 Uhr, an Wochenenden und Feiertagen
geöffnet ab einer Stunde vor Beginn der ersten Vorführung. Bei großem Andrang werden ab
30 Minuten vor Beginn nur mehr Karten für die unmittelbar bevorstehende Vorführung verkauft.
Einzelkarte für Mitglieder sowie Kinder und Jugendliche bis 18: 6 Euro
Ermäßigung für Studierende mit Mitgliedschaft: 5 Euro bzw.
3 Euro für regelmäßige Programme (Was ist Film, Treibgut, Kinoreal)
Zehnerblock (für Mitglieder): 45 Euro
Einzelkarte inklusive Gastmitgliedschaft: 10,50 Euro
Herbstmitgliedschaft: 8,50 Euro
Herbstpartnermitgliedschaft: 14,00 Euro
Informationen zur Fördernden Mitgliedschaft auf Seite 62 und
auf unserer Website www.filmmuseum.at
RESERVIERUNGEN
T +43/1/533 70 54 oder www.filmmuseum.at. Reservierte Karten müssen
spätestens 30 Minuten vor Beginn der jeweiligen Vorstellung abgeholt werden.
BÜRO/BIBLIOTHEK 1010 Wien, Hanuschgasse 3, Stiege 2, 1. Stock
Bibliothek: Benutzung nur mit Voranmeldung: e.streit@filmmuseum.at;
Katalog online unter: https://www.filmmuseum.at/bibliothek/online-recherche
Büro: Mo bis Do 10–18 Uhr, Fr 10–13 Uhr, T 01/533 70 54, E-Mail office@filmmuseum.at
SAMMLUNGEN 1190 Wien, Heiligenstädter Straße 175 (Hof), T 01/533 70 54 -232
FILMBAR IM FILMMUSEUM Täglich von 12 bis 23 Uhr

ABKÜRZUNGEN
R Regie B Drehbuch K Kamera S Schnitt M Musik D Darsteller E Erzählstimmen
UT Untertitel ZT Zwischentitel OF Originalfassung OmeU Originalfassung mit englischen UT
Omspan/eU Originalfassung mit spanischen und englischen UT
• Veranstaltungen mit Gästen oder Einführungen
★ Screenings in English or with English subtitles
TEXTE VON
Alejandro Bachmann, Brigitta Burger-Utzer, Stefan Grissemann, Eve Heller, Christoph Huber,
Jurij Meden, Olaf Möller, Drehli Robnik; Patrick Holzapfel, Barbara Kronsfoth, Maria Marchetta,
Thomas Mießgang, Lars Penning, Claus Philipp, Bert Rebhandl, Barbara Schweizerhof,
Alexandra Seitz, Robert Weixlbaumer

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23. OKTOBER BIS 26. NOVEMBER 2020

Recycled Cinema

Die Beziehung zwischen Found-Footage-Filmen – also Werken, Velikiy put
die bereits existierendes Filmmaterial wiederverwenden – und der (1927, Esfir Shub)
Idee der Erhaltung des Filmerbes, wie sie von Filmmuseen und Film-
archiven praktiziert wird, ist eine spezielle. Denn im Gegensatz zu an-
deren Formen des Filmemachens, die »aus sich selbst« entstanden
sind und dann von Filmarchiven erhalten wurden, entstand eine Tra-
dition der Found-Footage-Arbeit erst, nachdem Archive genügend
Filmmaterial gesammelt hatten, sodass die Neugier der Künstler*in-
nen geweckt werden konnte.
   Wohl deshalb sind viele der frühen Found-Footage-Filme vom
offensichtlichen Bestreben gekennzeichnet, das Material bestimmter
Filmsammlungen zu organisieren, zu verdichten oder zu interpretie-
ren. Drei der ältesten Filme in unserer Retrospektive sind Musterbei-

OKTOBER/NOVEMBER 2020 Recycled Cinema                             3
spiele dafür: Crossing the Great Sagrada (Adrian Brunel, 1924) ver-
sucht sich bereits an einer parodistischen Draufgabe, in Velikiy put
(Esfir Shub, 1927) entspricht die (Um-)Strukturierung von Archivma-
terial der (Re-)Konstruktion von nationaler Geschichte, und Le cinéma
au service de l’histoire (Germaine Dulac, 1935) spiegelt mittels gefun-
denem Material die Vielschichtigkeit einer Epoche.
    Found-Footage-Filmemachen lässt sich auch in eine ökologische
Traditionslinie von Kunst und Ethik einordnen. Recycled Cinema ist
also mehr als eine poetische Zuschreibung. Found-Footage-Filme-
macher*innen hauchen bereits existierendem Bildmaterial neues
Leben ein statt unsere Welt mit weiteren selbstgemachten Bildern zu
übersäen. In diesem ungewöhnlich maßvollen Bereich der Kinemato-
grafie sei eine Unterkategorie hervorgehoben: Filmemacher*innen,
die buchstäblich zu arm und nicht entsprechend ausgestattet waren,
um sich ihre eigenen Bilder leisten zu können (paradigmatisch reprä-
sentiert vom kubanischen Meister Santiago Álvarez) und ihre Kreati-
vität (oder politische Wut) nur durch die Bearbeitung von Fremd-
material ausdrücken konnten – ein überzeugendes Argument für die
Kunst des Found-Footage-Filmemachens als Arte povera.
    Die große Zahl von Künstler*innen, die ihre ganze Laufbahn dem
Found-Footage-Film gewidmet haben, zeugt von der Vielfalt des
Genres, seinem dauerhaften Einfluss und der bleibenden Wirkung.
Zu den prägenden Aspekten zählen nicht nur die oben angeführten
ethischen und politischen Impulse der Arbeit mit gefundenem Mate-
rial, um Diskurse umzudeuten, Identitäten herauszuforden und Ge-
schichte neu zu schreiben, wie es etwa beispielhaft in den Arbeiten
von Philippe Mora (Swastika, 1973), Harun Farocki und Andrej Ujică
(Videogramme einer Revolution, 1992) oder Johan Grimonprez (Dial
H-I-S-T-O-R-Y, 1997) geschieht. Zudem gibt es das Versprechen einer
allgemein zugänglichen und demokratischen Kunstform, die unab-
hängiges Filmemachen unterstützt. Und nicht zuletzt bietet die
Found-Footage-Praxis ein Universum ästhetischer Möglichkeiten:
eine Poetik, durch die der Utilitarismus und die Banalität eines indus-
triellen Mediums transformiert werden. Aus Abfall wird Kunst: das
Markenzeichen von so unterschiedlichen Filmemacher*innen wie
Peter Tscherkassky, Peggy Ahwesh, Cécile Fontaine oder Bruce Conner.
    Zwei Grundprinzipien dienten als Basis für den kuratorischen Zu-
gang dieser Retrospektive: einerseits durch eine attraktive und zum
Nachdenken anregende Auswahl einige Schlüsselpositionen dieses

OKTOBER/NOVEMBER 2020 Recycled Cinema                                4
reichen Felds abzustecken und andererseits unterschiedliche Aus-
DIAL H-I-S-T-O-R-Y © JOHAN GRIMONPREZ COURTESY ARGOS, CENTRE FOR AUDIOVISUAL ARTS, BRUSSELS

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                                                                                              prägungen dieser Praxis vorurteilslos zusammenzubringen – kom-           H-I-S-T-O-R-Y
                                                                                                                                                                       (1997, Johan
                                                                                              merzielle Produkte und Undergroundkino, Populäres und Obskures,          Grimonprez),
                                                                                              Industrie und Kunst, Lang- und Kurzfilme, Fiktion und Dokument.           Swastika
                                                                                              Found Footage haben wir dabei als Oberbegriff verstanden, der            (1973, Philippe
                                                                                                                                                                       Mora)
                                                                                              andere Bezeichnungen für dieselbe Vorgangsweise inkludiert (wie
                                                                                              Collage- oder Kompilationsfilm). Außerdem haben wir Werke ausge-
                                                                                              wählt, die starke künstlerische Impulse setzen – sei es in Bezug auf
                                                                                              konventionelles Erzählen, auf die Unterhaltungsindustrie, die Darstel-
                                                                                              lung von Diskriminerung, die Brutalität der politischen Macht, den
                                                                                              Rhythmus und die Schönheit von ephemeren Filmen sowie von
                                                                                              Werbung und Wochenschauen: Man könnte es auch angewandte
                                                                                              Film- und Medienkritik nennen.
                                                                                                 In dieser Hinsicht ist Found-Footage-Filmemachen zugleich eine
                                                                                              höchst individuelle und ganz allgemeine Methode. Es ist zutiefst in
                                                                                              den Grundelementen des Filmmediums als reproduktive Kunst ver-
                                                                                              wurzelt: dem Filmstreifen selbst und dem, was Annette Michelson
                                                                                              »die berauschenden Freuden des Schneidetisches« genannt hat. Die
                                                                                              große Umwälzung vom analogen, fotochemischen zum digitalen
                                                                                              Filmemachen hat seine Kraft und Faszination nicht beeinträchtigt, die
                                                                                              kontinuierliche Weiterentwicklung mit digitalen Methoden wird
                                                                                              durch die schiere Menge an Arbeiten aus den letzten beiden Deka-
                                                                                              den belegt.
                                                                                                 Nichtsdestotrotz leben wir in einer Ära der dauernden Stö-
                                                                                              rung(en): eigentlich ideal für die Found-Footage-Vorgangsweise, wo
                                                                                              Filmkünstler*innen gewohnte Zusammenhänge und Plausibilitäten
                                                                                              im Namen der künstlerischen Aneignung attackieren und ausein-
                                                                                              andernehmen. Inmitten einer globalen Pandemie, die weltweit zur

