Ausgabe I November 2016 - Magazin Architekturnovember Bund Deutscher Architekten Baden-Württemberg
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Magazin Architekturnovember Bund Deutscher Architekten Baden-Württemberg Ausgabe I November 2016 1 Stuttgart
02 Ausgabe I 09. November – 02. Dezember 2016 Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
03 Ausgabe I 09. November – 02. Dezember 2016 Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
Wozu gute Architektur Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg Start in den AN: von Dietrich Heißenbüttel → S. 06 Kazuyo Sejima Überfüllter Tiefenhörsaal Piero Bruno von Dietrich Heißenbüttel → S. 12 Gebaute Gedanken von Dietrich Heißenbüttel → S. 15 Farshid Moussavi Was ist die Funktion von Stil? Farshid Moussavi von Dietrich Heißenbüttel → S. 18 Stilfragen von Dietrich Heißenbüttel → S. 20 Alexandre Theriot The only revolutionary programme … Uwe Schröder von Dietrich Heißenbüttel → S. 23 Ins Verhältnis setzen von Dietrich Heißenbüttel → S. 27 John Cranko Schule Ein genialer Entwurf Snøhetta von Dietrich Heißenbüttel → S. 29 … und das Gespür für Schnee von Dietrich Heißenbüttel → S. 31 Architektur auf neuen Wegen Die Problematik von Dietrich Heißenbüttel → S. 01 der Wohnhochhäuser von Dietrich Heißenbüttel → S. 35 Was machen junge Architekten anders? Rozana Montiel von Dietrich Heißenbüttel 09. November – 02. Dezember 2016 → S. 38 Alltagsorte in der Megacity von Dietrich Heißenbüttel → S. 42 GMP-Architeken Wir sind keine bildenden Künstler Sara Klomps von Dietrich Heißenbüttel → S. 43 Gänge Vorstellungen sprengen von Dietrich Heißenbüttel → S. 44 Alexander Schwarz Von der Schönheit und der Nützlichkeit Von nun an von Dietrich Heißenbüttel 04 Ausgabe I → S. 45 immer im November von Dietrich Heißenbüttel → S. 48
05 Ausgabe I 09. November – 02. Dezember 2016 Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
Wozu gute Architektur? Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg Start in den Architekturnovember Mit der Eröffnung des Architekturnovembers gelang dem BDA Baden-Württemberg ein Coup. Sie fand statt direkt hinter der Stuttgarter Stiftskirche, im Erweiterungsbau der Commerzbank am Stiftsfruchtkasten, den die Schweizer Hess Investment Group erst vor kurzem erworben hat: ein „guter Investor“, wie BDA - Landesvorstand Alexander Vohl betonte. 1970 bis 1972 vom Büro Kammerer und Belz erbaut, stand der Bau seit dem Verkauf an die Baden-Württemberg Stiftung vor drei Jahren leer, bis auf temporäre Nutzungen unter anderem für eine Ausstellung des Architektur-Netzwerks Stadtlücken. Von einer „quälenden Diskussion um den Abriss“ sprach Vohl, mit dem Stichwort Mannheim auf Frei Ottos Multihalle anspie- Gute Architektur gehört lend und natürlich auch auf das Büro Kammerer und Belz, zur Baukultur, sie regt an, dessen wenige Jahre später entstandene EnBW -Verwaltung regt auf und bewegt. an der Kriegsbergstraße akut bedroht ist. Für die Commerz- bank-Erweiterung erhielt das Büro 1972 den Hugo-Häring- Preis des BDA -Landesverbands und danach auch noch den Deutschen Architekturpreis. Hess Investment möchte den Bau 2017 in Abstimmung mit den Denkmalbehörden sanieren. Ein Glücksfall für Stuttgart: Es ist keinesfalls selbstverständ- lich, dass gute Architektur dieser Zeit gepflegt und erhalten wird. Wie die EnBW-Zentrale zeigt. Aber wozu brauchen wir gute Architektur? Das wollte der BDA von AN:FANG | Ehemalige Commerzbank | 07. November 2016 ausgesuchten Gästen der Auftaktveranstaltung wissen, ange- fangen mit dem Stuttgarter Baubürgermeister Peter Pätzold. Architektur ist ein Kulturgut, meinte der: „Gute Architektur gehört zur Baukultur, sie regt an, regt auf und bewegt.“ Aber wie kommt man zu guter Architektur, fragte er weiter und gab selbst mehrere Antworten: dadurch dass man mit Investoren darüber spricht; im Fall der Stadt Stuttgart häufig durch Wettbewerbe; und seit neuestem auch durch einen Gestaltungsbeirat. „Gute Architektur macht einfach Freude“, so Pätzold, sie beschere „ein schönes Umfeld, ein schönes Leben, eine schöne Welt.“ Ganz so leicht fiel Alexander Schwarz, Partner im Büro von Gute Architektur macht David Chipperfield, die Antwort nicht. Er hinterfragte zunächst einfach Freude, ein schönes die Frage: „Wozu“ frage nach dem Zweck – „dem trivialen Umfeld, ein schönes Leben, Zweck“, wie Schwarz, Friedrich Schinkel zitierend hinzufügte. eine schöne Welt. Es fehle dabei: die Freiheit, das Historische und das Poetische. Er wollte eher nach dem Warum fragen und verglich gute Archi- 06 Stuttgart tektur mit gutem Essen. Gute Architektur zu beurteilen sei nicht ganz einfach. Es handle sich nicht um eine Höchstleis- tung, sondern setze Bildung voraus. Leider hat Schwarz den
Verdacht, dass es damit nicht immer weit her ist. Er möchte Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg daher den Bildungshorizont der Architekten erweitern. Denn: „Architektur ist immer der Spiegel der Gesellschaft, in der man lebt.“ „Grüezi mitanand“, salutierte Klaus Morlock, eigentlich „seit 13 Jahren ausgewanderter Exilschwabe“, für den Schweizer Investor die Anwesenden. „Wir schauen uns erstmal an, was uns da auf den Tisch flattert“, beschrieb er das Vorgehen der Hess Gruppe: ein ursprünglich im Textilbereich tätiges Familienunternehmen aus Amriswil, das sich seit 1990 mit Gewerbeimmobilien beschäftigt. Morlock sortiert zuerst aus, was ihm nicht gefällt, denn das könne er nicht vertreten. Das Stuttgarter Einkaufszentrum Gerber nannte er „eine Katastrophe“, zur Commerzbank meinte er: „Dieses Gebäude ist etwas Besonderes.“ Der Bau von Kammerer und Belz sei „auch 40 Jahre später ein tolles Gebäude, das reizt mich einfach.“ Es sei auch wichtig, dass ein Gebäude funktioniert. Die Zusammenarbeit mit Architekten bringe „angenehme kreative Prozesse.“ Abschließend bezogen Hanna Noller und Sebastian Klawitter Architektur ist die Stellung, die Begründer des Netzwerks Stadtlücken. In ihrer ästhetische Auseinander- Masterarbeit an der Stuttgarter Akademie der bildenden Künste setzung des Menschen haben sie Lücken im Gesamtbild der Stadt Stuttgart ausfin� mit dem gebauten Raum -dig gemacht: nicht nur Baulücken, sondern auch Zeitlücken, soziale Lücken, rechtliche Lücken und Wissenslücken. Über einen Blog und eine Facebook-Seite wollen sie zur Vernetzung AN:FANG | Ehemalige Commerzbank | 07. November 2016 bestehender Initiativen beitragen. Wie das die jüngere Generation so macht, haben sie erstmal ge googelt: „Architektur ist die ästhetische Auseinandersetzung des Menschen mit dem gebauten Raum“, fanden sie heraus und fügten hinzu: „Wir freuen uns nun sehr, dass sich der Bund Deutscher Archi- tekten dieser Aufgabe in Form des Architekturnovembers annimmt.“ Nur: „Wir wundern uns, wie es sein kann, dass eine Stadt, die schon über viele Jahrzehnte für ihre Architekturexpertise bekannt ist, ihre Baukultur nicht mehr richtig wiederfindet.“ Zwischen Theorie und Praxis klafft eine Lücke: „Nur wenn wir mit unseren eigenen Händen Materialien erfassen, Stadt/Orte mit unserem eigenen Körper be- gehen und wahrnehmen, sind wir in der Lage angemessen über Architektur und Stadt zu sprechen.“ Und: „Um Baukultur zu schaffen muss Architektur, also die Auseinandersetzung mit dem gebauten Raum, gesamtgesellschaftlich relevant werden, sie muss in das Be- wusstsein aller gerückt werden!“ 07 Stuttgart Wir brauchen Dies hatte auch Alexander Vohl einleitend hervorgehoben: Öffentlichkeit „Wir brauchen Öffentlichkeit“, meinte er. Frankreich habe seine Fête des lumières, seine Fête de la musique, Stuttgart
sein Trickfilmfestival. Damit es künftig auch ein Podium der Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg Auseinandersetzung mit Architektur gibt, ruft der BDA -Landes- verband nun den Architekturnovember ins Leben. Die Veran- staltungen – Vorträge, Ausstellungen, Diskussionen, Führung- en – finden überall in Baden-Württemberg statt: nicht nur in Stuttgart, sondern auch in Waldshut, Freiburg, Schwäbisch Hall oder Heidelberg. In Tübingen standen in diesem Jahr zwei Architektinnen auf dem Programm: Pavitra Sriprakash aus Indien und Rozana Montiel aus Mexiko. In der November Reihe der Uni Stuttgart ebenfalls zwei Frauen, Kazuyo Sejima vom Büro Sanaa, die in London tätige Farshid Moussavi sowie Luigi Snozzi und Alexandre Thériot. Die beiden anderen Stuttgarter Hochschulen, die Architekten ausbilden, sind ebenfalls vertreten: Der Jour fixe der Kunstakademie fragte Uwe Schröder und Thomas Burlon vom Büro Brandlhuber+ nach der Dauer in der Architektur. In der Punkt 7 Reihe der Hoch- schule für Technik war der dänische Architekt Torben Østergaard zu Gast. Stefan Burger führte über die Baustelle der John Cranko Schule und Thomas Schmidt vom Büro Staab Architekten durch das Innenministerium und durch den Landtag. Die Ausstellung „Local Heroes“ der Architekturgalerie am Weißenhof suchte nach Bauwerken und Architekten, die das Bild der Stadt Stuttgart geprägt haben. Und natürlich betei- ligte sich auch der BDA -Landesverband selbst mit einer Diskussion im Wechselraum zum Thema Hochhaus und einer AN:FANG | Ehemalige Commerzbank | 07. November 2016 Ausstellung am selben Ort mit 16 jungen Büros aus dem ganzen Land, von denen vier auch zu einer abschließenden Diskussionsrunde eingeladen waren. Die berufliche Situation stellt sich heute gänzlich anders dar als zu früheren Zeiten. Welche Voraussetzungen Architekten mitbringen müssen, aber auch welche Chancen sich daraus ergeben, wollte der BDA von drei ausgewählten Architekten und einer Architektin wissen. Bericht von Dietrich Heißenbüttel 08 Stuttgart
09 Stuttgart AN:FANG | Ehemalige Commerzbank | 07. November 2016 Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg farbig Kleidungsfarbe an der Eröffnung: schwarz
10 Stuttgart AN:FANG | Ehemalige Commerzbank | 07. November 2016 Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg Mindestanzahl an Besuchern pro Veranstaltung:
11 Stuttgart AN:FANG | Ehemalige Commerzbank | 07. November 2016 Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg Die Besucher waren unterschiedlich interessiert:
Kazuyo Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg Sejima Bericht von Franziska Bettac Überfüllter Tiefenhörsaal Zum Auftakt der diesjährigen Novemberreihe in Stuttgart zog die Mitbegründerin von SANAA , Kazuyo Sejima, die Zuhörer in Scharen an. 1995 von Kazuyo Sejima und Ryūe Nishizawa gegründet, steht SANAA für geradlinige und Leichtigkeit November Reihe | Universität Stuttgart | 09. November 2016 ausstrahlende Architektur, die inzwischen in aller Welt vertre- ten ist. In dem komplett überfüllten Tiefenhörsaal sparte Professor Cheret mit einleitenden Worten und überlies der Pritzker Preisträgerin alsbald die Bühne. Eben erst aus Tokio angereist stellte Kazuyo Sejima den an- wesenden Studenten und Architekten drei ausgewählte Projekte vor, anhand derer Sie ihre Philosophie des Bauens und architektonische Herangehensweise anschaulich erläu- terte: Das Rolex Learning Center der École Polytechnique Fédérale im schweizerischen Lausanne, die Inujima Art House Projects in Japan sowie die Anlage von Grace Farms im US-amerikanischen Connecticut. Als beispielhafte Aus- züge aus dem Schaffen von SANAA beleuchten die Bau- ten nicht nur ihre Architekturauffassung und Arbeitsweise sondern zeigen eine stetige Weiterentwicklung ihrer Prämissen. Dazu sagte Kazuyo Sejima, dass es anfangs 12 Stuttgart ihr Ziel war die Bauten in die Landschaft zu integrieren. Nun ginge es ihr vielmehr darum diese zum Bestandteil der Umgebung werden zu lassen.