                                                                                              OKTOBER/NOVEMBER 2020 Recycled Cinema                               5
Unterbrechung der Filmproduktion geführt und demonstriert hat,
wie sehr unsere Gesellschaft nach frischen Waren und neuen Produk-
ten giert (und von ihnen abhängig ist), mag eine Retrospektive Trost
spenden, die sich dem Recycling von Filmen widmet – aus der Fülle
von filmischem Abfall, der in Archiven, Rumpelkammern oder den
Weiten des World Wide Web zu finden ist.
   Wenn es aus der COVID-Krise noch etwas zu lernen gibt, dann
                                                                      Spaced Oddities
über die komplexen Beziehungen zwischen dem Globalen und dem (2004, Cécile
Lokalen. Das gilt auch für die heurige Retrospektive von Viennale und Fontaine)
Filmmuseum: Sie feiert sowohl den globa-
len Charakter der Found-Footage-Tradition
wie auch ihre starke lokale Verankerung in
der Wiener Kunst- und Filmszene. Gefeiert
wird damit auch die herausragende kurato-
rische und unternehmerische Leistung des
heimischen Filmverleihs sixpackfilm, der
vor dreißig Jahren aus einer Filmschau ge-
boren wurde, die sich exakt demselben
Thema widmete: Found-Footage-Kino.
(Brigitta Burger-Utzer, Michael Loeben-
stein, Jurij Meden)
Eine gemeinsame Retrospektive der Viennale und des
Österreichischen Filmmuseums in Zusammenarbeit
mit sixpackfilm.
Während der Viennale im Filmmuseum von
23. Oktober bis 1. November gelten gesonderte
Ticketregelungen (siehe Seite 61).

                                                                                        LIGHT CONE

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HyperNormalisation
Ein Film von Adam Curtis. GB, 2016, DCP, Farbe, 166 min. Englisch ★
Das Magnum Opus des britischen Filmessayisten und Agitators Adam             FREITAG
Curtis. Ihm geht es um das Offenlegen geheimer Machtstrukturen,              23.10. / 11.00
indem er intelligente, manchmal sogar unerhörte Verbindungen zwi-
schen audiovisuellen Beweisstücken herstellt. Für HyperNormalisa-            SONNTAG
tion greift Curtis auf die Theorien des Anthropologen Alexei Yurchak         15.11. / 21.00
zurück, der mit dem titelgebenden Begriff das Leben in der Sowjet-
union beschrieb: als eine Gesellschaft, die um ihr Scheitern wusste,
aber die Illusion aufrecht erhielt, dass alles funktionierte. Curtis über-
trägt diese Selbsttäuschung auf die westliche Hemisphäre und das
kapitalistische System: Sein bestürzendes Porträt einer sedierten
Gesellschaft lässt sowohl The Matrix als auch Debords La Société du
spectacle unverhältnismäßig optimistisch aussehen. (J.M.)

»A PERFECT BODY IS AN EMBARRASSING BODY«

Do we need to have an
accident? Sabine Marte. AT, 2011,
DCP, Farbe, 3 min (Abb. →)
Something Else Kevin Jerome
Everson. US, 2007, DCP, Farbe, 2 min
Lezzieflick Nana Swiczinsky. AT,
2008, DCP, Farbe, 7 min
The Giverny Document (Single
Channel) Ja’Tovia Gary. US/FR,
2019, DCP, Farbe und sw, 40 min
Swallow Elisabeth Subrin. US, 1995, DCP, sw, 28 min
Cause of Death Jyoti Mistry. ZA/AT, 2020, DCP, Farbe und sw, 20 min
Found Footage und die Repräsentation des weiblichen Körpers. Der             FREITAG
Programmtitel verdankt sich einem Zitat von Jean-Luc Nancy aus               23.10. / 18.30
Sabine Martes Re-Montage von Hollywoodfilmen zu surrealen Erzäh-
lungen. Andere Zugänge verfolgen Kevin Jerome Everson (ein Origi-            MITTWOCH
nalinterview spricht für sich), Nana Swiczinsky (die Morphing-Dekon-         18.11. / 18.30
struktion simulierter lesbischer Erotik aus Heteropornos), Ja’Tovia
Gary (eine Reflexion über schwarze Frauenkörper in öffentlichen
Räumen und auf Bühnen), Elisabeth Subrin (Essstörungen und Zu-
sammenbruch) sowie Jyoti Mistry (die Gewalt gegen Frauen mit einer
Sprach-Performance Napo Masheanes anklagt). (B.B.U.)

OKTOBER/NOVEMBER 2020 Recycled Cinema                                   7
FILME VON PHIL SOLOMON

Remains to Be Seen US, 1989/1994, 16mm, Farbe, 17 min
Twilight Psalm II: Walking Distance US, 1999, 16mm, Farbe, 23 min
The Emblazoned Apparitions US, 2013, DCP, Farbe, 6 min
Rehearsals for Retirement US, 2007, DCP, Farbe, 12 min
Last Days In a Lonely Place US, 2008, DCP, sw, 22 min
Twilight Psalm IV: Valley of the Shadow US, 2013, DCP, Farbe, 8 min
Der zu früh verstorbene Filmkünstler Phil Solomon (1952–2019) be-          SAMSTAG
zeichnete sich selbst als »inversiven Archäologen«, der – jiddisch –       24.10. / 11.00
Schmutz auf gefundene Filmartefakte werfe, um ihnen ihr Vertrautes          • Einführung
zu rauben und eine Balance zwischen Figuration und Abstraktion zu          von Eve Heller
erzeugen. Remains To Be Seen verschmilzt chemisch behandeltes
Super 8 und medizinische Filme, um einen fragilen Bewusstseinszu-          FREITAG
stand zu evozieren. Mit Rehearsals for Retirement und Last Days In a       13.11. / 18.30
Lonely Place betrat Solomon die digitale Bildwelt, indem er ein melan-
cholisches Simulacrum des Computerspiels Grand Theft Auto schuf,
das die apokalyptische Gestimmtheit unserer Zeit einfängt. (E.H.)

Ascent
Ein Film von Fiona Tan S: Nathalie Alonso Casale M: Leo Anemaet
E: Hiroki Hasegawa, Fiona Tan. NL/JP, 2016, DCP, Farbe, 80 min.
Englisch und Japanisch mit engl. UT ★
Kaum ein Naturdenkmal wurde öfter gemalt und fotografiert als               SAMSTAG
Japans heiliger Berg, der Fuji. Fiona Tan hat über 600 Fotografien dieses   24.10. / 21.00
Vulkans als visuelles Material für ihren Essayfilm ausgesucht und eine
fiktionale Erzählung darübergelegt. Die englische Schriftstellerin und      MONTAG
Übersetzerin Mary erhält ein Paket mit Fotos und Notizbüchern des          23.11. / 18.30
einige Jahre davor verstorbenen japanischen Fotografen Hiroshi. Die-
ser beschreibt seinen beschwerlichen Fuji-Aufstieg gemeinsam mit
einer endlos wirkenden Schlange anderer Pilger*innen. Neben priva-
ten Gedanken über den fernen Tod des Geliebten breitet sich ein
Mosaik von Reflexionen aus: über den Fuji als mystisches Symbol;
über die Bedeutung der Kirschblüte; über das Erinnern und Trauern
und über das Verhältnis von Fotografie und Film. Behutsam bringt
uns Fiona Tan die fremde Kultur der Japaner*innen und ihrer öst-
lichen Weisheiten näher: »Falling is the essence of a flower.« (B.B.U.)