Rolex Learning Center, 2014 Grace Farms, 2015 Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg Um die allgemeine Ideenfindung und den Weg Die gleichnamige Stiftung beauftragte SANAA zum erfolgreichen Wettbewerbsbeitrag näher mit dem Bau eines Mehrzweckgebäudes auf zu bringen nahm Kazuyo Sejima die Anwesenden einem ehemaligen Trainingsgelände für Pferde mit auf eine Reise von der ersten Idee zum im ländlichen Connecticut. Auf dem weitläufigen fertigen Campus. Anhand unzähligen, analogen Gelände sollte ein Ort für soziale und kulturelle sowie virtuellen Studien gab Sie Einblick in den Angebote geschaffen werden. Anhand von arbeits- und materialintensiven Entwurfsprozess. Studien und Anekdoten beschrieb Kazuyo Sejima In Bild und Wort schilderte die Architektin ihr Ziel, ihr Bestreben dem anspruchsvollen Raumpro- das geforderte Raumprogramm aus Lehr- und gramm sowie der Prämisse, ihre Architektur als Aufenthaltsräumen möglichst wenig invasiv Bestandteil der Umgebung zu entwickeln. Der auf dem Grundstück zu etablieren und natürliche finale Entwurf – über das Gelände verteilte wie auch bauliche Bezüge aus der Umgebung Pavillons, die von einer mäandernden Dachkons- aufzunehmen. Um dieses Konzept mit dem truktion zusammengefasst werden – nimmt die gewünschten Raumprogramm in Einklang zu vorgefundene Topographie auf und fügt sich in bringen entstanden unzählige Formstudien. Die die umgebende Fluss- und Seenlandschaft ein. Begebenheit – dass die Architekten anfangs Bildreich schildert die Architektin hier das versuchten den Anforderungen aus Konzept und aufwändige Vorhaben die Gebäude zum Teil der konstruktiven Notwendigkeiten mit Hilfe eines Landschaft werden zu lassen: Mit dem Entwurfs- Computerprogramms gerecht zu werden, um modell im Gepäck und der Markierung der dann festzustellen dass die eigene Auffassung tatsächlichen Grundrissflächen auf dem Grund- mit der des Computers nicht vereinbar sei – stück überprüften die Architekten ihr Konzept vor sorgte bei vielen Anwesenden für erheiterte Ort und legten die endgültigen Positionen fest. Zustimmung. Mit Bildern und kleinen Anekdoten aus der Bauphase sowie dem finalen Bauwerk Fazit rundete die Japanerin den umfassenden Die im Tiefenhörsaal Anwesenden feierten Eindruck des Projektes ab. Kazuyo Sejima, die 2013 die Ehrendoktorwürde der Universität Stuttgart verliehen bekam, für Inujima Art House Projects, 2010 ihren eindrucksvollen und unterhaltsamen Aufgrund der massiven Abwanderung der Be- Vortrag mit lautem, langanhaltendem Applaus. völkerung infolge der aufgegebenen Kupfermine Im Anschluss strömten zahlreiche Zuschauer war das Bild der Insel Inujima im Seto Binnen- auf die Bühne um ein Wort mit der Pritzkerpreis- meer 2010 bestimmt von verlassenen Wohn- trägerin zu wechseln sowie ihrer Begeisterung stätten. Wie schon zuvor auf der nahegelegen Ausdruck zu verleihen und mancher sogar um Insel Naoshima sollte das Potenzial des Leer- ein Autogramm zu bekommen. standes und die eindrucksvolle Landschaft genutzt werden um einen besonderen Ort für November Reihe | Universität Stuttgart | 09. November 2016 Kunst und Kultur zu etablieren. Anfangs nur mit dem Entwurf und Bau weniger Galerien in einem Dorf betraut, überzeugten SANAA mit ihren zurückhaltenden, die gewachsene Umgebung und Natur einbeziehenden Ideen. In einer zweiten Phase wurden weitere Grundstücke und verlassene Häuser für das Vorhaben zur Verfü- gung gestellt, das sich nun auch auf ein weiteres Dorf und die Umgebung ausweitete. Anhand der unterschiedlichen Galerien – teils Häuser, teils skulpturale Ausstellungsobjekte unter freiem Himmel – beschrieb Kazuyo Sejima ihr Ziel, mit einer Kombination aus vorhandenen baulichen Strukturen sowie neuen Materialien Räume und Orte zu schaffen, die nicht nur das Rezipieren von Kunst ermöglichen, sondern die Umgebung Teil der Inszenierung werden lassen. Mit dem Erfolg des Projekts weiteten die Architekten ihr Engagement auf der Insel aus und konzipierten unkonventionelle Übernachtungsangebote und ergänzende Räume für die zahlreichen Besucher. Im Rahmen von studentischen Workshops vor Ort entstanden zusätzlichen Angebote, die das Bild des Biotops aus Kunst, Natur und gebauter 13 Stuttgart Tradition vervollständigen.
14 Stuttgart November Reihe | Universität Stuttgart | 09. November 2016 Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
Piero Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg Bericht von Franziska Bettac Bruno Gebaute Gedanken Nach dem gelungenen Auftakt der Stuttgarter November Reihe mit Kazuyo Sejima sprach am zweiten Termin Piero Bruno von Bruno Fioretti Marquez Architekten mit Stanorten in Berlin und Lugano. Als würdiger Ersatz für den erkrank ten Luigi Snozzi eingesprungen, bot er dem gebannten Publikum einen sowohl unterhaltsamen als auch informa- November Reihe | Universität Stuttgart | 16. November 2016 tionsgeladenen Vortrag. Durch den intellektuellen Ansatz und den daraus resul tierenden, außergewöhnlichen Bauten hebt sich das Büro Bruno Fioretti Marquez deutlich von der Masse des zeit genössischen Architekturgeschehens ab. Insbesondere zwei der von Piero Bruno an diesem Abend vorgestellten Projekte – das Stellwerk für den Gotthardttunnel in Pollegio und die Meisterhäuser in Dessau – machten das Büro bekannt und haben einen fast schon ikonographischen Charakter. In ihrer Funktion als Professoren an den Uni- versitäten Berlin, München und Weimar geben die Gründer zudem ihren theoretischen Ansatz und ihre bemerkens- werte Haltung zur Architektur an ihre Studenten weiter. Mit einem Zitat Goethes – „Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigste identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird.“ – läutete Piero Bruno seinen 15 Stuttgart Vortrag ein. Dieses verdeutlicht klar, dass das prozesshafte Moment der Architektur - das Architektur wächst – für ihn von größter Bedeutung ist.
Architektur des Spiels Architektur der Unschärfe Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg Als Auftakt stellte Piero Bruno den 2014 fertig „So eine einmalige Gelegenheit bekommt man gestellten Kindergarten im Luganer Stadtteil vermutlich nur einmal im Leben“ – so begann Casserate vor, der auf dem Grundstück einer Piero Bruno die Vorstellung seines letzten bereits bestehenden Schule entstand. Das Projektes an diesem Abends. Der Neubau von Quartier ist von heterogener Nachkriegsbebau Teilen des Meisterhaus-Ensembles in Dessau ung geprägt. Mit dem Ziel die Umgebung neu stellte die Architekten vor die mehr als schwie- zu ordnen und dem unspezifischen Straßenraum rige Frage wie ein Wiederaufbau der im Krieg ein neues Gesicht zu verleihen traten die Archi- zerstörten Teilbereiche — dem Gropius Haus tekten zum Wettbewerb an. Neben dem Bau für und dem Haus Moholy Nagy – gestaltet werden den fünfzügigen Kindergarten sollten ein über- könnte. Den Architekten erschien eine imitie- dachter Pausenhof sowie Freiflächen entstehen. rende Rekonstruktion nicht als die richtige Entscheidend für die Planung war sowohl die Antwort auf die ereignisreiche Geschichte. Ihre Frage wie Architektur für Kinder aussehen kann Haltung keine Imitation zu schaffen, sondern als auch das komplexe Raumprogramm. Anhand eine Reparatur des Vorhanden, bei der die von Bestandsbildern, Zeichnungen und Model� Versatzstücke zwar vervollständigt aber das -len erläuterte Piero Bruno den Anwesenden den Hinzugefügte ablesbar bleibt - illustrierte er Entstehungsprozess. Ausgehend von der Prä anhand von restaurierten Artefakten, wie einer misse, dass Kinder durch das Spiel lernen ent- antiken Vase und einem vom Feuer zerstörtem wickelten die Architekten ein gestalterisches Gemälde. Die absichtlich unscharfen Bilder des sowie strukturelles Entwurfsprinzip: Auf einer Fotographen und Architekten Hiroshi Sugimoto schachbrettartigen Einteilung des Bauplatzes von Ikonen der Moderne inspirierten Bruno platzierten die Architekten die Gebäude und Fioretti Marquez schließlich zu einer „Architektur Freiflächen als variierende Bausteine: Aus 56 der Unschärfe“. Anhand von diversen Studien polygonalen Modulen entwickelten die Archi- erforschten die Architekten was nötig ist um die tekten eine spannende Raumfolge die immer verlorenen Häuser wieder sichtbar zu machen, wieder neue Raumsituationen und Blickbezüge ohne jedoch die Originale zu imitieren. Einzig bietet. Durch das freie System hatten die Archi- auf das Volumen und die Öffnungen der ursprüng- tekten zudem die Möglichkeit auf die unter- lichen Häuser reduziert und durchweg monolit- schiedlichen Anforderungen einzugehen, denn hisch konstruiert, vermitteln die entstanden Neu- während der überdachte Pausenhof als ein bauten die Essenz der Architektur von Gropius. monolithischer, rechtwinkliger Betonbau konzi- Von der ersten Recherche bis zur Fertigstellung piert ist, prägt die einzelnen Bereiche der Kinder- erläutert Piero Bruno den Anwesenden die pro- gartengruppen eine lebendige, lockere Geometrie. zesshafte Entstehung der wegweisenden Bauten sowie die Haltung in einzelnen Fragen. Beispiels- Monolith in den Bergen weise entschlossen sich die Architekten dazu Im Zuge des Wettbewerbs für eines der beiden Stützen, die Gropius zu verbergen suchte, die November Reihe | Universität Stuttgart | 16. November 2016 Stellwerke im Gotthardtunnel im Jahr 2006 ent- aus konstruktiven Gründen damals jedoch wickelten die Architekten einen eindrucksvollen unerlässlich waren - beim Neubau entfallen zu Monolithen vor imposanter Gebirgskulisse. Der lassen. In der Hoffnung, „dass Gropius nun ungewöhnliche, skulpturale Baukörper akzentu- glücklich sei“, wie der Architekt mit einem Augen- iert das artifizielle Moment des Tals und bildet zwinkern anmerkte. Mit einem passenden Bild ein Pendant zu den seitlich hoch aufragenden der zum Ensemble in Dessau gehörenden Trink- Bergrücken. Obwohl die Nutzung eigentlich halle – Corbusiers Beitrag zu den Meisterhäu- einen horizontalen Bau vorgab entschieden sich sern – verabschiedete sich Piero Bruno unter die Architekten für die vertikale Ausrichtung, um begeistertem Applaus von den Stuttgarter eine signalhafte Wirkung zu erzeugen. Während Zuhörern. die sekundären Räume in einem Turm angeord- net sind, bildeten die Architekten das eigentliche Kontrollzentrum oberhalb des Turmes als raum- greifende Kanzel aus. Neben den funktionalen Anforderungen konzipierten die Architekten auch Mehrwerte im Inneren - wie zum Beispiel riesige Öffnungen mit Blick auf die Berge. Piero Bruno gewährt auch einen erfrischend ehrlichen Einblick in das fertige Gebäude, das schlussendlich teils mehr von der Umsetzung der Arbeitsstättenricht- linie geprägt ist, als vom gestalterischen Ansatz. Abschließend nimmt er das Publikum mit auf einen fotographischen Spaziergang um das Stellwerk, der den ungewöhnlichen Baukörper im Tiefen- 16 Stuttgart hörsaal lebendig werden lässt.
17 Stuttgart November Reihe | Universität Stuttgart | 16. November 2016 Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
Farshid Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg Bericht von Franziska Bettac Moussavi I Was ist die Funktion von Stil? Farshid Moussavi, die dritte Referentin der Stuttgarter November Reihe, lehrt an so renommierten Hochschulen wie der Architectural Association (AA) in London oder an der Harvard Graduate School of Design in Cambridge MA. Sie ist Architekturtheoretikerin und hat soeben ihr drittes Buch veröffentlicht. Das ist bemerkenswert für eine Architektin, die auch in der Praxis Maßstäbe setzt und aktuell ihr zweites erfolgreiches Büro, Farshid Moussavi Architects leitet. Bekannt wurde sie mit ihrem 1993 gegründeten Büro Foreign Office Archi- tects – FOA, insbesondere mit dem 2002 fertig gestellte November Reihe | Universität Stuttgart | 23. November 2016 Fährterminal von Yokohama. Das ungewöhnliche Holz- deck des Infrastrukturprojekts begeisterte die Fachwelt und ist auch heute noch eine Referenz, die die Architektin in ihrem Vortrag an der Uni Stuttgart gerne erwähnt. Doch zunächst gibt sie einen Einblick in ihr neues Buch „The Funktion of Style“. Sie beschreibt, wie die Frage nach dem Stil in einer zeitgenössischen Architekturdebatte verloren ging, weil er scheinbar nur formale Ziele bediene. Eine sich ständig verändernde Welt – als Beispiel erwähnt die in London arbeitende Moussavi den „Brexit“, der schlagartig dazu führt, das Projekte überdacht, bestimmte Produkte nicht mehr zugänglich sind oder die internationale Zusam- menarbeit erschwert wird – verlange danach, dass Konzepte und Methoden der architektonischen Praxis ebenso ständig hinterfragt, neu definiert und angepasst werden müssen. Moussavi wirbt dafür, auch den Begriff des Stils neu zu defi- 18 Stuttgart nieren – sie vermutet in ihm eine Hilfestellung zeitgenössi- schen Bauens und Entwerfens.
Was ist die Funktion von Stil? Museum für zeitgenössische Kunst in Cleveland Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg In Zeiten von Open Source und Internationalisie- In Cleveland entwarf das Büro ein Ausstellungs- rung kann Stil nicht mehr ein Ausdruck von haus für zeitgenössische Kunst, das MOCA . Autorenschaft oder Nationalstaat sein. Selbst Der Wunsch nach Nutzungsflexibilität war hier die Benennung eines Stils nach Entstehungszeit der Ausgangspunkt des Arbeit von FMA . Auf der und Epoche hält Moussavi für überkommen. Grundfläche eines Hexagons erhebt sich ein Stattdessen proklamiert sie die Rückbesinnung kristallartiger Baukörper, der durch seinen Grund- auf das architektonische Grundelement und riss mit mehreren Eingängen verschiedene unterstreicht die mikropolitische Entscheidung Szenarien ermöglicht. Die Räume sind multifunk- des Architekten, die er mit jeder Anordnung tional. Sie können zusammengeschaltet oder dieser Grundelemente vornimmt. Effekte und getrennt vermietet werden, wenige Handgriffe Auswirkungen architektonischer Entscheidung- machen aus dem Museumsshop einen