OKTOBER/NOVEMBER 2020 Recycled Cinema                                 8
Ascent

Swastika
Ein Film von Philippe Mora D: Philippe Mora, Lutz Becker S: Andrew Patterson.
GB, 1973, 35mm, Farbe und sw, 93 min. Deutsch
In den 1970ern stolperte der australische Regisseur Philippe Mora                   SONNTAG
über eine Entdeckung: Eva Brauns Home Movies mit ihrem geliebten                    25.10. / 11.00
Adolf, auf 16mm-Farbfilmmaterial gedreht, waren von der US-Armee
konfisziert worden und lagen seit einem Vierteljahrhundert unbe-                     MONTAG
merkt im Pentagon. Mora kombinierte dieses Material mit deutschen                   9.11. / 21.00
Wochenschauen und Propagandafilmen der 1930er und 1940er, um
einen konzeptuellen Kompilationsfilm über den Nationalsozialismus                    Courtesy of
zu erstellen, wobei er auf Off-Kommentar verzichtete, aber seine Mon-               Imperial War
                                                                                    Museum
tagefolgen mit bombastischem Wagner und lieblichem Beethoven
unterlegte. Die Cannes-Premiere des Films endete in einem Tumult:
Indem er Hitler nicht als das personifizierte Böse zeigte, sondern
durch »Alltagsbilder« entzauberte, sorgte Mora für einen Tabubruch
– Swastika war seiner Zeit voraus. In Deutschland konnte der Film erst
2009 gezeigt werden. (J.M.)

OKTOBER/NOVEMBER 2020 Recycled Cinema                                           9
FILME VON CÉCILE FONTAINE

Home Movie FR, 1986, 16mm, Farbe, 5 min
Overeating FR, 1984, 16mm, Farbe, 3 min
Almaba FR, 1988, 16mm, Farbe, 8 min
Cruises FR, 1989, 16mm, Farbe, 10 min (Abb. →)
Japon Series FR, 1991, 16mm, Farbe, 7 min
La pêche miraculeuse (Der wunderbare
Fischfang) FR, 1995, 16mm, Farbe, 10 min
Spaced Oddities FR, 2004, 16mm, sw, 4 min

                                                                                           LIGHT CONE
Silver Rush FR, 1998, 16mm, Farbe, 8 min
The Last Lost Shot
FR, 1999, 16mm, Farbe, 7 min
Cross World FR, 2006, 16mm, Farbe, 15 min
Cécile Fontaine macht seit den 1980ern handmade films im wahrsten         SONNTAG
Wortsinn, indem sie das Ausgangsmaterial an dessen Grenzen bringt:       25.10. / 18.30
durch chemische Bäder, Ablösen von Farbschichten, Abfilmen im              • In Anwesen-
selbstgemachten optischen Kopierer, zusätzliches Färben und Cut-         heit von
                                                                         Cécile Fontaine
Ups. Im Meisterstück Cruises erscheinen die Menschen – eingebettet
in herrliche Farben und stellenweise ausgelöscht – wie Geister oder
Wiedergänger*innen. (B.B.U.)

De Maalstroom: Een Familiekroniek
(Der Mahlstrom: Eine Familienchronik)
Ein Film von Péter Forgács. S: Kati Juhász M: Tibor Szemző.
NL, 1997, DCP, Farbe und sw, 60 min. Englische ZT ★
Der ungarische Regisseur Péter Forgács hat sich auf Found-Footage- MONTAG
Arbeiten spezialisiert, in denen er Geschichte reinszeniert und rekon- 26.10. / 11.00
struiert. De Maalstroom ist eine dokumentarische Filmvariante des
Tagebuchs der Anne Frank. Forgács greift auf außerordentliches
Material zurück: die Home Movies einer holländischen, jüdischen
Familie zwischen 1938 und 1942, bis sie nach Auschwitz deportiert
wurde. Die Alltagsbilder werden vom sich abzeichnenden Holocaust
überschattet. Die Familie Peereboom ist anfangs völlig ahnungslos
und vermag auch später ihr schreckliches Schicksal nicht zu begrei-
fen: Am Vorabend ihrer Abreise ins »Arbeitslager« packen sie fröhlich
ihre Sachen. Die Home-Movies erlauben einen Blick in die Historie,
wie sie die offizielle Geschichtsschreibung nie erfassen kann. Forgács
führt das Publikum geschickt mit Untertiteln und zeitgenössischen
Tonaufnahmen durch diese nur scheinbar friedliche Chronik. (J.M.)

OKTOBER/NOVEMBER 2020 Recycled Cinema                               10
© ALEXANDER MAR-
KOV COURTESY

                   STEREOTYPIEN DES WESTENS         ★
                   Crossing the Great Sagrada Adrian Brunel.
                   GB, 1924, 16mm, sw, 15 min. Englische ZT
                   Muqaddimah Li-Nihayat Jidal / Introduction to the End of an Argument
                   Jayce Salloum, Elia Suleiman. CA, 1990, DCP, Farbe und sw, 41 min. Englisch
                   Our Africa Alexander Markov. RU, 2018, DCP, Farbe, 45 min. Englisch (Abb. ↓)
                   Adrian Brunels Bearbeitung von Reisefilm-Outtakes demaskiert durch              MONTAG
                   kommentierende Untertitel das kolonialistische Bild der Fremde.                26.10. / 21.00
                   Introduction to the End of an Argument beschäftigt sich mit dem
                   verzerrten westlichen Bild der arabischen Kultur im Allgemeinen und            MONTAG
                   der Intifada im Besonderen. Fragmente von Spielfilmen, Dokumenta-               23.11. / 21.00
                   tionen und Nachrichten werden entlarvend mit Material kombiniert,
                   das Co-Regisseur Jayce Salloum im Gazastreifen und dem Westjordan-
                   land gedreht hat. Alexander Markov über Our Africa: »Ein wirbel-
                   sturmartiger Überblick der Ansichten, Leidenschaften und Strate-
                   gien, die in der systematischen Arbeit sowjetischer Filmteams in
                   Afrika von 1960 bis 1990 sichtbar werden (…) wobei ich die Propa-
                   ganda noch propagandistischer gemacht habe, um sie bloßzu-
                   stellen.« (B.B.U.)

                   OKTOBER/NOVEMBER 2020 Recycled Cinema                                    11
Decasia
Ein Film von Bill Morrison M: Michael Gordon. US, 2002, 35mm, sw, 67 min
DAVOR: The Film of Her Bill Morrison M: Bill Frisell, Henryk Górecki.
US, 1996, 35mm, sw, 12 min
Der US-Independent-Regisseur Bill Morrison arbeitet fast ausschließ- DIENSTAG
lich mit Found Footage. Dabei interessiert er sich nicht einfach nur für 27.10. / 11.00
Bilder der Vergangenheit, die andere gedreht haben, sondern er lässt
sich von den frühesten Laufbildern der Menschheitsgeschichte inspi-
rieren, begeistert davon, wie er es selbst formulierte, »wie die Zeit
den Film verwüstet«. Analoger Film ist (oder war) nichts als fragile,
verderbliche, organische Materie, doch Morrison stimmt kein Klage-
lied über die Vergänglichkeit an, sondern feiert die unerwarteten und
vielfältigen Auswirkungen, die das Aussehen eines Stücks Film verän-
dern. Decasia kombiniert schon im Titel poetisch Zerfall (»decay«)
und Fantasie (»fantasia«) und ist der hypnotischste und delirierend-
ste Ausdruck von Morrisons Faszination für die Auflösung von Nitrat-
film und deren abstrakter Schönheit. Zur prächtigen Musik von
Michael Gordon wird aus dem Strudel chemischen Zerfalls ein
packendes Drama. (J.M.)

POESIE DES ABFALLS

L’operatore perforato (Der perforierte Projektionist)
Paolo Gioli. IT, 1979, 16mm, sw, 9 min
Engram of Returning Daïchi Saïto. CA, 2015, 35mm, Farbe, 19 min
Rohfilm Wilhelm & Birgit Hein. BRD, 1968, 16mm, sw, 20 min*
Berlin Horse Malcolm Le Grice. GB, 1970, 16mm, Farbe, 8 min
Her Glacial Speed Eve Heller. US, 2001, 16mm, sw, 4 min
Mirror Mechanics Siegfried A. Fruhauf. AT, 2005, 35mm, sw, 7 min
Sleepy Haven Matthias Müller. DE, 1993, 16mm, Farbe, 15 min
Der Abfall der Filmproduktion findet sich auf Flohmärkten und in                 DIENSTAG
Archiven und birgt kraftvolle Bilder und spektakuläre Szenen. Dieses            27.10. / 18.30
Programm versammelt Filme, in denen nicht Dekonstruktion und
Medienkritik im Vordergrund stehen, sondern eine spielerische Trans-            SONNTAG
formation und eine hohe Anerkennung für das Ursprungsmaterial. So               22.11. / 18.30
wie Lyriker*innen auf den Rhythmus der Sprache achten, zählen bei
den Poet*innen des Recycling-Films der zyklische Ablauf, prächtige              *Courtesy of
und/oder zur Abstraktion getriebene Bilder und die Verstärkung des              Arsenal
emotionalen Gehalts. Wilhelm und Birgit Hein erreichen in ihren Ma-
terialfilmen eine Plastizität, wie sie nur im Kino erlebbar ist. (B.B.U.)