Vorführ- en, wie beispielsweise Flexibilität, Privatheit raum für Tanzperformances. Aus der Not einer oder Transparenz bezeichnet Farshid Moussavi abgeschlossenen Fluchttreppe machten FMA als Stil, den es bewusst zu gestalten und eine Tugend. Während eine repräsentative und zu entwerfen gilt. Mit Akribie und Genauigkeit zur Kommunikation anregende Freitreppe offen analysiert sie daher Wand, Fenster, Balkon, durch die Galerieebenen führt, versteckt sich Decke etc. und untersucht die verschiedenen direkt darunter eine zweite Treppe, die als Effekte, die die eine oder andere architektoni- kontemplativer Ort den Besuchern eine visuelle sche Entscheidung auf den Nutzer und sein und akustische Pause zwischen den Ausstel- Verhalten haben könnte. Banal? Mitnichten! lungen gönnen soll. Das Gebäude ist mit einer Denn spannend wird es für die Zuhörer, als spiegelnden Edelstahlfassade verkleidet, aller- die Referentin diese „Grundlagenforschung der dings ergeben sich durch leichte Dellen in den Architektur“ auf ihre Praxis überträgt und an streifenförmig angeordneten Panellen Zerr- ausgewählten Details präzise erläutert, welche bilder: Wie ein Kaleidoskop wird die Umgebung Überlegungen und Abwägungen sich hinter der einerseits reflektiert und doch transformiert. jeweiligen architektonischen Setzung verbergen. Sie wirbt für eine Architektur der Assemblage, Büroturm in London des Hinzufügens und im Prozess mit jedem Den Abschluss des Vortrags bildet die Vorstel- neuen Bauteil spezifisch entscheiden, um reaktiv lung eines 17-geschossigen Bürohochhauses zu bleiben, in einer von der Veränderung bestim in der Londoner City, mit einem unregelmäßigen mten Gegenwart. Diese Art des Entwerfens Achteck als Grundfläche. Das Gebäude ist scheint ihr nachhaltiger und widerstandfähiger aufgrund der Nachbarbebauungen immer nur zu sein, als eine einzige strukturbestimmende partiell und ausschnitthaft sichtbar, sollte aber Entwurfsidee, die konsequent bis ins Detail dennoch als ein markantes Objekt in der Stadt umgesetzt werden muss. „Daher liebe ich Werk- wahrnehmbar sein. Als besonderes Detail erklärt pläne! Sie sind voller wichtiger architektonischer die Architektin daher die einheitliche Fassade, November Reihe | Universität Stuttgart | 23. November 2016 Entscheidungen“, schließt Farhid Moussavi ihre ein Vorhang aus schwarzen Glaspanelen, der theoretische Einführung um nun an einigen Pro- auf einem kleinteiligen Drei-Meter-Raster beruht. jekten – meist mit Baustellenfotos illustriert – zu Die konkav gebogenen Scheiben ermöglichen zeigen, was dieser Ansatz in der Praxis bedeutet. verschiedene Stufen der Transluzenz sowie des Ausblicks und erzeugen im Gesamten dennoch Wohngebäude in Montpellier eine geschlossen wirkende Ansicht. Die Idee des spezifisch zusammengestellten Gebäudes, der Assemblage erläutert sie am Beispiel eines neunstöckigen Apartmentturms im südfranzösischen Montpellier. Zwei Ziele soll der Bau erfüllen: Flexibilität der Grundrisse und maximale Privatsphäre im Außenraum. Während eine grundsätzliche Varianz der blüten- förmigen Grundrisse durch einen innen liegen- den Servicekern und Stützenfreiheit leicht nach- vollziehbar ist, erklärt Moussavi die maximale Privatheit der umlaufenden Balkone buchstäb- lich im Detail. Von jedem der drei vorhandenen Balkontypen wurden mögliche Sichtbeziehungen zum Nachbarn genauestens untersucht. Die Aus- richtung der gekrümmten Balkone ändert sich je nach Geschossebene und läuft in einer sanf- ten Kurve zur Fassade aus, um den Blick in die Landschaft zu öffnen und Trennwände zum 19 Stuttgart Nachbarbalkon zu vermeiden. Kritische Zonen, in denen doch neugierige Blicke auf den Balkon des Nachbarn fallen könnten, werden mit einer spezifisch angepassten, engen Rasterung der Geländer „entschärft“.
Farshid Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg Bericht von Dietrich Heißenbüttel Moussavi II Stilfragen Die Architektin Farshid Moussavi in der November Reihe der Universität Stuttgart Die erste ästhetische Entscheidung, die Farshid Moussavi für diesen Abend getroffen hatte, war in einem grauen, ärmellosen Filz aufzutreten, der je nach Schrittweite mehr oder weniger von ihren silbern spie- gelnden Stiefeletten mit hohen Pfennigabsätzen sehen ließ. In Shiraz geboren, bietet die Harvard-Studentin und – Professorin, die den Iran 1979 im Alter von zehn Jahren mit ihrer Familie verließ, ein Musterbild einer erfolgreichen Flüchtlingskarriere. Zudem beherrscht die Designerin des November Reihe | Universität Stuttgart | 23. November 2016 Victoria Beckham flagship store in London den Jargon – nein Diskurs – amerikanischer Universitäten, den sie, ohne Rücksicht auf eventuelle Sprachbarrieren und ihre nicht immer sehr deutliche Aussprache, ihren Zuhörern im gut besetzten großen Tiefenhörsaal der Stuttgarter Universität um die Ohren warf. Ihr erstes – 2006 veröffentlichtes Buch – „The Function of Ornament“, war natürlich schon vom Titel her eine Provo- kation: Ornament war das, was in der modernen Archi- tektur, gern mit Verweis auf den Vortrag „Ornament und Verbrechen“ von Adolf Loos, gar nicht ging. Funktion war der Gegenbegriff dazu: Form follows function, die Form hat nicht ornamental, schmückend zu sein, sondern den Funktionen zu folgen. Moussavi mischt die Karten neu und hat seither zwei weitere Bücher, „The Function of Form“ 2009 und „The Function of Style“ 2015, nachgelegt. 20 Stuttgart Zu letzterem hat sie im März einen Vortrag in Harvard gehalten, den sie nun in Stuttgart in nur leicht abgewan- delter Form wiederholte.
Ein Gebäude, so Moussavi, sei heute einer Viel- Museum of Contemporary Art in Cleveland, 2012 Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg zahl von Anforderungen wie Sicherheit, Klima- Als dritten Bau präsentierte Moussavi das 2012 schutz oder Brandschutz unterworfen, die oft fertig gestellte Museum of Contemporary Art in über das Gebiet des Architekten hinausreichen. Cleveland: ein unten sechseckiger und oben Es sei zudem in Zeiten des Internet, wo viele quadratischer, funkelnder, in sich geschlossener Dinge auch ortsunabhängig getan werden Kristall mit schrägen Licht-Schlitzen in der blau könnten, anderen Anforderungen unterworfen: glänzenden Verkleidung, die bei Bedarf den Blick Eine Bibliothek etwa sei heute nicht mehr in auf die Außenwelt freigeben. Über den weißen erster Linie ein Aufbewahrungsort für Bücher Wänden der Ausstellungsräume öffnet sich wie als vielmehr ein Ort der Begegnung. Die Funk- ein Nachthimmel ein dunkelblauer Luft- und tion eines Bauwerks determiniert daher nie- Technikraum, den sie als ein Öffnung des „White mals seine Gestalt. Sie ist vielmehr von einer Cube“ betrachtet. Eine offene Treppe, die ästhetischen Entscheidung abhängig: eine erlaubt, sich in alle Richtungen gegenseitig in Stilfrage. Stil ist für Moussavi nicht eine Zutat, den Blick zu nehmen, ist der Ort der Begegnung, sondern der wesentliche Antrieb hinter dem des „Socializing“. Wer sich tatsächlich nur die Entwurf. Sie spricht auch von Agency, ein ins Kunst ansehen will, kann aber auch ein geschlos- Deutsche schwer zu übersetzender Begriff, unter senes, gelbes Treppenhaus benutzen, das den Alternativen, die das Wörterbuch anbietet, zugleich als Feuertreppe und Sound Gallery trifft Handlungsmacht vielleicht noch am ehesten. dient. Der vierte eigene Bau, den Moussavi vorstellte, war ein siebzehngeschossiges Büro- Allerdings müsse man Stil neu definieren. hochhaus der Aviva Life & Pensions in der Traditionell sei damit eine Wiederholung von Fenchurch Street in London, dessen Vorhangfas- Formmerkmalen gemeint, die sich mit einer sade aus fast schwarzen, konkaven Doppelg- Epoche, einer Nation oder einem Architekten las-Elementen zusammengesetzt ist, die in verbinden. Bei der neueren Architektur seit den einem bestimmten Blickwinkel transparent 1990er-Jahren lasse sich dagegen nicht von werden. einem einheitlichen Stil sprechen. Auch der Idee eines Personalstils erteilt Moussavi in Zeiten von Stil, so definiert Moussavi, wiederholt nicht Open Source eine Absage. Wie sie sich den etwas, was bereits existiert. Stil ist vielmehr eine Gestaltungsprozess vorstellt, illustrierte sie am intentionale Entscheidung. Die Frage bleibt Beispiel des Fahrrads und des M16-Sturmge- allerdings, ob sich mit der edlen, schwarz wehrs der US-Streitkräfte, die ständig weiter verglasten Fassade eines Bürohochhauses für entwickelt wurden. Architektur betrachtet sie als den fünftgrößten Versicherungskonzern der Welt Assemblage heterogener Elemente, nicht um ein nicht doch auch in hohem Maß repräsentative bestehendes Narrativ nach außen zu tragen, Werte verbinden. Bei Moussavis schicken sondern um bestimmte Dinge zu ermöglichen Wohnungen mit Blick über Nanterre oder Mont- oder zu verhindern. Sie stützte ihre Thesen mit pellier besteht jedenfalls sehr stark die Gefahr, November Reihe | Universität Stuttgart | 23. November 2016 berühmten Gebäuden wie dem Smithsonian und dass sie zu Stilmodellen für den gehobenen dem Guggenheim Museum und meinte, die Lifestyle werden. Agency des Architekten bestehe darin, ausgetre- tene Pfade zu verlassen: etwa wenn er ein Kino mit Betten statt Sesseln ausstatte. Besonderen Wert legt Mousavi auf Blickrichtungen. Mit Bildern fast nackter Menschen in Hotelzimmern beleuchtete sie das Wechselverhältnis von Belichtung, Ein- und Ausblicken. La Folie Divine und One La Défense Diese Überlegungen übertrug sie sodann auch auf vier eigene Gebäude: Das zehngeschossige Wohnhaus „La folie divine“ in Montpellier besteht aus versetzt übereinander angeordneten, wellig runden Scheiben. Die Balkone aller 36 Wohn ungen sind so konzipiert, dass sie alle eine 180-Grad-Aussicht genießen, ohne dass man von einem in den anderen hinein sehen kann. Das nur eine Etage höhere Wohnhaus „One La Défense“ in Nanterre ist demgegenüber ein langer Block, dessen einzelne Geschosse ebenfalls gegeneinander gedreht sind. Jede Wohneinheit – unten Studierende, oben Eigen- 21 Stuttgart tumswohnungen – verfügt über einen offenen Balkon und eine verschließbare Loggia. Schräg gestellte Lamellen und spiegelnde Trennwände lassen erwünschte Blickrichtungen zu und schließen andere aus.
22 Stuttgart November Reihe | Universität Stuttgart | 23. November 2016 Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
Alexandre Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg Theriot Bericht von Franziska Bettac The only revolutionary programme … Der französische Architekt Alexandre Theriot eröffnet seinen Vortrag der Novemberreihe mit einem Zitat des amerikani- schen Architekturkritikers Jeffrey Kipnis: „The only revolutio- nary programme that can be proposed today is a total lack of programme.” Theriot versucht in seinem Vortrag darzu- legen, warum sich Raumprogramm und Architektur oftmals gegenseitig im Weg stehen. Die Architektur seines, gemein- sam mit Stéphanie Bru geleiteten Büros Bruther soll vor allem dem Leben und den Nutzern nicht im Weg stehen – und da- für scheint es nötig, Raumprogramme nicht abschließend zu definieren und damit Gestaltungsmöglichkeiten für die Zukunft offen zu lassen. November Reihe | Universität Stuttgart | 30. November 2016 Das aufstrebende Büro Bruther wurde von Alexandre Theriot und Stéphanie Bru 2007 gegründet. Mehrere gewonnene Wettbewerbe im Kulturbereich sowie jüngst auch einige Direktaufträge, verzeichnet das Portfolio der beiden Pariser Architekten. Was bedeutet Architektur für den Referenten des letzten Vortrags der diesjährigen Novemberreihe in Stuttgart? Theriot definiert Architektur zunächst nicht über die Funktion, die Struktur oder die Nutzung. Für ihn ist Architektur eine Verheißung; ein Versprechen, was sein könnte. Daher betrachten Bruther Projekte als Teil eines dynamischen Prozesses: Es gibt eine Vorgeschichte, es gibt Entwurf und Umsetzung und es gibt die spätere Nutzung, sowie Umnutzung und Adaptierung. Alle diese Phasen möchte das Büro bei seiner Definition von Archi- tektur im Blick behalten. Das heiße im Umkehrschluss, so Alexandre Theriot, dass Bruther Gebäude nur für eine 23 Stuttgart kurze Zeitspanne begleiten – danach gehe es ohne sie weiter. An einigen Projekten erläutert der Referent, was dies für seine entwerfende Praxis bedeutet.
Sport- und Kulturzentrum in Paris Forschungszentrum in Caen Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg In einem der dichtesten Quartiere von Paris, In unmittelbarer Nähe der Bibliothek von OMA Saint-Blaise im 20. Arrondissement, entwickeltenwurden Bruther – nach gewonnenem Wettbewerb Bruther ein Sport- und Kulturzentrum. Die umge- – in Caen beauftragt, ein Kultur- und Forschungs- bende Wohnbebauung mit typischen Gebäuden zentrum für die junge Generation zu bauen. Idea- der 1980er-Jahre schottet sich mehrheitlich ab lerweise hatte der beauftragende Verein (noch) – ein lebendiges Stadtleben fehlte. Bruther defi-keine konkrete Vorstellung darüber, welche nierten einen Platz mit Sportflächen und ent- Aktivitäten in dem Gebäude stattfinden sollen. warfen einen dreigeschossigen Quader mit leicht So konnte der Bau ganz nutzungsoffen entwickelt konkav nach innen gebogener Fassade. Boden- werden. Für den Entwurf stand die Idee eines tiefe Verglasungen in den unteren beiden vertikalen Kaufhauses Pate: flexible, offene Geschossen ziehen die Umgebung ins Innere. Flächen und eine transluzente Kuppel als sicht- Neben der transparenten Erscheinung ist es bare Landmarke auf dem Dach. Entstanden ist vor allem die Fähigkeit des Gebäudes, einen ein aufgeständerter, viergeschossiger Bau mit urbanen Kontext zu schaffen, die seinen Erfolg multifunktionalen Räumen. Alle Etagen können ausmacht. Im Inneren ist wenig vorgegeben. einzeln erschlossen oder somit auch separat Es finden Workshops und Sportangebote statt vermietet werden – als Konferenzfläche, Ausstel- – die Grundrisse sind simpel und verständlich, lungsraum, FabLab mit 3D-Druckern und Werk- Leitungen