OKTOBER/NOVEMBER 2020 Recycled Cinema                                      12
LIGHT CONE

             L’operatore perforato (1979, Paolo Gioli)

             Pays barbare (Barbarisches Land)
             Ein Film von Angela Ricci Lucchi und Yervant Gianikian M: Giovanna Marini,
             Keith Ullrich. FR/IT, 2013, DCP, Farbe und sw, 65 min. Französisch mit engl. UT ★
             Pays barbare versammelt Aufnahmen aus den Jahren 1926 bis 1937 MITTWOCH
             und dokumentiert fast ausschließlich Szenen aus dem Zweiten Italie- 28.10. / 11.00
             nisch-Libyschen Krieg und dem Abessinienkrieg. Diktator Mussolini
             lässt sich hoch zu Ross von den Kolonialprofiteuren auf dem Weg
             nach Tripolis feiern, die schwarze Bevölkerung gibt dazu den folklo-
             ristischen Aufputz, sie darf in ihrer Tracht marschieren und trommeln.
             Gianikian und Ricci Lucchi waren vom kolonialen (Eroberer-)Blick im
             Originalmaterial wohl derart empört, dass sie ihren wütendsten Film
             machten. Das barbarische Land ist nicht ein Teil Afrikas – wie die Bild-
             unterschriften suggerierten –, sondern Italien mit seinen brutalen
             Faschisten. Deshalb stellt das Regieduo an den Anfang die schaulus-
             tige Menge in Mailand 1945, die sich den makabren Anblick des hin-
             gerichteten Duce und seiner Geliebten nicht entgehen lassen will.
             Auch dabei sind die Kameras mit im Bild. (B.B.U.)

             OKTOBER/NOVEMBER 2020 Recycled Cinema                                           13
PORNOGRAPHIE DEKONSTRUIEREN

The Color of Love Peggy Ahwesh. US, 1994, 16mm, Farbe, 10 min
On Eye Rape Iimura Takahiko. JP, 1962, 16mm, Farbe, 10 min
Pression Ljubomir Šimunić.
YU, 1975, DCP (von 8mm), Farbe, 15min*
Kalkito 2 Dietmar Brehm. AT, 2002, 16mm, sw, 7 min
The Shadow of Your Smile Alexei Dmitriev.
RU, 2014, DCP, Farbe, 3 min (Abb. →)
Sodom Luther Price.
US, 1989, DCP (von Super 8), Farbe, 17 min
Removed Naomi Uman.
US, 1999, 16mm, Farbe, 7 min
Mayhem Abigail Child.
US, 1987, DCP (von 16mm), sw, 17 min
Herkömmliche Pornos verfolgen den vorrangigen Zweck, eine (ver-             MITTWOCH
meintlich) gute Wichsvorlage zu sein und bilden naturgemäß die              28.10. / 21.00
Machtverhältnisse der Gesellschaft ab: Das Vergnügen von Frauen
und Lesbierinnen wird oft unglaubwürdig dargestellt. Diese sozialen         SONNTAG
Ordnungen gilt es zu hinterfragen (wie bei Ahwesh, Uman, Child),            15.11. / 18.30
ebenso wie Tabus. Die Ängste, die aus Verboten der Homosexualität
resultieren, hat der kürzlich viel zu früh verstorbene Luther Price mit     *Courtesy of
seinem Film Sodom alptraumhaft visualisiert. (B.B.U.)                       Academic Film
                                                                            Center Belgrade
Dial H-I-S-T-O-R-Y
Ein Film von Johan Grimonprez M: David Shea.
BE/FR, 1997, DCP, Farbe, 68 min. Englisch ★
DAVOR: It Felt Like a Kiss Ein Film von Adam Curtis.
GB, 2009, DCP, Farbe und sw, 54 min. Englisch ★
Der so bestechende wie beunruhigende Essay Dial H-I-S-T-O-R-Y be-           DONNERSTAG
schäftigt sich unter Rückgriff auf Passagen aus Don De Lillos Roma-         29.10. / 11.00
nen mit dem Phänomen von Flugzeugentführungen als politischer
Waffe sowie ihrer Darstellung in den Medien. Dabei wird klar, wie           FREITAG
diese ungefähr Anfang der 1980er dazu übergingen, eine Realität zu          13.11. / 21.00
konstruieren statt über die Wirklichkeit zu berichten – die Frage nach
dem Warum einer Tat wird durch leeres Spektakel ersetzt (»So hat es
sich angefühlt.«). Mit It Felt Like a Kiss hat Adam Curtis ein vergleich-
bar ambitioniertes und großartiges Found-Footage-Werk vorgelegt:
über den Aufstieg der USA zur führenden Weltmacht des 20. Jahrhun-
derts durch militärische und popkulturelle Dominanz. (J.M.)

OKTOBER/NOVEMBER 2020 Recycled Cinema                                 14
FOUND FOOTAGE IST INTERVENTION

Two Times in One Space Ivan Ladislav Galeta. YU, 1976, 35mm, sw, 12 min*
Passagen Lisl Ponger. AT, 1996, 35mm, Farbe, 12 min
Facing Forward Fiona Tan. NL, 1999, DCP, Farbe, 10 min
Der Fater Christine Noll Brinckmann. BRD, 1986, 16mm, Farbe und sw, 26 min**
Watching for the Queen David Rimmer. CA, 1973, 16mm, sw, 11 min
The Devil Jean-Gabriel Périot. FR, 2012, DCP, sw, 8 min
Ein struktureller Eingriff am ursprünglichen Material kann präziseres             DONNERSTAG
Sehen ermöglichen: In Two Times in One Space wird ein Ausschnitt                  29.10. / 18.30
aus einer Komödie zeitversetzt noch einmal darauf projiziert, in
Watching for the Queen werden durch Mehrfachbelichtung einzelner                  MITTWOCH
Kader Individuen in einer Menschenmenge erkennbar. Andere Arbei-                  25.11. / 18.30
ten transformieren das Quellenmaterial durch Verrückung des
Zusammenhangs: Lisl Ponger unterlegt farbenprächtige Reisefilme                    *Courtesy of
von Amateur*innen mit Fluchtgeschichten, Fiona Tan verändert                      Croatian Film
                                                                                  Association
die Perspektive ethnografischer Filme durch akzentuierenden Ton.
                                                                                  **Courtesy of
(B.B.U.)                                                                          Arsenal
REFRAMING DREAM FACTORY

Home Stories Matthias Müller. DE 1990, 16mm, Farbe, 6 min
Western Sunburn Karl Lemieux.
CA, 2007, DCP (von 16mm), Farbe und sw, 10 min
passage à l’acte Martin Arnold. AT, 1993, 16mm, sw, 12 min
Gerdi, zločesta vještica (Gerdi, die böse Hexe)
Ljubomir Šimunić. YU, 1973–76, DCP (von 8mm), Farbe, 10 min*
Rose Hobart Joseph Cornell. US, 1936, 16mm, Farbe, 20 min
Papillon d’amour Nicolas Provost. BE, 2003, DCP, sw, 4 min
Last Tango in Paris Miodrag Milošević. YU, 1983, DCP (von 16mm), Farbe, 21 min*
Dichtung und Wahrheit Peter Kubelka. AT, 2003, 35mm, Farbe, 13 min
la petite illusion Michaela Schwentner. AT, 2006, DCP, Farbe, 4 min
Klassische Spielfilme folgen meist vertrauten Bahnen, die Found-                   FREITAG
Footage-Avantgarde begehrt gegen die Konventionalität auf, indem                  30.10. / 11.00
sie den Kontext der Bilder und Töne verschiebt. Die Bearbeitung
einer einzigen Einstellung kann das Künstliche der Figuren und ihre               *Courtesy of
soziale Determiniertheit sichtbar machen (Arnold, Provost), die                   Academic Film
                                                                                  Center Belgrade
Stereotypen der Melodramen werden dekonstruiert (Müller, Cornell)
oder die malerischen und abstrakten Eigenschaften des Materials
betont (Lemieux, Milošević und Schwentner). (B.B.U.)

OKTOBER/NOVEMBER 2020 Recycled Cinema                                       15
Film ist. 1–6
Ein Film von Gustav Deutsch. AT, 1998, 16mm, Farbe und sw, 60 min
Film ist. 7–12
Ein Film von Gustav Deutsch MITARBEIT: Hanna Schimek
M: Werner Dafeldecker, Christian Fennesz, Martin Siewert, Burkhard Stangl.
AT, 2002, 35mm, Farbe und sw, 90 min
Das groteske, melodramatische und pikante Material für Film ist., ein             FREITAG
vielteiliges work in progress, sein Langzeitprojekt und Hauptwerk,                30.10. / 21.00
fand Gustav Deutsch in Filmarchivbeständen, aber auch in privaten
Sammlungen. Die ersten sechs Teile der Serie sind auf den wissen-                 MITTWOCH
schaftlichen Film konzentriert: auf abgründige Laborexperimente an                25.11. / 21.00
Menschen, Tieren und Dingen. Mit dem Jahrmarkt, der zweiten »Ge-
burtsstätte des Films«, sind die Kapitel 7–12 befasst. Eine Art »Buch
der Träume« hat der Early Cinema-Spezialist Tom Gunning in Film ist.
erkannt; hinter der scheinwissenschaftlichen Struktur gibt sich das
Montagewerk als Akt der Kunst und der freien Assoziation zu erken-
nen. (S.G.)

FILME VON ARTHUR LIPSETT

Very Nice, Very Nice
CA, 1961, 16mm, sw, 7 min (Abb. →)
21–87 CA, 1964, 16mm, sw, 9 min
Free Fall CA, 1964, 16mm, sw, 9 min
A Trip Down Memory Lane
CA, 1965, DCP (von 16mm), sw, 13 min
Fluxes CA, 1968, DCP (von 16mm), sw, 24 min
Nachdem der Kunststudent Arthur
Lipsett beim National Film Board of
Canada engagiert wurde, bastelte er
aus Wegwerfmaterial Soundcollagen. Als er den Ton mit Bildern kom-                SAMSTAG
binierte, entstand sein Oscar-nominiertes Debüt Very Nice, Very Nice,             31.10. / 11.00
das u.a. von Stanley Kubrick für seinen Einfallsreichtum gepriesen
wurde. In der nächsten Dekade folgte eine Handvoll ähnlich inten-                 MITTWOCH
siver Werke, während sich Lipsetts geistige Gesundheit rapide ver-                18.11. / 21.00
schlechterte. Sein explosives Werk kann als dramatisches Exposé des
verkommenen Innenlebens der westlichen Welt gesehen werden                        Courtesy
oder als ebenso dramatischer Blick in den sich auflösenden Geist                   National Film
                                                                                  Board of Canada
eines Künstlers. So oder so ist es verstörend und unschätzbar. (J.M.)

OKTOBER/NOVEMBER 2020 Recycled Cinema                                        16
FILME VON PETER TSCHERKASSKY

Manufraktur AT, 1985, 35mm, sw, 3 min
Happy-End AT, 1996, 35mm, Farbe und sw, 11 min
Shot-Countershot AT, 1987, 16mm, sw, 22 sek
Coming Attractions AT, 2010, 35mm, sw, 25 min (Abb. ↓)
The Exquisite Corpus AT, 2015, 35mm, sw, 19 min
Instructions for a Light and Sound Machine AT, 2005, 35mm, sw, 17 min
Outer Space AT, 1999, 35mm, sw, 10 min
Mit den in seiner Dunkelkammer »handgemachten« Found-Footage-                SAMSTAG
Filmen hat der Österreicher Peter Tscherkassky weltweit für Furore           31.10. / 21.00
gesorgt. Diese Auswahl demonstriert die Vielschichtigkeit und Vielfalt        • In Anwesen-
seines mitreißenden Schaffens, von der Raserei auf der Optischen             heit von Peter
                                                                             Tscherkassky
Bank im Frühwerk Manufraktur bis zu den gefeierten Genre-Exege-
sen, die das Wesen des Kinos auf unterschiedlichste Weise de- und
rekonstruieren: ob als tänzerisch-geisterhafter Amateur-Home-Movie
(Happy End), als psychoanalytischer Horror-Trip (Outer Space) oder
als Essay-Gewitter über den »Tod des Kinos« (und das ewige Leben
von Eli Wallach) frei nach Sergio Leone (Instructions for a Light and
Sound Machine). (C.H.)

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Nash vek (Unser Jahrhundert)
Ein Film von Artavazd Peleshyan. SU, 1983, 35mm, sw, 50 min
Gemäß seinem Credo »Der Mensch ist größer als die Sprache« hat                 SONNTAG
Artavazd Peleshyan eine einzigartige, wortlose Methode entwickelt,             1.11. / 11.00
die er »Distanzmontage« nennt. Im Westen bekannt wurde dieser Poet
und Philosoph des Kinos, als Serge Daney angesichts von Peleshyans             SAMSTAG
Rearrangement von Archivmaterial um Worte rang: »Wie soll man                  14.11. / 18.30
über diese Filmen sprechen? Vom Bild, das wie ein zackiges Elektro-
kardiogramm ausschlägt? Und über den Ton, ein echtes Geräusch aus
dem Weltraum? In dieser schmerz-
haften Kosmogonie glaube ich einen
Vertov aus der Zeit Michael Snows zu
sehen, einen mit Godard, Wiseman
oder van der Keuken versetzten
Dovzhenko.« Godard selbst teilte
Daneys Enthusiasmus und erklärte
Peleshyan zum wahren Erben »der Ge-
heimnisse des Kinos« nicht nur von
Vertov und Dovzhenko, sondern auch
von Barnet und Eisenstein. (J.M.)

FILM IM DIENST DER GESCHICHTE

Le cinéma au service de l’histoire (Das Kino im Dienst der Geschichte)
Germaine Dulac. FR, 1935, DCP (von 35mm), sw, 52 min. Französisch mit dt. UT
Arbeiter verlassen die Fabrik Harun Farocki.
DE, 1995, DCP, Farbe und sw, 36 min. Deutsch
Germaine Dulac gründete 1932 die Nachrichtengesellschaft France-               SONNTAG
Actualités-Gaumont, für die sie zahlreiche Reportagen, so über den             1.11. / 18.30
aufkommenden Faschismus, realisierte. Aufgrund ihrer Erfahrungen
bei der Agentur und ihrer Reflexion über Film als nationalistischen,            MONTAG
tendenziösen Berichterstatter und Geschichtsschreiber, kompri-                 16.11. / 21.00
mierte sie aus Wochenschaumaterial von den Anfängen des Films bis
ins Jahr 1935 ihren ersten Tonfilm Le cinéma au service de l’histoire.
Harun Farocki widmet sich in Arbeiter verlassen die Fabrik jenem Film
der Brüder Lumière, in welchem deren Arbeiter*innen durch das
Werkstor ihre Fabrik verlassen, und nachfolgenden Beispielen des-
selben Sujets. Schon damals handelte es sich nicht um eine Doku-
mentation der Ereignisse, sondern eine genau geplante Inszenie-
rung. (B.B.U.)

OKTOBER/NOVEMBER 2020 Recycled Cinema                                     18
Dead Men Don’t Wear Plaid
R: Carl Reiner B: Carl Reiner, George Gipe, Steve Martin K: Michael Chapman
S: Bud Molin M: Miklós Rózsa D: Steve Martin, Rachel Ward, Reni Santoni,
Carl Reiner E: Steve Martin. US, 1982, 35mm, sw, 88 min. Englisch ★
Steve Martin als Privatdetektiv, der den dubiosen Tod eines Wissen-                MONTAG
schaftlers (und Käse-Magnaten) untersucht und dabei einer unglaub-                 2.11. / 18.30
lichen Verschwörung auf die Spur kommt … eine Spur, die unzählige
Hollwood-Legenden von Humphrey Bogart bis Ingrid Bergman kreu-                     SAMSTAG
zen! Für diesen liebevollen Komödien-Tribut an den Film noir sichte-               14.11. / 21.00
ten Carl Reiner und Co-Autor George Gipe zahllose Filmklassiker, um
Szenen und Dialoge zu finden, mit denen ihr Star interagieren konnte.
Die solcherart mit Hollywood-Found-Footage und absurden Spitzen
(unvergesslich: der Einsatz der Reinemachefrau) angereicherte
Krimi-Handlung ist dabei nur Vorwand für komischen Einfallsreich-
tum, der sich gelegentlich zum puren Surrealismus steigert: »Here’s a
list of names. I found it in a bowl of soup. Don’t ask me to explain.«
Eine meisterhafte Verbindung von Entertainment und Experiment,
nebenbei ein technisches Virtuosenstück: Alte und neue Szenen sind
bis in die Ausleuchtung perfekt aufeinander abgestimmt. (C.H.)