laufen offen über die Sichtbetonwände stätten oder als Treffpunkt für temporär dort und die Möblierung haben Bruther den Nutzern arbeitende junge Forscher. Die Fassade setzt selbst überlassen. sich aus vorfabrizierten Elementen zusammen: Folienkissen und große Glasscheiben hängen Wohnhaus in Bordeaux an einer reduzierten, industriell anmutenden Das „Super L“ genannte Wohnprojekt in Bordeaux Stahlkonstruktion. befindet sich im Gewerbegebiet – und in unmit- telbarer Nachbarschaft zu mehreren typisch- Fazit französischen Riesensupermärkten. Langfristig Zum Abschluss unterstreicht Alexandre Theriot soll sich das Gesicht des Gebietes wandeln – noch einmal, dass für Bruther ihre Gebäude kostengünstiger Wohnraum ist hierbei ein erster mit Schlüsselübergabe nicht fertig sind. Die Baustein. Bruther reagierten mit einem aufge- Architekten wollen den Moment abpassen, ständerten Block, der 150 nahezu identische an dem sie genug entschieden haben. „Wann Wohneinheiten beinhaltet. Die Strategie, ein müssen wir aufhören, um das Gebäude ausrei- Wohnhaus wie einen standardisierten Bürobau chend veränderlich und anpassungsfähig zu zu entwickeln, mutet zunächst brutal an. Die belassen?“ Dieser Frage versuchen sich Bruther sehr einfache und reduzierte Struktur ermöglicht undogmatisch zu nähern. Dem Gebäude und jedoch großzügige Loggien, sowie im Ausbau dem Prozess die maximale Freiheit lassen, ist und für spätere Transformationen ungeahnte das Ziel ihrer Arbeit – eine Arbeit, die sich sehen November Reihe | Universität Stuttgart | 30. November 2016 Freiheiten. lassen kann. 24 Stuttgart
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Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg Uwe Bericht von Dietrich Heißenbüttel Schröder Ins Verhältnis setzen Die Atmosphäre ist gelöst. Es gibt Eintopf aus Wegwerfgeschirr und Getränke. Wen es im Glaskasten der Staatlichen Akademie der bildenden Künste Stuttgart ein wenig fröstelt, der kann sich auch direkt auf die Heizkörpern setzen. Die Konzeption der Jour-Fixe-Reihe „Über Dauer“ wurde von einem Studierenden- Team erarbeitet. Die Veranstaltung beginnt mit akademischem Viertel. Jour Fixe | ABK Stuttgart | 15. November 2016 27 Stuttgart
Über Dauer: Damit ist die Frage angesprochen, dingungen, die den Architekten zwingen, Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg wie es in unserer schnelllebigen Welt um die von der Idealform des Quadrats oder Würfels Lebensdauer von Bauwerken bestellt sei. Was abzuweichen, durchaus eine Bereicherung sein ist nachhaltiger: Abriss und Neubau nach können, zeigten seine Entwürfe für die Werk- heutigen Standards oder Renovierung? Uwe bundstadt auf dem so genannten Tanklager in Schröder beleuchtet die Frage allerdings noch Berlin-Charlottenburg. 33 Architekten waren einmal anders, nämlich in Bezug auf die Tradi- eingeladen, jeweils drei Entwürfe einzureichen. tion: was die Generationen überdauert. An Schröder gab seinen drei hoch aufragenden sieben eigenen Entwürfen, in der Mehrzahl in Ziegelbauten, alle auf unregelmäßigen Grund- Bonn, zeigt er, wie und woran er sich orientiert: rissen mit 60-Grad-Satteldächern, verschie- unter anderem an Karl Friedrich Schinkel, dene Charaktere – sein Punkt 6: Den vier- bis Leon Battista Alberti, Eugène Viollet-le-Duc sechsgeschossigen niedrigsten Bau mit halb und Gottfried Semper. Also an der klassischen runden Thermenfenstern nennt er archaisch. Baugeschichte. Das nennt er Referenz: sein Im Gegensatz dazu steht ein turmartiger, sieben- erstes Stichwort. Mit einem 1996 bis 2000 geschossiger Bau mit hochformatigen Fenster- erbauten städtischen Wohnhaus bezieht er sich öffnungen, den er als romantisch bezeichnet. auf einen Musterentwurf Schinkels. Mit zwei Der dritte, zehngeschossige Bau, erinnert mit risalitartigen Vorbauten dunkeln Ziegeln um vertikalen, von flachen Segmentbögen abgeschlos- einen Atriumhof fügt sich der Bau mit einer Geste senen Feldern, die, dreiteilige Fenstergruppen des Empfangs in die Blockrandbebauung ein. ädikula-artig zusammenfassen, auf gelungene Weise an Fabrikbauten des 19. Jahrhunderts. Schröders zweiter Punkt: die Idee. Das Haus am Cöllenhof gibt durch einen fünfgeschossigen Nur am deutschen Pavillon der Biennale von Turm einer undefinierten städtebaulichen Situ- Venedig scheitert Schröder – wie andere vor ihm. ation einen Bezugspunkt und umschließt zu- Unter seinem siebten Stichwort, Zeit, fragt er gleich, zweifach abgetreppt, einen Innenhof. nach dem Umgang mit diesem problematischen Dazu ist zu sagen, dass Schröder ein Schüler Bauwerk, das aus nationalsozialistischer Zeit von Oswald Mathias Ungers ist. Seine Grund noch das Stichwort „Germania“ über dem einheit ist das Quadrat oder der Würfel. Das Eingang trägt. In seiner Auffassung handelt es Haus auf der Hostert etwa, die außen weiß sich um den Bautypus einer Villa, also eines verputzte Villa eines Bonner Kunstsammlers, privaten Gebäudes, den er durch eine gemauerte steigt von einem dreigeschossigen Würfel in Ummantelung mit zwei kleinen, seitlichen zwei Stufen zum Rheinufer hinab. Alle Proporti- Zugängen statt des zentralen Portikus sowie onen, Schröders Punkt 3, bis hin zu den Möbeln Umorientierungen im Inneren in ein öffentliches und Türklinken, sind von einem Modul, der Gebäude, ein Forum umzuwandeln vorschlägt: Pfeilerdicke abgeleitet und entsprechen zugleich um die Geschichte nicht zu leugnen, aber zu menschlichen Körpermaßen wie dem Fuß oder transformieren. „Seltsam, wie das Gebäude älter einer Fingerbreite. aussieht als das, das vorher da war“, wundert sich der Architekt über seinen eigenen Entwurf. Auf sehr interessante Weise ging Schröder im In der Tat scheint vor allem ein kassettiertes Fall des studentischen Wohnhofs Rom.Hof auf Tonnengewölbe auf antike Bauten des Forum den Ort ein: Punkt 4 seiner Ausführungen. In Romanum zu verweisen. Aber das Grundprinzip Jour Fixe | ABK Stuttgart | 15. November 2016 der unmittelbaren Umgebung finden sich wenig des Rationalismus, das Bauen im Quadrat, in Bezugspunkte. Also orientierte er sich an den Kombination mit den rundbogigen Fensteröff- etwas weiter entfernten Bauten der Universität: nungen, erinnert doch an den Palazzo della Der drei- bis viergeschossige, quadratische Civiltà Italiana, das EUR-Gebäude in Rom. Nicht Bau mit zwei Innenhöfen und einem Quertrakt ganz zufällig, denn zwischen dem Rationalismus bildet wie das Hauptgebäude der Uni, das kur- der Architekten des „Colosseo quadrato“ und der fürstliche Schloss, eine Vierflügelanlage. Im Ungers-Schule besteht eine enge Verwandt- Material besteht Schröders Bau wie einige Uni- schaft. Nur dürfte es denn doch nicht in Schrö- versitätsbauten in Schlossnähe aus Ziegeln ders Absicht gelegen haben, den nationalsozia- in zwei Farben: unten vorwiegend rot, nach oben listischen Pomp durch Anklänge an den italieni- zunehmend gelb. Der Bezug ist erkennbar, schen Faschismus zu ersetzen. die Anmutung schlicht und mit den rundbogigen Fensteröffnungen doch auch sehr klassisch. „Porös“ hatte Schröder seinen Vortrag und seinen Punkt 5 überschrieben. Damit meint er, in Anlehnung an Walter Benjamins Beschreibung von Neapel, die Durchdringung von privatem und öffentlichem Raum. Das Prinzip erläuterte 28 Stuttgart er an einem Galerie- und Atelierhaus, die mit dem Bestandsbau einer alten Villa einen Hof umschließen, sodass in der Mitte eine zu den angrenzenden Straßen hin offene Piazzetta entsteht. Dass manchmal äußere Rahmenb e-