OKTOBER/NOVEMBER 2020 Recycled Cinema                                         19
FILME VON BRUCE CONNER

Cosmic Ray US, 1961, 16mm, sw, 4 min
Report US, 1963–67, 16mm, sw, 13 min
America Is Waiting US, 1981, 16mm, sw, 4 min
Crossroads US, 1976, 35mm, sw, 36 min
Valse Triste US, 1977, 16mm, sw, 5 min
Take the 5:10 to Dreamland US, 1976, 16mm, Farbe, 5 min
Mongoloid US, 1978, 16mm, Farbe, 4 min (Abb. →)
A Movie US, 1957, 16mm, sw, 12 min
Bruce Conner war eine der Schlüsselfiguren der
US-Avantgarde im Allgemeinen und des Found-
Footage-Films im Besonderen. Mit seinem lapidar-
genial betitelten und bahnbrechenden Debüt
A Movie eröffnete er der Collage von unterschied-
lichem Filmmaterial neue Dimensionen und prägte
Generationen bis in die Musikvideo-Ära (zu der
Conner selbst etwa mit Mongoloid für Devo bei-
trug). Cosmic Ray treibt die Methode hochrasant auf
die Spitze, während Report (Kennedy-Attentat) und das (schreckens-) MONTAG
meditative Meisterwerk Crossroads (Atombombentest) andere 2.11. / 21.00
Aspekte seiner Kunst demonstrieren. (C.H.)

Velikiy put (Der große Weg)
Ein Film von Esfir Shub K: N. Sokolova. SU, 1927, 35mm, sw, 114 min (16 B/sek)
»Es ist unglaublich, auf wie viele unerwartete Lösungen man stößt,                   MITTWOCH
wenn man Filmmaterial in den Händen hält. Es ist wie mit Buch-                       4.11. / 18.30
staben: Sie werden an der Spitze des Stifts geboren«, beschrieb                      Am Klavier:
Esfir Shub einmal ihre Methode. Diese Found-Footage-Pionierin be-                     Elaine
                                                                                     Loebenstein
gann als Schnittmeisterin bei der staatlichen Firma Goskino und
beeinflusste Größen wie Eisenstein und Vertov maßgeblich. 1927 be-
gann sie, die rezente Geschichte des Landes in Kompilationsfilmen
aufzuarbeiten, wofür sie Wochenschaumaterial aus aller Welt zu-
sammentrug. Ihr Meisterwerk ist Velikiy put, eine Chronik der Jahre
1917 bis 1927, für die sie auch selber Material drehte, weil sie feststel-
len musste, dass die offizielle sowjetische Dokumentation der Ära so
sehr mit der Repräsentation beschäftigt war, »dass es fast keine
visuellen Aufzeichnungen darüber gab, wie wir das Land politsch und
wirtschaftlich verändert hatten.« (C.H.)

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SHRED, SCRATCH, SYNC

blowfeld Rainer Gamsjäger. AT, 2004, DCP, Farbe, 4 min
LOSSLESS #5 & #3 Rebecca Baron, Doug Goodwin. US, 2008, DCP, sw, 3 & 10 min
cityscapes Michaela Grill & Martin Siewert. AT, 2007, 35mm, sw, 16 min
Twelve Tales Told Johann Lurf. AT, 2014, DCP, Farbe, 4 min (Abb. ←)
Freude Thomas Draschan. AT, 2009, 35mm, Farbe und sw, 2 min
She Puppet Peggy Ahwesh. US, 2001, DCP, Farbe, 15 min
A Movie by Jen Proctor Jennifer Proctor, US, 2010–12, DCP, Farbe, 12 min
Technology Transformation: Wonder Woman
Dara Birnbaum. US, 1978–79, DCP, Farbe, 6 min
Kopierwerk Stefanie Weberhofer. AT, 2020, 35mm, Farbe und sw, 7 min
Die Kunst der Bearbeitung von Found Footage ist mit der Einführung MITTWOCH
der Digitaltechnologie und ihrer Werkzeuge für Bildmanipulation in 4.11. / 21.00
bis dahin unvorstellbaren Dimensionen explodiert. Dieses Programm
untersucht die Auswirkungen dieses neuen Vokabulars für Spezial-
effekte – ein unübersetzbares, visionäres Kauderwelsch: channel
combiner, curves, fill, exposure, linear wipe, noise, triton, set matte,
venetian blinds, limiter effect, minimax, fractal noise, digital glitch,
chromatic aberration, blur, de-noise, plane to sphere, motion blur,
bicubic sampling, fast box blur, invert, gaussian blur, 3D channel
extract, depth matte, ID matte, EXtractoR, IDentifier, bilateral blur,
reduce interlace flicker, compound blur, directional blur, smart blur,
remove color matting, broadcast colors, 4-color gradient, check-
board, eyedropper, paint bucket, matte choker, mocha shape, add
grain, threshold, block load, burn, burn, burn… (J.M.)

OKTOBER/NOVEMBER 2020 Recycled Cinema                                   21
LIGHT CONE
DIE UNSCHULD DES FRÜHEN

Gloria! Hollis Frampton. US, 1979, 16mm, Farbe, 10 min
Eureka Ernie Gehr. US, 1972, 16mm, sw, 30 min
KIPHO Julius Pinschewer, Guido Seeber. DE, 1925, 16mm, sw, 6 min
Mosaik Mécanique Norbert Pfaffenbichler. AT, 2008, 35mm, sw, 10 min (Abb. ↓)
Rhythm Len Lye. GB, 1957, 35mm, sw, 1 min
Den experimentellen Film verbindet eine Verwandtschaft mit dem DONNERSTAG
frühen Kino – dem »Kino der Attraktionen«, wie Tom Gunning es 5.11. / 18.30
nennt. Wegen seiner starken Wirkung und Expressivität greifen Film-
künstler*innen auf das frühe Kino zurück und bearbeiten es mit zeit-
genössischen Tricks: Um die Vergangenheit der Großmutter wieder
aufleben zu lassen (Frampton) oder die bewegte Ansicht einer Straße
im Detail beobachten zu können (Gehr), um die zeitliche Dimension
einer Slapstick-Komödie in eine räumliche zu bringen (Pfaffen-
bichler) oder mit den Fremdmaterialien ein Feuerwerk der Montage
zu entzünden (Pinschewer und Seeber, Lye). (B.B.U.)

OKTOBER/NOVEMBER 2020 Recycled Cinema                                     22
Imitations of Life
R, B: Mike Hoolboom S: Dennis Day, Robert Kennedy, Ross Turnbull,
Mark Karbusicky M: Earle Peach. CA, 2003, DCP, Farbe und sw, 71 min. Englisch ★
Schon am Anfang seines beeindruckenden Essayfilms prophezeit                       DONNERSTAG
Mike Hoolboom »in the future each moment will be photographed /                   5.11. / 21.00
doubled / our bodies will grow transparent …«. Während der (wie
immer bei Hoolboom) literarische Text ein Ende der unmittelbaren                  SONNTAG
Erfahrung herbeiruft, verführt die visuelle Ebene mit Filmzitaten aus             22.11. / 21.00
dem klassischen Hollywoodkino. In zehn Kapiteln geht Imitations
of Life der Frage nach, was die Bilderproduktion für uns bedeutet:
Beschneidet sie unsere Emotionen oder bereichert sie unsere Suche
nach Erkenntnis? Die Vielzahl der filmischen Quellen unterstreicht
die Ambivalenz des Themas. Analytische Intelligenz trifft auf pracht-
volle, magische bewegte Bilder. Als wollte er das wirkliche Leben
nicht draußen lassen, filmt Hoolboom über mehrere Jahre mit einer
Super-8-Kamera seinen Neffen Jack und reflektiert dessen und seine
eigene Kindheit – immer in Verbindung zu den vorhandenen Auf -
nahmen. (B.B.U.)

OKTOBER/NOVEMBER 2020 Recycled Cinema                                        23
Now, L.B.J.,
                                                                    Hasta la victoria
                                                                    siempre,
                                                                    79 primaveras
                                                                    (v.l.o. im Uhr-
                                                                    zeigersinn)

FILME VON SANTIAGO ÁLVAREZ

Now CU, 1965, 35mm, sw, 6 min
Hasta la victoria siempre CU, 1967, 35mm, sw, 19 min
L.B.J. CU, 1968, 35mm, Farbe und sw, 19 min
79 primaveras CU, 1969, 35mm, sw, 24 min
Vier Filme vom größten aller kubanischen Kinomeister. Zu Beginn FREITAG
Bilder vor allem von US-amerikanischen Polizeigewalttaten, dazu 6.11. / 18.30
Lena Hornes seinerzeit in den USA verbotenes »Hava Nagila«-Cover
»Now«. Ähnlich getrieben und mit ebenso mageren Mitteln realisiert,
ist die Kino-Parte für Che Guevara, Hasta la victoria siempre, in weni-
ger als 48 Stunden gestaltet für die offizielle Gedenkfeier. An ganz an-
dere Größen erinnert L.B.J.: Martin Luther King, Robert »Bobby«
sowie John F. Kennedy, die berühmtesten Attentatsopfer der US-60er.
L.B.J. steht auch für Lyndon B. Johnson, dessen Biografie in diesem
subversiv-satirischen Pop-up-Buch über die Macht und ihren Preis er-
zählt wird. 79 primaveras – ein Nekrolog auf Bác H`ô (H`ô Chí Minh) –
kennt in seiner genuin materialistischen Sinnlichkeit und Bildgewalt
wenig Vergleichbares im Kino. (O.M.)

OKTOBER/NOVEMBER 2020 Recycled Cinema                          24
Videogramme einer Revolution
Ein Film von Harun Farocki und Andrei Ujică S: Egon Bunne.
DE/RO, 1992, 16mm, Farbe, 107 min. Deutsch und Rumänisch mit dt. UT
Umsturz in Rumänien: 21. bis 25. Dezember 1989, von Nicolae                  FREITAG
Ceauşescus letzter öffentlicher Ansprache bis zur Übertragung seiner         6.11. / 21.00
Hinrichtung, geschildert durch Fremdmaterial. Offizielle Staats-TV-
Sendungen ebenso wie Szenen, die den »Anweisungen für unvorher-              MONTAG
gesehene Ereignisse« folgen. Letztere blieben freilich ungesendet –          16.11. / 18.30
the revolution will not be televised. Vor allem aber unzählige Amateur-
videos: Als das Regime fällt, »gehen die Kameras auf die Straße«, eine
wortwörtliche Mobilisierung des Blicks. Ein mitreißender Essay über
die Konstruktion von »Wirklichkeit« und Gegenwartsgeschichte in der
Mediengesellschaft: Der Kampf um den Staatssender wird logischer-
weise zum Schlüsselereignis; mit seiner Eroberung werden die alten
Machthaber endgültig gestürzt. Aber die Fernseh-Konventionen blei-
ben: television will not be revolutionized. (C.H.)

SUBVERSIVE RACHE

Schmeerguntz Gunvor Nelson, Dorothy Wiley. US, 1966, 16mm, sw, 15 min
Tribulation 99: Alien Anomalies Under America Craig Baldwin.
US, 1991, 16mm, Farbe und sw, 48 min
Bulletin Craig Baldwin. US, 2015, DCP, sw, 6 min
Gunvor Nelsons und Dorothy Wileys Schmeerguntz ist eine selbst               SONNTAG
heute noch drastisch wirkende Gegenüberstellung medial vermittelter          8.11. / 18.30
Bilder vom Frausein mit der Realität junger Mütter. Found-Footage-
Koryphäe Craig Baldwin attackiert ironisch die Lateinamerikapolitik          DONNERSTAG
der USA und meint auch die ideologischen Hintergründe und wirt-              26.11. / 21.00
schaftlichen Vorteile, die bis heute Beweggrund für kriegerische
Interventionen, Seilschaften oder Sanktionen sind. Tribulation 99 be-
nützt eine Vielzahl von Quellen: Dokumentationen, Wochenschauen,
Lehrfilme, Werbung, B-Pictures und Science-Fiction. Der Schnitt ist
rasend, die Erzählung atemlos und trashig, dennoch sind viele Fakten
eingestreut. Aliens bedrohen die Welt und werden wiederum durch
die US-Atomwaffentests bedroht. Sie versetzen die USA und ihre
fanatischen Patrioten in panische Angst vor dem Weltuntergang.
Auch vor dem Bild- und Soundgewitter Baldwins kann man sich nur
durch Lachen retten. (B.B.U.)

OKTOBER/NOVEMBER 2020 Recycled Cinema                                   25
»FEIND FOOTAGE«: BILDER ALS BEUTE

Germany Calling (The Lambeth Walk)
Charles Ridley. GB, 1941, 35mm, sw, 2 min
Herr Roosevelt plaudert Deutsche Wochenschau. DE, 1943, 35mm, sw, 13 min
Ein drittes Reich Alfred Kaiser. AT, 1975, 16mm, sw, 28 min
Your Job in Germany Frank Capra. US, 1945, 16mm, sw, 15 min
Porträt einer Bewährung Alexander Kluge. BRD, 1965, 35mm, sw, 13 min*
20/68 Schatzi Kurt Kren. AT, 1968, 16mm, sw, 2 min (Abb. ↓)
der graue star 2 – die wehrmacht maschek. AT, 2001, DCP, Farbe, 8 min
Bilder lassen sich umwenden, wechseln die Front, stellen ihre Her-          SONNTAG
kunft bloß. Found beziehungsweise Feind Footage im oder beim                8.11. / 21.00
Rückblick auf den Zweiten Weltkrieg: die Montage des Nazi-Goose-
                                                                            *Herzlichen
Step zum Swing-Zwang; rassistische Tiraden zum NS-Zerrbild von              Dank an Peter
Kapitalmacht und Kulturverfall in Amerika; Alfred Kaisers kontrapunk-       Hörmanseder,
tische Collage von NS-Propaganda; Deutschlandbilder als Panorama            der im Rahmen
                                                                            des Projekts
einer suspekten Nation von Frank Capra und Theodore Geisel (aka
                                                                            »Filmpaten-
Dr. Seuss); Alexander Kluges Genealogie regimeübergreifender auto-          schaft« den
ritärer Haltung in Uniform; das Auftauchen eines Nazi-Massaker-             Erwerb dieses
Bildes bei Kurt Kren; unbeirrt unschuldige Vernichtungskriegsnostal-        Films für die
                                                                            Sammlung des
gie über Flohmarkt-Super 8 zum Totlachen bei maschek. (D.R.)                Filmmuseums
                                                                            ermöglicht hat.

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GESCHICHTE ERINNERN

History and Memory Rea Tajiri. US, 1991, DCP, Farbe, 32 min
Tito-Material Elke Groen. AT, 1998, 16mm, Farbe, 5 min (Abb. ↓)
Lilli Marlen Peter Mihálik. ČSSR, 1970, 35mm, sw, 5 min*
Privát történelem (Private Geschichte)
Gábor Bódy. HU, 1978. 35mm, sw, 25 min. Ungarisch mit engl. UT ** ★
History and Memory schildert mit Fragmenten aus Hollywoodfilmen             MONTAG
und Wochenschauen wie die US-Regierung nach Pearl Harbor weit              9.11. / 18.30
über 100.000 japanischstämmige Amerikaner*innen in Internierungs-          *Courtesy of
lager steckte. Tito-Material analysiert zugleich die Vergänglichkeit       Slovak Film
                                                                           Archive
von Filmmaterial und des Tito-Personenkults. Lilli Marlen zeigt Viet-
                                                                           **Courtesy of
namkriegs-Bombenangriffe nicht als schockierende Anomalie, son-            National Film
dern als Markenzeichen der US-Außenpolitik. Privát történelem ist ein      Institute Hungary
originelles Experiment: Ein Sprachtherapeut rekonstruierte anhand          – Film Archive
der Lippenbewegungen, was in stummen Amateur-Aufnahmen aus
Ungarn im Zweiten Weltkrieg gesprochen wurde. Es offenbart sich
ein schrecklicher Kontrast zwischen fröhlichem Geplapper und Bil-
dern von marschierenden Juden auf dem Weg ins Ungewisse. (J.M.)