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg John Cranko Schule Bericht von Dietrich Heißenbüttel Ein genialer Entwurf „Ein genialer Entwurf“, sagt eine Architektin, die in einem anderen Büro am Wettbewerb für die John Cranko Schule in Stuttgart teilge- nommen hat: Als vergleichsweise Neulinge hatten Burger Rudacs aus München 23 andere Büros, darunter Berühmtheiten wie Zaha Hadid oder Delugan Meissl, auf die Plätze verwiesen. Im Rahmen des BDA Architekturnovembers führten Birgit Rudacs und Stefan Burger zwei Gruppen gegenläufig durch die recht große Runkt 7 Reihe | HFT Stuttgart | 24. November 2016 Baustelle, die mittlerweile schon ziemlich weit gediehen ist: Ungefähr eine Etage des getrep pten Gebäudekomplexes zwischen der Werastraße und dem Urbansplatz fehlt noch, dann ist der Rohbau fertig. In der Punkt 7 Reihe der Hochschule für Technik erläuterte Burger am Abend die Konzeption. 29 Stuttgart
Nicht ganz vergessen sind die zahlreichen schossigen Saal, dessen Decke zum Zeitpunkt Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg Querelen, die das Projekt immer wieder in Frage der Führung schon seit zwei Wochen fertig gestellt haben: Es ging um den Erhalt einiger betoniert ist. Sie müssen stehen bleiben, bis Bäume, die nun wohl doch überwiegend der auch der Beton der darüber befindlichen Säle Baustelle weichen mussten, sowie eines zwar und Raume ausgehärtet ist. Denn die Träger der nicht mehr genutzten, aber geschützten unterir- Decke sind die Wände der darüber befindlichen dischen Wasserspeichers, über den die Konst- Räume. Dadurch kommt aber am Auflager auf ruktion am Rande hinweg geführt werden muss. einer kleinen Fläche von nur 35 mal 35 Zentime- Nachdem die Kosten anfangs zu knapp ange- tern das gesamte Gewicht an: eine Last von setzt worden waren, war das Vorhaben erst nach 2 000 Tonnen, wie Burger im Vortrag ausführte. einer Spende des Unternehmens Porsche wieder Um dies zu bewältigen, haben die Tragwerks- in Gang gekommen. Dann wieder mussten sich planer ein eigenes Knotenblech entwickelt, das die Architekten dagegen zur Wehr setzen, dass nach Abschluss der Arbeiten hinter der leicht ihre geplante Sichtbetonfassade durch Stan- aufgehellten grauen Sichtbeton-Oberfläche dard-Verbundplatten ersetzt wurde. All dies ist verschwunden sein wird. Geschichte und findet nun nur noch insoweit der Erwähnung, wie es auf der Baustelle sichtbar Gern hätten Burger Rudacs eine Bretterschalung oder vor Teilnehmern der Führung angesprochen verwendet, mussten sich aus ökonomischen wird. Gründen jedoch mit Dreischicht-Schaltafeln begnügen, die sich glücklicherweise als so Die schlagende Idee des Büros bestand darin, qualitativ hochwertig erwiesen, dass sie öfter als sowohl oben wie unten ebenerdige Eingänge veranschlagt verwendet werden können und vorzusehen und dazwischen den – oder die – dabei sogar jedes Mal etwas mehr von ihrer Baukörper stufenweise den Hang hinabsteigen Maserung auf die Betonoberfläche übertragen. zu lassen. Oben an der Werastraße schließt die Sichtbeton dominiert den Bau innen und außen. Ballettschule mit Internat, unten am Urbansplatz In den Ballettsälen ist wie üblich eine Wand voll die Probebühne des Stuttgarter Balletts an die verspiegelt, die anderen schon aus akustischen Traufhöhe der Bestandsbauten an. Von der Gründen verkleidet, und der Boden besteht aus jahrzehntelang weitgehend unbebauten Freif- einem hellen, glänzenden Belag. Die Belichtung läche oberhalb des zentralen Verkehrsknotens erfolgt durch Nord- oder Oberlichter, die auch die der Stuttgarter City ist noch eine schmalere Flure mit Tageslicht versorgen. Von der oberen Frischluftschneise neben dem Gebäudekomplex Ebene fällt der Blick jeweils in den zweigeschos- geblieben. Der Bau selbst nützt, wie Burger im sigen Saal, so dieser nicht durch einen Vorhang Vortrag einräumt, die Restfläche maximal aus. geschlossen wird. Auf der Baustelle war zu spüren, dass sich die Beteiligten mit viel Engage- Die große Schwierigkeit bestand in der Umset- ment den zum Teil schwierigen Herausforde- zung des „genialen Entwurfs“. Da war zum einen rungen stellen und auf das Erreichte stolz sind. das „Bauen am Rutschhang“, wie Rudacs sich Burgers Vortrag am Abend ging allerdings zu ausdrückt: Von Problemen will der Bauleiter großen Teilen nicht sehr viel über das hinaus, was nichts wissen, doch es hat länger gedauert als sich schon auf den ersten Blick den Grundrissen geplant, diesen Hang mit seitlich im Berg veran- und Schnitten entnehmen lässt: die Einfügung Runkt 7 Reihe | HFT Stuttgart | 24. November 2016 kerten Bohrpfählen zu befestigen. Umso mehr, ins Stadtbild, die Rhythmik der Baukörper, die als die Baugrube oben unmittelbar neben einem Höhenstaffelung, die Ausrichtung. Teilweise fünf, die zwei Untergeschossen mitgerechnet musste er gar mit Beschreibungen nachhelfen, sogar sieben Stockwerke hohen Bestandsbau wo sein Bildmaterial offenbar auf der Leinwand senkrecht abfällt. Um die Zeitverzögerung viel heller erschien als auf seinem Bildschirm. aufzufangen, wurde im März 2016 an zwei Stellen gleichzeitig mit dem Bau begonnen. Die obere Der Zwischenstand zeigt die Architekten zugleich Baustelle des Internats und die untere der von ihrer größten Stärke und Schwäche. Die Probebühne sind nun seit kurzer Zeit in der Mitte Klarheit der Raumkonzeption, die Einfügung ins zusammengewachsen. Dazwischen schieben Stadtbild, das Belichtungskonzept und die sich zwei mal vier Ballettsäle übereinander, die reduzierte, schlichte Sichtbeton-Ästhetik sind kleineren jeweils 12 mal 12, die größeren 15 mal an dieser Stelle wohl kaum zu übertreffen. Doch 15 Meter groß. ohne die gewaltigen Substruktionen hätte sich der Entwurf an dieser Stelle niemals realisieren Rudacs hat auch den Tragwerksplaner mitge- lassen. Und ohne die Materialschlacht der Stati- bracht, der sogleich die rhetorische Frage stellt: ker wäre die Idee der 24 Meter weiten stützen- „Wo sehen Sie hier ein Tragwerk?“ Die Antwort losen Decke über der Probebühne ungefähr so heißt: nirgends. Um die sieben Etagen in einem viel wert wie ein Kartenhaus. Höhenunterschied von 21 Meter unterzubringen, musste die Deckendicke auf das absolute 30 Stuttgart Minimum beschränkt bleiben. Und das bei Decken, die bis zu 24 mal 30 Meter große Räume überspannen: dies sind die Maße der Probe- bühne. Genau aus diesem Grund stehen immer noch Baustützen dicht an dicht in dem dreige-
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