OKTOBER/NOVEMBER 2020 Recycled Cinema                                 27
30 JAHRE SIXPACKFILM Hidden Treasures and Leftovers

Farbversuchsprogramm
Stefanie Weberhofer. AT, 2020, 35mm (work in progress), Farbe und sw, 5 min
Sound Suppression Johann Lurf. AT, 2012, DCP, Farbe, 1 min
Comparing Local Spectres (Version Originale 1/2)
Constanze Ruhm, Emilien Awada. AT, 2015, DCP, sw, 18 min
dot dot dot Rainer Kohlberger. AT, 2017, DCP, Farbe und sw, 6 min
Besucher einer mir vertrauten Vergangenheit
Gabriel Tempea. AT, 2020, DCP, Farbe, 6 min
Ulyssesschnitzel Dieter Kovačič. AT, 2005, DCP, 6 min
Food Speculations Ralo Mayer. AT, 2019, DCP, Farbe, 25 min
I DEAL, YOU DEAL, WE ALL DEAL WITH THE nEU NEW DEAL. (Kurz)
Borjana Ventzislavova. AT, 2020, DCP, Farbe, 8 min (Abb. ←)
Hotel Room Movie Klub Zwei [Simone Bader, Jo Schmeiser].
AT, 1995, Video, sw, 25 min
edge of doom Michaela Grill. AT, 2020, DCP, sw, 3 min
Double Elvis Henry Hills. AT, 2020, DCP, sw, 2 min
Der Verein sixpackfilm wurde
1990 gegründet, um eine umfas-
sende Found-Footage-Filmschau
im Stadtkino zu veranstalten.
Nach deren großen Erfolg be-
gannen wir mit dem Aufbau
einer Vertriebsorganisation für
den österreichischen künstleri-
schen Film aller Stilrichtungen.
30 Jahre später ist sixpackfilm
ein international etablierter Welt-
vertrieb und Verleih, der jährlich rund 40 neue Filme an Festivals                 DONNERSTAG
weltweit vermittelt. Das Konzipieren von Veranstaltungen ist noch                  26.11. / 18.00
immer ein wichtiger Bestandteil unserer Öffentlichkeitsarbeit für                   • In Anwesen-
den innovativen Film. Anlässlich des Jubiläums haben wir die Film-                 heit der Filme-
                                                                                   macher*innen
künstler*innen von sixpackfilm aufgerufen, ihre Hidden Treasures
and Leftovers zu schicken, denn immer mehr Filmemacher*innen
entdecken seit den 1990er Jahren die Schönheit und Aussagekraft
fremder Bilder, die nicht nur Geschichte(n) transportieren, sondern
oft auch Geschichte sind. (B.B.U.)

OKTOBER/NOVEMBER 2020 Recycled Cinema                                         28
22. OKTOBER BIS 1. NOVEMBER 2020

Viennale im Filmmuseum
Während der Viennale im Filmmuseum gelten gesonderte Ticketregelungen
(siehe Seite 61).

Miss Marx
R: Susanna Nicchiarelli MIT: Romola Garai, Patrick Kennedy, Felicity Montagu.
IT/BE, 2020, 107 min. (Abb. ↓) Englisch mit dt. UT ★
DAVOR: Viennale-Trailer 2020: Ad una mela Alice Rohrwacher.
IT/AT, 2020, 2 min. OF
Was bedeutet das, seiner Zeit voraus zu sein? Eleanor Marx tritt nach                DONNERSTAG
dem Tod ihres Vaters Karl ein schweres Erbe an: Einerseits soll sie                  22.10. / 23.00
dessen Werk bewahren, andererseits hat sie eigene Ambitionen.                         • In Anwesen-
Nicchiarelli zeigt in ihrem Biopic eine Frau, die den Widersprüchen                  heit von Susanna
                                                                                     Nicchiarelli
ihrer Epoche lange standhält, und dann doch daran zerbricht. Mit                     und Alessio
scharfem Blick geißelt Eleanor die systemische Benachteiligung der                   Lazzareschi
Frauen, aber keine noch so klare theoretische Einsicht bewahrt sie vor               (Produzent)
dem Scheitern im Privatleben. Führt eine Linie von Eleanor zu den
Punk-Rebellinnen? Eine Frage, die der Score von Miss Marx sugge-
riert, und ein kleiner, aus der Zeit fallender Tanzauftritt gen Ende.
(B.S.)

OKTOBER/NOVEMBER 2020 Viennale im Filmmuseum                                    29
KURZFILMPROGRAMM 1: SOMEWHERE IN THIS WORLD
                                                                                 FREITAG
Oceano mare Antoinette Zwirchmayr. AT/IT, 2020, 6 min. Stumm                     23.10. / 16.00
Sacrificio per la sirena Friedl vom Gröller.                                      • In Anwesen-
AT/IT , 2020, 4 min. Stumm                                                       heit von
Figure Minus Fact Mary Helena Clark. US, 2020, 13 min. OF                        Antoinette
                                                                                 Zwirchmayr und
Clebs Halima Ouardiri. CA/MA, 2019, 18 min. Arabisch mit engl. UT                Friedl vom
Look Then Below Ben Rivers. GB, 2020, 22 min. OF                                 Gröller
Einen ausführlichen Hinweis zu diesem Programm finden Sie in den
Viennale-Publikationen und auf www.viennale.at

Her Name Was Europa
R: Anja Dornieden, Juan David González Monroy. DE, 2020, 76 min. OmeU ★
Der Stier, der seinerzeit Europa entführte, war vermutlich ein Auer-             FREITAG
ochse. Es gibt Bemühungen, diese seit 1627 ausgestorbene, wilde                  23.10. / 21.00
Urform des Hausrindes – man(n) stellt sie sich gern mit mächtigem                 • In Anwesen-
Gehörn vor – durch Rückzüchtung wiederzuerwecken. Bemühungen,                    heit von Anja
                                                                                 Dornieden und
die in diesem klugen, schwarzweißen Essayfilm nicht ohne Ironie                   Juan David
dem zunächst erstaunten, sodann erhellten Publikum dargelegt wer-                González Monroy
den. Wenn nicht gerade der Blick (ab)schweift, beispielsweise auf
Styropor-Tiere, die in Indoor-Resorts für tropisches Flair sorgen. Da-
zwischen geschoben die mehr oder weniger ingrimmigen Charakter-
gesichter einzelner Vertreter vom Aussterben bedrohter Tierarten,
die zu fragen scheinen: Geht’s noch?! (A.S.)

Rani radovi (Early Works)
R: Želimir Žilnik MIT: Milja Vujanović, Bogdan Tirnanić, Čedomir Radović.
YU, 1969, 87 min. OmeU ★
Unter den Filmen, die nach dem Mai 1968 das Scheitern der Neuen SAMSTAG
Linken resümierten, ist Rani radovi einer der irrwitzigsten und zu- 24.10. / 13.30
gleich bittersten. Die hysterische Energie, mit der in dieser Allegorie
rund um die Studentin »Jugoslava« (Milja Vujanović) ein Quartett
Infernal die Peripherie zum Sturm aufs Zentrum mobilisieren möchte,
verpufft wie die Explosionen ihrer Molotov-Cocktails. Das Kollektiv
liefert sich selbst Omnipotenz-Fantasien und ottomühlartigen
Orgien aus, experimentiert mit freier Liebe, freiem Scheißen und
freier Marx-Lektüre. Aber die bäuerliche Klasse sieht ratlos zu, und als
sie doch agiert, trifft die Gewalt nur die Revolutionäre selbst. (R.W.)

OKTOBER/NOVEMBER 2020 Viennale im Filmmuseum                                30
Oceano mare (2020, Antoinette Zwirchmayr), Pirmais tilts (2020, Laila Pakalniņa)

KURZFILMPROGRAMM 2: THE FUTURE WILL TELL
                                                                                        SAMSTAG
Leonardo Friedl vom Gröller. AT/IT, 2020, 3 min. Stumm                                  24.10. / 16.00
Pirmais tilts Laila Pakalniņa. LV, 2020, 12 min. Englische ZT                            • In Anwesen-
Omelia contadina J.R., Alice Rohrwacher. IT/FR, 2020, 9 min. OmeU                       heit von Friedl
L’Avenir le dira Pierre Creton. FR, 2020, 26 min. Kein Dialog                           vom Gröller und
                                                                                        Michael Heindl
Mikrokazeta – najmanja kazeta koju sam ikad vidio
Igor Bezinović, Ivana Pipal. HR/RS, 2020, 19 min. OmeU
Spring Will Not Be Televised Michael Heindl. AT, 2020, 7 min. Kein Dialog
Einen ausführlichen Hinweis zu diesem Programm finden Sie in den
Viennale-Publikationen und auf www.viennale.at

The Lobby
R: Heinz Emigholz MIT: John Erdman. AR/DE, 2020, 76 min. Englisch ★
Als im Abspann apostrophierter »Old White Male« sitzt Emigholz’                         SAMSTAG
Lieblingsdarsteller, der Performancekünstler John Erdman, in ver-                       24.10. / 18.30
schiedenen holzgetäfelten und marmornen Lobbys in Buenos Aires                           • In Anwesen-
und hält einen sarkastischen und angriffslustigen Monolog: über den                     heit von Heinz
                                                                                        Emigholz
Tod, das Kino, Sex, Krieg, Religion, das Universum und andere The-
men, die der Regisseur zuvor schon in Streetscapes [Dialogue] und
Die letzte Stadt ansatzweise erkundete. Die filmischen Mittel entspre-
chen dabei den aus Emigholz‘ Architektur-Essays vertrauten: schnelle
Folgen starrer, oftmals leicht verkanteter Einstellungen, die sich der
Hauptfigur und den Räumen annähern. (L.P.)

OKTOBER/NOVEMBER 2020 Viennale im Filmmuseum                                       31
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